V. AIDS in China: Eine selbstgemachte Epidemie? - Christine Winkelmann
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43 V. AIDS in China: Eine selbstgemachte Epidemie? Christine Winkelmann 1. Hintergründe von chinesischen NGOs gegeben wurde, als realistisch anzusehen. Während die Infektionszahlen von HIV und AIDS in vielen Regionen der Welt konti- Die HIV- und AIDS-Epidemie in China hat nuierlich anstiegen, waren die offiziellen viele Facetten, die im Folgenden über- Zahlen für China über Jahre hinweg sehr blicksartig beleuchtet werden. Im Zentrum niedrig. Erst am 6. September 2002 gab die der Überlegungen steht die Frage nach der chinesische Regierung zu, dass etwa eine Verantwortung des chinesischen Staates. Million Chinesen im Land HIV-infiziert Es soll gezeigt werden, dass die Epidemie sind.123 Mit diesem Schritt trug die Regie- in Teilen vom Staat verschuldet wurde und rung der neuesten Prognose von UNAIDS von diesem zur Zeit durch unzureichende Rechnung, die eine Ausbreitung der Epi- Maßnahmen weiter begünstigt wird. demie in Asien vorhersagte. Nachdem sich HIV/AIDS in den letzten 20 Jahren vor al- 2. Stadien der HIV/AIDS-Epidemie lem in Afrika südlich der Sahara verbreitet Nachdem im Jahr 1985 die erste HIV- hat, befürchtet man seit einigen Jahren, Infektion in China entdeckt wurde, zog sich dass sich eine ähnliche Entwicklung auch die Regierung zunächst auf die Position in Asien, und dort vor allem in den bevöl- zurück, dass es sich bei HIV/AIDS um eine kerungsreichsten Ländern China und In- Krankheit handele, die von außen nach dien, vollziehen könnte. In diesem Zusam- China eindringe, wobei „außen“ sowohl im menhang hat Peter Piot, der Vorsitzende geographischen als auch im moralischen von UNAIDS, im Jahr 2001 die Vorhersage Sinne interpretiert wurde.125 Der Eindruck getroffen, dass China bis zum Jahr 2010 bis der Regierung wurde durch die Tatsache zu 10 Millionen HIV-Infizierte haben bestätigt, dass der erste Infizierte sich tat- könnte124, wenn die Regierung in Zusam- sächlich im Ausland angesteckt hatte.126 menarbeit mit internationalen Organisati- Entsprechende Maßnahmen wurden ergrif- onen nicht Maßnahmen zur Eindämmung fen: So wurde z.B. ein obligatorischer HIV- von HIV und AIDS einleiten würde. Die of- Test für Ausländer, die über einen längeren fizielle Zahl der bereits Infizierten er- Zeitraum in China leben möchten, einge- scheint angesichts der Bevölkerungszahl führt.127 Die erste Phase der HIV/AIDS- von 1,2 Milliarden zwar gering, doch da im Epidemie in China erstreckte sich von 1985 Allgemeinen von einer weitaus höheren bis 1989, in diesem Zeitraum traten eine Dunkelziffer ausgegangen wird und in Reihe von Einzelfällen auf. In der ca. um China diverse Faktoren wirken, welche die 1989 einsetzenden zweiten Phase entstan- Ausbreitung von HIV und AIDS begünsti- den regionale Epidemieherde, wie z.B. in gen, ist die schlechte Prognose, die von den Grenzgebieten Yunnans und in einigen internationalen Organisationen und auch zentralchinesischen Provinzen. Vor allem 123 betroffen waren in dieser Phase intrave- Vgl. z. B. Gramaticas, Damian: China Admits One nöse Drogenkonsumenten und „Blutspen- Million HIV Cases, 6.9.2002, http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/asia-pacific/2240344.stm (entnommen am 20.1.2004). 124 Vgl. Beach, Marilyn: China Responds to Increasing HIV/AIDS Burden and Holds Landmark Meeting. In: The 125 Lancet, Vol. 358, 2001, S. 1792. Zum Vergleich seien an Vgl. Anderson, Allen F.: Mainland China at the AIDS dieser Stelle die Zahlen für das Jahr 2003 angeführt: Crossroads: Competing Directions and Hard Choices. In: UNAIDS geht weltweit von 40 Millionen HIV-infizierten Issues and Studies. A Journal of Chinese Studies and Menschen aus. Vgl. UNAIDS: AIDS Epidemic Update, 2003, International Affairs, 29,7, 1993, S. 43-54, hier S. 46. 126 S. 3-4. Vgl. Zhang Konglai (Hrsg.): Aizibing (Die AIDS- http://www.unaids.org/Unaids/EN/Resources/Publications/co Krankheit). Zhongguo xieheyikedaxue chubanshe, Peking rporate+publications/aids+epidemic+update+- 2001, S. 4. 127 +december+2003.asp (entnommen am 20.4.2004). Vgl. Anderson, A.: Mainland China, 1993, a.a.O., S. 46. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
44 der“128. Ab Mitte der 90er Jahre meldeten Die offizielle Zahl von Infizierten für das alle Provinzen HIV/AIDS-Fälle und es gab Jahr 2003 lautet eine Million und die jähr- deutliche Anzeichen, dass nun auch zu- liche Neuinfektionsrate wird seit 1999 kon- nehmend die Allgemeinbevölkerung betrof- stant mit 30 Prozent angegeben.134 fen war.129 In der dritten Phase begannen Die hier angegebenen Zahlen basieren auf die offiziellen Zahlen und die Schätzungen den Daten, die China auf nationaler und durch in- und ausländische Experten wei- auf Provinzebene einerseits durch ter auseinander zu driften. Die offizielle In- HIV/AIDS-Fallmeldungen und andererseits fektionszahl im Oktober 1997 belief sich durch über 100 HIV/AIDS- Überwachungs- auf 8.303 Fälle, während gleichzeitig inoffi- stationen gewinnt. Diese Daten sind mit zielle Schätzungen von 150.000 bis 200.000 Vorsicht zu behandeln, da die Erhebungen ausgingen.130 Die chinesische Regierung diverse Mängel aufweisen. Die Überwa- ging wider besseren Wissens von viel zu chungsstationen sind ungleichmäßig über niedrigen Infektionszahlen aus und propa- das Land verteilt, so dass manche Regionen gierte neben einem angeblich besseren deutlich überrepräsentiert sind. Außerdem Immunsystem der chinesischen Bevölke- werden diverse Risikogruppen, wie z.B. rung einen effektiven Schutz durch neokon- Homosexuelle, von dem System nicht be- fuzianische Werte.131 rücksichtigt. Des Weiteren ist die Bestäti- Intravenöse Drogenkonsumenten sind nach gung eines positiven Suchtests (Elisa) offiziellen Angaben immer noch am stärks- durch einen sehr viel teureren Bestäti- ten betroffen, sie machen ca. 50% der HIV- gungstest (Western Blot) zwingend vorge- Infizierten aus.132 Ein Viertel der Fälle sind schrieben, um einen HIV/AIDS-Fall als ehemalige Blutspender. Die Ansteckung bestätigt an höhere Instanzen weitermel- über Geschlechtsverkehr ist auf dem Vor- den zu können. Es wird befürchtet, dass in marsch und im Jahr 2002 bereits für 10,9 vielen Fällen wegen Geldmangels der Bes- Prozent der Infektionen verantwortlich.133 tätigungstest nicht durchgeführt und der Fall somit auch nicht weitergemeldet 128 Der Begriff Blutspender ist in diesem Zusammenhang wird.135 Es ist daher insgesamt davon nicht korrekt, da unter Armut leidende Bauern ihr Blut auszugehen, dass die offiziellen Schätzun- verkauft haben, um ihr Einkommen aufzubessern. gen wahrscheinlich deutlich unter den 129 Vgl. Shao, Yiming: AIDS in South and Southeast Asia. wirklichen Infektionszahlen liegen.136 HIV/AIDS: Perspective on China. In: AIDS Patient Care and STDs, 15, 8, 2001, S. 431-432. Siehe auch Liao, Su-su: HIV in China: Epidemiology and Risk Factors. In: Kaldor, John et. al. (Hrsg.): AIDS in Asia and the Pacific. 