Diskurse von Geopolitik und ,Neuem Kaltem Krieg' - Zur Veränderung medialer Repräsentationen von Russland und ,dem Osten' - GH
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supported by Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021 © Author(s) 2021. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Diskurse von Geopolitik und ,Neuem Kaltem Krieg‘ – Zur Veränderung medialer Repräsentationen von Russland und ,dem Osten‘ Christoph Creutziger and Paul Reuber Institut für Geographie, Universität Münster, Münster, 48149, Germany Correspondence: Christoph Creutziger (creutziger@wwu.de) and Paul Reuber (p.reuber@uni-muenster.de) Received: 21 February 2020 – Revised: 15 November 2020 – Accepted: 25 November 2020 – Published: 26 January 2021 Kurzfassung. Thirty years after the Cold War, many aspects of the West’s self-identification are still shaped by othering ,the East‘. This geographical identity-building in Western media discourses is indicated by terms like geopolitics and the (New/Second) Cold War. The paper scrutinizes ,grand‘ narratives behind the appearances of such concepts and observes their continuities, dislocations, and disruptions. Taking a critical geopolitical perspective informed by discourse theory and based on Foucault’s conceptuali- zation of the archive, the paper introduces aspects of the transformation of geopolitical imaginations of the East and the West: (1) it reconstructs phases of the rebirth of geopolitics after WW2 until today. (2) It focuses on the changes in the East-West relations after 1990 and shows how the imagination of the ,cold war‘ disappears from media discourse. (3) Finally, it analyses the revival through rising geopolitical risk-narratives since the crises and wars in Georgia and Ukraine. 1 Die Rückkehr der Geopolitik in den aktuellen 20. Jahrhunderts nach 1990 für nahezu 20 Jahre von der Bild- Ost-West-Konflikten fläche verschwunden – verdrängt nicht zuletzt von anderen wirkmächtigen geopolitischen Repräsentationen wie Samu- Die Münchener Sicherheitskonferenz ist alljährlich eine der el Huntingtons „Kampf der Kulturen“ (vgl. z. B. Ó Tuathail, wichtigsten globalen Drehscheiben für aktuelle Leitbilder 1996; Dalby und Ó Tuathail, 1996; Reuber und Strüver, und Risikodiskurse der internationalen Politik. Im Febru- 2009; Reuber, 2012). Wer annahm, dass sich die Wiederbe- ar 2016 nutzte der russische Ministerpräsident Medwedjew lebung eines solchen Leitbildes als vergleichsweise kurzer diese prominente Bühne, um sich in seiner Rede mit der pro- Ausrutscher entpuppen würde, sieht sich seit dem Krieg in vokanten These „Wir sind in einem neuen Kalten Krieg“ (Der der Ukraine1 eines Besseren belehrt: „Der neue Kalte Krieg“ Stern online, 14. Februar 2016) zu positionieren. Mit einer lautete damals die Schlagzeile in der Frankfurter Rundschau solchen Risiko-Rhetorik steht er nicht allein: Die machtvol- (16. März 2014), „Kalter Krieg in Europa“ titelte Der Spiegel le Wiederbelebung der geopolitischen Formel vom „(Neu- (2. März 2014), und viele andere Zeitungen reaktualisierten en) Kalten Krieg“ hat sich seit einigen Jahren vor allem die Metapher in ähnlicher Weise. entlang der zunehmenden Spannungen zwischen Russland Der Rückgriff auf die Rhetorik vom Kalten Krieg ist sicher und seinen Nachbarstaaten entwickelt. Sie berührt und for- eine provokante, gleichzeitig aber nur eine von mehreren matiert gleichzeitig das Verhältnis zwischen Russland und den Staaten der EU bzw. NATO. Die Reaktualisierung be- 1 In Bezug auf die Situation in der Ukraine ab Ende 2013 wer- gann im 2008 eskalierenden Konflikt zwischen Georgien und den verschiedene Bezeichnungen verwendet – in Printmedien eben- Russland (Kaukasuskrieg), als in der Medienberichterstat- so wie in wissenschaftlichen Publikationen und sozialen Netzwer- tung plötzlich wieder vom Kalten Krieg die Rede war. Ei- ken. In diesem Beitrag verwenden wir für die Zeit der Proteste auf ne solche Diskursentwicklung war seinerzeit mehr als er- dem Maidan und die Besetzung der Krim den Begriff Krise. Der staunlich, war doch dieses zentrale geopolitische Leitbild des Krieg in der Ostukraine wird als solcher bezeichnet. Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
2 C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ historisch prominenten geopolitischen Repräsentationen, die et al., 2006; Reuber und Wolkersdorfer, 2003, 2004, 2007; im Schlepptau der Ereignisse aus den Archiven des Diskur- Dodds et al., 2013; zur Kritik Müller und Reuber, 2008; Re- ses auftauchen. Gemeinsam stehen sie für eine Wiederbele- depenning, 2006, 2007). Bezogen auf diskursive Leitbegriffe bung der Argumentationsfigur der ,Geo‘-Politik zur diskursi- wie ,Geopolitik‘ und ,Kalter Krieg‘ ist es sowohl gegenwär- ven Plausibilisierung internationaler Konfliktkonstellationen tig als auch in Zukunft interessant, die inhaltlichen Dyna- in Europa. Eine besondere Rolle spielt in diesem regiona- miken und Rollen entsprechender politischer Risikonarrati- len Zusammenhang die Renaissance eines Denkens in Ost- ve, insbesondere historisch bereits erprobter Leitbilder inter- West-Dualismen, das hier nicht nur eine seit Jahrhunderten nationaler Gegner_innenschaften, zu beobachten. In diesem eingeübte Denkschablone für die Verortung politischer Geg- Sinne verfolgt die Analyse das Ziel, herauszuarbeiten, ob und nerschaften darstellt, sondern auch als räumliches Grundmo- in welcher Form sich geopolitische Ost-West-Szenarien und tiv in das geopolitische Leitbild vom Kalten Krieg und sei- Leitbilder nach dem Ende des historischen Kalten Krieges in nen jüngst aktualisierten Wiederbelebungsversuch als Neuer die Neukonzeptualisierung der internationalen Politik einge- Kalter Krieg eingewoben ist. schrieben haben. Zusätzlich wird untersucht, inwieweit und Mit einem Fokus auf diese Phänomene arbeitet der vorlie- in welcher inhaltlichen Konturierung hier historisch etablier- gende Beitrag in einem länger angelegten zeitlichen Verlauf te geopolitische Diskursformationen als , eingeübte‘ geopoli- zunächst einführend die Phasen der ,Renaissance der Geopo- tische Raumkonstruktionen aus vergangenen Dekaden (wie- litik‘ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges heraus. Auf der) wirksam werden. dieser Grundlage konzentriert er sich im zweiten Teil beson- Dazu bedarf es einer Erweiterung des konzeptionellen ders auf die Phase nach 1990, in der sich der geopolitische Blicks der Critical Geopolitics. Benötigt werden Ansätze, die Diskurs in den Medien wieder deutlich sichtbarer etablieren sich mit der Veränderung gesellschaftlicher Diskurse im Lau- konnte. Der Artikel analysiert – mit Blick auf die sich verän- fe der Zeit beschäftigen und Aussagen über das Wiederauf- dernden Ost-West-,Gegensätze‘ – das Verschwinden und die tauchen historischer Leitbilder ermöglichen. Um eine solche Wiederbelebung des Leitbildes vom Kalten Krieg im Um- Fragerichtung theoretisch zu unterlegen, können diskursana- feld geopolitischer Risikonarrationen über Russland, weil lytische