ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW

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ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
ARMEN EINE
		 STIMME GEBEN

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ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
INHALTSVERZEICHNIS

    1 – Einleitung		                                                             S. 04

    2 – Interview: „Zugänge zum Wohnungsmarkt sind nicht
                   frei von Diskriminierung“                                     S. 06

    3 – Wir wollen wohnen!                                                       S. 08
                 · NRW: Immer mehr Menschen haben keine Wohnung
                 · Folgen von Wohnungsnot
                 · Ein Problem mit Ansage
                 · Interview: „Der Politik fehlt es an sozialer Fantasie“

    4 – Armen eine Stimme geben                                                  S. 15
                 · Theresa Lindhurst: „Seit ich alleinerziehend bin,
                   fühle ich mich wie eine Zielscheibe“
                 · Angelika Zwering: „Wie können die Politikerinnen und
                   Politiker überhaupt noch in den Spiegel schauen?“
                 · Jürgen Schneider: „Wer anderen Menschen helfen will,
                   der muss nicht immer gleich eine Lösung parat haben“
                 · Silvia Lessig: „Als Familie mit drei Kindern hat man
                   auf dem Kölner Wohnungsmarkt kaum eine Chance“
                 · Günter Maleski: „Ich fühle mich wie weggeschlossen“
                 · Ilse Kramer: „Es muss viel mehr bezahlbaren Wohnraum geben“

    5 – Fazit      · Raus aus der Wohnungsnot                                    S. 32
                   · Ein Gedicht

    Impressum		                                                                  S. 36

2                                                                                        3
ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
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    ARMEN EINE
    STIMME GEBEN

        Der Sozialbericht des Landes NRW             Mit der Beteiligung am Sozialbericht           Als sozialpolitische Akteure in den
    gehört seit 1992 zur etablierten Armuts-      2020 nimmt die Freie Wohlfahrtspflege ihre     Städten und Kommunen sowie auf Länder-
    berichterstattung der Landesregierung und     Rolle als eigenständiger Akteur im Sozial-     und Bundesebene tragen die Verbände dazu
    ist von allen Parteien anerkannt. Seit 2004   staat wahr. Ziel ist die Verbesserung von      bei, für die Lebenslagen einkommensarmer
    wird der Bericht um den Blick auf Reichtum    Lebenslagen insbesondere der Menschen,         und von sozialer Ausgrenzung betroffener
    erweitert, und seit 2007 nimmt die Landes-    die am Rande der Gesellschaft leben, aus-      Menschen zu sensibilisieren und einen
    arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrts-    gegrenzt sind oder denen Ausgrenzung           politischen Diskurs mit dem Ziel einer Ver-
    pflege in Nordrhein-Westfalen die Gelegen-    droht. Die Interessen von Benachteiligten in   änderung anzuregen. Dies gilt insbesondere
    heit wahr, Armut aus der Perspektive der      den gesellschaftlichen Dialog einzubringen     für das Schwerpunktthema dieses Sozial-
    von ihr betroffenen Menschen darzustellen.    und Benachteiligte bzw. Experten und Ex-       berichts: Der Mangel an angemessenem
                                                  pertinnen in eigener Sache für sich selbst     Wohnraum in Nordrhein-Westfalen.
       Die Beteiligung der Freien Wohlfahrts-     sprechen zu lassen, ihnen eine Stimme zu
    pflege ist nicht in allen Bundesländern       geben – das ist ein Schritt zu mehr Teilhabe
    selbstverständlich und gewünscht. Auch        in und an der Gesellschaft.
    deshalb sind die Offenheit des Ministe-
    riums für Arbeit, Gesundheit und Soziales        Armut ist nicht einfach die Summe
    des Landes Nordrhein-Westfalen und            persönlicher Einzelschicksale ohne ge-
    dessen Kooperationsbereitschaft positiv       sellschaftlichen Hebel zur Verbesserung.
    hervorzuheben.                                Armut ist in erster Linie ein Systemfehler,
                                                  der menschengemacht ist und daher auch
                                                  nur von Menschen durch gesetzliche und
                                                  gesellschaftliche Veränderungen korrigiert
                                                  werden kann.

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„ZUGÄNGE ZUM WOHNUNGSMARKT SIND
NICHT FREI VON DISKRIMINIERUNG“
Dr. Claudia Mahler vom Deutschen Institut       Wie ist es dann möglich, dass so viele Men-         behandlungsgesetz (AGG) bietet noch keinen      von Ausgrenzung betroffen sind, müssen
für Menschenrechte erklärt, warum es so         schen in Deutschland nicht zu ihrem Recht           ausreichenden Schutz. Gerade Städte und         einbezogen werden. Denn nur so kann eine
schwierig ist, das Menschenrecht auf Woh-       kommen, wenn es um das Wohnen geht?                 Kommunen, die doch sonst oft so viel Wert       Strategie passgenau werden. Es muss klar
nen durchzusetzen.                                                                                  auf Barriere- und Diskriminierungsfreiheit      sein, dass diese Strategie nur in einem par-
                                                   Es ist tatsächlich ein großes Problem, dass      legen, müssten hier mit gutem Beispiel voran-   tizipativen Prozess erarbeitet werden kann.
Frau Mahler, es ist Aufgabe Ihres Insti-        Anspruch und Wirklichkeit beim Thema                gehen und Menschen angemessenen Wohn-           Im besten Fall schaffen wir einen inklusi-
tuts, auf Menschenrechtsverletzungen            Wohnen so weit auseinanderliegen. Das gilt          raum zu angemessenen Preisen anbieten.          ven Wohnungsmarkt, der allen Menschen
hinzuweisen. Um das Menschenrecht auf           besonders für Menschen, die sich ohnehin in                                                         rechtlich und faktisch einen angemesse-
Wohnen ist es angesichts der Wohnungs-          verletzlichen Lebenslagen befinden. Ausge-          Eine angemessene Wohnung – was heißt            nen Zugang bietet und sie schützt.
knappheit in vielen deutschen Städten           rechnet für sie ist der Zugang zum regulären        das eigentlich genau?
und Regionen besonders schlecht be-             Wohnungsmarkt nur schwer möglich oder
stellt, oder?                                   sogar ganz versperrt. Sie können sich die              Angemessen ist eine Wohnung, wenn
                                                Mieten nicht leisten, haben vielleicht noch ein     sie ausreichend Schutz vor Kälte, Hitze
    Ja, das Menschenrecht auf Wohnen            Suchtproblem, sprechen als Zugewanderte             und Feuchtigkeit bietet und Gesundheits-
kann nicht von allen Menschen voll in           unsere Sprache nicht gut genug, gelten des-         schäden vermieden werden. Wenn sie
Anspruch genommen werden. Das Men-              halb als nicht vertrauenswürdig und sind für        gleichzeitig vor Eingriffen von privater und
schenrecht ist sowohl in der Allgemeinen        Vermieterinnen und Vermieter sowie Woh-             staatlicher Seite schützt und wenn alle ihr
Erklärung der Menschenrechte enthalten          nungseigentümerinnen und Wohnungseigen-             Recht auf Wohnen durchsetzen können.
als auch im Sozialpakt der Vereinten Na-        tümer eine Risikogruppe. Ein Teufelskreis, der
tionen verankert. Angemessen zu wohnen          unterbrochen werden muss.                           Was wäre denn der nächste Schritt, der
ist essenziell für viele weitere Rechte. Denn                                                       den Staat, aber auch Länder und Kommu-
wer keine eigene Wohnung hat, der hat           Wie kann das geschehen?                             nen dazu bringt, das Recht auf angemesse-
auch Probleme, das Recht auf Privatheit, auf                                                        nes Wohnen auch umzusetzen?
Eigentum oder auf soziale Sicherheit durch-        Die Realität zeigt immer wieder: Zugänge
zusetzen. Auch das Bundesverfassungsge-         zum Wohnungsmarkt sind nicht frei von Dis-             Wichtig wäre eine menschenrechts-
richt hat geurteilt, dass Wohnen unmittel-      kriminierung. Das sollten sie aber eigentlich       basierte ganzheitliche Strategie zum Recht
bar zur physischen Existenz gehört.             sein, doch das derzeit gültige Allgemeine Gleich-   auf Wohnen. Diejenigen, die besonders

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WIR WOLLEN
WOHNEN!

