Der Bandit, der Held und der Narco

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Der Bandit, der Held und der Narco
Der Bandit, der Held und der Narco | norient.com                          20 Oct 2021 16:23:20

    Der Bandit, der Held und der
    Narco
    by Helena Simonett

    Die auf Tubas und Pauken gespielte Banda-Musik stammt
    ursprünglich aus dem Nordwesten Mexikos. In der modernen
    Variante des Techno-Banda ist diese Musik in Los Angeles ab
    den 90er Jahren sehr populär geworden. Für die einen gilt sie
    als Mafia-, Banditen- und Drogenmusik, für die anderen als
    Ausdruck der gesellschaftspolitischen Realitäten vieler
    Mexikaner in den USA.

    Die Massenmigration von Billiglohn-Arbeitern aus Mexiko und Zentralamerika
    nach Südkalifornien führte in den 1990er Jahren zu einer signifikanten
    kulturellen Veränderung des Gastlandes. Diese demografische
    Transformation machte sich insbesondere im musikalischen Leben der
    Latino-Viertel in den kalifornischen Grossstädten und deren
    Agglomerationen bemerkbar. Eine neue Generation junger Amerika-
    Mexikaner in Kalifornien liess sich von der «Banda-Bewegung» der frühen
    1990er Jahre anstecken und begann, die Musik der mexikanischen
    Arbeiterklasse nicht nur zu hören und zu spielen, sondern sie als Symbol einer
    eigenen kulturellen Identität neu zu definieren. Speziell beliebt unter den
    diversen Stylen der so genannten música ranchera (ländliche Musik) ist der
    corrido, eine Balladenform, die heutzutage mit banda (Blasmusik von
    Mexikos Nordwest-Küste) oder norteño (Akkordeon-Musik von Nord-Mexiko)
    begleitet wird. Beide Ensembles geniessen in den Sierrastaaten Sinaloa,
    Durango und Chihuahua seit langer Zeit grosse Popularität — einer Gegend
    also, die auch für den Drogenanbau bekannt ist. Seit den 1970er Jahren haben
    die ökonomische sowie die politische Macht und Waffengewalt der
    Drogenhändler stark zugenommen — und damit auch ihre Sichtbarkeit und
    ihr kultureller Einfluss.

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    Im Zentrum dieses Essays steht das neue Repertoire der lokalen und
    transnationalen mexikanischen Bands, die so genannte narco-música (Musik,
    die von Drogenhandel und Drogenhändlern berichtet). Diese Drogenmusik ist
    sowohl unter der ländlichen Bevölkerung im Norden Mexikos als auch in den
    spanischsprachigen Immigrantengemeinden in den USA äusserst populär.

    So gehören beispielsweise die norteño-Gruppen Los Tigres del Norte und Los
    Tucanes de Tijuana zur Zeit zu den «Top 10 Latin Artists» von Billboard, dem
    einflussreichen Magazin der US-Populärmusik: das Doppel-CD Album Jefe de
    jefes (Der Boss der Bosse) der Tigres wurde 1998 sogar für den Grammy
    Award nominiert. Die Tucanes sind die einzigen Artisten neben Selena, der
    1995 ermordeten Tex-Mex Königin, die sechs Alben gleichzeitig auf der
    Billboard Liste platzieren konnten. Die Beliebt- und Bekanntheit der narco-
    corridos, dem Hauptgenre der Narco-Musik, hat inzwischen leidenschaftliche
    Diskussionen provoziert — ähnlich der «Gangsta Rap»-Debatte in den USA.
    Die Gegner der Narco-Musik kritisieren den negativen Einfluss, den eine
    Musik auf die Jugend ausübe, die den Drogenhandel und Gewalt entschuldigt
    oder gar verherrlicht und wollen die Narco-Musik deshalb verbieten. Die
    Befürworter hingegen interpretieren Narco-Musik als Spiegel des Dramas,
    das sich zur Zeit in der mexikanischen Politik abspielt, das heisst, als ein
    sensitiver, realitätswiderspiegelnder, artistischer Ausdruck. Um im
    internationalen Musikmarkt wettbewerbsfähig zu sein (und zu bleiben),
    haben auch bekannte Bandas angefangen, mehr narco-corridos in ihr
    Repertoire aufzunehmen — womit auch sie sich der öffentlichen Kritik
    aussetzten.

    In der Populärmusik im Nordwesten Mexikos, insbesondere in Sinaloa, ist der
    Einfluss der Narco-Subkultur seit über dreissig Jahren spürbar. Mexikos
    Wirtschaftskrise von 1982, das Erdbeben von 1986 und die Senkung der
    Ölpreise stärkte den Einfluss der Drogenhändler — heute sind sie ein
    wichtiger Bestandteil der nationalen Wirtschaft: als Arbeitsgeber, als
    Investoren, als Devisenträger, als Sponsoren und als Wohltäter. Reiche
    Narcos organisieren Freizeitaktivitäten und Unterhaltung im Dorf und spielen
    deshalb eine wichtige Rolle in der lokalen Kultur. Wegen ihrer Freigebigkeit
    geniessen manche Narcos ein hohes soziales Ansehen sowie einen guten Ruf
    und sind respektierte Persönlichkeiten in ihrem Heimatsort. In den Augen
    mancher Armen sind Narcos sogar Robin-Hood-ähnliche Banditen — oder
    anders gesagt, Volkshelden. Sinaloas Geschichte ist von etlichen Männern
    gezeichnet, die zur Schaffung eines moralischen Bewusstseins beigetragen
    haben, in dem Banditenverehrung Teil der kollektiven Vorstellungskraft der
    Bevölkerung ist.

    Der Bandit als Volksheld und als Vorbild der Narcos
    Dass die massgeblich von Drogenhändlern beeinflusste Subkultur ihren
    gegenwärtigen Status in Sinaloas Gesellschaft erlangen konnte, verdankt sie
    diversen Faktoren: Die mexikanische Revolution von 1910 brachte nicht nur