Ansätze hilfreich sein. Einen grundlegenden Impuls letzteres (nicht nur) in den medialen Repräsentationen als dafür liefert Foucault, der sich in vielen seiner Fallstudien Kern eines inhaltlich und räumlich (re-)fokussierten ,neuen (z. B. Focault, 1973; Focault und Sennelart, 2006) mit – teil- Ostens‘ identifiziert wird. Die Ergebnisse basieren auf Da- weise zeitlich sehr lang angelegten – diskursiven Verschie- ten eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finan- bungen und Umbrüchen beschäftigt hat. In seiner „Archäo- zierten Projektes2 . Dessen Schwerpunkt lag auf der Analyse logie des Wissens“ (Foucault, 1981) hat er bei dem teilwei- der Konjunkturen von Ost-West-Risikoszenarien am Beispiel se fragmentarisch gebliebenen Versuch, allgemeine theore- ausgewählter Mediendiskurse. „Klassische“ Zeitungen bil- tische und methodologische Grundlagen seiner Analyse zu den dabei trotz der zunehmenden Rolle sozialer Medien eine formulieren, auch Aspekte von Zeitlichkeit und zeitlicher zentrale gesellschaftliche Vermittlungsinstanz geopolitischer Veränderung diskursiver Formationen thematisiert. Leitbilder und Diskurse, die zudem über einen langen Zeit- Aus seiner Sicht gehören Veränderungen und Verschie- raum in ähnlicher Struktur vorliegen. Dies macht deren kon- bungen zu den grundsätzlichen Merkmalen gesellschaftli- tinuierliche Analyse auf Ebene der Sprache für eine auf aktu- cher Diskurse. Er geht entsprechend davon aus, dass aktuelle elle Diskursentwicklungen reagierende Kritische Geopolitik Diskurse Teile ihrer Wirkkraft und ihrer hegemonialen Deu- interessant (Medby, 2020; Müller, 2018; Toal, 2017). tungsmacht aus ihrem historischen Gewordensein beziehen. Dieser Aspekt verweist darauf, „daß der Diskurs nicht nur einen Sinn oder eine Wahrheit besitzt, sondern auch eine Ge- ,Archive der Geopolitik‘ als diskurstheoretischer Rahmen schichte“ (Foucault, 1981:184f.). Mit einer solchen Konzep- Die untersuchten geopolitischen Leitbilder sind für das Ver- tualisierung stellt Foucault die Genealogie diskursiver For- stehen und den kritischen gesellschaftlichen Umgang mit mationen, die Veränderung von Argumentationsstrukturen, diskursiven Rahmungen aktueller Konfliktkonstellationen in (begrifflicher) Verknüpfungen etc. als historischen Prozess der internationalen Politik relevant. Sie sind Teil eines brei- dar. Aus diesem Blickwinkel haben Diskurse ihre heutige in- teren Forschungsfeldes der Politischen Geographie, das sich haltliche Spezifik unter anderem deswegen, weil sie auf ver- aus Perspektive der Critical Geopolitics mit deren Rolle bei gangene Formen rekurrieren, die auch heute noch ihre Wir- der Rahmung internationaler Konflikte und den sich daraus kung entfalten. „[D]iese Ereignisse haben einst im Rahmen ableitenden politischen und kriegerischen Praktiken beschäf- ihrer ursprünglichen Situation funktioniert; sie haben Spuren tigt (vgl. z. B. Lossau, 2002; Ó Tuathail, 1996; Ó Tuathail hinterlassen, bestehen weiter fort und üben durch dieses Fort- bestehen innerhalb der Geschichte eine Reihe manifester und 2 „Die Rückkehr der ,Geo‘-Politik!? Zur Reaktualisierung geo- verborgener Funktionen aus“ (Foucault et al., 2001:762). Die politischer Ost-West-Leitbilder in der Medienberichterstattung über Gesamtheit der historischen Diskursformationen, aus denen die Konflikte in Georgien (2008) und in der Ukraine“. DFG – Pro- die derzeitigen Diskurse ihre Formen des Sagbaren (eben- jektnummer RE1200/11-1. Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021
C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ 3 so wie des Unsagbaren und Marginalisierten) beziehen, be- gen. Die Bedeutung, mit der die zentralen Signifikanten al- zeichnet Foucault als Archiv. Er versteht darunter einen ter Leitbilder verknüpft waren, gerät in Fluss und führt zu einer sich verschiebenden Sinnzuschreibung unter Einbezie- nach historischen Apriori (H. i. O.) gegliederte[n], hung und Neukombination von Elementen aus vergangenen [. . . ] durch verschiedene Positivitätstypen charak- Formen geopolitischer Risiko-Figuren. Ein solches ,semanti- terisierte[n] und durch distinkte diskursive Forma- sches Gleiten‘ ist – einer Kernaussage poststrukturalistischer tionen aufgeteilte[n] Aussagenbereich [. . . ]. Man Ansätze folgend – möglich, weil Bedeutung nie vollstän- hat es jetzt mit einem komplexen Volumen zu dig fixiert ist und weil „the transition from the ,elements‘ to tun[.] [. . . ] All diese Aussagensysteme (Ereignisse the ,moments‘ is never entirely fulfilled“ (Laclau und Mouf- einerseits und Dinge andererseits) schlage ich vor, fe, 1985:110). Beide Aspekte verweisen auf den politischen Archiv (H. i. O.) zu nennen. [. . . ] Das Archiv ist zu- Charakter der Diskurstheorie und damit auch auf deren gute nächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, Verwendbarkeit zur Konzeptualisierung entsprechender em- das System, das das Erscheinen der Aussagen als pirischer Analysen. einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv So hilfreich solche Entwürfe auch sein mögen, es bleibt ist auch das, was bewirkt, dass all diese gesagten kritisch anzumerken, dass ihre Rolle für den Erkenntnispro- Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amor- zess im Sinne der Funktion sozialwissenschaftlicher Theorie- phen Vielzahl anhäufen, [. . . ] sondern daß sie sich bildung eher als hermeneutische Deutungsfolie für die Inter- in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund viel- pretation der untersuchten Diskurse angesehen werden muss. fältiger Beziehungen miteinander verbinden, ge- Dabei besteht notwendigerweise eine gewisse Gefahr von mäß spezifischen Regelmäßigkeiten sich behaup- Zirkelschlüssen, bei denen man z. B. bei der Generierung ten oder verfließen; was bewirkt, daß sie nicht im von Codes oder bei der qualitativen Tiefenanalyse einzelner gleichen Schritt mit der Zeit zurückgehen, sondern Dokumente genau die Zusammenhänge findet, die die Köpfe daß diejenigen, die besonders stark wie nahe Ster- der Forscher_ innen durch die Formulierung untersuchungs- ne glänzen, in Wirklichkeit von weither kommen, leitender Theoriebausteine bereits vorformatiert haben. Eine während andere, noch völlig junge, bereits außer- Möglichkeit, ein solches Risiko in Grenzen zu halten, besteht ordentlich verblaßt sind (Foucault, 1981:186ff.). im Feld der Diskursanalyse darin, für grundlegende Schrit- Das Archiv ist das, „was die Diskurse in ihrer vielfa- te der Auswertungen zusätzlich quantitativ, in diesem Fal- chen Existenz differenziert und sie in ihrer genauen Dau- le lexikometrisch, zu arbeiten (Kapitel 2). Auf diese Wei- er spezifiziert. [. . . ] Es ist das allgemeine System der For- se wird mit der statistischen Logik eine weitere Maschine mation und der Transformation der Aussagen“ (Foucault, der Wahrheitsproduktion eingespannt, die dabei helfen kann, 1981:188, H. i. O.). Für Foucault wird damit das Archiv im nicht vorschnell in Deutungen zu verfallen, die der eigene Rahmen seiner Diskurstheorie zu einem