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NRW: Immer mehr Menschen haben keine Wohnung                                                                                         Folgen von Wohnungsnot

   In NRW wurden von den Kommunen            ten oder Freunden unter oder gehen          schnittlich 83,1 Prozent ihres Ein-            Was es aber für jeden einzelnen Men-
und Einrichtungen der Freien Wohlfahrts-     Beziehungen ein, um nicht obdachlos zu      kommens für die Bereiche Wohnen,            schen heißt, auf dem Wohnungsmarkt kei-
pflege 44 434 Personen (Stand: Juni 2018)    werden.                                     Nahrungsmittel und Bekleidung auf. Bis      ne Chancen zu haben, weil beispielsweise
als wohnungslos gemeldet (MAGS 2019,                                                     einschließlich dem dritten Quintil wird     die Miete zu hoch ist oder durch Trennung
S. 5), deutschlandweit waren es 2017 rund       Was viele Menschen daran hindert,        mehr als die Hälfte der Einkommen für       zwei Wohnungen benötigt werden, können
650 000. Die Zahl derjenigen, die auf der    eine Wohnung zu finden, ist einerseits      den Grundbedarf aufgewendet …“ (MAIS        Zahlen nicht ausdrücken. Im Gegenteil: Sie
Straße leben oder von Wohnungslosigkeit      die Knappheit an Wohnraum, anderer-         2016, S. 152) (Anmerkung: Die Zahlen be-    schaffen eine Distanz zu den Betroffenen
bedroht sind, ist offiziell nicht bekannt.   seits die Höhe der Miete. Die Anteile der   ziehen sich auf das Jahr 2013).             und verschleiern die zur Armut führenden
Bekannt ist hingegen, dass sich die Zahl     Ausgaben für den Grundbedarf sind vor                                                   strukturellen und gesetzlichen Rahmen-
der erfassten wohnungslosen Personen in      allem für Menschen, die über wenig Ein-         Auch wenn für 2019 und 2020 noch        bedingungen. Die Folge: Lösungen, die aus
den letzten fünf Jahren mehr als verdop-     kommen verfügen, gestiegen.                 keine belastbaren Zahlen vorliegen: Es      Lebenssituationen abgeleitet werden kön-
pelt hat. Knapp jede fünfte wohnungslose        Im Sozialbericht 2016 heißt es dazu:     ist angesichts der steigenden Preise auf    nen und der Hilfe dienen, können weder
Person war jünger als 18 Jahre, fast jede    „… sowohl bei den Singlehaushalten, als     dem Wohnungsmarkt, der nicht wesent-        erkannt noch zur Weiterentwicklung oder
dritte zwischen 18 und 30 Jahre. Zwei        auch bei den Paarhaushalten mit zwei        lich gestiegenen Regelsätze (2008: 351      Umsetzung genutzt werden.
Drittel waren männlich, und knapp die        Kindern hat vor allem in den unteren        Euro; 2013: 382 Euro; 2020: 432 Euro) und
Hälfte hatte eine nichtdeutsche Staatsan-    zwei Quintilen der Anteil der Haushalts-    der gedeckelten angemessenen Kosten            Was bedeuten aber diese Zahlen für die
gehörigkeit (MAGS 2019, S.5f).               nettoeinkommen, die für die Posten          der Unterkunft durch die Kommunen           Menschen mit geringem Einkommen?
                                             Wohnen, Nahrung und Bekleidung              nicht davon auszugehen, dass sich eine      Es liegt auf der Hand, dass Menschen im
   Grundsätzlich gilt: Nicht alle diese      aufgewendet werden, von 2003 bis 2013       spürbare Entlastung bei den Ausgaben-       unteren Einkommensbereich Monat für
Personen leben auf der Straße. Viele sind    zugenommen“ (MAIS 2016, S. 152).            anteilen ergibt.                            Monat um ihre Existenz kämpfen. Un-
in Einrichtungen der Wohnungslosen-                                                                                                  erwartete Ausgaben können schnell zu
hilfe oder in Notunterkünften nach dem          Und der Sozialbericht 2016 schreibt                                                  Schulden führen. Im schlimmsten Fall
Ordnungsbehördengesetz untergebracht.        weiter: „Single-Haushalte im untersten                                                  kann es zum Wohnungsverlust durch eine
Andere hingegen kommen bei Verwand-          Einkommensquintil wenden durch-                                                         Zwangsräumung kommen. In NRW gab es

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im Jahr 2018 für Gerichtsvollzieherinnen                       lagen. Besonders häufig leiden folgende                Die wesentlichen Ursachen von Woh-        dem freien Spiel des Marktes überlassen. Die
und Gerichtsvollzieher 16 704 Aufträge zur                     Gruppen darunter:                                   nungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in     Konsequenzen in den Ballungsräumen: Gro-
Zwangsräumung – nirgendwo in Deutsch-                            • Kinder, Jugendliche, Seniorinnen                einer seit Jahrzehnten fehlgeschlagenen      ße Wohnungsbestände in attraktiven Lagen
land gab es mehr (insgesamt 54 010 Fälle ).                        und Senioren                                    Wohnungspolitik in Deutschland. Hinzu        stehen wegen der fortschreitenden Gen-
Inwieweit all diese Aufträge auch umgesetzt                      • Alleinstehende                                  kommen geringe Löhne, zu geringe Regel-      trifizierung Miethaushalten mit geringem
wurden, ist nicht bekannt. Aber nicht nur                        • Alleinerziehende                                sätze und die Unterdeckung von Mieten im     Einkommen nicht mehr zur Verfügung.
eine Räumung bringt Menschen mit gerin-                                                                            Bereich des SGB II und SGB XII.
gem Einkommen in eine Zwangslage. Auch                         Fazit: Eine Veränderung der Lebensver-                                                           3. Die Landesdarlehen reichen nicht aus,
Sanktionen wie das Sperren des Stroms ha-                      hältnisse (Trennung, Tod des Partners/der           An folgenden Schieflagen hat sich in vie-    um für den Mietpreis von 6,50 Euro pro
ben fatale Folgen im Alltag. 2018 wurde laut                   Partnerin, Pflege von Angehörigen, eigene           len Jahren wenig bis nichts verändert:       Quadratmeter wirtschaftlich Wohnungen
Bundesnetzagentur fast 100 000 Menschen                        Erkrankung oder Erkrankung der Partnerin/                                                        zu bauen. Grundstücke, die der Kommune,
in NRW der Strom abgestellt. Dies bedeutet,                    des Partners, Arbeitslosigkeit, Nachwuchs,          1. Seit 2002 nimmt die Zahl der Sozialwoh-   dem Land oder dem Bund gehören, werden
dass die Bewohnerinnen und Bewohner                            Umzug in eine andere Stadt) zieht meist eine        nungen durch das Auslaufen von Sozialbin-    immer noch nicht dem sozialen Wohnungs-
ohne Licht, Kühlschrank, warmes Wasser                         Wohnraumveränderung nach sich. Egal wel-            dungen ab. Diesem wurde nicht mit einem      bau zur Verfügung gestellt. Ist ein Grund-
oder Heizung auskommen müssen. Strom-                          che Veränderung sich ergibt, sie ist immer          Neubau gegengesteuert. Zugleich haben        stück bereits einer Investorin oder einem
sperren werden unter Umständen dabei                           mit diesen Fragen verbunden:                        Kommunen und das Land eigene Woh-            Investor zugesprochen, fehlt häufig die
schon bei einem Zahlungsrückstand von                            • Wie schnell finde ich eine Wohnung?             nungsbestände meistbietend an private        Auflage, Wohnungen im Sinne des sozialen
100 Euro verhängt.                                               • Was kann ich mir leisten?                       Investorinnen und Investoren verkauft und    Wohnungsbaus für Menschen mit geringem
                                                                 • Welche Abstriche muss ich machen bzgl. 		       sich damit geeigneter Reserven preiswer-     Einkommen zur Verfügung zu stellen.
Wohnungsnot samt allen damit verbunde-                         		der Mobilität?                                    ten Wohnraums beraubt.
nen existenziellen Nöten trifft in den aller-                    • Sind die Nebenkosten zu hoch?                                                                4. Die Armut der unteren Einkommens-
meisten Fällen Menschen mit geringem                             • Welche soziale Infrastruktur finde ich vor 		   2. Anstelle einer sozialen Wohnungspolitik   gruppen hat sich durch die Ausweitung
Einkommen in meist schwierigen Lebens-                         		(Kindergarten, Schule, Arztpraxis usw.)?          wurde die Wohnung als Ware betrachtet und    des Niedriglohnsektors, der atypischen

           1
               BAG Wohnungslosenhilfe: www.bagw.de/theman/zahl_der_wohnungslosen/index.html
           2
               Süddeutsche Zeitung vom 28. September 2019.
10                                                                                                                                                                                                       11
ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
„Der Politik
                                                                                                                                                                                           fehlt es
                                                                                                                                                                                           an sozialer
                                                                                                                                                                                           Fantasie“
                                                                                                                                            In Berlin sanierte er Wohnungen für Roma, in Köln verwaltet er integrierte Wohnprojekte
                                                                                                                                            für Deutsche und Flüchtlinge. Benjamin Marx, Projektentwickler der katholischen Aache-
                                                                                                                                            ner Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft, sagt: Wer die Wohnungsnot beheben will,
                                                                                                                                            braucht Kreativität.

