Angola tanzt den harten Hintern

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Angola tanzt den harten Hintern
Angola tanzt den harten Hintern | norient.com           8 Jun 2022 01:04:37

    Angola tanzt den harten
    Hintern
    by Stefanie Alisch

    Kuduro mit seinen harten Raps ist das beatlastige
    Dancefloor-Gewitter aus dem süd-westafrikanischen Angola.
    Szenestar Titica wurde als Mann geboren. Sie schert sich

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    keinen Deut um die Reaktionen zwischen Toleranz und
    Transphobie und setzt zu einer internationalen Kuduro-
    Karriere an.

    Titica rauscht in pinken 16-Zentimeter-High-Heels, Etui-Minirock und
    lachsfarbener Flatterbluse ins auf 17 Grad klimatisierte Sitzungszimmer ihrer
    Agentur LS Produções in der angolanischen Hauptstadt Luanda. Die
    glamouröse 25-Jährige singt und tanzt Kuduro. Sie ist frisch zurück von einer
    Tournee mit Auftritten in Brasilien, den USA und Mosambik. 2009 und 2010
    wurde sie zur besten Kuduro-Tänzerin gekürt. Im Herbst 2011 wurde ihr von
    Radio Top Kuduro der Titel «Beste Kuduro-Künstlerin» verliehen. Titica ist in
    Angola allgegenwärtig – in TV, Radio und Presse. Neben ihrer Musikkarriere
    modelt sie. Mit ihrem Trademark-Schrei «Aaaaahhhh – Assume!» («Steh
    dazu!») sorgt sie neuerdings auch international für Furore.

    Pop zwischen Kolonialismus, Sozialismus, Bürgerkrieg und
    Kapitalismus
    Die Künstlerin lebt in einem Land, in dem die rund 500 Jahre portugiesischer
    Kolonialherrschaft noch immer in alle Bereiche hineinwirken. 1975 wird
    Angola unabhängig. Fast 30 Jahre Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden
    Befreiungsbewegungen verwüsten grosse Teile Angolas und zwingen
    Millionen zur Migration ins Ausland oder in die Hauptstadt. Luanda wird zur
    Megacity mit ausufernden informellen Vierteln. 2002 ist endlich Frieden.
    Angolas Reichtum an Öl und Diamanten lockt internationale Förderfirmen ins
    Land und treibt den Bauboom voran. Während heute ein paar megareiche
    AngolanerInnen Firmen im krisengeschüttelten Portugal aufkaufen, hangeln
    sich Millionen unter prekärsten Bedingungen durch das postsozialistische
    System.

    Ab 1961 etabliert sich in Luanda eine urbane, populäre Musikszene, die
    gleichzeitig international vernetzt und lokal verwurzelt ist. Angolanische Stile
    wie Semba und Kizomba festigen die Nationalidentität Angolanidade.
    Kongolesische Stile wie Soukous oder Ndombolo prägen in den 80er-Jahren
    die Musikkultur des Nachbarlandes Angola. Seit etwa 1990 legen die DJs in
    Luandas Innenstadtdiskotheken elektronische Tanzmusik von Chicago-
    House bis Eurodance auf. MCs beginnen über diese Instrumental-Tracks, die
    Batidas, zu rappen. Mit Tony Amados Stück «Amba kuduro» («Tanz den
    harten Hintern») manifestiert sich Kuduro 1996 als eigenständiges Genre mit
    hartem Beat um die 140 bpm, Gesang und Tanz.