2nd Edition. am 15.3.2004). Der Länderkoordinationsmechanismus Lippincott-Raven, London 1998, S. 19-25. (Country Coordination Mechanism; CCM) gibt erstmals zu, 130 Vgl. Tomlinson, Richard: China recognizes AIDS dass ca. 25 % der HIV Fälle ehemalige Blutspender sein problem. In: British Medical Journal 316, 1998, S. 493. könnten. Vgl. hierzu: CCM: Proposal to the Global Fund 131 Vgl. Dikötter, Frank: A History of Sexually Transmitted 2003, S. 18 und S. 19. Diseases in China. In: Lewis, Milton; Bamber, Scott; Waugh, http://www.theglobalfund.org/search/docs/3CHNH_616_0_f Michael (Hrsg.): Sex, Disease, and Society. A Comparative ull.pdf (entnommen am 20.4.2004). 134 History of Sexually Transmitted Diseases and HIV/AIDS in Bei den hier angeführten Zahlen scheint es sich um einen Asia and the Pacific. Greenwood Press, Westport 1997, S. Minimalkonsens zwischen verschiedenen Repräsentanten der 67-83, hier S. 78-79. chinesischen Regierung und internationalen Organisationen 132 Die Organisation „Human Rights Watch“ (HRW) weist in zu handeln, da man sich auf diese Zahl in der Bewerbung für einem kürzlich veröffentlichten Bericht zu AIDS in China den „Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, darauf hin, dass es zweifelhaft ist, ob wirklich intravenöse Tuberkulose und Malaria“ bezieht. Vgl. CCM: Proposal to Drogenkonsumenten den Großteil der Infizierten ausmacht. the Global Fund 2003, S. 18, a.a.O. 135 Die Zahl derjenigen, die sich über Blutbanken angesteckt Vgl. National Center for HIV, STD and TB Prevention, haben, könnte sehr viel höher sein. Vgl. Human Rights Centers for Disease Control and Prevention, U.S. Department Watch (Hrsg.): Locked Doors: The Human Rights for People of Health and Human Services: Report of an HIV/AIDS living with HIV/AIDS in China. Vol. 15, 7 (C), September Assessment in China. 2001, S. 11-13. www.usembassy- 2003, S. 15, http://www.hrw.org/reports/2003/china0803 china.org.cn/sandt/ptr/cdc-assessment-prt.htm (entnommen (entnommen am 3.4.2004). am 27.4.2004). 133 136 Vgl. China Ministry of Health / UN Theme Group on Vgl. National Intelligence Council: The Next Wave of HIV/ AIDS in China: A Joint Assesment of HIV / AIDS HIV/AIDS: Nigeria, Ethiopia, Russia, India, and China. Prevention, Treatment and Care in China. Dezember 2003, S. September 2002, http://www.fas.org/irp/nic/hiv-aids.html 2., http://www.unchina.org/unaids/English.pdf (entnommen (entnommen am 27.4.2004), S. 5. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
45 3. Bevölkerungsgruppen mit hoher genkonsumenten leiden unter vielfältigen Prävalenz137 bzw. hohem Risiko Diskriminierungen, da sie gleich mehrfach stigmatisiert sind. Auf Grund ihrer margi- nalisierten gesellschaftlichen Position 3.1 Intravenöse Drogenkonsumenten haben sie kaum die Möglichkeit, auf Hilfs- Erste isolierte HIV-Epidemien unter intra- und Informationsangebote – falls diese venösen Drogenkonsumenten in der süd- überhaupt existieren – zurückzugreifen. westlichen Provinz Yunnan wurden bereits Auf Grund kaum vorhandener Interventi- im Jahr 1989 bekannt. Die Ausbreitung onsmaßnahmen ist davon auszugehen, dass von HIV folgt den Wegen, auf denen haupt- durch sogenannte sekundäre sexuelle sächlich Drogen von ihrem Anbaugebiet im Übertragung Ansteckungen von Drogen- Goldenen Dreieck durch China geschmug- konsumenten an ihre Sexualpartner statt- gelt werden: von Yunnan nach Guizhou, finden.143 Guangxi, Guangdong und Fujian und von Yunnan gen Norden über Sichuan nach Xinjiang.138 Auf Grund des häufig stattfin- 3.2 Ehemalige Blutspender denden Nadeltauschs ist die Prävalenz un- In mehreren zentralchinesischen Provinzen ter intravenösen Drogenkonsumenten an- sind ehemalige Blutspender in starkem steigend und liegt z.B. in der Provinz Maße von HIV/AIDS betroffen. Nachdem es Guangdong bei 20%, in Xinjiang bei 80%.139 lange Zeit hieß, dass nur die Provinz He- Die Gesamtzahl der mit HIV- infizierten nan betroffen sei, gesteht die chinesische Drogengebraucher wird auf 300.000 bis Regierung in der Bewerbung für den „Glo- 500.000 geschätzt.140 balen Fond zur Bekämpfung von AIDS, Drogengebrauch ist in China illegal und Tuberkulose und Malaria“ ein, dass auch wird mit einem von der Polizei zwangs- die Provinzen Anhui, Hebei, Hubei, Shanxi, weise verordneten Aufenthalt von bis zu 6 Shaanxi und Shandong betroffen seien.144 Monaten in einer Entziehungsanstalt ge- Es ist nicht klar, wie viele Menschen in ahndet.141 Da die Bedingungen des Entzugs diesen Provinzen tatsächlich von einer sehr schlecht sind, ist die Rückfallquote HIV-Infektion betroffen sind. Von offizieller entsprechend hoch.142 HIV- infizierte Dro- Seite heißt es, dass unter den geschätzten 1,5 Millionen Plasmaspendern mindestens 250.000 HIV-infiziert sind.145 Schätzungen 137 Unter Prävalenz versteht man die Prozentzahl der HIV- von NGOs, wie z. B. der „AIDS Action“ von Infizierten in der Altersgruppe zwischen 15 und 49 Jahren. 138 Wan Yanhai, fallen sehr viel höher aus; so Vgl. Anderson, A.: Mainland China, 1993, S. 45 und Beyrer, Chris et.al.: Overland Heroin Trafficking Routes and werden allein für Henan ein bis zwei Milli- HIV-1 Spread in South and South-East Asia. In: Aids, 14,1, onen Infizierte vermutet.146 2000, S. 75-83. Siehe auch Renwick, Neil: The ‚Nameless Fever’: The HIV/AIDS Pandemic and China’s Women. In: Third World Quarterly, 23, 2, 2002, S. 377-393, hier S. 380. 139 Untersuchungen wiesen für 11 Provinzen nach, dass sich Locked Doors, 1993, S. 42-49, a.a.O. Die Rückfallquote über 30% der intravenösen Drogenkonsumenten Nadeln beträgt bis zu 90 %. 143 teilen. Vgl. National Center for HIV, STD and TB Vgl. WHO Western Pacific –South East Asia: HIV/AIDS Prevention, Centers for Disease Control and Prevention, U.S. in Asia and the Pacific Region, 2003, S. 21. Department of Health and Human Services: Report of an www.wpro.who.int/pdf/sti/aids2ßß3/part1pdf (entnommen HIV/AIDS Assessment in China. 