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    bedeutsame Erneuerungen in nationalen, politischen und ökonomischen
    Bereichen, sie verschmelzte auch verschiedene Gruppen von Leuten in eine
    Nation und half, eine einzigartige Identität zu kreieren. Das authentische
    Mexiko sah man in den Helden der Revolution verkörpert, deren Kampf für
    soziale Gerechtigkeit und Gleichheit zum Fundament des modernen Mexiko
    wurde. Inspiriert von den Revolutionären und ihren heroischen Taten
    entstand in den Jahren während und unmittelbar nach der Revolution eine
    grosse Menge an Folklore, die ihrerseits später der populären Kultur, dem
    Film und der Musik als Grundlage diente. Trotz der persönlichen Spannungen
    und unerbitterlichen Kämpfe zwischen den Revolutionärsanführern bettete
    die post-revolutionäre Regierung alle Kämpfer vereint im Pantheon der
    nationalen Helden zur Ruhe. Mystifiziert und kultiviert von der neuen
    Regierung wurden die campesino-(Bauern)Führer in beispielshafte, gerechte
    und aufrechte Mexikaner transformiert. Zweifellos, die Revolution prägte die
    Idee des «aufrechten Mannes» — el valiente. Doch Heldenballaden und -
    geschichten gab es schon lange vor der Corrido-Massenproduktion in den
    1910er und 20er Jahren. Viele dieser heroischen Männer kämpften für die
    Ideale sozialer Gerechtigkeit, widersetzten sich der herrschenden Klasse und
    setzten sich für das ausgebeutete und unterdrückte Volk ein. Hätte Heraclio
    Bernal, zum Beispiel, dreissig Jahre später gelebt, wäre er ein Revolutionär
    gewesen. Doch vor der Massenrebellion gegen das Regime des diktatorischen
    Präsidenten Porfirio Díaz (1876-1911) waren Aufständische, die gegen
    Unterdrückung und Armut protestierten und das Gesetz missachteten, nichts
    weiter als bandidos (Banditen) und Kriminelle.

    In den Augen des gemeinen Volkes war ein bandido allerdings nicht
    zwingendermassen eine schlechte Person. Besonders dann nicht, wenn es
    sich um einen «sozialen Banditen» handelte, d.h. um einen, der
    gesetzeswidrige Taten zum Wohle der Gemeinschaft verübte. In anderen
    Worten (und das gilt auch heute noch): Taten, die von der Obrigkeit als
    gesetzeswidrig eingestuft werden, die aber von einer Sensibilität für soziale
    Gerechtigkeit zeugen, können von der besitzlosen Klasse durchaus als
    rechtschaffen betrachtet werden. Gut und böse oder richtig und falsch
    müssen deshalb nicht notwendigerweise Antipoden sein. Ethische Kategorien
    scheinen weit weniger stabil zu sein als üblich angenommen wird. Dieselbe
    Ambivalenz findet man auch in der Haltung der Allgemeinheit gegenüber
    Drogenhändlern. Wie andere Regionen Mexikos hat auch Sinaloa eine
    stattliche Zahl «aufrechter Männer» hervorgebracht. Einer der
    prominentesten Banditen ist Jesús Juárez Maza, besser bekannt als Malverde,
    «El bandido generoso» (Der edelmütige Bandit) oder «El rey de los pobres»
    (Der König der Armen). Malverde wurde angeblich 1870 in Las Milpas, im
    Norden Sinaloas, geboren. Laut mündlicher Überlieferung war Malverde aber
    nicht ein ordinärer Bandit, sondern eine Robin Hood-ähnliche Figur: Er
    versteckte sich in der Sierra, von wo aus er die Reichen bestahl, um den
    Schatz unter den Armen zu verteilen. Es wird auch erzählt, dass er dafür

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    gesorgt habe, dass sein Kopfgeld an die Armen verteilt wurde. Der
    grossherzige Räuber Malverde ist ganz und gar der Archetyp des sozialen
    Banditen wie ein populärer corrido bestätigt:

    Él fue un bandido mas nunca un asesino
    cuando robaba era por necesidad
    pues lo poquito o lo mucho que robaba
    lo repartía con generosidad

    Er war ein Bandit, aber niemals ein Mörder,
    wenn er stahl, dann aus Not
    denn das wenige oder viele, das er stahl,
    verteilte er mit Edelmut.

    Obwohl zu Malverdes Zeiten und in seiner Umgebung Gewalttaten an der
    Tagesordnung waren, ist es verständlich, dass die Leute ihren Helden nicht
    nur als aufrichtig, anständig und geachtet betrachten wollten, sondern als
    uneingeschränkt bewundernswert. Dieser Wunsch manifestiert sich auch im
    folgenden Corrido, der die Verhaftung des bandido generoso erzählt. Der
    ausgearbeitete Dialog zwischen Malverde und dem Offizier mit der
    Exekutionsorder kann als eine Art Aussöhnung der gegnerischen Parteien
    (Gesetz und Gesetzeslosigkeit) gedeutet werden, vor allem aber erlaubt er,
    Malverdes edlen Charakter zu unterstreichen:

    Fusilaron en la sierra al bandido generoso
    murió amarrado de un pino con un pañuelo en los ojos
    el gobierno lo mató porque era muy peligroso.
    En Durango y Sinaloa donde seguido robaba
    para ayudar a los pobres o al que lo necesitaba
    después hacía lo que el tigre al cerro se remontaba.
    Cuarentiocho soldados que andaban tras de sus pasos
    todos le gritaban al tiempo, ¡Sube las manos en alto
    y no trates de escaparte porque te hacemos pedazos!
    Le preguntaba el teniente por que iba robando
    —No robo porque me guste, tampoco me estoy rajando
    me duele ver inocentes que de hambre andan llorando.
    —No quisiera fusilarte por tu valor y nobleza
    pero en toditos los bancos tiene precio tu cabeza.
    —No se preocupe, teniente, cobre usted la recompensa.

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    —Vas a pagar con la vida tu buena acción con la gente.
    —Eso yo ya sabía y no me asusta la muerte
    en el infierno nos vemos, allá le espero, teniente.

    Sie erschossen den edlen Banditen in der Sierra,
    er starb an einer Pinie angekettet, seine Augen mit einem
    Tuch verbunden,
    die Regierung hat ihn umbegracht, da er als sehr gefährlich
    galt.
    In Durango und Sinaloa pflegte er zu rauben,
    um den Armen und den Bedürftigen zu helfen,
    danach zog er sich wie der Tiger in die Berge zurück.
    Die 48 Soldaten, die seinen Spuren folgten,
    sie alle riefen zusammen: «Nimm deine Hände hoch
    und versuch nicht zu fliehen, sonst müssen wir dich
    erschiessen.»
    Der Ober-Leutnant fragte ihn, weshalb er raube.
    «Ich raube nicht, weil ich es liebe, auch nicht um zu protzen,
    es schmerzt mich zu sehen wie die Unschuldigen vor lauter
    Hunger weinen.»
    «Wegen deiner Tapferkeit und Grösse möchte ich dich nicht
    erschiessen,
    aber alle Banken haben ein Kopfgeld versprochen.»
    «Sorgen sie sich nicht, Ober-Leutnant, kassieren sie die
    Prämie.»
    «Du wirst deine guten Taten mit deinem Leben bezahlen.»
    «Mit dem habe ich schon immer gerechnet, und der Tod
    erschreckt mich nicht,
    wir werden uns in der Hölle wieder treffen, Ober-Leutnant,
    dort werde ich sie erwarten.»
    Malverde soll kurz vor dem Ausbruch der Revolution im Jahre 1909 auf
    Anordnung der Regierung in Culiacán erhängt worden sein. Siebzig Jahre
    später erbaute ein Mann namens Eligio González León in der Nähe des
    angeblichen Hinrichtungsortes eine Kapelle, wie den folgenden corridos zu
    entnehmen ist:

    A escasos metros de la capilla estaba
    aquel mezquite donde habría de terminar
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    aquel bandido tan bueno y generoso…
    Vuela, vuela palomita, párate allá en aquella vía
    cerquita de la estación, allí tiene su capilla
    hecha por González León, que es un hombre de valía.