    Spannungsgeladene Wortduelle
    Ende der 90er-Jahre verbreitet DJ Sebem die Musik schliesslich per
    Radiosendung über die ganze Stadt. Nach dem Ende des Bürgerkrieges 2002
    wird Kuduro zum Massenphänomen mit Stars, Hits, umkämpftem

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    Gründungsmythos und seit 2009 auch eigener TV-Show. Die weitere,
    grösstenteils informelle, Verbreitung funktionierte dann über unzählige kleine
    Studios, MP3-Compilations, Strassenhändler, Radiosendungen,
    Bluetoothübertragungen zwischen Mobiltelefonen und Blogs. Auch
    tänzerisch hat Kuduro viel zu bieten: Ähnlich wie im jamaikanischen
    Dancehall wird zu jedem Kuduro-Song ein gleichnamiger Tanz präsentiert.
    Kuduro-Sänger und Sängerinnen tanzen entweder selbst oder kommen mit
    mehreren Tänzern und Tänzerinnen auf die Bühne. Eine gewisse Loyalität
    dem eigenen Viertel gegenüber spiegelt sich in den Texten und spielerischen
    verbalen Duellen wider, die in Anlehnung an US-amerikanischen Hip-Hop Bife
    («Beef») genannt werden. Bifes lassen sich allerdings auch auf den
    angolanischen Karneval oder auf Estiga genannte Wortduelle zurückführen,
    die unter angolanischen Kindern üblich sind.

    2012 ist es in Luanda rund um die Uhr laut. Junge Männer rufen die Ziele der
    blauweissen Minibustaxis aus, Strassenhändler übertönen den
    allgegenwärtigen Baulärm mit Megafonen. Ein Hinterhoffest übertrumpft das
    nächste mit übersteuerten Soundsystems, aus denen angolanische,
    kongolesische und südafrikanische Beats donnern. Kindergeschrei mischt
    sich in das Brummen der Generatoren, die die regelmässigen Stromausfälle
    für die betuchteren Bewohner und Bewohnerinnen Luandas überbrücken.
    Aufjaulende Motorräder können auf wundersame Weise die mit
    Geländewagen verstopften Strassen durchdringen. Ständiges Stop-and-Go,
    Drängeln, Schieben und den richtigen Moment Abpassen gehören zum Alltag.
    Sich durchboxen, trotz oder gerade wegen grosser Widerstände zu
    insistieren, lauter, schneller, härter zu agieren als das Gegenüber – für diese

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    Überwindungsdialektik wird im Kuduro der Begriff Carga verwendet. Carga
    bedeutet auf Portugiesisch «Ladung», im elektrischen oder
    transporttechnischen Sinne, aber auch «schwere Aufgabe». Im Kuduro steht
    Carga für spannungsgeladene Performance in puncto Beats und verbalem
    Ausdruck, in Tanz, Körpersprache und Styling.

    Von Teca Miguel Garcia zu Titica

    In ihrem aktuellen Hit «Olha Boneco» («Schau mal, die Puppe») singt Titica:
    «Ich bin die schwerste Ladung, die Batterie, die auflädt.» Wer im Kuduro die
    krasseren Dance-Moves draufhat, noch buntere Hairstyles oder gewagtere
    Outfits trägt, noch härter rappt – der oder die gewinnt. Gewinnt zumindest
    für den Moment Distinktion und vielleicht über längere Zeit ein Standing und
    ein Einkommen. Titica wird als Junge mit dem Namen Teca Miguel Garcia in
    Luanda geboren. Schon mit 14 Jahren tanzt er sogenannten traditionellen
    afrikanischen Tanz. Über die kongolesische Familie bekommt Teca Nbombolo
    und andere kongolesische Styles mit, die immer noch in den Rhythmen und
    der Instrumentierung von Titicas Songs mitschwingen. Vor vier Jahren liess
    Teca sich in Rio de Janeiro Brustimplantate einsetzen und nahm öffentlich die
    weibliche Persona Titica an.