                                                                                                                                            Lieber Herr Marx, warum tun sich Städte       50 000 Wohnungen, vor allem kleinere
                                                                                                                                            und Kommunen so schwer damit, aus-            Wohnungen um die 50 Quadratmeter – für
                                                                                                                                            reichend Wohnraum zur Verfügung zu            ältere, jüngere Paare oder Studierende. Die
Beschäftigung sowie durch den unzu-                                    den negativen Schufa-Eintrag nahezu                                  stellen?                                      Stadt hat genau wie wir als Kirche eine
reichenden Arbeitslosengeld-II-Regel-                                  chancenlos auf dem Wohnungsmarkt.                                                                                  soziale Verantwortung und darf sich nicht
satz verfestigt. Menschen mit geringem                                                                                                         Ein Grund ist, dass Wohnungsbau der-       verhalten wie ein Hedgefonds. Das heißt,
Einkommen müssen einen wesentlich                                      5. Schließlich gibt es strukturelle                                  zeit eher im oberen Segment beginnt. Wenn     Baugenehmigungen dürfen nur noch dann
größeren Anteil ihrer Einkünfte für das                                Defizite, Auftragsstau in der Bauwirt-                               man es mit der Autobranche vergleicht,        erteilt werden, wenn die Miete eine be-
Wohnen aufbringen als Menschen mit                                     schaft und übermäßig lang andau-                                     muss man sagen: Wohnungsbau fängt beim        stimmte Höhe nicht überschreitet.
hohem Einkommen. Es gilt: Je höher                                     ernde Baugenehmigungsverfahren.                                      3er-BMW an. Darunter ist es für Investie-
das Einkommen, desto geringer der                                      Einspruchs- und Widerspruchsver-                                     rende uninteressant. Es werden gezielt vor    Wie kann das funktionieren?
Wohnkostenanteil. Einkommensarme                                       fahren sowie Bürgerbegehren zur                                      allem nicht öffentlich geförderte Wohnun-
Menschen geraten oft in eine Ver-                                      Verhinderung der Schaffung bezahl-                                   gen gebaut, auch um Auflagen wie Barrie-         Das Münchener Modell ist hier beispiel-
schuldungsspirale, an deren Ende der                                   baren Wohnraums für Menschen mit                                     refreiheit zu umgehen. Viele bauen auch       haft. Die Stadt knüpft Baugenehmigun-
Wohnungsverlust stehen kann. Und                                       besonderen Schwierigkeiten ziehen                                    gar nicht erst, weil sie sich nicht mit den   gen an die Zusage von Bauherren, dass
wer erst einmal Miet-, Energie- oder                                   Planungen in die Länge oder verhin-                                  Ämtern anlegen wollen: Die Vorschriften       Haushalte mit mittleren Einkommen und
sonstige Schulden hat, der ist durch                                   dern Projekte ganz.                                                  in Sachen Brandschutz, Schallschutz oder      Familien mit Kindern vergünstigt zur Miete
                                                                                                                                            Energietechnik sind exorbitant gestiegen      wohnen können. Die Höhe liegt zwischen
                                                                                                                                            und machen Wohnungsbau immer teurer.          7,50 Euro und 11 Euro je Quadratmeter
                                                                                                                                                                                          Wohnfläche im Monat. Ziel ist es, 20 bis 25
                                                                                                                                            Die Folgen sind mangelnder Wohnraum für       Prozent unter der ortsüblichen Vergleichs-
                                                                                                                                            Familien und Alleinstehende, exorbitante      miete zu bleiben.
                                                                                                                                            Mieten, Quartiere, die kippen. Was muss
3
  „Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner
                                                                                                                                            sich ändern?                                  Bezahlbarer Wohnraum ist das eine, die Ge-
Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von                                                    fahr der Gettoisierung das andere. Schauen
Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanz-
kräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen
                                                                                                                                               Die Städte und Kommunen müssen             Sie sich Köln-Chorweiler an, wo vor allem
einhergeht.“ http://www.difu.de/publikationen/difu-berichte-42011/was-ist-eigentlich-gentrifizierung.html                                   ihre Standards überdenken. In Köln fehlen     ärmere Menschen, die weniger Miete zah-

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ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
len können, in Hochhäusern wohnen. Ist
das die zwangsläufige Folge des sozialen
Wohnungsbaus?

   Nein, Chorweiler ist kein Getto. Hoch
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                                                                       dabei leben sie selbst in einer und verken-
                                                                       nen, dass Wohnungsnot ein drängendes
                                                                       Problem ist. Es muss sich wirklich schleu-
                                                                       nigst etwas tun, sonst nehmen die sozialen
                                                                                                                                          4
heißt nicht automatisch arm. Wir müssen                                Spannungen zu. Mit dem 2012 eingeweihten                           ARMEN EINE STIMME GEBEN.
aber darauf achten, dass wir – wenn es um                              Haus für Roma und Berlinerinnen und Ber-
Hochhäuser geht – vertikale Dörfer bauen                               liner haben wir gezeigt, dass es funktioniert,                     WIR WOLLEN WOHNEN!
und keine Schlafstätten. Die Infrastruktur                             Bevölkerungsgruppen zu mischen, auch
muss sich mitentwickeln. Die Menschen                                  Vorurteile abzubauen. Das Quartier lebt, weil
müssen hier leben, arbeiten und einkau-                                der Ansatz ein kreativer ist. Das ist meine                           Schon seit Jahren warnt die Landes-         Auch wenn Nordrhein-Westfalen mit
fen können. Und vor allem: Wir brauchen                                Botschaft.                                                         arbeitsgemeinschaft der Freien Wohl-        der Landesinitiative gegen Wohnungslosig-
soziale Vielfalt! Die Entmischung, die wir                                                                                                fahrtspflege vor knapper werdendem          keit „Endlich ein ZUHAUSE“ gute Impulse
in diesen Quartieren auch sehen, ist das                               Viele Investorinnen und Investoren bekla-                          Wohnraum, steigenden Mieten und der         setzt und deutlich wird, dass die Proble-
eigentliche Problem und vor allem eine                                 gen, dass die Auflagen, vor allem in Sachen                        anwachsenden Zahl Wohnungsloser.            matik auch in der Politik angekommen ist,
Folge verfehlter Politik.                                              Brandschutz, immer weiter steigen.                                 Insbesondere für einkommensarme             fehlt es an einer durchgreifenden Strategie
                                                                                                                                          Menschen mit zusätzlichen Hemmnissen        mit dem Ziel, bezahlbares Wohnen für alle
Merkmal der Projekte, die Sie angestoßen                                   Wenn Sie den Brandschutz aus Köln                              wie Erkrankungen, Schulden oder körper-     Menschen zu ermöglichen und mit einem
oder mitentwickelt haben, ist, dass sich                               nach Berlin mit seinen großen Altbaube-                            lichen Handicaps ist es immer schwieriger   Controlling dafür zu sorgen, dass sich auch
hier Menschen verschiedener Herkunft                                   ständen und vielen Hinterhöfen übertragen                          geworden, eine angemessene Wohnung zu       Kommunen und Landkreise ausreichend
begegnen. In Berlin-Neukölln haben Sie                                 würden, müssten Sie fast alle Wohnungen                            finden oder die eigene Wohnung aufgrund     beteiligen.
einen Wohnkomplex saniert, in dem heute                                stilllegen. Daran sieht man, wie willkürlich                       von Mietsteigerungen zu halten.
Berlinerinnen und Berliner und zugezoge-                               er ist. Denn nach dieser Logik sind die Men-                                                                      Im Kapitel „Armen eine Stimme geben.
ne Roma leben, im gerade eingeweihten                                  schen in älteren Bestandsbauten weniger                              So setzten sich auf Initiative der Lan-   Wir wollen wohnen!“ kommen Frauen
Klarissenkloster in Köln leben Kölnerinnen                             wert. Oder warum gilt der vermeintlich so                          desarbeitsgemeinschaft die Teilnehmen-      und Männer zu Wort, die aus unterschied-
und Kölner und Flüchtlinge Tür an Tür.                                 wichtige Brandschutz nur für neue Woh-                             den des ersten Treffens von Menschen mit    lichen Gründen Schwierigkeiten haben,
Inwieweit könnte die Politik von solchen                               nungen? Das ist zynisch. Man sollte beim                           Armutserfahrung in Nordrhein-Westfalen      angemessenen Wohnraum zu finden oder
Projekten lernen?                                                      Brandschutz also auf ein normales Maß                              2018 mit der schlechten Wohnsituation       ihre Wohnung zu halten. Menschen, die
                                                                       zurückkehren.                                                      von Menschen in besonderen Lebenslagen      häufig mit weiteren Herausforderungen zu
   Das Problem der Politik ist doch, dass ihr                                                                                             und Schwierigkeiten auseinander.            kämpfen haben, die aber gleichzeitig mutig
die soziale Fantasie fehlt. Politikerinnen und                             Das Interview führte Markus Harmann                                                                        von ihren Erfahrungen berichten und so
                                                                                                                                                                                      die nüchternen Zahlen und Fakten dieses
                                                                                                                                                                                      Sozialberichts lebendig werden lassen.