    Wenige Meter von der Kapelle enfernt
    befand sich jener Mezquite Baum, an dem er endete,
    dieser gute und edelmütige Bandit…
    Flieg, flieg, kleine Taube, halt ein dort auf dem Geleise,
    nahe des Bahnhofes, dort steht seine Kapelle,
    gebaut von González León, einem mutigen Mann.

    In Sinaloa gehören sowohl der Bandit wie der Banditenmythos zum
    alltäglichen Leben. Malverdes Kapelle in Culiacán ist aber zweifelsohne das
    auffälligste Bekenntnis zum Banditenkult. Der «edelmütige Bandit» wird in
    aller Öffentlichkeit wie ein Heiliger verehrt. Tausende pilgern jährlich zu
    seinem – von der offiziellen katholischen Kirche nicht akzeptierten — Schrein
    in Sinaloas Hauptstadt Culiacán. Leute beten zu Malverde mit tiefer Hingabe
    und bitten ihn um alle möglichen und unmöglichen Gefälligkeiten und
    Wundertaten. Als Dank für die Erhörung bringen manche von ihnen
    Geschenke, oft in Form von Musik. Meistens lungern ein paar Musiker vor der
    Kapelle herum, die für wenig Geld aufspielen. Manchmal werden aber
    komplete bandas, norteño oder mariachi Gruppen angeheurert:

    De todo lo que robaba lo repartía entre los pobres
    por eso es que hoy en día se le hacen grandes honores
    con música y veladoras y ramilletes de flores.

    Was immer er raubte, er verteilte es an die Armen,
    deshalb wird er heutzutage von ihnen verehrt,
    mit Musik, Kerzen und Blumensträussen.
    Malverde ist überall in Sinaloa anzutreffen. Leute stellen kleine Altare mit
    seiner Statue, Kerzen und Blumensträussen an Busstationen, Dorfplätzen,
    Strassenecken oder bei sich zu Hause auf. Betrachtet man die verschiedenen
    Designs auf den bunten Seidenhemden der rancheros (Rancher) auf den
    Viehmärkten oder der Kundschaft sinaloensischer Nachtklubs in Los Angeles
    und an Konzerten mit Banda- und Norteñamusik, so kann man auf einigen
    Malverdes Porträt erkennen. Einige dieser Männer tragen auch fingerdicke
    goldene Halsketten mit schweren goldenen Medaillons mit dem Abbild
    Malverdes, der Virgen de Guadalupe (der Jungfrau von Guadalupe, die in
    Mexiko mehr verehrt wird als Maria) oder dem gekreuzigten Jesus. Obwohl
    Malverde ursprünglich ein Held der Armen war, wird er heute auch von vielen

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    Reichen verehrt. Von einigen Neureichen sagt man, dass sie Malverde nicht
    nur verehren, sondern sich mit dem edelmütigen Banditen auch identifizieren.
    Wie bereits erwähnt, einige Narcos unterstützen die Landbevölkerung
    manchmal finanziell; hauptsächlich natürlich, um sich deren Loyaltät zu
    erkaufen, aber manchmal auch aus einem Anflug von Grossherzigkeit und
    Mildtätigkeit. Obwohl der Drogenhandel mit Überfällen, Entführungen und
    Mord einhergeht, können vereinzelte Narcos also respektierte Zeitgenossen
    sein. In diesem Sinne vereint der Narco dieselben entgegengesetzten
    Persönlichkeiten wie der edelmütige Bandit.

    Der Hahn und sein Hühnerhaus
    Etwas allgemein gesagt: Lieder reflektieren die Ideologien der Gesellschaft
    von welcher sie produziert und konsumiert werden. So finden wir das Porträt
    Sinaloas und seiner Bewohner in der lokalen Folklore — einer Folklore, die, wie
    andernorts auch, von nationalistischen, post-revolutionären Ideologien
    durchtränkt ist. In der Folge eines wachsenden regionalistischen
    Bewusstseins haben sich in Mexiko nach der Revolution (1910-20)
    verschiedene Musikstile und Ensembletypen herauskristallisiert. In Sinaloa
    war dies die banda sinaloense oder tambora, wie die regionale Windband im
    Volksmund auch heisst. Das charakteristische Ensemble Sinaloas wird seither
    gebraucht, um diese Heimatliebe wachzurufen. Sänger lassen ihre
    musikalische Begleitung selten unerwähnt: «Auf diesem Land bin ich
    geboren, das ich mit ganzer Seele liebe … und mit banda Musik besinge.»

    Die Sinaloenser sind im Allgemeinen sehr stolz auf ihre Geschichte — hat der
    Staat doch etliche national anerkannte Helden hervorgebracht. Männer wie
    Ángel Flores, Juan Carrasco und Heraclio Bernal stehen exemplarisch für Mut,
    Tapferkeit und moralische Integrität. Sie haben nichts gemeinsam mit den
    revolutionären Banditen mit den über die Schulter gehängten Patronengurten
    oder den bis zu den Zähnen mit Pistolen bewaffneten Strauchdieben, den
    Helden der Leinwand der Goldenen Ära des mexikanischen Cinemas.

    In der ranchera Musik, die über Jahrzehnte nationalistischen Zwecken gedient
    hatte, finden wir weder soziale Kritik noch die Enttäuschung über das
    Scheitern der Umsetzung der revolutionären Ideale noch die sozialistische
    Vision der Cárdenas Ära der 1930er und 40er Jahre. Unberührt von den
    politischen und sozialen Bewegungen wurden in der ranchera Musik die
    idealisierten Bilder des ländlichen Lebens in Mexiko besungen. Und mit der
    Zeit begann sogar die Landbevölkerung an die von der Populärkultur
    aufrechterhaltenen Stereotypen zu glauben. Mit der wachsenden
    Popularisierung der Folklore begann auch die Volksmusik einige dieser
    Stereotypen zu integrieren. Neuere Kompositionen sprechen denn auch von
    der sprichwörtlichen sinaloensischen Starrköpfigkeit, Aufschneiderei und
    Prahlerei.