    Mehrere Jahre tanzt Titica für Kuduro-KünstlerInnen wie Própria Lixa, Noite
    Dia oder Puto Português, schreibt Refrains für deren Stücke und träumt von
    einer eigenen Gesangskarriere. Dann singt Titica im Duett mit Tuga Agressiva
    das Stück «Afrike Moto». Als ihr Übergang von der Tänzerin zur Sängerin
    vollzogen ist, konzentriert sich Titica auf die Solokarriere. 2011 dröhnt ihr Hit
    «Chão» («Boden») mit der eingängigen Tanzanleitung «Boden, Boden,
    Boden, Boden – hoch, hoch, hoch, hoch» durch alle Sammeltaxis,
    Radiosender, Clubs und Hinterhofpartys Luandas. Ihre Beats werden von
    Starproduzent DJ Devictor gebaut. Titica lässt ihre Tracks im teuersten
    Studio der Stadt mastern. Auf ihrem im Oktober 2011 erschienenen Album
    experimentiert Titica auch mit anderen angolanischen Genres als Kuduro:
    «Ich will nicht berühmt werden, sondern Karriere machen. Deswegen mache
    ich jetzt auch Stücke im Stil von Tarraxinha, Kizomba oder Kilapanga.»

    Angeknüpfte Dreadlocks und Pink-bunte Männermode

    Im Video zu «Olha Boneco» ist Titica eine Braut, die sich mit ihren Girlfriends
    aufbrezelt und durch die Stadt cruist. «Schliess deinen Mann ein, Titica ist im
    Haus. Mach Schluss mit der Diskriminierung, vernetz dich mit der
    Globalisierung», singt sie. Ihr Song «Sida não» («Aids: Nein») ruft zu Safer
    Sex auf. Sonst geht es in ihren Texten ums Tanzen, Feiern und darum, wie
    begehrenswert sie selbst ist. Drag im Sinne einer hochgradig ausformulierten
    Inszenierung von Geschlecht ist in Angola auch dann üblich, wenn sich
    biologisches und soziales Geschlecht decken. Viele Frauen in Angola tragen
    Megapumps, knappe Garderoben und Glamour-Make-up so offensiv, dass

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    europäische Dragqueens daneben wie Hausmütterchen dastehen. Kunsthaare
    und Perücken sind für Frauen in Luanda normal. Auch bei Männern sind
    angeknüpfte Dreadlocks keine Ausnahme.

    Kuduro-Peformerinnen mit Namen wie Tuga Agressiva («Agressive
    Portugiesin»), Dama Rebenta («Berstende Dame»), Lily Fogosa («Feurige
    Lily») präsentieren mit selbstverständlichem Sexappeal ihren Body-Mass-
    Index über 27. Viele männliche Kuduristas zeigen sich in pink-buntem Styling,
    kleiden ihre knabenhaften Körper in Tchuna Baby genannte Shorts und
    frisieren die gefärbten Iros mit viel Hingabe. Auch bunter Schmuck,
    Glitzerdeko oder das Tragen von Röcken sind für Männer nicht
    ausgeschlossen.

    In der angolanischen Popmusik existiert ein romantisches Fach, in dem
    Männer über ihre zärtlichen Gefühle singen. Die meisten Kuduro-Frauen
    geben sich auf der Bühne auch dominanter als die Hyper-Femme Titica.
    Neben ihr betreten mittlerweile auch andere Trans-Kuduristas wie Edy Sex
    die mediale Bühne. Flüchtig betrachtet liesse sich schlussfolgern, dass in der
    angolanischen Popmusik eine ganz besonders interessante Form der Body-
    und-Gender-Demokratie umgesetzt würde, die auch für den Rest der
    Gesellschaft gälte. Wenn allerdings im persönlichen Gespräch mit
    AngolanerInnen aller Schichten und Altersklassen die Rede auf Titica kommt,
    weisen die Kommentare in eine andere Richtung. Thema Nummer eins sind
    oft nicht ihre Tanz- und Gesangskünste, sondern die Bearbeitung sekundärer
    und primärer Geschlechtsmerkmale. Was ist mit ihrem Hintern, zwischen
    ihren Beinen, mit ihren Lippen, mit ihrem Gesichtshaar los?

