ARMEN EINE STIMME GEBEN - Freie Wohlfahrtspflege NRW
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INHALTSVERZEICHNIS 1 – Einleitung S. 04 2 – Interview: „Zugänge zum Wohnungsmarkt sind nicht frei von Diskriminierung“ S. 06 3 – Wir wollen wohnen! S. 08 · NRW: Immer mehr Menschen haben keine Wohnung · Folgen von Wohnungsnot · Ein Problem mit Ansage · Interview: „Der Politik fehlt es an sozialer Fantasie“ 4 – Armen eine Stimme geben S. 15 · Theresa Lindhurst: „Seit ich alleinerziehend bin, fühle ich mich wie eine Zielscheibe“ · Angelika Zwering: „Wie können die Politikerinnen und Politiker überhaupt noch in den Spiegel schauen?“ · Jürgen Schneider: „Wer anderen Menschen helfen will, der muss nicht immer gleich eine Lösung parat haben“ · Silvia Lessig: „Als Familie mit drei Kindern hat man auf dem Kölner Wohnungsmarkt kaum eine Chance“ · Günter Maleski: „Ich fühle mich wie weggeschlossen“ · Ilse Kramer: „Es muss viel mehr bezahlbaren Wohnraum geben“ 5 – Fazit · Raus aus der Wohnungsnot S. 32 · Ein Gedicht Impressum S. 36 2 3
1 ARMEN EINE STIMME GEBEN Der Sozialbericht des Landes NRW Mit der Beteiligung am Sozialbericht Als sozialpolitische Akteure in den gehört seit 1992 zur etablierten Armuts- 2020 nimmt die Freie Wohlfahrtspflege ihre Städten und Kommunen sowie auf Länder- berichterstattung der Landesregierung und Rolle als eigenständiger Akteur im Sozial- und Bundesebene tragen die Verbände dazu ist von allen Parteien anerkannt. Seit 2004 staat wahr. Ziel ist die Verbesserung von bei, für die Lebenslagen einkommensarmer wird der Bericht um den Blick auf Reichtum Lebenslagen insbesondere der Menschen, und von sozialer Ausgrenzung betroffener erweitert, und seit 2007 nimmt die Landes- die am Rande der Gesellschaft leben, aus- Menschen zu sensibilisieren und einen arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrts- gegrenzt sind oder denen Ausgrenzung politischen Diskurs mit dem Ziel einer Ver- pflege in Nordrhein-Westfalen die Gelegen- droht. Die Interessen von Benachteiligten in änderung anzuregen. Dies gilt insbesondere heit wahr, Armut aus der Perspektive der den gesellschaftlichen Dialog einzubringen für das Schwerpunktthema dieses Sozial- von ihr betroffenen Menschen darzustellen. und Benachteiligte bzw. Experten und Ex- berichts: Der Mangel an angemessenem pertinnen in eigener Sache für sich selbst Wohnraum in Nordrhein-Westfalen. Die Beteiligung der Freien Wohlfahrts- sprechen zu lassen, ihnen eine Stimme zu pflege ist nicht in allen Bundesländern geben – das ist ein Schritt zu mehr Teilhabe selbstverständlich und gewünscht. Auch in und an der Gesellschaft. deshalb sind die Offenheit des Ministe- riums für Arbeit, Gesundheit und Soziales Armut ist nicht einfach die Summe des Landes Nordrhein-Westfalen und persönlicher Einzelschicksale ohne ge- dessen Kooperationsbereitschaft positiv sellschaftlichen Hebel zur Verbesserung. hervorzuheben. Armut ist in erster Linie ein Systemfehler, der menschengemacht ist und daher auch nur von Menschen durch gesetzliche und gesellschaftliche Veränderungen korrigiert werden kann. 4 5