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    Starrköpfigkeit ist eine der meistbesungenen Eigenschaften des
    Sinaloensers. Der populäre ranchera Komponist Cuco Sánchez, zum Beispiel,
    hat in «No soy monedita de oro» (Ich bin kein Goldstück) festgehalten: «Ich
    bin Sinaloenser von Kopf bis Fuss / ich bin direkt und ehrlich … ich bin
    starrköpfig wie ein Esel / deine Familie mag mich nicht weil ich singe / aber
    so wurde ich geboren, so bin ich / und wenn sie mich nicht mögen, wen
    kümmerts!» In «Qué retumbe la tambora» (Auf dass die Tambora erschalle),
    einem Lied, das patriotische und patriarchische Gefühle kombiniert,
    symbolisiert tambora Musik einerseits das geliebte Sinaloa und unterstützt
    andererseits diese Heimatliebe: tambora Musik ist unerlässlich, um sich in die
    richtige Stimmung zu versetzen und um auf den Heimatstaat anzustossen.
    Musik, Alkohol, Pistolen, Pferde, Frauen und Freunde gehören zum Image des
    Sinaloensers. Begleitet von der tambora zeigt dieser Mann seine Qualitäten
    auf seiner Sauftour:

    Soy sinaloense y me gusta la tambora
    Tomo tequila, mezcal o bacanora
    pues con la banda me paso noche y día
    porque me encanta de plano la alegría.
    Soy sinaloense de hueso colorado
    y tengo fama de ser enamorado
    Como jinete tener buenos caballos
    y en las parrandas andar con buenos gallos.
    ¡Ay Sinaloa, Sinaloa, Sinaloa!
    yo siento el alma que me pica y que me llora
    con la pistola que relumbra en la bola
    y con la banda que retumbe la tambora.

    Ich bin ein Sinaloenser und mir gefällt die tambora,
    ich trinke Tequila, Mezcal und Bacanora.
    Mit der banda verbringe ich Tag und Nacht,
    weil ich die Heiterkeit von Herzen liebe.
    Ich bin ganz und gar ein Sinaloenser,
    denn man kennt mich als Galan.
    Ich bin ein Reiter mit ausgezeichneten Pferden
    und auf den Sauftouren bin ich umgeben von tüchtigen
    Hähnen.
    Ach Sinaloa, Sinaloa, Sinaloa!

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    Mein Herz wird schwer,
    wenn die Pistole in der Menge aufglänzt
    und wenn die banda ihre tambora erdrönnen lässt.
    Rancheras, bestärkt durch das popularisierte Image des singenden charro
    (Cowboy) in den mexikanischen Filmen der 1930er und 40er Jahre,
    glorifizieren die Männlichkeit und fördern gleichzeitig männliches
    Selbstwertgefühl und soziale Vorrechte.

    Unter dem kommerziellen Druck hat sich die Idee — oder das Ideal — des
    aufrechten Mannes langsam, aber drastisch verändert. Die Populärkultur
    transformierte den hombre valiente, den aufrechten Mann der Revolution in
    einen simplen pistolero (Schützenhelden) und macho (wörtlich: Rüden). Der
    bekannte texanische Folklorist Américo Paredes bemerkte hierzu: Die Pistole
    ist vielleicht ein phallisches Symbol, in einem direkteren Sinn aber ist sie das
    Symbol von Macht — und von Machtmissbrauch. Sie ist ein Symbol der
    Männlichkeit des Angebers, dem Macho der Filme, der seinen Rivalen in der
    Mitte der Stasse niederschiesst, das Mädchen auf den Sattel hievt und auf
    seinem treuen Pferd in den Sonnenuntergang hineinreitet. Der «aufrechte
    Mann» der Revolution degeneriert zum Macho, dessen Mut sich vor allem in
    seinen Hoden konzentriert, und zum Prahlhans, der ungestraft Verbrechen
    begeht, weil er Macht, Geld und politischen Einfluss hat.

    Analysieren wir ranchera-Texte aus Sinaloa, so fällt auf, dass oft
    Anthropomorphismen gebraucht werden. Das am weitaus häufigsten
    erwähnte Tier ist der Hahn — eine Metapher für den Kämpfer, der sich
    angesichts von Gefahr mutig und aggressiv verhält. Der Hahn, el gallo, ist
    nicht nur unerschrocken, sondern strotzt auch von sexueller Potenz. Seine
    Qualitäten mögen weiter charakterisiert sein als: valiente, bravo, fino,
    reconocido, afamado, jugado oder, alle diese Eigenschaften einschliessend,
    als un gallo muy sinaloense (ein äusserst sinaloensischer Hahn). Sein
    Territorium ist natürlich das Hühnerhaus. Als mutiger Kämpfer und gallanter
    Frauenheld weiss er auch, wie man das Leben zu geniessen hat:

    La vida que vivo yo, yo la quiero disfrutar
    y digan lo que digan, a mi no me va a importar
    porque el día que se me acaba ya no volverá jamás.
    La vida que vivo yo, nomás la traigo prestada
    el día en que me la quiten, no voy a llevarme nada
    nomás un montón de tierra con una cruz bien clavada.
    De que sirve ser un santo si a toditos por igual
    se nos acaba el camino y se nos llega el final
    solo una vida tenemos y hay que saberla gozar.

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    Mein Leben will ich geniessen,
    was auch immer andere sagen ist mir egal,
    denn wenn ich sterbe, ist alles vorbei.
    Mein Leben wurde mir nur geliehen,
    wenn es mir genommen wird, trage ich nichts mit mir
    ausser einem Berg Erde und ein genageltes Kreuz
    Weshalb soll man ein Heiliger sein, wenn unsere Wege
    doch für alle gleich enden.
    Wir haben nur ein Leben und das sollten wir besser
    geniessen.