    Transsexualität als negativer Globalisierungs-Effekt

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    Angola ist ein sehr christliches Land. Laut Verfassung kann Homosexualität
    mit Arbeitslager bestraft werden. Gleichzeitig existiert eine kleine offene
    Homoszene in einigen Nightlife-Spots Luandas. Crossdressing ist gängige
    Praxis im jährlichen Karneval. Wer sich aufmerksam durch die Baixa, die
    Innenstadt Luandas, bewegt, kann Boys in Drag begegnen. Anfang Mai 2012
    geistert die Nachricht durch die angolanische Klatschpresse, dass Titica beim
    diesjährigen Brasilienaufenthalt ihren Körper nun dem kompletten Sex-
    Change unterzogen hätte. Ein älterer Herr aus der Kulturelite kommentiert:
    «Die Eltern leiden. Kann sein, dass sie jetzt viel Geld verdient, aber die Eltern
    sind nicht glücklich. Titica hat sich schon immer wie eine Frau benommen,
    auch vor der Operation.»

    Das ist die noch diplomatische Variante der Kritik, die Titica in Angola
    entgegenschlägt. Aus Kommentaren auf YouTube oder Facebook klingt
    entweder religiös argumentierende Transphobie oder extremes Fantum, das
    sich teils geschlechtsblind gibt, teils zu Toleranz aufruft. Zu behaupten, dass
    Titicas Erfolg ein Zeichen der Offenheit der angolanischen Gesellschaft in
    Bezug auf vielfältige Lebensentwürfe sei, wäre zu kurz gegriffen.
    Homosexualität oder Transsexualität gelten für viele als Importe aus
    Brasilien, als negativer Effekt der Globalisierung, schlicht als unafrikanisch.

    «Ich bin eine Frau, ich bin nicht mehr transsexuell.»

    Wie geht Titicas Medienpräsenz mit einem derartig ambivalenten bis
    genderkonservativen Umfeld zusammen? Neben performativer Superpower,
    unermüdlicher kreativer Arbeit und charmanten Networking-Skills gibt es da
    noch einen anderen Faktor. Titica geniesst den Support von Semba
    Comunicação. Die Agentur produziert Content für das Staats-TV TPA2, das
    die wöchentliche Kuduro-Show «Sempre a Subir» («Immer auf dem Weg

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    nach oben» – da ist sie wieder, die Überwindungsdialektik) oder die tägliche
    angolanische Variante der David-Letterman-Show «Hora Quente» («Heisse
    Stunde») sendet. In beiden Shows wird Titica zuvorkommend empfangen.
    Semba Comunicação regelt nicht nur den Zugang zu bestimmten Medien.
    Über die Ablegerfirma Da Banda veranstalten sie auch Kuduro-Shows in
    Paris, Luanda und Berlin, um Angolas Image im Ausland aufzupolieren. Die
    nach dem angolanischen Nationalsound benannte Medienagentur gehört dem
    Präsidentensprössling Coréon Dú, seinerseits Musiker und
    Diskothekenbesitzer.

    «Die Köpfe der Leute in Angola sind immer noch sehr verschlossen»,
    kommentiert Titica die Situation im Land. «Ich geh’ da einfach drüber hinweg.
    Erst komme ich, dann ich, dann ich, dann ich und dann die andern. Ich denke
    gar nicht an diese Leute.» Ob sie mit ihrer Musik gegen Diskriminierung
    ankämpfen will? «Nein, nicht unbedingt. Diskriminierung existiert nur in den
    Köpfen der anderen. Wenn sie nicht über sich hinauswachsen, wachse ich. Ich
    sage mir immer: Ich bin eine Frau, ich bin nicht mehr transsexuell.»

    Dieser Artikel erschien erstmalig im Missy Magazine 03/12 am 3. August 2012.

    → Published on August 08, 2013

    → Last updated on October 26, 2020

    Stefanie Alisch is a musicologist and dj from Berlin, she currently works as research
    assistant at the music archive of Iwalewa-Haus.

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