zentralen Konzept, Theorieansatz nahelegt. ohne einen solchen Ansatz „schwebten die ,Aussagen‘ und die ,Diskurse‘ gleichsam im undefinierten Raum“ (Gehring, 2004:63): „the archive has an abstract function as the system 2 Methoden that governs the appearance of statements as unique events“ (Withers, 2002:304). Um die beschriebenen Fragen der Dynamiken und Verschie- In dieser Form wird das Archiv aus theoretisch- bungen geopolitischer Repräsentation von Ost und West un- methodologischer Sicht die diskursive Hintergrundfolie, in tersuchen zu können, wurden im Schwerpunkt Methoden der „die Analyse sich bewegt“ (Gehring, 2004:63). Die unten der Diskursanalyse angewendet. Als Datengrundlage dienten dargestellten Ergebnisse geben Hinweise darauf, inwieweit breit angelegte Textkorpora, die mit Hilfe von projektre- sich damit für die aktuell relevanten Begriffe der Geopolitik levanten Schlagwort-Recherchen aus der Berichterstattung und des Leitbildes vom Kalten Krieg die Konjunkturzyklen deutscher Tages- und Wochenzeitungen aufgebaut wurden geopolitischer Begrifflichkeiten und Argumentationslogiken (Tabelle 1). Diese Sammlung wurde ergänzt durch eine Rei- rekonstruieren und interpretieren lassen. Auch soll gezeigt he thematisch relevanter Vergleichskorpora, zu denen US- werden, inwieweit diese Form der Untersuchung hilfreich amerikanische Printmedien, für Teilfragen aber auch the- sein kann, um nachzuvollziehen, wie sich diese im Zeitver- menzentrierte Twitter-Daten und Reden des Deutschen Bun- lauf entwickeln und dabei – im Sinne diskurslogischer Ver- destages zählen (Tabelle 1). Der zeitliche Schwerpunkt des schiebungsprozesse, wie sie Laclau und Mouffe (1985) im Kernargumentes liegt im 21. Jahrhundert, weshalb die meis- Anschluss an Foucault beschrieben haben – verändern. Die ten Quellen aus diesem Zeitraum stammen. Für Teilfragen, empirischen Ergebnisse bieten erste Belege dafür, dass und zu deren Bearbeitung langfristigere Analysen notwendig wa- wie entsprechende Reaktualisierungen von Elementen histo- ren, wurden aber auch Korpora aus Zeitungen und Zeitschrif- rischer Leitbilder in aktuellen Konfliktkontexten nicht ,eins ten gebildet, die seit mindestens 1948 vollständig digital vor- zu eins‘ erfolgen, sondern vielmehr einer gleitenden Anpas- liegen. Insbesondere Die Zeit und Der Spiegel sind über die sung an veränderte diskursive Rahmenbedingungen unterlie- gesamte Erscheinungszeit verfügbar, und da sie gleichzeitig https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021 Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021
4 C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ Tabelle 1. Übersicht der durch themenbezogene Schlagwort-Recherchen zusammengestellten Analysekorpora, Stand: Dezember 2019. Kern-Medienkorpora Ergänzungs- und Vergleichskorpora – Der Spiegel [seit 1948] – Ausgewählte deutschsprachige Printmedienkorpora – Die Zeit [seit 1948] zum Vergleich – Frankfurter Allgemeine Zeitung [seit 1970] – Neue Züricher Zeitung [seit 1930] – Süddeutsche Zeitung [seit 1990] – Leserinnenbriefe [seit 1970] – taz – die Tageszeitung [seit 1990] – Bild [seit 2000] – Focus [seit 1993] – B. Z. [seit 2012] – Der Stern [seit 1998] – PlenarprotokolleBundestag [seit 1949] – Die Welt [seit 2000] – Englischsprachige Qualitätspresse – Frankfurter Rundschau [seit 2000] – The New York Times [seit 1948] – Handelsblatt [seit 2000] – The Washington Post [seit 1990] – Social Media – Twitter [seit 2014] – Instagram [seit 2017] Insgesamt wurden ca. 15 Millionen Presseartikel, 5,1 Millionen Social Media Posts, 4000 Sitzungsprotokolle durchsucht. auch aus wissenschaftlicher Sicht immer wieder als Leitme- ihrer relativen Erscheinungshäufigkeit über den Analysezeit- dien in Deutschland charakterisiert werden (Pfanner, 2011; raum hinweg untersucht, in einigen Fällen aber auch mit Schanze, 2002:93), wurden sie im vorliegenden Projekt für der Gesamtzahl der pro Zeitung erschienenen Artikel der die Untersuchungen herangezogen, die die gesamte Zeit seit Jahrgänge ins Verhältnis gesetzt. In diesen Fällen handelt Gründung der BRD abbilden sollten (Kapitel 3)3 . es sich jeweils um alle in digitaler Form verfügbaren Ar- Insgesamt wurden weit über 20 Millionen Dokumente tikel der jeweiligen Publikationsorgane für den untersuch- und Artikel durchsucht. Die (Sub-)Korpora wurden einer- ten Zeitraum. Diese Zahlen weichen vor allem in der Zeit seits entlang inhaltlicher Schlagwörter gebildet, andererseits von 1948 bis 1980 geringfügig von der stichprobenartig er- durch fragestellungsspezifisch unterschiedliche zeitliche In- hobenen Zahl der auf Papier gedruckten Artikel ab. Die Er- tervalle bestimmt. Sie wurden primär lexikometrisch mit gebnisse der Stichproben legen nahe, dass dabei keine syste- Hilfe korpuslinguistischer Software analysiert. Zur Anwen- matische Verzerrung entstanden und trotz dieser kleinen Un- dung kamen dabei schwerpunktmäßig AntConc (entwickelt schärfe eine hinreichend genaue Einschätzung möglich ist. von Laurence Anthony, Waseda University) als kostenloses Tool sowie wordsmith (entwickelt von Mike Scott, Oxford 2.2 Sprachliches Umfeld geopolitischer University) zur quantitativen Sprach- und Konkordanzana- Schlüsselbegriffe lyse. Ergänzend und vertiefend wurden zu einigen umfas- senderen Teilfragen kodierende und interpretative Verfah- Um die Bedeutung von Begriffsverknüpfungen zu untersu- ren eingesetzt. Unterstützend wurde dabei v. a. MAXQDA chen, wird in der Lexikometrie das sprachliche Umfeld ent- genutzt. Generell existiert zu Verfahren der Korpuslinguis- sprechender Begriffe analysiert4 . Dazu wurden im vorliegen- tik/Lexikometrie mittlerweile in der Humangeographie eine den Fall Sub-Korpora angelegt, die sich – je nach Analyse- breitere Verweisliteratur (z. B. Dzudzek et al., 2012; Glasze breite – aus den vollständigen Worten ergeben, die entwe- und Mattissek, 2009a, b; Müller, 2011), sodass die genutz- der 80 oder 140 Zeichen rechts und links der wortartüber- ten Verfahren hier nicht mehr grundlegend erläutert werden greifenden Lexeme (z. B. „Geopolitik“, „geopolitisch“ etc.) müssen. Vor diesem Hintergrund sollen hier nur drei für das bzw. Wortgruppen (z. B. „Kalten Krieges“, „Kalter Krieg“ Vorhaben spezifische Punkte angesprochen werden. etc.) lagen. Diese Sub-Kopora können mit anderen inhaltlich oder zeitlich relevanten (Sub-)Korpora verglichen werden 2.1 Lexikometrische Analyse von Begriffskonjunkturen 4 Die Diskursanalyse geht vereinfacht gesprochen davon aus, Bei den lexikometrischen Vergleichen zur relativen Vertei- dass Begriffe, die oft zusammen auftauchen, auch diskursiv ver- lung von Begriffen und Artikeln über einen längeren Zeit- bunden sind. Dies gilt auch bei einer möglichen Verneinung. Wenn raum (z. B. wortartübergreifende Lexeme von „Geopolitik“ beispielsweise gesagt wird, dass Russland keine Massenvernich- und „Kalter Krieg“) wurden die Ergebnisse teilweise nach tungswaffen eingesetzt hat, liegt hier trotzdem die diskursive Reak- tualisierung und Verknüpfung von Massenvernichtungswaffen und 3 In Übereinstimmung mit den jeweiligen Urheberrechten konn- Russland vor. Das eingangs erwähnte Zitat von Medwedjew („Wir ten zum Teil nur die Ergebnisse, nicht aber die Datenkorpora selbst sind in einem neuen Kalten Krieg“) ist auch eigentlich unzutreffend dauerhaft gespeichert werden. Die Archive sind aber öffentlich zu- aus dem Russischen übersetzt, und doch erzielte gerade diese ver- gänglich und die Ergebnisse somit jederzeit reproduzierbar. kürzte Form der Übersetzung eine starke diskursive Wirkung. Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021