    Drogenhandel und sozialer Aufstieg
    Geografisch und klimatisch erweist sich die unwegsame und zerklüftete
    Sierra Madre der Nordwest-Staaten Sinaloa, Durango und Chihuahua als
    ideales Gelände um Marihuana und Opium anzubauen. Die Gegend hat
    demzufolge eine lange Geschichte von Drogenkultivierung und -handel. Kurz
    zusammengefasst: In den 1920er Jahren, und unter Druck der USA, verbot die
    Mexikanische Regierung Narkotika erstmals und erliess mehrere Gesetze um
    Produktion und Handel zu regulieren. Während dem zweiten Weltkrieg aber
    stieg der Konsum von Morphium, das als Schmerzmittel eingesetzt wurde, so
    drastisch, dass die USA sich an Mexiko wandte, um die Produktion in der
    Sierra Madre anzukurbeln. Schon Ende der 1940er Jahre hatte sich die illegale
    Drogenindustrie in Mexiko bestens etabliert. Wegen der hohen Gewinne
    verschärfte sich allerdings die Gewalt rund um das Geschäft mit Drogen. In
    den 1960er Jahren stieg der US Marihuanakonsum erneut an. Händler
    begannen, campesinos (Bauern) in den armen Gegenden mit Samen, Dünger,
    Geld und Waffen auszustatten. Viele Kleinbauern restrukturierten ihren
    Betrieb und stiegen in das lukrative Geschäft ein. Ein Jahrzehnt später hatten
    sich die Narcos bereits bestens in die Gesellschaft integriert.

    Dieser soziale Wandel hatte auch Auswirkungen auf die lokale Musik — ganz
    speziell auf die Corrido-Produktion. Auch wenn das Bild des hombre valiente
    noch für die Protagonisten der kontemporären Corridos gilt, so hat sich doch
    die Bedeutung des Begriffes geändert. Während die Helden der Volksballaden
    ihre Waffen für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit erhoben, so benützen die
    valientes der Narco-Corridos ihr Waffenarsenal zur persönlichen
    Bereicherung und für ihre Machtansprüche.

    Die Risiken sind für alle, die im Drogenhandel involviert sind, hoch; doch der
    Gewinn scheint die Gefahr wert zu sein. Arme Leute haben nichts zu
    verlieren, ausser ihrem Leben — ein Leben allerdings voller Härte, Mühsal und
    Qual. In den Corridos wird dieser Ausblick oft als Grund angegeben, weshalb
    jemand ins Drogengeschäft einsteigt: «Von klein auf habe ich gelernt wie hart

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Der Bandit, der Held und der Narco | norient.com                            20 Oct 2021 16:23:20

    das Leben ist / deshalb verspiele ich es in der Lotterie.» Kleine Dealer und
    Unterhändler, die täglich die Landesgrenze mit geringen Mengen
    überschreiten, träumen von einem besseren Leben: «Ich streite nicht ab, dass
    ich arm war, noch dass ich ein burrero (Kleinhändler; wörtlich,
    Packeseltreiber) war / heute aber bin ich ein einflussreicher Herr.» Während
    die Protagonisten einiger Corridos damit prahlen, aus Selbstinteresse zu
    dealen: «Ich bin gesetzeslos, ich widme mich dem Drogenhandel / ich bin
    nicht dafür geboren um arm zu sein», so bekunden andere mitmenschliche
    Gründe:

    Cuando niño sufrió mucho, a su mamá le decía:
    —No más que crezca poquito, te van a tener envidio.
    Al parecer lo cumplió, porque le cambió la vida.

    Als Kind habe ich viel gelitten, meiner Mama sagte ich:
    «Wart nur bis ich etwas gösser bin, dann werden dich alle
    beneiden.»
    Anscheinend hatte er recht, denn er änderte ihr Leben.

    Oder:

    De plebe sufrió pobreza, pero logró progresar
    hoy es hombre de negocios y le gusta trabajar
    pa’ que a sus padres queridos nada les vaya a faltar.

    Als Kind litt er grosse Armut, aber er schaffte es voran.
    Heute ist er ein Geschäftsmann, der gerne arbeitet,
    damit es seinen geliebten Eltern an nichts fehle.

    Corrido Texte implizieren, dass der Entscheid mit Drogen zu handeln,
    abhängig ist von der Erfahrung des Individuums mit der Armut; ein kausaler
    Zusammenhang, der auch von soziologischen Studien bestätigt wird. Die so
    genannte «Strain Theorie», zum Beispiel, argumentiert, dass Personen, denen
    es verwehrt ist, auf legitime Art erfolgreich zu werden, das Verbrechen als
    reelle Alternative erscheint. Speziell junge Männer aus ländlichen Gegenden
    oder aus zerfallenen Stadtteilen fühlen die Spannung zwischen den
    gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen und ihrer eigenen
    Unfähigkeit, diese Ziele auf legitime Art zu erreichen. In einer Gesellschaft, in
    welcher ökonomischer Fortschritt in direktem Zusammenhang mit sozialem
    Fortschritt steht und in welcher man sich so leicht bereichern kann, da
    entscheiden sich manche, den schnellen, aber kriminellen, Weg zu gehen:

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    Las dos hectáreas de tierra que me heredó mi padre
    las sembraba con cariño para salir adelante
    más la realidad es otra, me estaba muriendo de hambre.
    Un amigo de mi infancia una tarde me propuso:
    —¡Vamos saliendo de pobres, vámosle dando otro uso!
    Les juro que en poco tiempo mi situación se compuso. /N
    Con aquellas dos hectáreas sembradas de hierba mala /N
    inicié una nueva vida, pues con dólares pagaban
    después ya fueron doscientas las hectáreas que sembraba.
    El que se mete al negocio de traficar con la hierba
    vive rodeado de lujo y la gente lo respeta
    bandas y grupos norteños tocan en todas las fiestas.

    Die zwei Hektaren Land, die mir mein Vater vererbt hat,
    die hab ich mit Liebe bebaut, um voran zu kommen,
    doch in Wirklichkeit bin ich vor Hunger fast gestorben.
    Eines Tages hat mir ein Kindheitsfreund vorgeschlagen:
    «Lass uns der Armut entrinnen, lass uns die Erde anders
    benützen!»
    Ich schwöre euch, innerhalb kurzer Zeit hat sich meine
    Situation verbessert.
    Mit jenen zwei Hektaren, bepflanzt mit dem Unkraut,
    begann ich ein neues Leben, denn sie bezahlten mit Dollars,
    danach waren es zweihundert Hektaren, die ich bebaute.
    Wer sich ins Geschäft des Grashandel einlässt,
    lebt umgeben von Luxus und wird von den Leuten
    respektiert,
    bandas und norteño Gruppen spielen an all seinen Festen.
    Corridos, in denen Drogenhandel und Gewalt entschuldigt oder gar
    verherrlicht werden, sind ein relativ neues Phänomen. Die neuen Liedtexte
    beinhalten aber auch unterschwellige Botschaften, die maskuline Ideale von
    Männlichkeit und einen aggressiven Willen auf Macht zelebrieren. Diese
    Botschaften sind oft verschlüsselt. Texte mit versteckten und ambivalenten
    Bedeutungen sind in der Lage, Tabus zu umgehen und den offiziellen
    Sprachgebrauch zu untergraben.