2001, S. 10, a.a.O. am 14.3.2004). 140 144 Vgl. WHO Western Pacific –South East Asia: HIV/AIDS Vgl. CCM: Proposal to the Global Fund, 2003, S. 18, in Asia and the Pacific Region 2003, S. 9, 15. a.a.O.; CMOH and UN Theme Group on HIV/AIDS in www.wpro.who.int/pdf/sti/aids2ßß3/part1pdf (entnommen China: A Joint Assessment, 2003, S. 10, a.a.O. An dieser am 14.3.2004). Offiziell hat China über eine Millionen Stelle wird auch die Provinz Guizhou genannt. 145 Drogenkonsumenten, wobei von einer sehr viel höheren Vgl. CCM: Proposal to the Global Fund, 2003, S. 18, Dunkelziffer auszugehen ist. Vgl. CCM: Application to the a.a.O. 146 Global Fund, 2003, S. 19, a.a.O. Vgl. HRW: Locked Doors, 2003, S. 5, 13, a.a.O., wo die 141 Geregelt durch eine Verordnung des Staatsrats: Qiangzhi offiziellen Zahlen als zu niedrig bezeichnet werden. Vgl. jiedu banfa. (Verordnung zum Zwangsentzug). 12. Januar Sui, Cindy: Chinese NGO That Probed Village AIDS Deaths 1995. Evicted. Agence France Presse, 3. Juli 2002. 142 Vgl. für eine sehr detaillierte und kritische Beschreibung http://www.globalpolicy.org/ngos/role/globalact/state/2002/0 von Entzugsanstalten in China, vor allem in Kunming, HRW: 703china.htm (entnommen am 18.6.2003). Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
46 Ende der 80er bis etwa Mitte der 90er tung der Regierung bezüglich Henan deut- Jahre wurden in den betroffenen Provinzen lich verändert. Die Vizepremierministerin Blutsammelstationen eröffnet, um kosten- und Gesundheitsministerin Wu Yi besuchte günstig Blut und für die Herstellung von diese Provinz und versprach eine kosten- pharmazeutischen Produkten benötigtes lose Behandlung mit antiretroviralen Blutplasma zu erhalten. Die ländliche Be- Medikamenten. Zudem erschien in einem völkerung war froh über die zusätzliche offiziellen Dokument erstmals eine Ver- Einkommensquelle, so dass es für die Blut- lautbarung, dass Personen und Behörden bankbetreiber möglich war, das günstig für die Verbreitung von HIV/AIDS zur Ver- erworbene Blut mit großem Profit zu ver- antwortung gezogen werden können.151 kaufen.147 Allerdings verstießen diese Blut- Weiter heißt es: „Leaders in some local gov- banken in vielen Fällen gegen medizinische ernments and institutions do not fully Standards, indem sie den Spendern frem- understand the strategy papers issued by des Blut, dem das Plasma bereits entzogen the State Council on HIV/AIDS prevention war, reinjizierten.148 Dieses Verfahren be- and control and are not aware of the risk of günstigte eine rasche Ausbreitung von a generalized HIV/AIDS epidemic in large Infektionskrankheiten wie HIV und Hepa- areas of China and its severe impact on the titis. Die jungen, meist männlichen Blut- development of the economy“.152 Im Zusam- spender steckten im Verlauf ihre Frauen menhang mit diesem Politikwechsel ist zu an, die bei einer Schwangerschaft Gefahr sehen, dass etwa 70 mittlere Kader der liefen, das Virus an ihr Kind weiter- Provinz Henan Anfang 2004 in die von HIV zugeben.149 Lange Zeit wurde von offizieller und AIDS am stärksten betroffenen Dörfer Seite versucht, die derart verursachte Epi- versetzt wurden,153 und dass sich die Zent- demie zu verschweigen, bzw. das Ausmaß ralregierung um die Auflage eines umfang- nicht erkennen zu lassen. Das Beispiel der reichen Projekts (China CARES = China Provinz Henan illustriert deutlich, dass bei Comprehensive AIDS Response) in sieben der Errichtung der Blutbanken politische zentralchinesischen Provinzen bemüht, in Entscheidungsträger beteiligt waren, die dessen Rahmen HIV-Infizierte kostenlosen sich über derartige Unternehmungen einen Zugang zu Medikamenten erhalten sol- großen Gewinn versprachen. Als ab Mitte len.154 der 90er Jahre der zunächst für das Ge- sundheitsministerium, zu der Zeit aber 3.3 Prostituierte schon unabhängig arbeitende Wan Yanhai zusammen mit anderen begann, über die Sexuell übertragene HIV-Infektionen Vorfälle in Zusammenhang mit den Blut- haben in den letzten Jahren beständig banken und über die zahlreichen Opfer zu zugenommen; während sie 1997 nur 5,5 berichten, versuchte man, das Problem zu Prozent der Infektionen ausmachten, sind negieren, indem die besonders betroffenen es 2002 bereits 10,9 Prozent.155 Eine wich- Dörfer abgeriegelt wurden und jegliche Be- richterstattung darüber verboten wurde.150 151 Vgl. CMOH and UN Theme Group on HIV/AIDS in Erst im vergangenen Jahr hat sich die Hal- China: A Joint Assessment, 2003, S. 3, a.a.O. 152 CMOH and UN Theme Group on HIV/AIDS in China: A Joint Assessment 2003, S. 37, a.a.O. 147 153 Vgl. HRW: Locked Doors, 2003, S. 61, a.a.O. Vgl. Renmin ribao 19.2.2004, S. 4. 148 154 Durch dieses Verfahren entwickelten die Spender keine Vgl. CCM: Proposal to the Global Fund, 2003; S. 2-3, Anämie, so dass sie in kurzen Zeitabständen Blut verkaufen a.a.O. Erste Nachrichten bzgl. dieses in kleinerem Umfang konnten. Vgl. HRW: Locked Doors, 2003, S. 4-5, S. 61, bereits 2003 begonnenen Projekts sind überwiegend negativ. a.a.O. Vgl. Goodmann, Peter S.: In China, AIDS Crisis is at Die Behandlung mit den in China hergestellten Generika und the Mercy of Global Commerce. In: Washington Post, 5. die fehlende medizinische Betreuung scheinen Probleme zu Dezember 2002. verursachen, so dass 20 % der Behandelten wieder mit der http://www.globalpolicy.org/socecon/develop/AIDS/2002/12 Therapie aufgehört haben. Vgl. Chou, I-han: China’s New 05china.htm (entnommen am 17.2. 03). AIDS Policy Faces Great Wall of Skepticism. In: Nature 149 Das Risiko einer Mutter-Kind-Transmission liegt bei über Medicine, 10,1, Januar 2004, S. 4. 155 30 Prozent, wenn medizinisch nicht interveniert wird. Vgl. CMOH and UN Theme Group on HIV/AIDS in 150 Vgl. HRW: Locked Doors, 2003, S. 29, a.a.O. China: A Joint Assessment, 2003, S. 2, 12-13, a.a.O. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