Info: Benjamin Marx, 65, ist studierter Psychologe und Projektleiter der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft. Die
Immobiliengesellschaft wurde 1949 unter dem Leitwort „Wohnungsbau ist Dombau“ gegründet. Sie besitzt und verwaltet heute 25 000 Woh-
nungen vor allem in Köln, Düsseldorf, Essen und Berlin.

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ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
„Seit ich
     alleinerziehend bin,
           fühle ich mich
                  wie eine
             Zielscheibe“
Für Theresa Lindhurst, 49, zwei Kinder, sind vor allem die Erfahrung mit Ämtern und die
Suche nach einer größeren Wohnung zermürbend.

   Mit ihrer 18-jährigen Tochter Ella und       sagt Theresa Lindhurst. „Ich will mir nicht     hat sie ihre ganz speziellen Erfahrungen         ich auf dem Weg zur Arbeit einfach an zu
dem neunjährigen Sohn Paul* lebt Theresa        vorstellen, was wäre, wenn ich nur Teilzeit     gemacht. Mit der Stadt Köln hat sie Prozesse     weinen“, sagt Theresa Lindhurst.
Lindhurst in einer Dreizimmerwohnung            arbeiten könnte.“ Rund 2 400 Euro bleiben       geführt, ebenso mit der Stelle für Unterhalts-
im Kölner Stadtteil Kalk. Sie würde gern        ihr netto im Monat, davon zahlt sie 950 Euro    vorschuss, nachdem der Vater der Tochter            Druck, der Spuren hinterlässt. „Ich habe
umziehen, raus aus Kalk, in eine größere        Miete für die 80 Quadratmeter große Woh-        aufgehört hatte, Unterhalt zu zahlen. Auch       oft Albträume, träume davon, dass das Auto
Wohnung. Obwohl sie Vollzeit arbeitet und       nung und einen Stellplatz. „Ich glaube nicht,   wenn sie alle Prozesse gewann, so hat sie        kaputtgeht und ich nicht mehr zur Arbeit
nicht schlecht verdient, ist das Budget stets   dass wir bei meinem Verdienst Anspruch          sich für die Anwaltskosten hoch verschuldet.     fahren kann.“ Von Politik und Gesellschaft
knapp. Der Vater der Tochter, die noch zur      auf Wohngeld hätten, aber ich kann mich                                                          würde sie sich mehr Unterstützung für
Schule geht, zahlt seit Jahren keinen Unter-    auch nicht darum kümmern, denn für die             Sehr belastend empfindet Theresa Lind-        Alleinerziehende wünschen: „Bürokratie
halt. Wegen hoher Anwaltskosten ist sie ver-    ganze Bürokratie bleibt mir keine Zeit.“        hurst die ständig fehlende Zeit und den          müsste abgebaut werden. Es müsste mehr
schuldet. Von den Behörden fühlt Theresa                                                        großen Druck, alles allein schaffen zu müs-      Anlaufstellen für Alleinerziehende geben,
Lindhurst seit Jahren nur Gegenwind: „Seit         Ähnlich resigniert hat sie bei der Woh-      sen. Ihr Alltag ist auf die Minute durch-        wo man erfährt, was einem alles zusteht. Es
ich alleinerziehend bin, fühle ich mich wie     nungssuche. Gern würde sie aus Kalk             getaktet. Von Kalk aus fährt sie ihren Sohn      fehlen niederschwellige Hilfsangebote. Man
eine Zielscheibe“, sagt die 49-Jährige.         wegziehen, ihre Tochter ist mehrfach auf        jeden Morgen auf die andere Rheinseite in        hat ja Angst, um Hilfe zu bitten, weil man
                                                der Straße auf unangenehme Weise ange-          seine bilinguale Grundschule. Die Zwei-          fürchten muss, dass das Amt einem dann
   Nach einer Trennung kam Theresa              sprochen worden. Die ganze Familie trainiert    sprachigkeit ist der gebürtigen US-Ame-          die Kinder wegnimmt.“ Und sie fügt hinzu:
Lindhurst vor zwölf Jahren zurück nach          darum inzwischen Kampfsport. Auch ein           rikanerin wichtig, die Kosten teilt sie sich     „Ich denke manchmal, der Staat möchte
Köln, dort wohnte der Vater ihrer Tochter,      weiteres Zimmer wäre gut, denn Mutter und       mit Pauls Vater, außerdem handelt es sich        nicht, dass es unseren Kindern zu gut geht.
dort waren ihre Freunde. Schon damals,          Sohn teilen sich einen Raum. Vor einiger        um eine Ganztagsschule. „Die Kinder sind         Was am meisten schmerzt, sind die hohen
so erinnert sie sich, war es schwierig, eine    Zeit hat Theresa Lindhurst noch mal eine        dort bis 18 Uhr betreut. Bei jeder normalen      Steuern, die ich zahlen muss. Mit Steuer-
Wohnung zu finden. Sie zog in eine Drei-        Offensive gestartet, hat Anzeigen auf Im-       Grundschule hätte ich ein Problem – und          klasse III hätte ich rund 300 Euro mehr
zimmerwohnung im Stadtteil Kalk – ob-           mobilienportalen geschaltet. „Kein Mensch       jede Menge Zusatzkosten für Kinder-              im Monat zur Verfügung. Wenn mir mehr
wohl diese eigentlich als Übergangslösung       hat sich darauf gemeldet.“ Sich selbst auf      betreuung“, sagt Theresa Lindhurst. Von          Geld bliebe, könnte ich etwas sparen, etwas
gedacht war, lebt sie heute noch immer dort.    Wohnungsanzeigen zu bewerben, das hat sie       dort fährt sie zurück über den Rhein, zu         fürs Alter zurücklegen, mir vielleicht sogar
Mit einem neuen Partner bekam sie einen         längst aufgegeben: „Ich habe nicht die Zeit,    ihrem Arbeitsplatz nach Köln-Porz. Nach          eine Putzfrau leisten.“ Oder einmal Urlaub
Sohn, kurz nach der Geburt folgte die Tren-     jedes Wochenende zu Besichtigungen zu           einem achtstündigen Arbeitstag dann              machen mit ihren Kindern – das wäre ihr
nung. Schnell begann sie, wieder Vollzeit zu    gehen, mich in lange Schlangen zu stellen,      den ganzen Weg wieder zurück. Abends             Traum –, doch das gibt das Budget einfach
arbeiten. „Ich gehöre wahrscheinlich zu den     um die Wohnung als Alleinerziehende am          stehen noch Haushalt und Papierkram an.          nicht her.
besser verdienenden Alleinerziehenden“,         Ende doch nicht zu bekommen.“ Mit Ämtern        Ein hartes Pensum: „Es gibt Tage, da fange                             *Namen der Kinder geändert