    Realität, Fantasie und Mythos

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    Die Popularität von kommerziellen Gruppen wie Los Tucanes de Tijuana
    hängt zu einem grossen Teil von «grass-root» Traditionen ab. Diese «grass-
    root» Musik, von Musikethnologen auch «Mikromusik» genannt, ist ihrerseits
    wieder von der kommerziellen Musik beeinflusst. Bilder, die von der
    Populärmusik-Industrie produziert werden, sickern in die Welt der
    Mikromusik, wo sie sich wiederum mit Realität und Fantasie vermischen. Die
    Fantasie von Individuen und Gruppen ist verknüpft mit den Bildern, Ideen und
    den Möglichkeiten, die durch die Massenmedien verbreitet werden. Die
    heutige Populärkultur ist im besonderen von männlichen Gewaltfantasien
    dominiert. Diese Fantasien werden auch von jungen Latinos absorbiert.
    Zwischen zwei Welten pendelnd — einer wirklichen und einer imaginären; die
    eine basiert auf niedrigem oder gar keinem Einkommen, die andere auf von
    Hollywood produzierten Gangster- und Actionfilmen — kreieren diese Jungen
    ihre eigene imaginäre Welt. Eine Welt, die sie wiederum in den Narco-Corridos
    bestätigt finden. Ein Tucanes Hit zum Beispiel erzählt die Geschichte eines
    kleinen Drogenhändlers, der ein gran señor geworden ist, den jedermann
    respektiert. In einem anderen Hit-Corrido bekennt der Protagonist: «Ich war
    für lange Zeit arm, von vielen Leuten gedemütigt / Als ich Geld zu verdienen
    begann, veränderte sich alles / Nun nennen sie mich Chef und ich habe eine
    Geheimnummer.»

    Bevor das Genre des Narco-Corridos erfunden wurde, war die Welt der
    Drogenhändler nur einem kleinen Kreis von Insidern zugänglich. Auf Grund
    der wachsenden Zahl der im Drogengeschäft tätigen Leute und dem daraus
    resultierenden Überfluss an Geld ist die Narco-Subkultur während der letzten
    Jahrzehnte zunehmend sichtbarer geworden: Narcos führen einen
    extravaganten Lebensstil, bauen sich Villen, fahren in Luxusautos, tragen
    auffällige Kleider, teuren Schmuck und potente Waffen. Die Narcos haben als
    gesellschaftliche Gruppe aber nicht nur an Sichtbarkeit gewonnen, sie
    werden als solche auch zunehmend von der mexikanischen Gesellschaft
    toleriert. Die Geschichten, welche die Narcos umranken, ernähren sich aber
    immer noch vom Mythos des sich in der Sierra versteckenden Geächteten. In
    einer Tradition, in der Banditen zu Volkshelden gemacht wurden, hat sich
    auch der Narco — neu definiert durch die Populärkultur und verbreitet durch
    die Massenmedien — eine mythische Stellung ergattert.

    Corridos auf Bestellung
    Der Narco-Corrido scheint unter der ländlichen Bevölkerung in Nordmexiko
    sehr beliebt zu sein, doch das Zentrum seiner Produktion ist Los Angeles,
    Kalifornien. Hier werden nicht nur kommerzielle, sondern auch private
    Aufnahmen produziert. Jedermann, der fünf- bis siebenhundert Dollars übrig
    hat, kann einen Narco-Corrido komponieren und aufnehmen lassen. Dafür
    braucht man kein Narco zu sein. Alles, was der corridista braucht, sind einige
    wenige persönliche Angaben, die der Kunde selber bestimmt. Diese Daten
    mixt der corridista dann mit der fiktiven Welt schon vorhandener Corridos
    und den Grundelementen traditioneller Volksballaden. Dazu komponiert er

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    eine Melodie, die auf einer einfachen Tonika-Dominante-Begleitung basiert.
    Hat man noch ein paar Hunderter übrig, kann man sich seinen Corrido in
    einem der einschlägigen Nachtklubs live anhören und dazu seine Freunde
    einladen.

    Es ist offensichtlich, dass solche in Auftrag gegebene Corridos dem Kunden
    erlauben, der zu sein, den er sich wünscht oder sich einbildet zu sein. Im
    Endresultat, dem Corrido, sind Fakten und Fiktion so ineinander verwoben,
    dass es unmöglich ist, zwischen «authentischen» und Möchtegern-Narcos zu
    unterscheiden. Anders gesagt, jeder kann sich seine eigene Narco-Identität
    fabrizieren. Durch die Wiederverwertung von Elementen der jahrhundertalten
    Tradition der Volksballade profitiert der zeitgenössische Protagonist zudem
    vom mythischen Heldenimage, das nur ganz besonderen Persönlichkeiten
    zustand: dem edelmütigen Banditen und dem Helden der Revolution.
    Heutzutage kann jedermann, der etwas Geld besitzt, vorgeben, beides zu
    sein.

    Chalino Sánchez und die neue corridista Generation in Los
    Angeles, Kalifornien
    Der corridista Chalino Sánchez verkörpert wie kein zweiter die Narco-
    Subkultur, die Mexiko und die USA verbindet. 1978 floh der damals 18-jährige
    Chalino aus seinem Heimatort Sanalona, einem kleinenen Dorf dreissig
    Kilometer südlich von Culiacán, nachdem er angeblich seine von einem
    valiente («aufrechten Mann») entehrte Schwester gerächt hatte. In
    Kalifornien nahm Chalino verschiedene Arbeiten an, die ihn in engen Kontakt
    mit der Narco-Welt brachten. Seinen ersten Corrido schrieb Chalino für
    seinen Bruder, der in Tijuana im Gefängnis sass und später ermordet wurde.
    Bald begann er, Corrdios auf Bestellung hin zu komponieren. Er gründete sein
    eigenes Label, Rosalino Records, und verkaufte seine selbst produzierten
    Kassetten an Tauschmärkten, Tankstellen und Autowaschanlagen. 1989
    begann er seine von Kunden bestellten Corridos mit banda und norteño
    Gruppen aufzunehmen. Als die Nachfrage für seine Kompositionen stieg,
    verkaufte er einige seiner Rechte an Cintas Aquario, ein einschlägiges Label
    und Studio in Long Beach, das der Unternehmer und Corrido-Sänger Pedro
    Rivera in 1987 gegründet hatte. Chalinos Ruhm in der Narco-Unterwelt stieg,
    als er 1992 während eines Auftritts in Kalifornien in einen Schusswechsel
    verwickelt wurde. Kaum hatte er sich von seinen Schusswunden erholt, reiste
    er für eine Konzerttour in seinen Heimatstaat Sinaloa. Chalino wurde am
    Morgen nach seinem ersten Auftritt in einem Nachtclub Culiacáns tot
    aufgefunden. Die Polizeiuntersuchung blieb erfolglos. Chalinos Akten wurden
    geschlossen, aber bis heute wird über seinen Tod spekuliert.