C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ 5 und zeigen dann Veränderungen oder Unterschiede zwischen schauungen einen rationalen Unterbau zu geben (Reuber, sprachlichen Umfeldern an, die deutlich spezifischer sind als 2012:69ff.; Rössler, 1990). Vor diesem Hintergrund erscheint eine Betrachtung auf der Ebene ganzer (Zeitungs-)Artikel, es mit Blick auf Diskurskonjunkturen in geopolitischen Ar- die recht unterschiedlich lang und vom Aufbau heterogen chiven wichtig, die derzeitige Wiederkehr des Begriffs Geo- sein können. politik in den Medien aus einem größeren Kontext heraus zu Zur Berechnung von korpuslinguistischen Zusammen- betrachten und über die vergangenen sieben Nachkriegsjahr- hangsbeziehungen in Subkorpora von Wortumfeldern ver- zehnte die unterschiedliche mediale Präsenz mit einer Fre- wenden Programme wie wordsmith und AntConc, mit de- quenzanalyse zu rekonstruieren. Dabei lassen sich drei In- nen die Berechnungen durchgeführt wurden, zum Teil unter- tensitätsstufen herausarbeiten und unterschiedlichen zeitli- schiedliche Verfahren (chi-squared test; log-likelihood) um chen Abschnitten zuordnen: eine ,Unsichtbarmachung‘, eine die Keyness zu berechnen. Da das Log-Likelihood-Verfahren ,Trendwende‘ und eine ,Renaissance‘ des Begriffs der Geo- insbesondere bei kleineren Werten eine bessere Abschätzung politik. der Signifikanz zulässt, wurde dieses hier bevorzugt ange- Unsichtbarmachung: In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wendet. Das Signifikanzniveau (beim Vergleich von zwei vermeiden deutschsprachige Printmedien den Begriff in auf- Korpora) lag stets bei mindestens 99 % (p = 0, 01). Die- fälliger Weise (vgl. Abb. 1). Selbst in der Summe der wich- ser Wert wird als Beleg für einen Effekt interpretiert. Die tigsten deutschen Wochen- und Tageszeitungen bleibt die Keyness als Assoziationsmaß gibt hier also an, ob ein Wort Verwendung bis Anfang der 1980er Jahre über drei Jahrzehn- (Wortgruppe) in einem untersuchten Korpus im Vergleich zu te hinweg jährlich im einstelligen Bereich. Diese sprachliche einem anderen Korpus hoch signifikant häufiger auftritt als Marginalisierung kann als eine Vermeidungsreaktion, als ei- zu erwarten (Bubenhofer et al., 2015). In der Aussage über ne diskursive Gegenbewegung der Berichterstattung dieser die Signifikanz ist allerdings noch nicht unmittelbar die Ef- Dekaden interpretiert werden, die Geopolitik – ähnlich wie fektstärke enthalten und ablesbar. Die Effektstärke gibt an, andere Kernbegriffe nationalsozialistischer Ideologie – weit- wie groß der statistische Effekt des als hoch signifikant an- gehend aus den Feldern des öffentlichen Sagbaren verbannte. gesehenen Zusammenhangs ist. Wenn also ein Wort nur in Ab 1960 wird der Begriff etwas sichtbarer, taucht zunächst einem einzigen Jahr verwendet wird, hat es eine hohe statis- vor allem im Rahmen von geostrategischen Überlegungen tische Signifikanz bezogen auf diesen Jahrgang; wenn es aber auf und ist in dieser Lesart eng mit dem ,Blockdenken‘ ver- gleichzeitig insgesamt im Korpus nur sehr selten auftaucht, bunden, welches in der BRD in der Zeit des Kalten Krieges ist die Effektstärke gering und das Ergebnis wäre also für die die zentralen Raumkonstruktionen der Außenpolitik im glo- Gesamtinterpretation eher zu vernachlässigen. Daher wurde balen Maßstab bildet. in allen Untersuchungen jeweils ein Schwellenwert für die Trendwende: In den 1980er Jahren, auch verbunden mit Effektstärke festgelegt, der sicherstellt, dass sich relevante beginnenden Auflösungserscheinungen und Umwälzungen Aussagen ableiten lassen. in den Staaten des Warschauer Paktes und dem Krieg in Af- ghanistan, setzt eine merkliche Zunahme der Verwendung von Geopolitik in den untersuchten Printmedien ein. Im 3 Die großen Linien der Konjunktur des Begriffs Durchschnitt versechsfachen sich die Erwähnungen gegen- Geopolitik seit 1948 über dem ersten Zeitraum. Zugleich fällt in der qualitativen Analyse dieser Entwicklung auf, dass trotz der zunehmenden Wie kommt es, dass der Begriff der Geopolitik wieder Begriffswiederverwendung kaum eine inhaltliche Aufarbei- scheinbar selbstverständlich im Umfeld außenpolitischer tung im Sinne einer Auseinandersetzung mit der ambivalen- Medienberichterstattungen verwendet wird? Historisch sen- ten historischen Begriffsgeschichte verbunden ist. Im Unter- siblen Betrachter_innen muss diese Konjunktur aufgrund schied zu anderen Feldern der kritischen Reflexion der deut- der spezifischen Genealogie im deutschsprachigen Raum be- schen Nachkriegsgesellschaft mit Kernproblemen des Natio- fremdlich erscheinen. Geopolitik ist untrennbar mit dem eu- nalsozialismus reimportiert der mediale Diskurs das Konzept ropäischen Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus der Geopolitik recht unkritisch in den damaligen Kontext des verknüpft. Der Begriff steht in enger diskursiver Verbin- späten Kalten Krieges hinein. Vor diesem Hintergrund ver- dung zu zentralen geodeterministisch unterlegten politischen wundert es nicht, wenn der Begriff trotz – oder gerade we- Begründungsnarrativen beider Weltkriege. Er avancierte im gen – der häufigeren Verwendung recht breit, unbestimmt Dritten Reich zu einem der Schlüsselbegriffe der national- und damit auch politisch gewissermaßen kraftlos blieb. Nicht sozialistischen ,Volk-und-Raum‘-Ideologie. Zu dieser Ver- von ungefähr bezeichnete Franz Josef Strauß „Geopolitik“ ortung des Begriffs hat die seinerzeit zutiefst geodetermi- noch 1989 als „ominös“ (Der Spiegel, 35/1989). nistisch und biologistisch argumentierende Politische Geo- Eine semantische Verschiebung im Sinne einer Entkopp- graphie maßgeblich beigetragen. Deren Forschungen reih- lung von den Diskursen des Kalten Krieges erfährt der Be- ten sich ein in eine breitere völkisch-räumelnde Denkwei- griff Geopolitik nach dem Fall der Mauer – zunächst rück- se, die mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumentationen blickend in den Bewertungen der Veränderungsdynamiken versuchte, rassistischen und menschenverachtenden Weltan- nach 1989, später auch mit Bezug auf jeweils aktuelle politi- https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021 Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021