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ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
Im Blickpunkt
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     MENSCHEN MIT                                                                                                                         Politikerinnen und
     BEHINDERUNG                                                                                                                          Politiker überhaupt
                                                                                                                                          noch in den Spiegel
        Die prekäre Situation auf dem
     Wohnungsmarkt trifft Menschen mit
                                                  Hinzu kommt, dass auch die Ein-
                                               richtungen und Dienste, in denen Men-
                                                                                                                                          schauen?“
     Behinderung besonders hart. Auf-          schen mit Behinderung leben, zuneh-      Angelika Zwering, 66, muss mit kleinem Budget auskommen. Ihre Erfahrungen haben sie
     grund ihrer Einkommenssituation sind      mend von der angespannten Situation      zu einer Aktivistin für arme Menschen gemacht.
     viele dieser Menschen auf öffentlich      am Wohnungsmarkt betroffen sind.
     geförderte und mietpreisgebundene         Das wiederum wirkt sich nachteilig          Angelika Zwering lebt in Monheim am           bereite mir größere Mengen zu und friere
     Wohnungen angewiesen. Dass die Zahl       auf Zahl und Qualität angebotener        Rhein. Obwohl die Rentnerin und ihr in-          mir einzelne Portionen ein.“ So schafft sie
     solcher Wohnungen sinkt, trifft Men-      sozialer Hilfen und Therapieanstren-     zwischen verstorbener Mann immer hart            es, über die Runden zu kommen. Schwierig
     schen mit Behinderung also besonders      gungen aus. Dies wiegt umso schwe-       gearbeitet haben, bleiben der 66-Jährigen        wird es, wenn größere Anschaffungen an-
     hart. Dies umso mehr, da die Wohnun-      rer, weil aufgrund der seit Jahren von   heute gerade einmal 300 Euro im Monat            stehen. „Im letzten Jahr ist meine Wasch-
     gen nicht nur bezahlbar sein müssen,      den Landschaftsverbänden Rheinland       zum Leben. Ein enges Budget, das Spar-           maschine kaputtgegangen, eine neue zu
     sondern auch möglichst barrierefrei.      und Westfalen-Lippe vorgegebenen         samkeit und gutes Wirtschaften verlangt.         kaufen ist einfach nicht drin“, sagt Angelika
                                               Deckelung stationärer Plätze in der      Gern würde sich Angelika Zwering etwas           Zwering. Zum Glück gibt es in dem Haus,
         Da die Wohnraumförderung des          Behindertenhilfe dringend zusätz-        dazuverdienen mit einem 450-Euro-Job.            in dem sie lebt, Gemeinschaftswaschma-
     Landes überwiegend in Städte und          licher Wohnraum für Menschen mit         Doch wegen ihrer Schwerbehinderung gibt          schinen. „Wenn ich neue Kleidung brauche,
     Regionen mit einem hohen Mietniveau       Behinderung hätte geschaffen werden      ihr niemand die Chance dazu. Aktiv ist die       spare ich, bis ich das Geld zusammenhabe.
     fließt, verschärft sich die Wohnungs-     müssen.                                  66-Jährige trotzdem: Unter anderem kocht         Ich warte lieber, bis ich etwas von besserer
     not für Menschen mit Behinderung                                                   sie einmal pro Woche ehrenamtlich für Be-        Qualität kaufen kann, die Sachen halten
     in kleineren Städten und Gemeinden.           Diese Entwicklung konterkariert      dürftige beim SkF Langenfeld, und auch in        dann einfach länger.“ Ins Theater würde sie
     Denn diese profitieren von der Förde-     aus Sicht der Landesarbeitsgemein-       der Nationalen Armutskonferenz setzt sie         gern einmal wieder gehen, „aber das geht
     rung häufig nicht, weil die Mieten hier   schaft der Freien Wohlfahrtspflege die   sich für die Belange von Betroffenen ein.        eben nicht“.
     im Schnitt meist etwas günstiger sind.    schrittweise Umsetzung des Bundes-
     Dazu gehören immerhin 75 Prozent          teilhabegesetzes (BTHG), das sich an        Obwohl erst der 21. des Monats ist, be-          Zwei Söhne hat Angelika Zwering groß-
     aller Städte und Gemeinden in Nord-       der UN-Behindertenrechtskonvention       finden sich im Portemonnaie von Angelika         gezogen, zusammen mit ihrem Mann war
     rhein-Westfalen.                          orientiert und die Teilhabe von Men-     Zwering gerade einmal vier Euro. Das Geld,       sie viele Jahre selbstständig. Sie führte ein
                                               schen mit Behinderung verbessern         mit dem sie die restlichen Tage des Monats       kleines Lotto-Geschäft, ihr Mann einen
        Der stagnierende Bau von öffentlich    soll. Doch solange diese Menschen        auskommen muss. Die 66-Jährige hat               Malerbetrieb, am Wochenende waren sie
     geförderten Mietwohnungen in diesen       kaum bezahlbare und barrierefreie        gelernt, sich einzurichten: „Ich lege mir zu     mit ihrem Briefmarkenhandel auf Messen
     Regionen hindert somit die Menschen       Wohnungen in zentralen Lagen finden,     Anfang des Monats Vorräte an, damit ich          und Börsen unterwegs. Die Familie lebte
     mit Behinderung an einer selbstbe-        kann für viele Menschen von einer        auch am Ende des Monats noch satt wer-           in einem schönen Bungalow am Rande
     stimmten und gleichberechtigten Teil-     echten gesellschaftlichen Teilhabe       de.“ Gerade jetzt, im Herbst, sei es gar nicht   von Monheim. „Mein Mann war unheim-
     habe am Leben in der Gesellschaft.        keine Rede sein.                         schwer, sich auch mit kleinem Budget gut         lich fleißig, sein Antrieb war immer, dass
                                                                                        zu ernähren: „Es gibt alle möglichen Gemü-       es uns einmal besser gehen sollte.“ Doch
                                                                                        searten frisch und günstig zu kaufen. Ich        irgendwann hatte der Malerbetrieb große

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Im Blickpunkt

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                                                                                                ERZIEHENDE

                                                                                                   41,5 Prozent aller Personen aus             Viele der Alleinerziehenden kom-
                                                                                                Alleinerziehenden-Haushalten leben          men nicht über die Runden, selbst
Außenstände, weil Kunden ihre Rechnun-         fährt sie zu Kongressen und vertritt dort
                                                                                                in Armut, so der Armutsbericht des Pa-      wenn sie Vollzeit arbeiten. Angesichts
gen nicht bezahlten, Probleme mit den          die Positionen der Betroffenen, hält Reden,
                                                                                                ritätischen Wohlfahrtsverbandes 2019.       niedriger Rentenbeiträge ist Alters-
Steuerbehörden kamen hinzu. Das Lotto-         beteiligt sich an Diskussionen. Wie zum
                                                                                                Damit stieg die Quote innerhalb von         armut beinahe vorprogrammiert.
Geschäft musste verkauft werden, dann          Beispiel im Frühjahr 2019 beim Sympo-
                                                                                                zehn Jahren um 4,5 Prozent. Das große       Wichtig sind daher höhere Regelsätze
auch das Haus. Die Familie war plötzlich       sium zum Armuts- und Reichtumsbericht
                                                                                                Risiko von alleinerziehenden Müttern        in den Sozialgesetzbüchern II und XII,
auf die Hilfe des Jobcenters angewiesen.       der Bundesregierung. In der Politik läuft
                                                                                                und Vätern, in Armut zu leben, ist seit     ein auskömmlicher Mindestlohn und
Das war 2009. Im Jahr darauf erkrankte         so einiges schief, findet Angelika Zwering:
                                                                                                Jahrzehnten bekannt. Dennoch ist zu         mehr Hilfen und Angebote in der Kin-
ihr Mann an Krebs, 2011 verstarb er. Wegen     „Das macht mich richtig wütend. Wer sein
                                                                                                wenig getan worden, um gegenzusteu-         derbetreuung.
ihrer Schwerbehinderung durfte Angelika        Leben lang gearbeitet hat, sollte im Alter
                                                                                                ern. Statt etwa eine Grundsicherung
Zwering zumindest in der 60 Quadratmeter       von seiner Rente leben können.
                                                                                                für Kinder einzuführen, wird an einzel-
großen Wohnung bleiben, die sie noch mit
                                                                                                nen kleinen Stellschrauben gedreht.
ihrem Mann bezogen hatte. „Die war laut           Und wer heute Vollzeit arbeitet, der sollte
                                                                                                Ob Kinderzuschlag oder Bildungs- und
Jobcenter eigentlich zehn Quadratmeter zu      so viel verdienen, dass er seine Familie
                                                                                                Teilhabepaket – zwar erhöhten sich
groß für mich.“                                ernähren kann. Ich frage mich oft: Wie
                                                                                                einzelne Leistungen, doch um von ih-
                                               können die Politikerinnen und Politiker
                                                                                                nen zu profitieren, ist meist ein hoher
    Ihre eigenen Erfahrungen mit den Be-       überhaupt noch in den Spiegel schauen?“
                                                                                                bürokratischer Aufwand nötig.
hörden haben Angelika Zwering zu einer         Ihr Einsatz hilft nicht nur anderen, sondern
Aktivistin für die Anliegen armer Men-         auch ihr selbst: „Ich bin selbstbewusster
                                                                                                   Wer Sozialleistungen benötigt,
schen gemacht. Über den SkF in Langen-         geworden und bekomme Anerkennung, das
                                                                                                muss sich auskennen, braucht einen
feld hat sie Langzeitarbeitslose betreut,      tut mir sehr gut.“
                                                                                                langen Atem oder fachliche Hilfe. Das
sie zum Jobcenter oder zu Arztbesuchen
                                                                                                System an sich wird von der Politik
begleitet. Inzwischen kocht sie einmal            Diese Energie würde sie gern auch in
                                                                                                bis heute nicht in Frage gestellt. So ist
pro Woche für Bedürftige, „die freuen sich,    eine bezahlte Tätigkeit stecken, doch dazu
                                                                                                die Kinderbetreuung nach wie vor nur
wenn ich komme, die lieben mein Essen“,        gibt ihr niemand die Chance. „Ich würde
                                                                                                unzureichend ausgebaut, der Niedrig-
an einem anderen Tag backt sie Waffeln für     jeden Job annehmen, den ich körperlich
                                                                                                lohnsektor groß und der Dschungel der
die Bewohnerinnen und Bewohner eines           hinkriege.“ Dann könnte sie sich hier und
                                                                                                Leistungen für manche undurchdring-
Altenheims, für die Polizei will sie künftig   da einen kleinen Wunsch erfüllen – „mal
                                                                                                lich: Kinderzuschlag, Kindesunterhalt,
Seniorinnen und Senioren über die Enkel-       mit Freundinnen essen gehen“ – oder Geld
                                                                                                Unterhaltsvorschuss, Einkommens-
trick-Masche aufklären.                        zurücklegen für ihren großen Traum: „Noch
                                                                                                freibeträge, Wohngeld und Asylbewer-
                                               einmal 14 Tage Urlaub an meiner geliebten
                                                                                                berleistungen. Diese Liste ließe sich
   Doch sie ist nicht nur eine Frau der Ta-    Nordsee machen. Das werde ich irgend-
                                                                                                fortsetzen.
ten, sie ist auch eine Frau der Worte gewor-   wann auch schaffen, da bin ich sicher. Ich
den: Für die Nationale Armutskonferenz         gebe nicht auf!“