    Chalino war ein kontroverser Sänger, einer, der auch seine Zuhörer
    polarisierte. Viele waren in der Tat irritiert über die enorme Akzeptanz und
    Popularität dieses Sängers, der zugegebenermassen gar nicht singen konnte.
    Chalinos dünne, nasale, gepresste und eher hohe Stimme ist auch nach

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Der Bandit, der Held und der Narco | norient.com                          20 Oct 2021 16:23:20

    mexikanischen Standarts keine «gute Singstimme»; es ist die Stimme des
    Ranchers, des gewöhnlichen Mannes. Chalino sprach ein Spanisch, das
    durchtränkt war von lokalem Slang. Oft waren die Reime seiner Corridos
    nicht konsonant und die Sprachakzente passten nicht auf die schweren
    Taktschläge. Ausserdem sang er meistens unrein. Der Schlüssel zu Chalinos
    Erfolg mag deshalb gerade diese Gewöhnlichkeit, diese Mittelmässigkeit
    gewesen sein. Oder aber, dass er auch wirklich lebte, was er sang. Chalino, so
    wurde vermutet, war nicht nur als Corridokomponist und -sänger in der
    Narco-Subkultur aktiv. So legte ein zu Chalinos Ehren geschriebener Corrido
    nahe: «Er lebte den Corrido singend / der Corrido war sein Tod». Chalino
    selber bezog nie Stellung zu diesen Vorwürfen. Im Gegenteil, er schien seine
    Mystifizierung zu geniessen. Nahe Bekannte von Chalino hingegen erklärten
    den Erfolg dieses Sängers mit seinem Charisma und der Gabe, sein eigenes
    Bild zu fabrizieren — ein Bild, das von der Folklore Sinaloas und dem
    Banditen-Helden Mythos zehrte, nicht von seiner einschlägigen Kundschaft.
    Die zahlreichen Corridos, die zu seinem Andenken komponiert wurden,
    besingen Chalino als mutigen und entschiedenen Mann, als ehrlichen und
    treuen Gefährten, als berühmten und verehrten Sänger, der immer von
    Freunden und Frauen umgeben war. Chalino wurden all die Tugenden des
    Corrido-Helden zugeschrieben, zusammengefasst im Ausdruck, un gallo
    valiente, ein unerschrockener Hahn.

    In dem Jahrzehnt nach dessen gewaltsamem Tod wurde Chalinos
    charakteristische Stimme und sein Porträt des «Draufgängers der Berge» von
    zahlreichen jungen Sängern und Möchtegern-Sängern imitiert. Produzenten
    und Nachtclubinhaber in Los Angeles gingen auf «Talentensuche» und
    hielten Hörproben vor einem Live-Publikum. Die Nachfrage nach Chalinos Stil
    (Stimme, Musik, Ausstattung und Attitüde) kreierte eine Renaissance der
    mexikanischen ranchera Musik — auf der US-Seite der Grenze. Tausende von
    mexikanisch-amerikanischen Jugendlichen begannen, sich mit dieser einst als
    altmodisch und rückständig verschrienen Musik zu identifizieren. Plötzlich
    galt es als schick, banda und norteña Musik aus den Autostereoanlagen
    dröhnen zu lassen und die Nächte Polka und Walzer tanzend zu verbringen.
    Dieser Wandel ist umso erstaunlicher, als sich viele dieser Jugendlichen
    vorher ihrer Herkunft stark schämten und sich kulturell vehement von ihren
    mexikanischen Wurzeln losgesagt hatten. Rap Musik war ihre Wahl,
    insbesondere «Gansta Rap», eine gewaltsamere und äusserst umstrittene
    Form von Rap, die Rapper wie Eazy E und Ice Cube in den frühen 1990er
    Jahren an der US Westküste etablierten.

    Viele Jugendliche in den schwarzen und Latino Stadtteilen von Los Angeles
    sind vertraut mit dem gewalttätigen Drogenmilieu und den Konsequenzen
    des Drogenkrieges. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Themen wie Gewalt,
    körperliche Tapferkeit, und Männlichkeit auch Eingang in afro-amerikanische
    und mexikanische narrative Traditionen finden. Doch obwohl es in Bezug auf
    Liedinhalt und charakteristische Eigenschaften der Artisten und Zuhörer
    (Geschlecht, Alter, soziale Klasse und Wohngegend) Parallelen zwischen

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Der Bandit, der Held und der Narco | norient.com                          20 Oct 2021 16:23:20

    Gangsta Rap und Narco-Corrdios gibt, der lyrische und musikalische
    Ausdruck könnte nicht unterschiedlicher sein. Währenddem die Rap Artisten
    grammatikalische Kreativität, Wortgewandtheit und Spracherneuerung
    testen, beschränken sich die corridistas auf das stilisierte Vokabular und die
    vorgegebenen Grundelemente und Formeln des traditionellen Corridos.
    Währenddem die Rappers von einer rhythmisch ausgefallenen,
    elektronischen Musik begleitet werden, singen die corridistas zu akustischen
    Bands, die, wie in der amerikanischen Presse zu lesen ist, eine «ländliche»,
    «veraltete», «spiessige», doch «schamlos fröhliche» Musik in «schunkligem
    Polka Rhythmus» spielen. Um ihre Aussagen klanglich zu unterstützen, haben
    kürzlich einige der Narco-Bands angefangen, Effekte wie Polizeisirenen,
    Maschinengewehrsalven und aufheulende Motoren in ihre Musik zu mischen,
    ohne jedoch die traditionelle akustische Musik zu verändern.

    Pepe Garza, Programm-Direktor der einflussreichsten Narco-Musik
    Radiostation in Los Angeles, hat in einem Interview bestätigt, dass junge
    Leute erst auf die Narco-Musik aufmerksam wurden, als seine Station 1998
    begann, Narco-Corridos mit kunstvollen Erzählungen in der ersten Person
    singular und mit Soundeffekten auszustrahlen. Der Grund dafür war seiner
    Meinung nach die Ähnlichkeit dieser Musik mit Gangsta Rap. Ein Musikvideo-
    Produzent und Promotor von Narco-Musik, den ich kürzlich auf das
    Phänomen angesprochen habe, identifizierte Lupillo Riveras Hit «El barzón»
    (Der Bummeler) als ein Narco-Musik/Rap Fusions Produkt. In der Tat ist
    dieses Stück eher ein rhythmisch gesprochener, temporeicher
    Zungenbrecher als ein gesungenes Lied. In Unkenntnis der Liedkultur
    Sinaloas mag «El barzón» vielleicht als Rap gelten, doch dieses Stück
    (komponiert von Miguel Muñíz) wurde durch die Interpretation des Sängers
    Luis Pérez Meza (1917-81), dem «Troubadour des Landes», Jahrzehnte vor
    der Entstehung von Rap Musik (und Narco-Musik), berühmt.