47 tige Rolle spielen hierbei Prostituierte, die schärft wird diese Entwicklung von der auf Grund einer großen Zahl meist unge- zunehmend großen Arbeitslosigkeit: „At schützter Sexualkontakte besonders present, more and more female workers gefährdet sind, Opfer einer HIV-Infektion laid-off from ailing state-owned enterprises zu werden und im Verlauf zu einer Weiter- in the northeast have streamed into vari- verbreitung beizutragen. ous service occupations in the towns and Prostitution nahm im Zeitraum nach den cities of northern China. Growing numbers 1979 eingeleiteten Wirtschaftsreformen of them are entering prostitution (...).162 wieder stetig zu, nachdem dieses in den Besonders gefährdet sind Migrantinnen Augen der KPCh unliebsame Phänomen vom Land, die jenseits sozialer Kontrolle in 1955 aus der sozialistischen Gesellschaft den Großstädten nach Arbeit suchen und erfolgreich verdrängt worden war.156 Als ein hohes Risikoverhalten haben.163 Aller- Reaktion wurden 1982 und 1991 Gesetze dings steigt auch die Zahl der Frauen, die erlassen, die Prostitution verboten, sie aber sich nicht aus existentieller Not prostituie- nicht wirklich eindämmen konnten:157 So ren, sondern um sich einen Nebenverdienst belief sich bereits im Jahre 1997 die offi- zu sichern.164 zielle Angabe des Ministeriums für öffentli- Prostitution ist weiterhin illegal in China che Sicherheit auf über zwei Millionen und kann mit einer Zwangsunterbringung Prostituierte,158 während Schätzungen für in einem „Frauenerziehungszentrum“ ge- dasselbe Jahr bereits von 3-4 Millionen ahndet werden. Pan weist in seinen um- ausgingen.159 Heute geht man von vier bis fangreichen Studien jedoch nach, dass vie- sechs Millionen Prostituierten aus.160 lerorts Sexindustrie und lokale Beamten- Prostitution erscheint in vielfältigen Facet- schaft miteinander verquickt sind, so dass ten, so führt Pan allein sieben Ebenen an, eine Durchsetzung des Verbots weder mög- auf denen die Sexindustrie operiert.161 Ver- lich ist noch gewollt erscheint.165 Dennoch werden pro Jahr noch immer zwischen 156 40.000 und 50.000 Frauen in ein Erzie- Vgl. Lipinsky, Astrid: Prostitution in China II, Aufsätze und Dokumente. Bonn, 1996, S. 9, die einen Anstieg der hungszentrum eingeliefert.166 Prostitution direkt im Anschluß an die Wirtschaftsreformen Verschiedene Untersuchungen zum Sexu- 1979 feststellt. 157 alverhalten von Prostituierten zeigen, dass Siehe vor allem: Guanyu yanjin maiyin piaochang de jueding (Beschluss über das strenge Verbot der Prostitution), Kondome relativ selten verwendet werden. 4. September 1991. In einem 2003 von der Regierung mitver- 158 Vgl. Pan, Suiming: Three „Red Light Districts“ in China. fasstem Dokument wird die Zahl der Pros- In: Micollier, Evelyne (Hrsg.): Sexual Cultures in East Asia. tituierten, die regelmäßig ein Kondom ver- The Social Construction of Sexuality and Sexual Risk in a Time of AIDS. RoutledgeCurzon, London 2004, S. 23-53, hier S. 27. Siehe auch www.unchina.org/unaids/enews5.html (entnommen am 20.6.2003) für eine umfangreichere, sich stärker am chinesischen Original orientierende Fassung. in Frisier- und Massagesalons, Straßenprostituierte, privat per 159 Vgl. Lau, J. T. F. et.al.: A Study on Female Sex Workers Telefon operierende Frauen bis hin zu Frauen, die für ein sehr in Southern China (Shenzhen): HIV-related Knowledge, geringes Entgelt als Frau für eine Gruppe von Bauern bzw. Condom Use and STD History. In: AIDS Care, 14,2, 2002, S. Arbeitern dienen. 162 219-233, hier S. 220. Die Zahl basiert auf einer offiziellen Pan, Suiming: Three Red Light Districts, 2004, S. 36, Schätzung des Gesundheitsministeriums. Vgl. China Ministry a.a.O. 163 of Health; UN Theme Group on HIV/ AIDS in China: China Vgl. Wang, Yan-guang: A Report from China. Aids, Responds to AIDS. HIV/AIDS Situation & Needs Policy and Bioethics: Ethical Dilemmas Facing China in HIV Assessment Report. 1997, S. 7 Prevention. In: Bioethics, 11, 3-4, 1997, S. 323-327, hier: S. www.unchina.org/unAIDS/ekey16.html (entnommen am 324. 164 17.6.2003). Vgl. Renwick, Neil: The ‚Nameless Fever’, 2002, a.a.O., 160 Vgl. CCM: Application to the Global Fund, 2003, S. 19, S. 379, 385. Siehe auch Evans, Harriet: Women and a.a.O. Renwick bezieht sich auf den Gesamtchinesischen Sexuality in China. Dominant Discourses on Female Frauenverband (ACWF), der von 10 Millionen Prostituierten Sexuality and Gender since 1949. Polity Press, Cambridge Ende der 90er Jahre ausgeht. Vgl. Renwick, N.: The 1997, S. 175-177. 165 „Nameless Fever“ 2002, a.a.O., S. 385. Vgl. Pan, Suiming: Three Red Light Districts, 2004, S. 48- 161 Vgl. Pan, Suiming: Three Red Light Districts, 2004, S. 28- 53, a.a.O. 166 29, a.a.O. Die Kategorien reichen von der sogenannten CMOH; UN Theme Group on HIV/ AIDS in China: China zweiten Ehefrau über Prostituierte, Escortdamen, Angestellte Responds to AIDS, 1997 S. 8, a.a.O. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
48 wenden, mit unter 20% angegeben.167 Diese Zahl infizierter Männer nach sich, die Einschätzung gilt als realistisch, da die ihrerseits das Virus weiterverbreiten. Zahl der Geschlechtskrankheiten, die als Somit fungieren Prostituierte als Binde- Indikator für ungeschützten Geschlechts- glied zur Allgemeinbevölkerung, auch in verkehr und für künftige HIV-Infektionen dem Sinne, dass eine Vielzahl von Prosti- dienen, in den vergangen Jahren stetig tuierten ursprünglich vom Land stammt angestiegen sind.168 und dorthin – unter Umständen. infiziert – Die HIV-Prävalenz bei Prostituierten liegt wieder zurückkehrt.171 im Jahr 2002 landesweit bei 1,3 Prozent, wobei bestimmte Gegenden stärker betrof- 3.4 Homosexuelle fen sind. So wurden bei einer Untersu- Homosexualität ist in China nicht illegal, chung in Guangxi im Jahr 1998 bereits 5% aber mit zahlreichen gesellschaftlichen Ta- der Prostituierten HIV-positiv getestet.169 bus belegt. Belangt werden konnten Homo- Trotz der scheinbar niedrigen Infektions- sexuelle bis 1997 auf Grund eines Paragra- zahl ist auf Grund des weiter oben skizzier- phen, der die Störung der staatlichen Ord- ten Risikoverhaltens von einer starken nung unter Strafe stellte, so dass sie auch Gefährdung der Prostituierten auszuge- immer wieder Opfer staatlicher Willkür hen.170 Eine hohe Zahl HIV-infizierter Pros- wurden. Erst im April 2001 wurde Homo- tituierter zieht zwangsläufig eine hohe sexualität vom Verband chinesischer Psy- chiater von der Liste der Geisteskrankhei- 167 Vgl. CCM: Application to the Global Fund, 2003, S. 19, ten gestrichen.172 „Most official discourses, a.a.O.; siehe auch WHO Western Pacific –South East Asia: HIV/AIDS in Asia and the Pacific Region 2003, S. 52. at least in the beginning of the country’s www.wpro.who.int/pdf/sti/aids2ßß3/part1pdf (entnommen epidemic, constructed homosexuality as a am 14.3.2004), laut WHO benutzen nur 10 % der Frauen corrupt Western import, alien to Chinese immer ein Kondom. 168 culture.