6 C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ Abb. 1. Verwendung des Begriffs „Geopolitik“ und seiner wortartübergreifenden Lexeme (auch „geopolitisch“ etc.) in den Wochenzeitungen Der Spiegel und Die Zeit zwischen 1948 und 2018. Angaben in Prozent aller dargestellten Artikel. Zum Vergleich zeigt die gepunktete Orien- tierungslinie den Durchschnittswert (arithmetisches Mittel) aller Nennungen in beiden Zeitungen. n = 1741 (Artikel in denen „Geopolitik“ auftaucht), N = 700 000 (Gesamtheit der Artikel in dem dieser Analyse zugrunde liegenden Korpus) – eigene Darstellung. sche Konstellationen sowie auf die sich neu konfigurierenden sehr allgemein in unterschiedlichen außenpolitischen Aus- geopolitischen Leitbilder (Ó Tuathail et al., 2006; Reuber einandersetzungen bzw. Konfliktfeldern verwendet. und Wolkersdorfer, 2004). Diese Verschiebung entfernt den Renaissance: Erst vor diesem Hintergrund (und der da- Begriff einerseits weiter vom völkisch-geodeterministischen mit einhergehenden Loslösung des Begriffes von Bezügen Gedankengut des Nationalsozialismus. Andererseits erwei- zum Nationalsozialismus) lässt sich dessen dritter, quantita- tert sie im Zuge der Verknüpfung mit aktuellen politischen tiv deutlich meßbarer Popularitätssprung im medialen Dis- Neuformatierungen und Umbrüchen auf der Weltbühne die kurs einordnen und verstehen. Dieser kann als eine ,Re- begriffliche Variationsbreite (und Unschärfe). In diesem Sin- naissance der Geopolitik‘ im engeren Sinne bezeichnet wer- ne lassen sich ab Mitte der 1990er Jahre eine Vielzahl sehr den, weil hier zum einen im Vergleich zur Vorphase eine unterschiedlicher Ereignisse und räumlicher Bezüge ausma- erneute Verdopplung der medialen Erwähnungen des Be- chen, die diskursiv in den Zusammenhang mit Geopolitik ge- griffs Geopolitik stattfindet. Es ist aber nicht nur die quan- stellt wurden. Tabelle 2 zeigt die jeweils auffälligsten Begrif- titative Steigerung, die hier von Bedeutung ist, sondern zum fe im Vergleich der damaligen Zeitungsjahrgänge mit dem anderen auch die sich dabei vollziehende semantische Re- Gesamtkorpus. Es tauchen dabei nur Begriffe und Begriffs- justierung, die den Begriff inhaltlich in seine gegenwärti- paare auf, die für das Jahr statistisch signifikant sind und die ge Diskursposition und Deutungslogik hinein (ver)schiebt. zugleich eine hohe statistische Effektstärke haben. Die kon- Diese entfaltet sich in einem recht engen zeithistorischen kreten Fälle und ihr schneller zeitlicher Wechsel zeigen, wie Fenster, im Umfeld der Konflikte zwischen Russland, seinen die möglichen Bedeutungen, mit denen der Begriff Geopoli- (süd-)westlichen Nachbarstaaten und den damit verbunde- tik verknüpft wird, in dieser Öffnungsphase nach dem Ende nen außenpolitischen Reaktionsweisen des ,Westens‘. Kon- des historischen Kalten Krieges vielfältiger und unbestimm- kret wird die diskursive Verschiebung ein erstes Mal 2008 ter werden. So werden etwa Streitigkeiten zwischen Pakistan deutlich sichtbar mit dem Kaukasuskrieg. Die neue Selbst- und Indien, zwischen Israel und seinen Nachbarn, ebenso wie verständlichkeit der geopolitischen Erzählweise betrifft sei- Debatten über Rohstoffe in China und ganz allgemein der nerzeit auch zahlreiche wissenschaftliche und populärwis- Klimawandel als dezidiert geopolitische Themen gerahmt. senschaftliche Veröffentlichungen aus dieser Zeit (z. B. Ca- Überprüft man entsprechende Fundstellen inhaltsanalytisch, sula, 2012; Lucas, 2008; MacKinnon, 2007; Moïsi, 2010; so finden sich in all diesen Fällen keine direkten Bezüge zum Scholl-Latour, 2006). Die Entwicklung findet ihren vorläu- Kontext der alten Ost-West-Konflikte, zum Kalten Krieg oder figen Höhepunkt in der Verkopplung mit den Ereignissen in zu den ideologischen Verstrickungen vor 1945. Der Begriff der Ukraine. Abbildung 1 zeigt, dass kein Ereignis im Un- „Geopolitik“ wird in dieser Phase in deutschen Printmedien tersuchungszeitraum zeitungsmedial so sehr mit dem Begriff Geopolitik verknüpft wurde wie die Krise und der Krieg Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021
C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ 7 Tabelle 2. Das Begriffsumfeld von „Geopolitik“: semantische Streuung und zeitliche Veränderung der regionalen und inhaltlichen Verknüp- fungen in deutschen Printmedien von 2000 bis 2014, aufgeführt sind die Begriffe mit der höchsten Keyness (Vergleich zum Gesamtkorpus) und mit hoher Effektstärke (Schwellenwert). Jahr Regionalisierte Begriffe im engeren Sonstige inhaltliche Begriffe im engeren Wortumfeld von Geopolitik und Wortumfeld von Geopolitik und entsprechenden Lexemen entsprechenden Lexemen 2000 Afrika Erdöl 2001 Afghanistan, Pakistan Globalisierung 2002 USA, Irak, Türkei Terrorismus, September, Wehrpflicht 2003 Irak, Bagdad Massenvernichtungswaffen 2004 Türkei, EU Beitrittsverhandlungen, IWF 2005 Asien, Russland Juschtschenko 2006 Iran, Israel, Indien, Libanon Hisbollah, Hamas, Abbas 2007 Iran, Usbekistan, Darfur Klimawandel, Hisbollah 2008 Georgien, Südossetien McCain, Obama 2009 Indien, Israel, Kaschmir Nationalismus 2010 China, Türkei seltene Erden 2011 Bahrain, Libyen, Tunesien, Ägypten arabisch 2012 Syrien, Iran Anonymous, Assad 2013 Syrien, Zypern Gas 2014 Russland, Ukraine, Deutschland, Westen Wirtschaft, Putin, Maidan in der Ukraine. Zwischen 2013 und 2015 erschienen über ten Krieg: im Kontext der Großmachtrollen beim Krieg in 15 % aller Artikel zu geopolitischen Themen der Jahre 1948 Syrien, im Kontext der Griechenland-Diskurse (Zypernfrage, bis 2018. Die Deutlichkeit dieser stufenweisen ,Renaissance EU-Grenzregime) und im Umfeld des Diskurses um geoöko- der Geopolitik‘ in der Medienberichterstattung wird sogar nomische Interessenslagen von Nationalstaaten im Nordpo- noch übertroffen von vergleichend analysierten Textkorpora larmeer. aus Reden des Deutschen Bundestages, in denen diese Ent- Die Wiederauferstehung des geopolitischen Leitbildes wicklung quantitativ noch stärker zu Tage tritt. eines Kalten Krieges im Kontext regionaler Ost-West- Konfliktkonstellationen erscheint zunächst etwas verwunder- lich, ist doch der Abgesang auf das Ende des (alten) Kal- 4 Die aktuelle Renaissance der Geopolitik als ten Krieges gerade einmal knapp drei Jahrzehnte her. Daher Diskurs vom „Neuen Kalten Krieg“ lohnt aus diskursanalytischer Sicht ein Blick auf genau die- sen Zeitraum. Wie konnte es so schnell zu dieser ,zweiten Um diese Renaissance inhaltlich genauer zu bestimmen, er- Blütezeit‘ kommen? Welche Phasen der Diskursentwicklung scheint erneut eine konzeptionelle Orientierung an Foucaults lassen sich in diesen vergangenen drei Dekaden feststellen Idee vom Archiv des Diskurses hilfreich, da im Umfeld des und durch welche inhaltlichen Verschiebungen sind sie in der jüngsten quantitativen Höhenflugs des Begriffs Geopolitik Medienberichterstattung gekennzeichnet? gleichzeitig ein weiterer Begriff mit Bezug zu vergange- Im Detail zeigt sich, welche quantitativ erheblichen dis- nen geopolitischen Repräsentationen auftaucht. Es handelt kursiven ,Konjunkturschwankungen‘ der Begriff des Kalten sich um die mediale Anrufung eines „Neuen Kalten Krie- Krieges in den vergangenen drei Jahrzehnten hinter sich ge- ges“ bzw. eines „Kalten Krieges 2.0“. Diese Kombination ist, bracht hat und welche inhaltlichen und ,geo‘-politischen Ge- wie lexikometrische Kollokationsanalysen zeigen, eng ver- meinsamkeiten und Verschiebungen diese jeweils auszeich- bunden mit dem Begriff Geopolitik und stabilisiert sich als nen. Dabei lassen sich drei Teilphasen unterscheiden, die sprachliche Verbindung zunehmend seit 2008 in den oben nachfolgend kurz charakterisiert werden5 . angesprochenen regionalen Konfliktfeldern und Kriegen des Kaukasus und der Ukraine. In der Folge wird die sprach- liche Kollokation von „Geopolitik“ und „(Neuem) Kalten 5 Diese zeitliche Abfolge als Ergebnis der Frequenzanalyse der Krieg“ so stark, dass kein anderer Begriff mit höherer statis- deutschen Presseberichterstattung kommt zu etwas anderen Pha- tischer Wahrscheinlichkeit in dessen Umfeld auftaucht. Da- sierungen als stärker akteursorientierte geschichts- oder politikwis- neben fanden sich in den drei letzten Jahrzehnten des Unter- senschaftliche Perspektiven, die Trendwenden eher an politischen suchungszeitraums (d. h. nach dem Ende des Kalten Krie- Ereignissen festmachen, wie z. B. Putins Rede auf der Münch- ges) lediglich kleinere ,sonstige‘, statistisch deutlich weni- ner Sicherheitskonferenz (2007) oder der Geiselnahme von Bes- ger signifikante mediale Bezüge auf die Metapher vom Kal- lan (2004). https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021 Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021
8 C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ Abb. 2. (a–d) Neuer Kalter Krieg und der Westen – 1990 bis 2018 (eigene Darstellung). 4.1 Teilphase I: Der ,Rückzug‘ des Diskurses vom ten Krieg zwischen 20 % (USA) und 31 % (D) aller Erwäh- Kalten Krieg 1990 bis 2000 nungen innerhalb des Korpus aus allen Artikeln zum Kalten Krieg aus (Abb. 2b und d). Aber auch die übrigen Artikel Im Verlauf dieser Teilphase gehen die medialen Erwähnun- beschreiben überwiegend die Vergangenheit. Es findet sich gen des Begriffs Kalter Krieg deutlich und rapide zurück. vor allem eine Berichterstattung über das ,Verschwinden‘ 1991 erscheinen 7,3 % aller Artikel des Gesamtzeitraums – dieses ehemals global gültigen geopolitischen Leitbildes – im Jahr 2000 sind es nur noch 2,7 % (Abb. 2a). Dabei ist verbunden mit Berichten über Umbrüche und gesellschaftli- der Rückgang in den untersuchten US-amerikanischen Print- che Transformationen in postsowjetischen Staaten, allen vor- medien noch stärker als in den deutschsprachigen. Inhaltlich an Russland. Insgesamt ist die rückblickende und inhaltliche wird in dieser Zeit der Kalte Krieg vor allem als vergangen Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg aber eher deskrip- und damit ,historisch‘ beschrieben. Mitte der 1990er Jahre tiv angelegt, hat wenig kritische Tiefenschärfe im Sinne ei- machen historisierende Wendungen in Bezug auf den Kal- ner gesellschaftlichen ,Auf‘-Arbeitung. Es gibt z. B. wenig Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021
C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ 9 Auseinandersetzungen mit der Rolle ,des Eigenen‘, d. h. des 4.3 Teilphase III: 2008 bis 2018: Die Rückkehr des ,Westens‘, in den Diskursen dieser Phase. Der Schwerpunkt geopolitischen Ost-West-Diskurses als „Neuer liegt auf Perspektiven im sprachlichen Umfeld von Transfor- Kalter Krieg“ mation, Neugestaltung und Umbruch im Osten. Damit wird auch die in dieser Teilphase durchaus prominente geopoliti- Der mediale Abwärtstrend des Diskurses vom Kalten Krieg sche Fukuyama-These vom „Ende der Geschichte“ (Fukuya- findet ein abruptes Ende mit dem Kaukasuskrieg von 2008, ma, 1992) gestärkt, die den ideologischen Sieg und die Über- an dem vor allem Russland und Georgien beteiligt sind. Er legenheit des ,Westens‘ postuliert. markiert in den Medien das Ende der diskursiven Entspan- nung und den Beginn einer Repolarisierung alter Konflikt- 4.2 Teilphase II: 2001 bis 2007: Das ,Verschwinden‘ des szenarien. Damit verbunden ist in der medialen Berichter- Diskurses vom Kalten Krieg stattung eine Art Wiederauferstehung der Formel vom Kal- ten Krieg, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Zum ersten In der zweiten Phase setzt sich der quantitative Abwärts- Mal überhaupt wird hier die Figur eines Neuen Kalten Krie- trend der Erwähnungen des Begriffs „Kalter Krieg“ in den ges sichtbar – die 2008 etwa gleich häufig auftritt wie de- deutschen und US-amerikanischen Printmedien fort und er- zidiert rückblickende Bezugnahmen auf den (,alten‘) Kalten reicht im Jahr 2004 mit 2 % der Nennungen im gesamten Un- Krieg (Abb. 2b). Ab dem Jahr 2014 ist der Neue Kalte Krieg tersuchungszeitraum seinen absoluten Tiefststand. Auch in dann die häufigere Konnotation. Diese Entwicklung läuft ab Bundestagsdebatten zeigt sich ein ähnlicher Trend. In dieser hier inhaltlich parallel mit der im vorherigen Kapitel ausge- Phase werden die ideologischen Risikoszenarien des Kalten führten Renaissance ,geo‘-politischer Risikodiskurse im en- Krieges sukzessive überlagert von der Rhetorik vom Clash geren Sinne (russische Einflusszonen, Nachbarschaftspolitik, of Civilizations, der in dieser Phase spätestens seit den Ter- Sicherheitskorridore, Sicherung von Meereszugängen etc.), roranschlägen vom 11. September 2001 in den USA globale die von der Medienberichterstattung als Rationalisierungen geopolitische Krisendiskurse in den Medien dominiert. Ent- der neuen Konflikte und Kriege im regionalen Spannungsfeld sprechend ist das alte Leitbild vom Kalten Krieg argumenta- von Ost-West herangezogen werden. Obwohl diese diskursi- tiv kaum anschlussfähig. Die geopolitische Erzählung vom ve Reaktivierung nicht die Prominenz erreicht, die der ,alte‘ ,Kampf gegen den Terror‘ löst die Ost-West-Binarität als Kalte Krieg seinerzeit eingenommen hat (Abb. 2b), schlägt medial hegemoniales Deutungsmodell ab. Vor diesem Hin- sie sich im angesprochenen Zeitraum relativ gesehen doch tergrund verblassen (vermeintliche) Ost-West-Dichotomien als deutlich ansteigende Wiederverwendung einer sprachli- nicht nur, sondern die Medien berichten zunehmend über chen Figur nieder, die wenige Jahre zuvor auf dem ,Weg in Formen der Annährung zwischen den alten Gegner_innen: die geopolitischen Archive‘ zu sein schien. Sie beschleunigt Russland öffnet z. B. seinen Luftraum für die NATO, erlaubt sich sogar noch einmal ab 2013 im Zuge der Berichterstat- die Nutzung seiner Militärbasen, ehemalige Länder des War- tungen über die kriegerischen Entwicklungen in der Ukraine. schauer Paktes sind Mitglieder in der von G. W. Bush ge- Konzeptionell ist an dieser Entwicklung aus der theore- bildeten ,coalition of the willing‘. Weitere Beispiele für die tischen Perspektive des Wirkens vergangener ,Archive der mediale Fokussierung auf Themen der ,Entspannung‘ in Be- Geopolitik‘ beachtenswert, dass diese Form der ,Wiederein- zug auf Russland finden sich in der zunehmenden Vernet- führung‘ aus Sicht ,westlicher‘ Medien diskursiv vor allem zung in Feldern der Ökonomie und der