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„Wer Menschen
          helfen will, der
     muss nicht immer
     gleich eine Lösung
           parat haben“
Jürgen Schneider, 55, ist seit mehr als 25 Jahren wohnungslos. Das hindert ihn nicht          Jobcenter abholen muss. Er hat sich im          zu tun. Lobbyarbeit auf höchster Ebene.
daran, sich für andere einzusetzen. Denn er weiß: Obdachlose haben keine Lobby.               Laufe der Jahre ein Netzwerk geschaffen:        Der Mann war skeptisch, als er Schneider
                                                                                              Schlafplätze, darunter ein Kloster in Dink-     mit seinem Rauschebart sah. „Der nahm
   Jürgen Schneider zieht seinen Per-             Schneider hat keine feste Bleibe. Im        lage, ein privates Postfach in Stadthagen       mich erst nicht ernst, wollte das Gespräch
sonalausweis aus dem Portemonnaie.             Gegensatz zu den meisten Wohnungslosen         westlich von Hannover, Bekannte in ganz         schnell beenden, hörte dann aber doch
„Anschrift: Stadt Köln“ steht da auf dem       sucht Schneider allerdings auch keine.         Deutschland. Sehr selten nur noch schläft       zu.“ Schneider erlebt das immer wieder,
Aufkleber der Rückseite. Bis vor Kur-          „Man kann mich nicht mehr ansiedeln“,          er im Freien oder in Notunterkünften.           wenn er mit Menschen, die in der Politik
zem gab es diesen Aufkleber noch nicht.        sagt er, während er über den Kölner Ron-                                                       tätig sind, oder Funktionärinnen und
„Kein Hauptwohnsitz in Deutschland“            calliplatz hinunter zum Rhein spaziert. Ein       Sein Smartphone klingelt. Ein alter Be-      Funktionären spricht. „Es ist manchmal
war stattdessen zu lesen. „Das wurde           Versuch, zurückzukehren ins bürgerliche        kannter und Mitstreiter. Er will von Jürgen     schwer zu vermitteln, dass ich eigenstän-
mir irgendwann zu bunt“, sagt Jürgen           Leben, sei vor Jahren kläglich gescheitert.    Schneider wissen, wie der Ablauf ist beim       dig denken kann.“
Schneider und lacht. „Einige dachten, ich      In Mainz wurde er kurz sesshaft, hatte sogar   Treffen der Menschen mit Armutserfah-
würde auf Mallorca wohnen.“ Kaum einer         einen Job, ein Sozialarbeiter kümmerte sich    rung in einigen Monaten. Mehrmals im               Genau das mag Schneider nicht an un-
glaubte ihm nämlich, dass er gar keinen        um ihn. Doch das Experiment misslang.          Jahr findet ein solches Treffen statt, meist    serer Gesellschaft, und deshalb möchte er
Wohnsitz hat – weder in Deutschland            Was vor allem an Schneider selbst lag: „Ich    in Berlin und Köln. Dutzende Menschen           sich auch nicht so ganz integrieren. „Viele
noch im Ausland. Seit mehr als 25 Jahren       möchte nicht so sein, wie die Leute mich       kommen dann zusammen, sie alle ver-             sehen nicht zunächst den Menschen, son-
lebt Jürgen Schneider aus dem Rucksack.        haben wollen“, sagt er und wirkt zufrieden.    bindet, dass sie zum Beispiel wohnungs-         dern nur eine Schublade“, sagt Schneider.
Er reist kreuz und quer durch Deutsch-         Persönliche Freiheit gehe ihm über alles.      los, arbeitslos oder alleinerziehend sind.      Jemand hat ein bestimmtes Aussehen, ein
land. Genauer gesagt: Er wandert, fährt                                                       Deshalb organisieren sie sich – und Jürgen      bestimmtes Leben – und schon ist er auf
mit dem Bus, dem Zug, lässt sich im Auto          Über seine Kindheit in Solingen möchte      Schneider ist einer ihrer Sprecher.             eine Rolle festgelegt.“ Mit diesem Denken
mitnehmen.                                     er eigentlich nicht sprechen, sagt nur, dass                                                   will er brechen, das ist seine Mission.
                                               er seinen Eltern „wenig Freude“ gemacht            Er weiß, dass vor allem Wohnungslose
   Jürgen Schneider, 55 Jahre, nie verhei-     habe, ständig ausgerissen und im Heim ge-      keine Lobby haben – im Gegensatz zu                Nie habe er ein Alkohol- oder Drogen-
ratet, keine Kinder, abgebrochene Bäcker-      landet sei. Das unstete Leben wurde seins.     Menschen mit Behinderung oder Allein-           problem gehabt. „Das ist selbst Sozialarbei-
lehre, lange, lockige Haare, dichter grauer    Bis heute weiß er nicht, was aus seinen        erziehenden. Auch deshalb engagiert er          terinnen und Sozialarbeitern schwer zu
Bart. Ein bisschen erinnert er an Rainer       Eltern und Geschwistern wurde. Ein Leben       sich. Sein Vorteil: Die, für die er eintritt,   vermitteln. Die wollen mir immer helfen,
Langhans, 68er-Ikone und Alt-Kommu-            auf der Durchreise, unterwegs zu Hause.        nehmen ihn als einen aus ihrer Mitte wahr       aber ich brauche diese Hilfe nicht“, sagt er
narde, als er aus dem Schatten des Kölner      Heimat? „Jedenfalls nicht an einen Ort ge-     und vertrauen ihm. „Um das machen zu            und nippt an seinem Kaffee.
Doms tritt. Pünktlich auf die Minute. Er       bunden, nur an Menschen“, sagt Schneider.      können, muss ich glaubwürdig sein“, sagt
ist mit der Bahn gekommen, aus Olden-                                                         er, als er aufgelegt hat.                         Wer anderen Menschen helfen wolle,
burg. Wie lange er bleibt? „Zwei, drei Tage,      Heute vertraue er darauf, dass es schon                                                     der müsse nicht immer gleich eine Lösung
dann geht’s weiter.“                           irgendwie klappen werde – mit dem Essen,          Neulich hatte er mal mit einem Presse-       parat haben, sagt er. „Einfach nur mal zu-
                                               dem Schlafen, dem Geld, das er sich beim       sprecher aus einem Bundesministerium            hören, das reicht oft schon.“