“173 Aus diesem Grund wurde der Für das Jahr 1994 wurden bereits 750.000 Fälle von Geschlechtskrankheiten gemeldet. Dikötter argumentiert sehr Verbreitung von HIV/AIDS unter Homose- plausibel, dass die Zahlen unzuverlässig seien, da viele xuellen bisher wenig Aufmerksamkeit Erkrankte erst gar keinen regulären Arzt aufsuchten und viele geschenkt. In den großen Städten bildete Mediziner – anders als in den 50er und 60er Jahren – nicht sich zwar in den vergangenen Jahren eine mehr die Erfahrung hätten, Geschlechtskrankheiten korrekt zu diagnostizieren. Vgl. Dikötter, Frank: A History, 1997, homosexuelle Szene mit entsprechenden a.a.O., S. 76. Zhang et. al. geben an, dass 100.000 bis Bars heraus, der Großteil der homosexuel- 200.000 Fälle von Geschlechtskrankheiten pro Jahr len Szene trifft sich jedoch weiterhin in vorliegen. Vgl. Zhang, K. et. al.: Changing Sexual Attitudes öffentlichen Parks und auf öffentlichen and Behaviour in China: Implications for the Spread of HIV and Other Sexually Transmitted Diseases. In: Aids Care, 11, Toiletten.174 5, 1999, S. 581-589, hier: S. 583. Vgl. auch Chen, Xiang- Regierungsstellen gehen nach wie vor nicht sheng et.al.: Epidemiologic Trends of Sexually Transmitted von einer besonderen Gefährdung Homose- Diseases in China. In: Sexually Transmitted Diseases, 27, 3, März 2000, S. 138-142. In dieser Studie wird ein Anstieg von xueller aus. In diesem Zusammenhang diversen Geschlechtskrankheiten bei Frauen um das 4,2- wird stets auf die geringe Infektionszahl fache, bei Männern um das 3,9-fache zwischen 1990 und unter Homosexuellen verwiesen, die im 1998 nachgewiesen. 169 Vgl. CCM: Application to the Global Fund, 2003, S. 19, a.a.O.; und „Care Is the Next Stepp“. In: 171 www.chinadevelopmentbrief.com/prtarticle.asp?sec=19&sub Vgl. Lipinsky, Astrid: Prostitution, 1996, a.a.O., S. 28. =1&art=178 (entnommen am 10.3.2004). Vgl. auch Rogers, Siehe auch Anderson, A.: Mainland China, 1993, S. 50 und Susan J. et.al.: Reaching and Identifiying the STD/HIV Risk Lau, J. T. F. et.al.: A Study on Female Sex Workers, 2002, of Sex Workers in Beijing. In: AIDS Education and a.a.O., S.230. 172 Prevention, 14,3, 2002, S. 217-227, hier S. 218, die von 6 % Vgl. Gallagher, John: Normal, China. In: Advocate, 836, HIV-Infizierten in Guangxi und von 3.5 % in Yunnan unter 24.4.2001, S. 22-24, hier S. 22. 173 Prostituierten spricht. Jones, Rodney H.: Mediated Action and Sexual Risk: 170 Auch in anderen Ländern und Regionen schnellten die Searching for „Culture“ in Discourses of Homosexuality and Infektionszahlen unter Prostituierten binnen weniger Jahre in AIDS Prevention in China. In: Culture, Health and Sexuality, die Höhe, nachdem sie zuvor relativ niedrig waren. So stieg 1,2, 1999, S. 161-180, hier S. 162. 174 z. B. die Prävalenz unter Prostituierten in Bombay von 1% im Vgl. Jin, Ren: Homosexuals in Beijing. In: Button, Jahr 1987 auf 51% 1998. Vgl. Rogers, S.: Reaching and Michael (Hrsg.): Streetlife in China. Cambridge, Cambridge Identifying, 2002, a.a.O., S. 218. University Press 1998, S. 70-74, hier S. 70. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
49 Jahr 2001 angeblich nur 0,2 Prozent aller Eine Untersuchung aus dem Jahr 2002 mit Fälle ausmachte.175 Diese Zahl ist aus vie- knapp 500 homosexuellen Männern in Pe- len Gründen unrealistisch: Bei den natio- king fand heraus, dass 3,1 % HIV infiziert nalen Datenerhebungsverfahren zur Be- waren und 49% in den vergangenen sechs stimmung von HIV und AIDS wurde bisher Monaten ungeschützten Analverkehr hat- die Gruppe der Homosexuellen nahezu ten.181 Vor diesem Hintergrund ist von ei- ignoriert.176 Zudem dient eine niedrige ner weitaus höheren Gefährdung der Infektionszahl von Homosexuellen der De- chinesischen homosexuellen Bevölkerung monstration, dass in China ein derartiges auszugehen. Verhalten nicht weit verbreitet sei. Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele 3.5 Veränderung der allgemeinen Männer, die sexuelle Kontakte mit anderen Sexualmoral Männern haben177, nicht als homosexuell identifizieren.178 Diese Selbstwahrnehmung Seit den Wirtschaftsreformen und der basiert u. a. auf der Tatsache, dass sie ver- damit einhergehenden Öffnung verändert heiratet sind und eine Familie haben.179 sich das allgemeine chinesische Sexualver- Aus diesem Grunde sind sie weder emp- halten. Die umfassende Liberalisierung im fänglich bzw. überhaupt erreichbar für die Bereich Sexualität steht in starkem Kon- wenigen existierenden Präventionsbemü- trast zur staatlichen Reglementierung der- hungen noch machen sie sich ein realisti- selben in den ersten drei Jahrzehnten der sches Bild über ihre eigene Gefährdung.180 Volksrepublik China.182 Staatliche und pri- vate Kontrolle verringern sich beständig. So lösen sich z.B. Binnenmigranten und aber auch privatwirtschaftliche Unterneh- 175 Vgl. CMOH and UN Theme Group on HIV/AIDS in mer aus einem engmaschigen Sozialgefüge, China: A Joint Assessment, 2003, S. 12, a.a.O. 176 Die Datenerhebungsstationen konzentrieren sich auf fünf das zuvor die Einhaltung sozialer Verhal- Risikogruppen: Drogenkonsumenten, Prostituierte, LKW- tensnormen überwacht hat. Der zu beo- Fahrer, schwangere Frauen und Patienten mit bachtende Wertewandel spielt bei diesem Geschlechtskrankheiten. Vgl. Choi, Kyung Hee et. al: Prozess ebenfalls eine wichtige Rolle: Ge- Emerging HIV-1 Epidemic in China in Men Who Have Sex With Men. In: Lancet, 361, 9375, 21. Juni 2003, S. 2125- rade bei Jugendlichen setzt sich eine hedo- 2128, hier S. 2126. Siehe auch National Center for HIV, STD nistische Lebenshaltung durch, in deren and TB Prevention, Centers for Disease Control and Zentrum die Befriedigung eigener Bedürf- Prevention, U.S. Department of Health and Human Services: nisse steht. Zahlreiche Untersuchungen Report of an HIV/AIDS Assessment in China, 2001, S. 22, a.a.O. bestätigen, dass immer mehr junge Men- 177 In der Regel werden solche Männer als MSM, Men Having schen vorehelichen Sexualkontakt haben. Sex With Men bezeichnet, da mit dem Begriff homosexuell Auch außereheliche Beziehungen stoßen eine spezifische Identität, die über das Sexualverhalten auf zunehmend große Toleranz.183 Dieses hinausgeht, verbunden ist. 178 Jones, R.: Mediated Action, 1999, a.a.O., S. 162-163, 169, Phänomen trifft in weniger ausgeprägter 173. 179 Diese Lebensweise entspricht traditionelleren chine- sischen Vorstellungen, so wurde homosexuelles Verhalten Sword: Aids in China. In: Health Affairs, 21, 3, 2002, S. 221- geduldet, so lange der Betreffende trotzdem heiratete und für 227. 