    Es ist eher das Image der Sänger und die Verkaufsstrategien der
    Musikindustrie, die den Vergleich der beiden ungleichen Musikformen
    nahelegen. Die junge Generation der Narco-Sänger posiert nicht mehr vor
    Heuballen oder mit Pferd (wie Chalino auf seinen frühen Kassetten), sondern
    vor dem silberfarbenen Cadillac mit Grossstadt Hintergrund. Pistolen und
    schwere Waffen werden nicht mehr offen getragen; stattdessen zeigt man
    sich mit einem anderen, mehr kosmopolitischen, phallischen Symbol — der
    Zigarre. Die auffälligen, farbigen («kitschig-geschmacklosen») Narco-
    Hemden und Wrangler Jeans sind pasée; die jungen Sänger aus Los Angeles
    tragen italienisches Design wie Versace-Hemden und Armani-Anzüge. Nur
    der Millimeter Haarschnitt, die rasierte Glatze und die schweren
    Goldschmuckstücke weisen auf das Ghetto und auf die Gang-Vergangenheit
    hin. Die neue Generation lässt denn auch keine Gelegenheit aus, um zu
    zeigen, dass sie es geschafft hat. Nun darf man wieder stolz auf die eigene
    ethnische und kulturelle Herkunft sein.

    Schlussgedanken
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Der Bandit, der Held und der Narco | norient.com                           20 Oct 2021 16:23:20

    Es scheint kein Zufall zu sein, dass der moderne, städtische Corrido immer
    noch tief in der ländlichen, lokalen mexikanischen Kultur verwurzelt ist. Seit
    über einem Jahrhundert waren beide Ensembles, norteña und banda, in der
    oberen Gesellschaftsschicht verpönt und sie wurden von dieser als
    rückständig und vulgär bezeichnet. Obwohl Blasmusik für lange Zeit eine
    beliebte Freizeitunterhaltung der mexikanischen Oberschicht war, begannen
    die betuchteren Bürger um die Jahrhundertwende, die Blasmusik mit der
    Landbevölkerung und der Arbeiterklasse zu identifizieren. Der niedere
    gesellschaftliche Status der Blasmusiker basierte sowohl auf der, für die
    Ohren der Elite «vulgären», Qualität der Musik, als auch auf dem schlechten
    Ansehen der Lokale in den Hafenquartieren und anrüchigen Stadtteilen, wo
    einige der Musiker ihr Einkommen fanden. Abgelehnt und ausgegrenzt von
    der Oberklasse und den Massenmedien (Radio und Schallplattenindustrie),
    überlebten Blas- und Akkordionmusik das Jahrhundert und erfreuten sich
    grosser Popularität unter der Landbevölkerung und der städtischen
    Arbeiterklasse.

    Als banda in den frühen 1990er Jahre zu Los Angeles populärster Musik
    erklärt wurde, begannen die Medien, dem Phänomen Aufmerksamkeit zu
    schenken. Man empfand die neu entdeckte Liebe der mexikanischen
    Jugendlichen für ihre traditionelle und als rückständig betrachtete Musik
    sowohl als unvereinbar mit dem Assimilationsprozess als auch als
    nostalgische Wirklichkeitsflucht. Doch Jugendliche, die täglich Diskrimination
    und Rassismus ausgesetzt sind, mögen sich von der Gesellschaft, die sie
    nicht akzeptiert, eher abkehren und eine eigene ethnische, kulturelle
    Zugehörigkeit suchen. Diese Zugehörigkeit wird oft in der Wahl der Musik
    ausgedrückt.

    Narco-Musik ist ein illustratives Beispiel für die Identitätssuche der
    mexikanisch-amerikanischen Jugendlichen: Klänge, Bilder, Sprache und
    Werte einer ländlichen, unberührten, idealen Welt werden mit Technologie
    und Aesthetik einer städtischen, postmodernen Kultur gemischt. Diese
    synkretische Fusion traditioneller und kontemporärer Elemente entspricht
    der Gefühlswelt und Identität derer, die diese Musik kreieren und
    konsumieren. Es überrascht deshalb nicht, dass Einspielungen wie Lupillo
    Riveras Despreciado (Verachtet) Nummer 5 auf Billboards «Latin music
    2001» Bestseller Liste war. Auf raffinierte Weise kombiniert der 32-jährige
    «Narco-Sänger» das Mafioso Bild Hollywoods mit traditioneller
    mexikanischer Arbeiter-Musik. Riveras rohe Musik und sein grossstädtisches
    Erscheinen findet Anklang bei Zuhörern, die ihre sozialen Konventionen, ihre
    Mode und ihr Streben sowohl von der Narco-Welt, als auch von der
    amerikanischen Jugendkultur ableiten. Es ist eine Musik, die stark macht.

    Es liegt nahe, dass Jugendliche mexikanischer Herkunft, die diese Musik ihr
    eigen nennen, sich bewusst oder unbewusst mit den «bösen Helden», den
    Banditen und den Narcos, identifizieren. Die sinaloensische Sierra hat nicht
    nur den von der Gesellschaft geächteten Malverde hervorgebracht, sondern

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Der Bandit, der Held und der Narco | norient.com                              20 Oct 2021 16:23:20

    auch die Drogenhändler, die sich an dieser grausamen Gesellschaft zu rächen
    wissen. Welche Musik würde sich also besser eignen für die marginalisierten
    Jugendlichen aus den Latino Ghettos von Los Angeles als die robuste Musik
    der Sierra, banda und norteña?

    → Published on October 01, 2007

    → Last updated on October 16, 2019

    Helena Simonett received her doctoral degree in ethnomusicology at the University
    of California, Los Angeles, and is currently teaching at Vanderbilt University,
    Nashville. She conducted extensive research on Mexican popular music and its
    transnational diffusion. Her publications include Banda: Mexican Musical Life
    across Borders (2001, Wesleyan University Press) and En Sinaloa nací:Historia de la
    música de banda (2004, Sociedad Histórica de Mazatlán, Mexico),as well as
    numerous journal and encyclopedia articles.

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