Energieressourcen. deswegen so gut zu funktionieren scheint, weil es sich mit Zusammenarbeit und Kooperation – noch immer in Verbin- Russland um die ,Nachfolgemacht‘ der Sowjetunion han- dung mit der Neuartigkeit dieser Beziehungen – sind auffal- delt und weil der ,Gegner‘ erneut im ,Osten‘ liegt. An die- lend überrepräsentiert im Vergleich zu den anderen Phasen. ser Stelle zeigt sich noch einmal nachdrücklich, wie sehr der Auch der räumliche Fokus re-zentriert sich nach dem Zer- Kalte Krieg als historisch vergleichsweise ,junge‘ Risikonar- fall der Sowjetunion auf Russland, das Interesse an anderen ration Teil einer sehr viel älteren im geopolitischen Archiv postsowjetischen Räumen lässt deutlich nach und auch die verankerten Narration von Ost-West-Unterschieden ist. Auf- Ukraine und Georgien werden fast gar nicht adressiert, erst grund einer solchen diskurshistorisch (genealogisch) einge- recht nicht in Bezug auf den Kalten Krieg oder Ost-West- übten geopolitischen Verortungsweise besitzt die Idee vom Konflikte. Bei der medialen Repräsentation der Machtstruk- Kalten Krieg 30 Jahre nach dem Fall des ,Eisernen Vorhangs‘ turen beginnt sich ein Schwenk von der Parteienstruktur (ZK, für die Medien im vorgegebenen Konfliktkontext erneut eine Politbüro, Kreml etc.) hin zu einer stärken Personifizierung hohe Plausibilität. Es sind zahlreiche sprachliche Verknüp- auf wenige Schlüsselakteure aus Politik und Wirtschaft ab- fungen und diskursive Muster erkennbar, die aus der Zeit zuzeichnen (Führungseliten). dieses allumfassenden Systemkonfliktes stammen. Scheinbar mühelos wird die Geschichte in dieser Form weitererzählt. Diese Befunde zeigen, wie sehr die Jahrzehnte des Kalten Krieges stabile diskursive Verortungs- und Risikomuster ge- schaffen haben, die offenbar auch in den Jahren der Annähe- rung von Ost und West ein (weitgehend schweigender) Teil https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021 Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021
10 C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ des diskursiven Archivs geblieben sind, und die dann ab 2008 schobenen Weise. Dies deutet sich in der Medienberichter- ihre Argumentationsschablonen erneut bereithielten, um ak- stattung prominent bereits im angepassten Leitbegriff vom tuelle Deutungsmuster – trotz aller Unterschiede – in einer Neuen Kalten Krieg an, der zu einer eigenständigen Be- ähnlichen Weise ,vorzufräsen‘ (vgl. Reuber, 2020:741f.). schreibungsformel für die Konflikte in den westlichen An- Gleichzeitig zeigt ein zweiter Blick auf inhaltliche Füllun- rainerstaaten Russlands wird, und zwar sowohl in deutschen gen dieser Reaktualisierung, dass ihre Umstände im Detail als auch in US-amerikanischen Zeitungen. Diese Verschie- komplexer sind. Die medialen Verweise auf den Kalten Krieg bung hat drei Dimensionen, die nachfolgend diskutiert wer- zeigen, dass nicht jede historisch denkbare Sagbarkeitsopti- den sollen. on bezüglich der Gegner_innenschaft mit Russland reaktua- lisiert wird. Zusätzlich unterliegen diejenigen Elemente, die 5.1 Erste Dimension: Neue ,Raum-Ordnungen‘ in den aus vergangenen geopolitischen Diskursen hervorgeholt und politischen Geographien von Ost und West weitergetragen werden, einer inhaltlichen Veränderung. Bei aller Plausibilität der hier vorliegenden Phasierun- In seinen politischen Geographien hat der Neue Kalte Krieg gen muss aus diskurstheoretischer Sicht darauf hingewiesen viel weniger mit dem historischen Kalten Krieg zu tun, als es werden, dass sich die Abfolge der beschriebenen Elemen- zunächst scheint. Zwar finden sich alte Deutungsformeln wie te trotz vermeintlicher Evidenzen nicht monokausal durch ,Russland gegen den Westen‘, Stellvertreterkriege, Steige- einzelne historische Ereignisse erklären lässt. Obwohl die- rungen der Militärausgaben, Gefechtsübungen etc., die dem se – auch aufgrund ihrer häufigen Wiederholung in media- diskursiven geopolitischen Archiv des Kaltem Krieges ent- len Berichten und Kommentaren – plausibel erscheinen, er- stammen. Aber dahinter vollzieht sich eine Rekonfiguration gibt sich keine unmittelbare Zwangsläufigkeit der dahinter- der räumlichen Ordnungen von Ost und West in den unter- liegenden diskursiven Rahmungen. Hinzu kommt, dass geo- suchten ,westlichen‘ Medien, und zwar auf unterschiedlichen politische Diskurse auch immer Teil anderer gesellschaftli- Ebenen. cher Auseinandersetzungen sind und damit gleichzeitig auf Global gesehen war der ,alte‘ Kalte Krieg „eine unterschiedliche diskursive Aussagesysteme verweisen, die politisch-ideologische, ökonomische, technologisch- in ihren historischen Formatierungen sehr verschieden an- wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung“ gelegt sein können. So ist beispielsweise das Ziel der Un- (Stöver, 2012), die (aus ,westlicher‘ Perspektive) weltweit abhängigkeit Deutschlands von Öl- und Gas-Importen ab stattfand. Das lässt sich nicht nur Geschichtsbüchern Ende der 1990er Jahre eine sich durchsetzende diskursive entnehmen, sondern wird auch durch die lexikometrische Formation, die in der Medienberichterstattung stark geopo- Auswertung räumlicher Begriffe im sprachlichen Umfeld litisch kontextualisiert wird und in besonderer Weise auch des Kalten Krieges in den 1960er bis 1980er Jahren sichtbar. die Beziehungen zu Russland betrifft. Gleichzeitig intera- Im Neuen Kalten Krieg nach 2008 geht es in Bezug auf die gieren diese Diskurse mit gesellschaftlichen Diskursen um räumliche Ausdehnung aber nicht mehr um den Konflikt den Klimawandel und daraus entstehen gemeinsam ande- der beiden Supermächte und ihrer weltumspannenden In- re (auch politisch-geographische) inhaltliche Verknüpfun- teressenssphären, sondern um das regionale Spannungsfeld gen und geopolitische Konstruktionsweisen als etwa in den zwischen Russland, seinen westlichen Nachbarstaaten und 1950er Jahren, als intensive Handelsbeziehungen mit fossi- der Europäischen Union. So spielten auch die USA nur len Bodenschätzen als positives Zeichen der europäischen während der ersten Monate des Krieges in der Ukraine eine Integration gesehen wurden (z. B. Europäische Gemeinschaft sichtbare Rolle (vgl. Barthel und Bürkner, 2019). Russland für Kohle und Stahl, 1952). Die hier untersuchten geopoliti- wird eher selten als Großmacht bezeichnet, es wird im schen Ost-West-Beziehungen sind also immer Teil von sich Diskurs der Medien – von Ausnahmen abgesehen – durch komplex überlagernden diskursiven Formationen. Entspre- ein (noch) etwas verschwommenes Bild als geopolitische chende Aspekte inhaltlicher Wechselwirkungen und begriff- Regionalmacht abgelöst. An die Stelle des Dualismus licher Verschiebungen treten in der dritten Phase des Kon- Kapitalismus/Kommunismus tritt eine Vorstellung vom junkturzyklus des Kalten Krieges seit 2008 (Georgien) und Westen als ,freier Welt‘, der Russland als Verkörperung des noch deutlicher ab 2014 (Ukraine) zu Tage und sollen nach- unfreien und moralisch unterlegen ,Ostens‘ gegenübersteht folgend etwas detaillierter umschrieben werden. – eine Formel, in der erneut eine bereits sehr alte Denkfigur geopolitischer Identitätskonstruktion wiederauflebt. ,Ost‘ und ,West‘ sind dabei – ähnlich wie seinerzeit im Kalten 5 Neuer Kalter Krieg: Eine Rückkehr mit diskursiven Krieg – stark aufgeladene Begriffe und weit mehr als Verschiebungen und veränderten politischen Himmelsrichtungen. Geographien Was die mediale Repräsentation der konkreten Konfliktre- gionen angeht, ist aus geographischer Sicht interessant, dass Die Reaktualisierung alter Ost-West-Risikodiskurse als Neu- die seit 2014 referenzierten Räume (aus westlicher Sicht) er Kalter Krieg erfolgt in den untersuchten Medien – wie fast ausschließlich im Osten liegen. Auch im Bundestag wird oben skizziert – nicht 1 : 1, sondern in einer diskursiv ver- – anders als in den 1980er Jahren – die eigene Rolle in Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021