181 Nachkommenschaft sorgte. Vgl. hierzu Hinsch, Bret: Pas- Choi, K.: Emerging HIV-1 Epidemic in China, 2003, sions of the Cut Sleeve: The Male Homosexual Tradition in a.a.O., S.2125-2127. Vgl. auch WHO Western Pacific –South China. UCP, Berkeley 1990; Chou, Wah-shan: Tongzhi: East Asia: HIV/AIDS in Asia and the Pacific Region 2003, S. Politics of Same-Sex Eroticism in Chinese Societies. 53, a.a.O., hier wird von einer Prävalenz unter MSM von 1% Haworth Press, NY 2000. In seiner Studie mit knapp 500 bis 5 % ausgegangen. 182 homosexuellen Männern findet Choi heraus, dass 64 % der Vgl. Dikötter, Frank: Sex, Culture and Modernity in Männer über 39 Jahre und immerhin noch 11% der jüngeren China. Medical Science and the Construction of Sexual Männer verheiratet sind. Choi, K.: Emerging HIV-1 Epi- Identities in the Early Republican Period, London, Hurst demic in China, 2003, a.a.O., S. 2125-2127. 1995, S. 126. 180 183 Es gibt einige Aktivisten, die sich speziell für diese Vgl. Zhang, K; Li, D.: Changing Sexual Attitudes, 1999, gefährdete Gruppe einsetzen, zu nenen wäre hier der in a.a.O., S. 584-585. Vgl. auch Liu, Dalin et.al.: Sexual Hongkong lebende Chung To mit der „Ching He Foundation“ Behaviour in Modern China. Report on the Nationwide und Zhang Beichuan, der eine Zeitschrift zur Aufklärung Survey of 20,000 Men and Women. Continuum, New York herausgibt. Siehe auch Rubin, Kyna: The Butterfly and the 1997 (chinesische Fassung urspr. 1992), S. 185-189. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
50 Form ebenfalls auf den ländlichen Raum Aufklärungsunterricht mit den Worten zu.184 Gaos nicht um eine „safer sex education“ Für das Jahr 2003 wird die nationale Prä- sondern vielmehr um eine „chastity educa- valenz von der WHO mit ca. 0,12 % ange- tion“.188 geben, für den gleichen Zeitraum liegen zudem noch keine eindeutigen Anzeichen 4. Die Rolle des chinesischen Staats einer epidemischen heterosexuellen HIV bei der HIV-Epidemie Übertragung vor.185 Indikatoren für eine Die sich ausbreitende HIV/AIDS-Epidemie stärkere künftige Gefährdung der Allge- in China ist in weiten Teilen vom chinesi- meinbevölkerung sind jedoch die stetig an- schen Staat direkt oder indirekt mitverur- steigenden Zahlen von Geschlechtskrank- sacht worden. Am deutlichsten sichtbar heiten und die große Zahl der Binnen- wird dies an dem Beispiel der Provinz migranten, deren Sexualverhalten als ris- Henan, für die inzwischen gesichert kant einzuschätzen ist und die auf Grund scheint, dass hochrangige Kader u. a. des ihrer Mobilität zu einer räumlichen Gesundheitsministeriums in das Blutge- Verbreitung der Epidemie beitragen kön- schäft involviert waren bzw. es überhaupt nen.186 erst initiiert haben.189 Wissentlich wurde Trotz des veränderten Sexualverhaltens hierbei gegen grundlegende medizinische verhindert die traditionelle Sexualmoral, Standards verstoßen im Interesse eines die zumindest oberflächlich weiter aufrecht möglichst großen Gewinns und unter erhalten wird, eine offene Auseinanderset- Inkaufnahme der Gefährdung der zumeist zung mit dem sensiblen Thema Sexualität. bäuerlichen Blutverkäufer. Auch das Bei- Viele Studien konnten belegen, dass das spiel der sich ausweitenden HIV-Epidemie Wissen über Sexualität im Allgemeinen unter intravenösen Drogenkonsumenten und über HIV/AIDS im Besonderen sehr zeigt ein Verschulden des chinesischen gering ist, was zu einem Risikoverhalten Staates: Bereits Ende der 80er Jahre führt.187 Der Sexualkundeunterricht, der wurde bekannt, dass sich HIV/AIDS in iso- seit 1987 im Curriculum integriert ist, lierten Epidemien unter intravenösen Dro- basiert nach wie vor auf dem Wunsch, genkonsumenten in Yunnan ausbreitete. Sexualität zu kontrollieren und sie an Bis heute gibt es keine adäquaten Moral zu binden. So handelt es sich beim staatlichen Programme, um weitere Infek- tionen unter Drogenkonsumenten einzu- 184 schränken. So konstatiert die WHO für Vgl. Liu, Hongjie et. al.: A Study of Sexual Behavior Among Rural Residents of China. In: Journal of Acquired China noch für das Jahr 2003 „(...) but the Immune Deficiency Syndromes and Human Retrovirology, IDU problem appears to be continuing 19,1, 1998, S. 80-88. 185 almost unabated.“190 Vgl. World Health Organization Western Pacific – South East Asia: HIV/AIDS in Asia and the Pacific Region 2003, www.wpro.who.int/pdf/sti/AIDS2003/part2_grp.2.pdf 188 (entnommen am 27.4.2004), S. 53-54. Gao, Y. et.al.: AIDS and Sex Education 2001, a.a.O., S. 186 Vgl. Zhang, K. et.al.: Changing Sexual Attitudes, 1999, 733. 189 a.a.O., S.583. Siehe auch Dikötter, Frank: A History, 1997, Vgl. auch Wan, Yanhai: China Health News and the a.a.O., S. 76-77 und Anderson, A. F. et.al.: China’s Floating Henan Province Health Scandal Cover-up, 20.1.2001: Population and the Potential For HIV Transmission: A www.aizhi.org/news/jkb2.htm (entnommen am 5.1.2004), Social-Behavioural Perspective. In: AIDS Care, 15,2, 2003, eine englische Übersetzung findet sich unter: S. 177-185. http://www.casy.org/Chindoc/Wan_henan.htm (entnommen 187 Vgl. z. B. Gao, Y. et.al: AIDS and Sex Education for am 5.1.2004) und He, Aifang: Revealing the „Blood Wound“ Young People in China. In: Reproduction, Fertility and of the Spread of HIV AIDS in Henan Province. 28.November Development, 13, 2001, S. 729-737, hier S. 732. Gao bezieht 2000, S. 1-9. www.usembassy-china.org.cn/sandt/henan- sich auf eine Studie mit Studenten an zwei medizinischen hiv.htm (entnommen am 27.4.2004). Kellogg, Tom: Universitäten in Shanghai. Nur 9% der befragten Studenten, Whitewahing criminal negligence. In: China Rights Forum wusste, dass HIV nicht durch einen Moskitostich übertragbar Journal, 2002, 3, ist; 50 % wussten nicht, dass ein Kondom das http://iso.hrichina.org/iso/article.adp?article_id=4250&subcat Ansteckungsrisiko stark vermindert. Vgl. MOH, UN Theme egory_id=287 (entnommen am 10.1.2004). 190 Group on HIV/Aids in China: A Joint Assessment, 2003, WHO Western Pacific – South East Asia: HIV/AIDS in a.a.O., S. 13-14. Asia and the Pacific Region, 2003, a.a.O., S. 52. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