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Im Blickpunkt
                                                                                                                                          „Als Familie mit drei
     OBDACHLOSIGKEIT –                                                                                                                    Kindern hat man
     EXTREMSTE FORM DER ARMUT                                                                                                             auf dem Kölner
                                                                                                                                          Wohnungsmarkt
        Ende Juni 2018 waren in Nord-
     rhein-Westfalen 44 434 Menschen
                                               zu: Zu abhängig sind die Menschen von
                                               Wind und Wetter, von anderen Perso-
                                                                                                                                          kaum eine Chance“
     wohnungslos gemeldet. Ein deutlicher      nen, von Öffnungszeiten oder schlicht     Der fünfköpfigen Familie von Silvia Lessig, 29, wurde der Mietvertrag gekündigt – wegen
     Anstieg, ein Jahr zuvor lag diese Zahl    von einem vorhandenen Ort zum             Eigenbedarf. Bei der Suche nach einer neuen Bleibe musste sie erleben, wie angespannt
     noch bei 32 300 (MAGS 2018, S. 5).        Schlafen. Ein Leben auf der Straße be-    der Wohnungsmarkt ist.
     Hinzu kommen nach Einschätzung der        deutet Stress, macht früher oder später
     Caritas in NRW rund 5 000 Frauen und      krank. Obdachlosigkeit gilt daher auch       Familie Lessig lebt mit ihren drei Kindern   glauben, dass er keine Kinder dort haben
     Männer , die schutzlos auf der Straße     als extremste Form von Armut.             im Alter von zehn, sechs und vier Jahren        wollte. Auch im rechtsrheinischen Köln
     leben, also akut obdachlos sind. Auch                                               im Kölner Stadtteil Braunsfeld. Dort bewoh-     hatte die Familie eine Vierzimmerwohnung
     deren Zahl steigt – vor allem in den          Doch selbst die eigene Wohnung bie-   nen sie 82 Quadratmeter, verteilt auf drei      in Aussicht – bis zu einem Telefonat mit
     Städten und Ballungsräumen. Der An-       tet nicht immer ausreichenden Schutz      Zimmer. Den Preis von 1 100 Euro Warm-          dem Vermieter: „Er sagt: Für Kinder ist die
     stieg ist auch eine Folge der Zuwande-    und Möglichkeiten der Selbstbestim-       miete kann die Familie gerade so aufbringen     Wohnung nicht geeignet, ich stelle mir eher
     rung aus anderen Staaten der EU und       mung. Etwa wenn vom Partner oder          – Silvia Lessig macht eine Ausbildung zur       ein älteres Ehepaar vor“, erzählt die Mutter.
     der großen Zahl Geflüchteter – immer      von der Partnerin, von einem Elternteil   Hebamme, ihr Mann arbeitet als Medien-
     mehr Menschen konkurrieren also um        oder dem Kind körperliche, sexuelle       gestalter. Im vergangenen Sommer hat der           Dann kam alles anders: „Im letzten
     das knapper werdende Gut Wohnraum.        oder psychische Gewalt ausgeht. In sol-   Vermieter der Familie wegen Eigenbedarf         Frühjahr bekamen wir eine Mieterhöhung
                                               chen Situationen bleibt manchmal nur      gekündigt, bis Ende Mai 2020 müssen sie         von rund 100 Euro. Doch weil es zu der
        Zwar haben Obdachlose in der Regel     die überstürzte Flucht mit dem Notwen-    ausziehen. Seither sind die Lessigs auf Woh-    Zeit hier viel Baulärm gab, haben wir nur
     ein Anrecht auf eine Unterbringung        digsten – etwa in ein Frauenhaus, eine    nungssuche. Ihr Fazit nach vielen belasten-     eingeschränkt zugestimmt. Der Vermieter
     in einer Einrichtung der Wohnungs-        Notunterkunft oder eben auf die Straße.   den Monaten: „Als Familie mit drei Kindern      nahm das persönlich, das Verhältnis war
     losenhilfe. Das jedoch lehnt ein Teil                                               und normalem Gehalt hat man auf dem             seitdem angespannt“, sagt Silvia Lessig.
     der Menschen ab. Manche scheuen              Wohnungs- oder Obdachlosigkeit         Kölner Wohnungsmarkt kaum eine Chance.“         Wenige Monate später kam die Kündigung
     Massenunterkünfte ohne Privat- und        stehen häufig am Ende eines schlei-                                                       wegen Eigenbedarf. „Wir haben überlegt und
     Intimsphäre, stattdessen bevorzugen       chenden Verarmungsprozesses, der             Wie schwierig die Wohnungssuche mit          kamen zu dem Schluss, dass es am besten
     sie ein Leben auf der Straße oder über-   etwa mit einem Jobverlust oder einer      drei Kindern sein kann, haben die Lessigs       wäre, wenn wir die Kinder nicht aus ihrem
     nachten bei Bekannten. Auf der Straße     Trennung beginnt. Es folgen nicht sel-    bereits fünf Jahre zuvor erlebt. „Ich war da-   Sozialraum, aus Schule und Kita heraus-
     zu leben heißt aber auch: kaum Privat-    ten Suchtprobleme und psychische Er-      mals mit der jüngsten Tochter schwanger“,       reißen müssten.“ Außerdem wohnt Lessigs
     heit, wenig Schutz und Geborgenheit.      krankungen. Zunehmende Zahlungs-          erzählt Silvia Lessig. „Wir wollten mit unse-   Mutter im Nachbarhaus. Sie unterstützt die
     Es bedeutet, keinen ruhigen Ort der       schwierigkeiten führen schließlich        ren drei Kindern in eine größere Wohnung        Familie bei der Betreuung der Kinder.
     Entspannung zu haben, sich weder zu-      zum Verlust der Wohnung. Mit frühzei-     nach Wuppertal ziehen, weil dort die Preise
     rückziehen noch Freunde einladen zu       tiger Prävention kann dieser Abstiegs-    günstiger sind. Wir fanden eine schöne             Für die Lessigs begann ein Marathon:
     können. Ein Leben auf der Straße lässt    entwicklung begegnet werden.              Vierzimmerwohnung, doch bekommen                „Wir haben Suchprofile bei den Immobilien-
     nur eine begrenzte Selbstbestimmung                                                 haben wir sie nicht.“ Der Vermieter habe es     portalen im Internet eingerichtet, haben all
                                                                                         zwar nicht explizit gesagt, aber die Lessigs    unsere Kontakte angeschrieben, haben in

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               Dpa, 21. Januar 2020

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Im Blickpunkt
                                                                                                                                                                      änderbar ist,denn fehlendes Einkommen
                                                                                                WOHNEN                                                                kann im Alter kaum mehr revidiert oder
                                                                                                                                                                      aufgebessert werden. Die Betroffenen
                                                                                                IM ALTER                                                              schränken sich meist zunehmend in
                                                                                                                                                                      ihrem persönlichen Konsumverhalten ein.
                                                                                                                                                                      Es drohen Isolierung und gesundheitliche
                                                                                                Fast 18 Millionen Menschen in Deutsch-                                Auswirkungen, weil etwa Medikamente
der Kita einen Aushang gemacht, auf dem          doch dafür bekommt man höchstens in der
                                                                                                land sind 65 oder älter – die Zahl steigt                             nicht mehr gekauft werden können. In der
Straßenfest und in der Viertelsbuchhand-         Eifel ein Haus, und das in schwer zu errei-
                                                                                                von Jahr zu Jahr. Mit zunehmendem                                     Altersgruppe der über 65-Jährigen können
lung Flyer verteilt“, sagt Silvia Lessig. Auch   chenden Gegenden.“
                                                                                                Alter verbringen Menschen statistisch                                 deshalb schon geringfügige finanzielle
alle Wohnungsbaugenossenschaften hat sie
                                                                                                mehr Zeit in ihren eigenen vier Wänden                                Mehrbelastungen – etwa durch Krankheit,
kontaktiert, doch dort bekam sie ebenfalls          Silvia Lessigs Verzweiflung nahm zu:
                                                                                                – sei es aus gesundheitlichen Gründen                                 defekte Haushaltsgeräte, ÖPNV-Mehrkos-
immer nur zu hören, dass nichts frei sei         „Anfangs hatte ich noch die naive Vorstel-
                                                                                                oder weil die Menschen das Arbeitsle-                                 ten – zum Verlust der Wohnung führen.
und dass es ohnehin kaum Vierzimmer-             lung, dass einen die Stadt doch irgendwie
                                                                                                ben hinter sich haben und weniger aus
wohnungen gebe. „Einmal habe ich eine            unterstützen muss, wenn man als Familie
                                                                                                dem Haus gehen. Damit werden eine                                     Notwendig ist eine veränderte Alters-
Hausverwaltung angerufen, weil die gerade        mit drei Kindern auf einmal auf der Straße
                                                                                                wohnungsnahe medizinisch-pflegeri-                                    sicherungspolitik, um problematische
ein Dachgeschoss in Braunsfeld ausbau-           sitzt. Aber da gibt es wirklich gar keine
                                                                                                sche Versorgung sowie barrierearmes                                   gesamtgesellschaftliche Entwicklungen
ten. Der Verwalter ist am Telefon richtig        Hilfe. Der Wohnberechtigungsschein bringt
                                                                                                Wohnen bedeutsamer, um ein selbstbe-                                  zu verhindern. Menschenwürdiges und
unverschämt geworden, als er hörte, dass         auch nichts. Er verlangt viel Bürokratie,
                                                                                                stimmtes Leben führen zu können.                                      bedarfsgerechtes Wohnen in der ge-
wir drei Kinder haben. Er hat mir das Ge-        und am Ende erfährt man, dass es kaum
                                                                                                                                                                      wünschten oder gewohnten Umgebung
fühl gegeben, nach etwas Unverschämtem           Sozialwohnungen gibt und schon gar nicht
                                                                                                Anfang der 90er-Jahre lebte eine von                                  muss auch für einkommensarme Men-
zu fragen.“ In einem anderen Fall kam die        für Familien.“ Die ungeklärte Situation be-
                                                                                                fünf Personen über 65 Jahre in einer                                  schen im Alter möglich und bezahlbar
direkte Antwort: „Der Vermieter stellt sich      drückt die Familie: „Das Ganze hat meinen
                                                                                                Wohnung, die nicht angemessen, also                                   sein. Der Erhalt von Selbstbestimmung
eher eine Familie mit einem Kind vor.“           Mann und mich sehr belastet, wir haben
                                                                                                zum Beispiel zu teuer war. 2017 waren                                 und Lebensqualität erfordert:
                                                 uns immer wieder gefragt: Wo soll das nur
                                                                                                es schon zwei von fünf Personen . Und                                 		 • die Schaffung von bezahlbarem,
   Also begannen die Lessigs, nach Alter-        hinführen?“
                                                                                                die Mieten steigen schneller an als die                               			 barrierearmem Wohnraum für mobili-
nativen zu suchen: „Wir dachten, wenn wir
                                                                                                Altersbezüge (Renten). Insbesondere                                   			 tätseingeschränkte Menschen,
schon von hier wegziehen müssen, dann               Gott sei Dank ist inzwischen eine
                                                                                                ältere Frauen sind von dieser Entwick-                                		 • den Bau von mehr Sozialwohnungen,
wenigstens mit einer Steigerung der Wohn-        Lösung in Sicht: Über viele Ecken erfuhr
                                                                                                lung betroffen. Sie leben häufiger in                                 		 • die effektive Anpassung des Wohn-
qualität, vielleicht richtig ins Grüne.“ Doch    Silvia Lessig von einer leerstehenden
                                                                                                nicht barrierefreien Wohnungen. Etwa                                  			 geldes an aktuelle Entwicklungen,
auch im Umland machten sie die Erfah-            Vierzimmerwohnung gleich um die Ecke.
                                                                                                zwei Drittel aller älteren Miethaushalte                              		 • eine vereinfachte Bürokratie, etwa
rung, dass entweder die Preise hoch sind         Mit regelrecht detektivischem Geschick
                                                                                                müssen mindestens 30 Prozent des                                      			 bei Wohngeldanträgen,
oder die Erreichbarkeit schlecht ist. „Mein      machte sie die Besitzer ausfindig, ein Ehe-
                                                                                                Einkommens für Miete aufwenden. Bei                                   		 • den Erhalt und die ausreichende
Mann arbeitet mitten in der Kölner Innen-        paar aus dem Bergischen. „Die waren sehr
                                                                                                älteren Frauen ab 65 Jahren entfallen                                 			 Finanzierung der über Pflegekassen
stadt, ich mache meine Ausbildung im Ber-        freundlich. Und wir fanden es richtig krass,
                                                                                                sogar 35 Prozent des Einkommens auf                                   			 und Kommunen finanzierten Wohnbe-
gischen, muss einen Bahnanschluss in der         einmal keine Ablehnung zu erfahren.“ Die
                                                                                                die Miete . Problematisch an dieser                                   			 ratungsstellen,
Nähe haben, und auch die Oma muss uns            Wohnung ist so teuer wie ihre jetzige, in
                                                                                                Situation ist, dass die Wohnsituation                                 		 • eine intakte Infrastruktur mit Geschäf-
weiter gut erreichen können.“ In ihrer Ver-      den nächsten Tagen soll die Familie den
                                                                                                in Fällen hoher Mietbelastung und                                     			 ten und einer medizinisch-pflegeri-
zweiflung haben die Lessigs sogar überlegt,      Schlüssel bekommen, die Freude ist riesig:
                                                                                                geringen Einkommens kaum ver-                                         			 schen wohnortnahen Versorgung.
in Eigentum zu investieren. „Die Bank wäre       „Wir sind sehr glücklich. Das ist das aller-
bereit gewesen, uns 250 000 Euro zu leihen,      schönste Weihnachtsgeschenk.“