C. Creutziger and P. Reuber: Diskurse von Geopolitik und ‚Neuem Kaltem Krieg‘ 11 diesem Dualismus seltener thematisiert. Vereinfachend lässt len Münchner Sicherheitskonferenz 2020 durchpaust. Eine sich feststellen, dass der Neue Kalte Krieg etwas ist, was solche Abgrenzung gab es zwar in allen untersuchten Zei- mit Russland zu tun hat und derzeit vor allem in der Ukrai- ten, doch war sie im Verhältnis zur Bestimmung der Geg- ne stattfindet. Im sprachlichen Umfeld um den Neuen Kal- nerschaft in keiner Phase so dominant (Barthel und Bürkner, ten Krieg finden sich fast ausschließlich räumliche Refe- 2019; Toal, 2017). renzen in den post-sowjetischen Raum (Ukraine, Russland, Während Inhalt und Form des Sprechens über einen Neuen Kiew, Donbass, Krim, Georgien). Die Räume dazwischen Kalten Krieg – wie oben gezeigt – vom historischen Kon- spielen im Wesentlichen in ihrem Bezug zu Russland eine flikt abweichen, wird gleichzeitig die diskursive Polarisie- Rolle. Der Westen, die EU, Deutschland, die USA etc. wer- rung von Wir/Westen und Die Anderen/Russland stärker. Da- den räumlich hingegen sehr viel weniger repräsentiert. Auf bei wird der Westen in den medialen Berichterstattungen lokaler Ebene lässt die starke Fokussierung der Medienbe- häufiger zu einer Art ,moralischer Idee‘ weiterentwickelt, richterstattung auf die Konflikt- und Kriegsereignisse in der die die ursprüngliche Bedeutungslogik der geographisch- Ukraine gleichzeitig andere Nachbarregionen Russlands aus geopolitischen ,Verortung‘ bei diesem Signifikanten in den dem Aufmerksamkeitstrichter westlicher Gesellschaften ver- Hintergrund treten lässt. Dieser Trend zeigt sich auch dar- schwinden, obwohl sie im Prinzip mit ähnlichen politischen in, dass die Frage, was in den Medien als Westen bezeich- Problematiken konfrontiert sind. Auf diese Weise formatie- net wird, auf der normativen Ebene des Diskurses verhandelt ren die Medien den Blick auf die Landkarten, wie das Bei- wird. Die postulierte inhaltliche Nähe zu westlichen Werten spiel der Republik Moldau/Transnistrien zeigt, welche trotz ist also entscheidender als die Lage: Obwohl die baltischen ähnlicher Konstellationen wie in Georgien und der Ukraine Staaten geographisch weiter in den Osten reichen, werden zwar etwas häufiger als in den Phasen davor, aber insgesamt sie deswegen im Untersuchungskorpus nicht selten als schüt- in viel geringerem Umfang thematisiert wird. Transnistrien zenswerter und ,westlicher‘ verhandelt als z. B. Polen und wird in vielen Jahren kein einziges Mal im Bundestag ange- Ungarn. Deren aktuelle Regierungen werden entlang ihrer sprochen und auch in den Zeitungen nur sehr selten erwähnt. Orientierung an ,westlichen‘ Werten verortet, wenn z. B. in Bezug auf die freie Presse und Wissenschaft, Demokratie und sexuelle Selbstbestimmung über ,Abweichungen‘ be- 5.2 Zweite Dimension: Stärkung der Selbstanrufung als richtet wird. ,Westen‘ gegenüber ,Russland‘ als räumlich Man könnte also sagen: Der ,Westen‘ als geopolitische fokussiertem ,Anderen‘ Selbstbezeichnung wird wichtiger (im Sinne von häufiger) Im Zuge der Reaktualisierung der Debatten über Geopoli- und zugleich (politisch-geographisch) unsichtbarer. Damit tik und Kalten Krieg rückt auch der ,Westen‘ als geopoliti- wird er zu einer Art unmarkiertem Zentrum, zum Norma- sche Selbstbezeichnung ,des Eigenen‘ wieder stärker in den len, beansprucht für sich stillschweigend den Stellenwert ei- Mittelpunkt der deutschsprachigen Medienberichterstattung. ner Universalie. Gleichzeitig wird er in den medialen Re- Abbildung 2c zeigt die relative Verteilung dieser Bezeich- präsentationen der neuen Ost-West Debatte – anders als im nung in den untersuchten Zeitungen und Artikeln mit geopo- historischen Kalten Krieg – weniger im Sinne einer direkten litischem Bezug. Die Ergebnisse sind semantisch bereinigt6 Konfliktpartei angesprochen, er ist zum Beispiel statistisch und zeigen, dass die Selbstanrufung des ,Westens‘ parallel zu im direkten Umfeld der Begriffe vom Neuen Kalten Krieg den Ereignissen in Georgien (2008) und der Ukraine (2013) unterrepräsentiert. Nur die Selbstbezeichnung des Eigenen sprunghaft ansteigt und sich dieser Trend danach auf einem in den Medien als Westen wird über alle Artikel und The- höheren Niveau einpendelt. menfelder hinweg stärker. Es kann geschlussfolgert werden, Die wichtigsten Worte im direkten sprachlichen Umfeld dass sich der mediale Selbstdiskurs über den ,Westen‘ ins- von „Westen“ in Artikeln mit Bezug zum Begriff Geopoli- gesamt und nicht nur in explizitem Bezug zum Neuen Kalten tik unterscheiden sich in den beiden letzten Phasen. Waren Krieg verändert. Während der Osten eine mit konkreten Räu- es zwischen 2001 und 2007 die Worte „USA“, „Europa“ und men verknüpfte gedankliche Einheit bleibt, ist ,der Westen‘ „Islam“, die am häufigsten auftauchten, sind es nun „Russ- in Anlehnung an Laclau und Mouffe (1985) ein „gleitender land“, „Sanktionen“, „Ukraine“ und „Putin“, die jeweils Signifikant“, dessen Rolle – etwas zugespitzt formuliert – vor häufiger vorkommen als „USA“, „Europa“ oder irgendwel- allem in Form einer (vermeintlich globalen) Wertegemein- che anderen Formen der positiven Selbstbestimmung. Die- schaft re-imaginiert wird7 . ser Vergleich zeigt, dass der Westen sich nun viel stärker durch Abgrenzung gegen ein ,Außen‘ als durch Formen der 7 Dies zeigt sich – abseits des Untersuchungsbeispiels – exem- inhaltlichen Selbst-Bestimmung definiert, ein Umstand, der plarisch an der Verknüpfung westlicher Wertestandards mit Dis- sich bis in den Leitbegriff der Westlessness auf der aktuel- kussionen um die menschenrechtliche Lage vs. bündnispolitische Bedeutung Saudi-Arabiens, an den medialen Diskussionen um den 6 Herausgenommen sind häufig auftretende Wortverbindungen, Zwiespalt zwischen dem alltäglichen Umgang mit flüchtenden und die das Ergebnis verfälschen, wie z. B. Westbank/West-Jordanland; migrierenden Menschen und der abstrakten bzw. fehlenden morali- Westwind etc. schen Position ,des Westens‘ https://doi.org/10.5194/gh-76-1-2021 Geogr. Helv., 76, 1–16, 2021
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