51 Strukturelle Merkmale, welche die HIV- Ideologie spielte auch in der politischen Epidemie bedingen, sind jedoch vor allem Reaktion des Staates auf ein primär eine ideologisch geprägte Gesetzgebung, gesundheitliches und soziales Phänomen der ideologische Anspruch in der Realpoli- wie die HIV/AIDS-Epidemie eine Rolle. Die tik, nur gering ausgeprägte und gesetzlich erste Reaktion des chinesischen Staates nicht abgesicherte Partizipationsmöglich- angesichts der HIV-Epidemie bestand aus keiten für die Zivilgesellschaft, ausgeprägte einer Schuldzuweisung an das moralisch Korruption und der zeitweise partielle Kon- verdorbene Ausland und die Beschwörung trollverlust der Zentralregierung über die konfuzianischer Tugend, die einen ausrei- Provinzen. chenden Schutz vor der Krankheit darstel- Die ideologisch geprägte Gesetzgebung be- len sollte. In den folgenden Jahren war das reitet vor allem im Bereich Prostitution Verhalten der chinesischen Regierung vor und Drogengebrauch Probleme: Bei beiden allem reaktiv, so z. B. im Fall des Blut- Erscheinungen handelt es sich in der chi- skandals in Henan. Als bekannt wurde, nesischen Wahrnehmung um gesellschaft- dass eine große Zahl von Bauern sich in liche Übel, die in einem sozialistischen Henan auf Grund unhygienischer Verfah- Staat überflüssig werden sollten. Doch rensweisen bei der Blutentnahme ange- wiegt die Diskrepanz zwischen Anspruch steckt hatte, wurde 1998 ein Gesetz gegen und Wirklichkeit schwer: Die Zahl der den illegalen Bluthandel und für kontrol- Prostituierten und die der Drogenkonsu- lierte Blutbanken erlassen.192 Doch auch menten steigt ständig – auch auf Grund Mitte der 90er Jahre herrschte weiterhin der großen sozialen und gesellschaftlichen die Tendenz vor, die Existenz und das Umbrüche. Sowohl Drogenkonsumenten als Ausmaß der Epidemie verhüllen zu wollen. auch Prostituierte können in eine Umer- Am deutlichsten wird dies an den offiziel- ziehungsanstalt gebracht werden, falls sie len Zahlen, die stets weit unter den Schät- von der Polizei aufgegriffen werden. Diese zungen von chinesischen und westlichen Bedrohung bewirkt, dass beide im Kontext Beobachtern lagen. Erst im Jahr 2002 glich von HIV/AIDS als Risikogruppe zu be- die Regierung die offizielle Zahl an die zeichnende Gruppierungen für spezifische geschätzte Zahl an, als sie erstmals von Präventionsbemühungen nur sehr schwer einer Millionen Fälle sprach.193 In Zusam- erreichbar sind bzw. was chinesische Prä- menarbeit mit internationalen Organisati- ventions- oder Behandlungsstrategien onen wurden bereits ab Ende der 90er angeht, gar nicht erst als Zielgruppe in Jahre zwei Pläne zur Kontrolle von HIV Frage kommen.191 Ähnlich verhält es sich und AIDS verfasst. Beide Pläne haben mit Homosexuellen, die nach wie vor Opfer überaus ehrgeizige Ziele, die aber mit den von staatlicher Willkür werden. Da auch geringen zur Verfügung gestellten Mitteln sie dem Idealbild der sozialistischen schlichtweg nicht zu realisieren waren und Gesellschaft nicht entsprechen, finden sie daher zunächst nur als Lippenbekenntnis im Kontext von HIV/AIDS-Prävention zu zu bezeichnen sind. Motiv für das Nicht- geringe Beachtung, was zu einer besonde- Handeln des Staates scheint vor allem die ren Gefahr für diese ohnehin gefährdete Angst vor einem Machtverlust und das Gruppe Gruppe führt. Die drei erwähnten Gruppen sind allesamt gesellschaftliche 192 Vgl. U.S. Embassy, Beijing: Aids in China, 2000, a.a.O. Randgruppen, die keinen staatlichen S. 3. Schutz erfahren, sondern vielmehr Opfer 193 Es ist allerdings bezeichnend für die Haltung der von staatlicher Diskriminierung werden. Regierung, dass sich die offizielle Zahl der HIV-Infizierten für das Jahr 2003 auf 840.000 beläuft. Selbst wenn man berücksichtigt, dass in dieser Zahl 80.000 Aidserkrankte nicht enthalten sind, ist es schlichtweg unrealistisch, dass bei einer Ansteckungsrate von 30 % p. a. eine Reduktion der HIV- 191 Vgl. U.S. Embassy, Beijing: Aids in China: From Drugs Infizierten stattgefunden haben soll. Vgl. „China Has 840,000 and Blood to Sex. A December 2000 Report, S. 5. HIV Carriers, 80,000 Patients“. Xinhua News Agency, www.usembassy-china.org.cn/sandt/hivsextrans.htm 7.11.2003, www.chinagate.com.cn/english/4674.htm (entnommen am 27.4.2004). (entnommen am 6.2.2004). Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
52 damit einhergehende Bedürfnis nach erforderlichen Landeskoordinationsmecha- Erhalt des Status quo zu sein. nismus integriert hatte.196 Der Wunsch nach Machterhalt prägt eben- Die HIV/AIDS-Epidemie wurde weiterhin falls den Umgang des Staates mit zivilge- durch einen Konflikt zwischen der Zentral- sellschaftlichen Organisationen oder Indi- regierung und den Provinzen verschärft, viduen, die anstelle staatlicher Stellen wobei letztere augenscheinlich nur noch selbst auf die HIV-Epidemie reagieren. Die bedingt unter zentralstaatlicher Kontrolle Gründung von NGOs in China ist an sich stehen.197 Ein Grund liegt in der problematisch, da jede NGO einer staatli- Dezentralisierung des Bildungs- und chen Stelle angeschlossen sein muss und in Gesundheitssystems, die dazu geführt hat, jedem Bereich nur eine NGO arbeiten dass ein Großteil der aufzubringenden Gel- darf.194 Organisationen und Personen, die der von unteren Ebenen bereitzustellen ist. sich im Bereich HIV/AIDS engagieren, Damit jedoch erhalten die Provinzen große werden mit einer ambivalenten staatlichen Verantwortung bei der Prävention und Haltung konfrontiert. Bekanntestes Bei- Behandlung von HIV/AIDS, der sie häufig spiel ist in diesem Zusammenhang der Ak- nicht gewachsen sind.198 tivist Wan Yanhai. 1992 gründete er in In der Provinz Henan waren es hochran- Peking mit Zustimmung des staatlichen gige Kader, die den Blutspendeskandal Instituts für Gesundheitserziehung die mitzuverantworten haben. Sie versuchten, erste „AIDS Hotline“, die von vielen Homo- den Skandal und vor allem sein Ausmaß zu sexuellen benutzt wurde. Dieses Engage- vertuschen, indem sie die betroffenen Regi- ment führte zwei Jahre später dazu, dass onen von der Außenwelt abschirmten und Wan vom Gesundheitsministerium entlas- das Problem in den Medien herunterspiel- sen wurde, er daraufhin das „AIDS Action ten.199 Ergänzt wurde diese Maßnahme mit Project“ gründete und in den Folgejahren einer Weitergabe von viel zu niedrigen In- eine maßgebliche Rolle bei der Aufdeckung fektionszahlen an zentralstaatliche Ein- des Blutspendeskandals in Henan spielte. richtungen.200 Hierbei handelt es sich um Im Jahr 2002 wurde Wan überraschend ein in China durchaus Geschichte habendes von der chinesischen Polizei verhaftet und Verfahren: Zahlen werden angepasst, um mehrere Wochen festgehalten, da er Erwartungen vorgesetzter Institutionen zu angeblich Staatsgeheimnisse (gemeint waren ohnehin bekannte Informationen zu Henan) im Internet publik gemacht 196 Vgl. HRW: Locked Doors, 2003, a.a.O., S. 32. Dem habe.195 Das tiefe Misstrauen gegenüber Folgeantrag aus dem Jahr 2003 wurde stattgegeben, da zivilgesellschaftlichem Engagement zeigte inzwischen auch zivilgesellschaftliche Vertreter im Landes- koordinationsmechanismus vertreten sind. sich ebenfalls sehr deutlich in der chinesi- 197 He Aifang: Revealing the „Blood Wound“ 2000, a.a.O., schen Bewerbung beim „Globalen Fonds S. 8. zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose 198 Vgl. National Intelligence Council: The Next Wave of und Malaria“ im Jahr 2002. Es wurden HIV/AIDS, 2002, a.a.O., S. 4, 20. Siehe auch National Center for HIV, STD and TB Prevention, Centers for Disease China keine finanziellen Mittel für Pro- Control and Prevention, U.S. Department of Health and jekte im Bereich HIV/AIDS zugesprochen, Human Services: Report of an HIV/AIDS Assessment in da das Land keine Vertreter der Zivilge- China. 2001, S. 8. sellschaft und des privaten Sektors in dem www.usembassy-china.org.cn/sandt/ptr/cdc-assessment- prt.htm (entnommen am 27.4.2004). Vgl. auch Krieg, Renate; Schädler, Monika: Soziale Sicherheit im China der neunziger Jahre. Institut für Asienkunde, Hamburg 1995, S. 187-197. 199 Vgl. Park Kunming, Alice: China’s Secret Plague. In: Time 15.12.2003, 162,24, S. 54-60, hier: S. 59. Siehe auch HRW: Locked Doors, 2003, a.a.O., S. 29. 194 200 Vgl. Saich, Tony: Governance and Politics of China. Bereits in dem 1997 verfassten Dokument „China Palgrave, Houndmills 2001, S. 172-175. Responds to Aids“ wird auf die Gefahr hingewiesen, dass 195 Vgl. Csete, Joanne: Detained Aids Activist Wan Yanhai Zahlen, die an übergeordnete Ebenen weitergegeben werden, Released. 20.9.2002, durchweg zu niedrig sein könnten. Vgl. CMOH; UN Theme www.hrw.org/press/2002/09/china0920.htm (entnommen am Group on HIV/AIDS in China: China Responds to Aids, 17.6.2003). 1997, a.a.O., S. 4. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
53 entsprechen und nicht zur Rechenschaft 5. Fazit gezogen zu werden. Gelder, die von der Die HIV/AIDS-Epidemie konnte sich in Zentralregierung als Nothilfe für betroffene China bislang relativ ungehindert ausbrei- Bauern zur Verfügung gestellt wurden, ten und wurde in Teilen direkt verstärkt sind Opfer von Korruption auf Provinz- durch staatliche Blutsammelstationen, die ebene geworden und haben die Betroffenen gegen hygienische Mindestanforderungen nie erreicht. AIDS-Patienten, die protes- verstießen. Seit zwei bis drei Jahren gibt es tiert haben, um grundlegende medizinische aber deutliche Anzeichen, dass die Zentral- Versorgung zu erfahren und von der Steu- regierung eine aktivere Rolle bei der erpflicht ausgenommen zu werden, wurden Bekämpfung und Prävention von HIV/ Opfer von Polizeigewalt.201 Politische Ent- AIDS spielen will. Seit der SARS-Epidemie scheidungsträger der Provinz, wie z. B. Liu im Sommer 2003 und der Ernennung von Quanxi (Leiter des Gesundheitsamts der Wu Yi zur Gesundheitsministerin scheint Provinz), Chen Kuiyuan (Parteisekretär sich ein Politikwechsel abzuzeichnen. In von 2000 bis 2002), Li Changchun (Partei- den zentralchinesischen Provinzen wird ein sekretär von 1992 bis 1998) wurden hinge- umfassendes Projekt für die Blutspendeop- gen nicht zur Verantwortung gezogen, fer aufgelegt, das finanziert wird von der obwohl sie, wenn auch in unterschiedlich Zentralregierung, den betroffenen Provin- hohem Maße, zur Entstehung des Blut- zen und durch den „Globalen Fonds zur skandals, seiner Vertuschung und der Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Nichtversorgung der Opfer mit zum Teil Malaria“. Im Rahmen des Projekts soll u.a. zentralstaatlich bereitgestellten Mitteln die kostenlose medizinische Versorgung für beigetragen haben.202 Sie wurden stattdes- einkommensschwache Patienten gesichert sen befördert und bekleiden noch heute werden. Hochrangige Politiker, wie z.B. der wichtige Positionen.203 Premierminister Wen Jiabao, hatten über- Der Konflikt zwischen Zentralstaat und dies öffentlichkeitswirksame Auftritte mit einzelnen Provinzen offenbart sich auch in HIV-infizierten Patienten, um für größere dem großen Spielraum, den Provinzen Akzeptanz dieser Gruppe zu werben.205 offensichtlich in Bezug auf HIV/AIDS Dennoch sind diese positiven Bemühungen haben. Während in Henan zwangsweise mit Vorsicht zu betrachten: Noch immer Kader der mittleren Ebene in sogenannte werden Infektionszahlen beschönigt und „AIDS-Dörfer“ geschickt werden, um den weitere betroffene Provinzen nur widerwil- politischen Widerstand zu überwinden, pro- lig benannt. Tiefgreifende aber notwendige filiert sich Yunnan als Kooperationspartner Maßnahmen fehlen noch, so dass es abzu- von vielen internationalen Organisationen warten bleibt, ob die veränderte Haltung bei dem Versuch, HIV und AIDS einzu- des Staates nur Symbolcharakter hat oder dämmen und hat sich mit einer äußerst ob China mit über zehn Jahren Verspätung fortschrittlichen Verordnung bezüglich wirklich den Kampf gegen eine Epidemie HIV/AIDS hervorgetan.204 aufnimmt, die bereits viele Opfer gefordert hat und in den kommenden Jahren noch 201 Vgl. HRW: Locked Doors, 2003, a.a.O., S. 8. Siehe auch fordern wird. Agence France Press: Villagers Dying of AIDS Make Desperate Appeal for Help. 30.5.2001, http://www.essentialdrugs.org/edrug/archive/200106/msg000 08.php (entnommen am 10.3.2003). 202 He, Aifang: Revealing the „Blood Wound“, 2000, a.a.O., S. 1-9. Vgl. HRW: Locked Doors, 2003, a.a.O., S. 65. 203 Vgl. Adams, Brad: China’s Other Health Cover-up. In: The Asian Wall Street Journal, 12. Juni 2003, www.hrw.org/editorials/2003/china061203.htm (entnommen am 20.4.2004). 204 Vgl. U.S. Embassy, Beijing: Aids in China, 2000, a.a.O., www.yn.xinhuanet.com/ylfzh/fagui/2004/021001.htm S. 7. Vgl. Renmin ribao vom 19.2.2004. Siehe auch: Yunnan (entnommen am 25.2.2004). 205 sheng aisibing fangzhi banfa (Verordnung zur Prävention und Vgl. Watts, Jonathan: China Faces Up to HIV/AIDS Kontrolle von AIDS der Provinz Yunnan) vom 10.2.2004, Epidemic. In: The Lancet, 362, 9400, 13. Dez. 2003, S. 1983. Focus Asien Nr. 17: Dimensionen sozialer Herausforderungen in der Volksrepublik China
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