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                                                                                                6
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                                                                                                                                                                                                                27
„Ich fühle
 mich wie
 weggeschlossen“
Für Günter Maleski aus Essen bedeutet Armut vor allem eines: das Gefühl, allein zu sein.

    Anfang November in Köln: Der goldene         Doch die Luft zum Atmen nimmt Mal-         Tafel am Essener Wasserturm geht: Milch,           Sich mit anderen Betroffenen auszu-
Herbst ist längst vorbei, und ein eisiger     eski nicht nur der malade Körper, sondern     Brot, Gemüse oder Obst holt er sich dort ab.    tauschen, das tut Maleski augenschein-
Wind pfeift durch den Stadtgarten unweit      vor allem auch die Angst, dass er sich sein   Ans Schlangestehen mit den anderen hil-         lich gut. Was er mit nach Hause nehme,
des angesagten Belgischen Viertels. Sogar     Leben in Zukunft nicht mehr leisten kann.     fesuchenden Menschen hat er sich längst         sei neben der Hoffnung auf eine bessere
durch das dicke Gemäuer der Pfarrkirche       „Ich sehe immer mehr Menschen, die im         gewöhnt, an andere Begleitumstände              Zukunft vor allem die Solidarität von und
St. Alban ist er noch zu spüren. Auch bei     Abfall wühlen, um zu überleben – der          seines täglichen Lebens aber noch lange         mit anderen. Aber auch die gezielte Anlei-
Günter Maleski, dem Neuling beim heu-         absolute Horror für mich“, sagt er. Einmal    nicht. „Die Armut macht sich schleichend        tung, die eigene Situation zu analysieren
tigen Caritas-Treffen für Menschen mit        sei er auch durch die Essener Innenstadt      in deinem Leben breit. Essen gehen, Aus-        und zu verbessern: Wo drückt der Schuh
Armutserfahrung. Er setzt sich auf einen      gezogen, um Pfandflaschen und -dosen zu       flüge, Sportverein: Ich kann mir Gesell-        am meisten? Welche Möglichkeiten stellt
Stuhl aus sakralem Massivholz und reibt       sammeln – heimlich im Dunkeln. „Tage-         schaft einfach nicht mehr leisten und           der Gesetzgeber zur Verfügung? Wie kann
sich wärmend die Hände. „Früher war ich       lang habe ich mich dafür geschämt.“           bleibe deshalb oft allein zu Hause. Ich fühle   ich Bürgerbeteiligung am sinnvollsten
bei so einem Wetter immer in der Sauna.                                                     mich wie weggeschlossen“, sagt Maleski.         nutzen? Angehört werden, Tipps be-
Heute? Kannste vergessen! 18,50 Euro für         Es gab auch andere, bessere Zeiten. Mal-                                                   kommen, das alles hilft gegen Stille und
vier Stunden – viel zu viel Geld.“            eski hat früher bei Krupp im Essener Stahl-      Freunde seien ihm ganz wenige ge-            Stillstand: „Wir müssen kämpfen, damit
                                              werk gearbeitet. Sogar bis zum Vorarbeiter    blieben. Der Grund ist genauso einfach wie      unser Staat sich mehr für Menschen wie
   Der 67-Jährige kommt aus Essen. Im         hat er es dort geschafft. Zum 25. Dienst-     traurig: Die allerwenigsten können Ver-         uns interessiert und besonders denjeni-
Ruhrgebiet redet man gewöhnlich so,           jubiläum bekam er eine goldene Uhr – und      ständnis für seine Situation aufbringen: „Ein   gen in unserer Gesellschaft Hilfestellung
ohne Tamtam. Jede oder jeder weiß sofort,     mit ihr gleich die Kündigung. Der Anfang      armer Freund passt einfach vielen nicht ins     anbietet, denen es nicht gut geht“, fordert
woran er ist. Günter Maleski weiß das         vom persönlichen Niedergang: Maleski          Konzept. Oft höre ich Dinge wie ‚Streng dich    der Rentner.
auch. Dem Rentner bleiben jeden Monat         fand mit Mitte 40 keine neue Anstellung       doch ein bisschen an‘ oder ‚Du hättest ein-
250 Euro zum Leben, viel zu wenig. Er ist     mehr, bezog zunächst Arbeitslosengeld,        fach mehr arbeiten sollen‘ und werde so als        In zwei Wochen hat Günter Maleski
zusätzlich auf Stütze vom Amt angewie-        dann Hartz IV und war mit 63 Jahren           Nichtsnutz abgestempelt und ausgegrenzt.        Geburtstag. Große Geschenke erwartet er
sen. „Extrawürste gibt’s bei mir nicht. Ich   Rentner. Seine Ehe ging in der Zwischen-      Das tut mir sehr weh.“ Irgendwann war es        weder vom Staat noch von anderen. Des-
schaue, dass ich über die Runden kom-         zeit in die Brüche. Die Kinder Lena und       Maleski dann einfach leid, immer wieder         halb macht er sich in diesem Jahr selbst
me“, sagt Maleski. Er wirkt angeschlagen      Mathias kamen nach der Scheidung zur          gegen diese und ähnliche Vorurteile anzu-       eines: Er wird in die Sauna gehen – für
und spricht leise. Ein Herzinfarkt und        Frau, ein schmutziger Rosenkrieg mit der      kämpfen. „Lieber allein als in schlechter Ge-   18,50 Euro. Das leistet er sich ausnahms-
ein Schlaganfall hinterließen körperliche     Ex-Gattin obendrauf.                          sellschaft“ ist seither sein Motto. Das heißt   weise: „Die Wärme, der Geruch, das Ab-
Spuren. Kleinere Mini-Jobs, um die Rente                                                    aber auch, dass der Tisch in seiner Essener     schalten vom Alltag: Das werde ich vier
ein wenig aufzupolieren, kann er seitdem        Heute hat Maleski so wenig Geld zur         Wohnung mit Menschen, die es gut mit ihm        Stunden lang in vollen Zügen genießen
nicht mehr annehmen.                          Verfügung, dass er jeden Mittwoch zur         meinen, oft sehr spärlich besetzt bleibt.       – egal, was da noch kommt.“

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