2 „ZUGÄNGE ZUM WOHNUNGSMARKT SIND NICHT FREI VON DISKRIMINIERUNG“ Dr. Claudia Mahler vom Deutschen Institut Wie ist es dann möglich, dass so viele Men- behandlungsgesetz (AGG) bietet noch keinen von Ausgrenzung betroffen sind, müssen für Menschenrechte erklärt, warum es so schen in Deutschland nicht zu ihrem Recht ausreichenden Schutz. Gerade Städte und einbezogen werden. Denn nur so kann eine schwierig ist, das Menschenrecht auf Woh- kommen, wenn es um das Wohnen geht? Kommunen, die doch sonst oft so viel Wert Strategie passgenau werden. Es muss klar nen durchzusetzen. auf Barriere- und Diskriminierungsfreiheit sein, dass diese Strategie nur in einem par- Es ist tatsächlich ein großes Problem, dass legen, müssten hier mit gutem Beispiel voran- tizipativen Prozess erarbeitet werden kann. Frau Mahler, es ist Aufgabe Ihres Insti- Anspruch und Wirklichkeit beim Thema gehen und Menschen angemessenen Wohn- Im besten Fall schaffen wir einen inklusi- tuts, auf Menschenrechtsverletzungen Wohnen so weit auseinanderliegen. Das gilt raum zu angemessenen Preisen anbieten. ven Wohnungsmarkt, der allen Menschen hinzuweisen. Um das Menschenrecht auf besonders für Menschen, die sich ohnehin in rechtlich und faktisch einen angemesse- Wohnen ist es angesichts der Wohnungs- verletzlichen Lebenslagen befinden. Ausge- Eine angemessene Wohnung – was heißt nen Zugang bietet und sie schützt. knappheit in vielen deutschen Städten rechnet für sie ist der Zugang zum regulären das eigentlich genau? und Regionen besonders schlecht be- Wohnungsmarkt nur schwer möglich oder stellt, oder? sogar ganz versperrt. Sie können sich die Angemessen ist eine Wohnung, wenn Mieten nicht leisten, haben vielleicht noch ein sie ausreichend Schutz vor Kälte, Hitze Ja, das Menschenrecht auf Wohnen Suchtproblem, sprechen als Zugewanderte und Feuchtigkeit bietet und Gesundheits- kann nicht von allen Menschen voll in unsere Sprache nicht gut genug, gelten des- schäden vermieden werden. Wenn sie Anspruch genommen werden. Das Men- halb als nicht vertrauenswürdig und sind für gleichzeitig vor Eingriffen von privater und schenrecht ist sowohl in der Allgemeinen Vermieterinnen und Vermieter sowie Woh- staatlicher Seite schützt und wenn alle ihr Erklärung der Menschenrechte enthalten nungseigentümerinnen und Wohnungseigen- Recht auf Wohnen durchsetzen können. als auch im Sozialpakt der Vereinten Na- tümer eine Risikogruppe. Ein Teufelskreis, der tionen verankert. Angemessen zu wohnen unterbrochen werden muss. Was wäre denn der nächste Schritt, der ist essenziell für viele weitere Rechte. Denn den Staat, aber auch Länder und Kommu- wer keine eigene Wohnung hat, der hat Wie kann das geschehen? nen dazu bringt, das Recht auf angemesse- auch Probleme, das Recht auf Privatheit, auf nes Wohnen auch umzusetzen? Eigentum oder auf soziale Sicherheit durch- Die Realität zeigt immer wieder: Zugänge zusetzen. Auch das Bundesverfassungsge- zum Wohnungsmarkt sind nicht frei von Dis- Wichtig wäre eine menschenrechts- richt hat geurteilt, dass Wohnen unmittel- kriminierung. Das sollten sie aber eigentlich basierte ganzheitliche Strategie zum Recht bar zur physischen Existenz gehört. sein, doch das derzeit gültige Allgemeine Gleich- auf Wohnen. Diejenigen, die besonders 6 7
3 WIR WOLLEN WOHNEN! 1. 2. NRW: Immer mehr Menschen haben keine Wohnung Folgen von Wohnungsnot In NRW wurden von den Kommunen ten oder Freunden unter oder gehen schnittlich 83,1 Prozent ihres Ein- Was es aber für jeden einzelnen Men- und Einrichtungen der Freien Wohlfahrts- Beziehungen ein, um nicht obdachlos zu kommens für die Bereiche Wohnen, schen heißt, auf dem Wohnungsmarkt kei- pflege 44 434 Personen (Stand: Juni 2018) werden. Nahrungsmittel und Bekleidung auf. Bis ne Chancen zu haben, weil beispielsweise als wohnungslos gemeldet (MAGS 2019, einschließlich dem dritten Quintil wird die Miete zu hoch ist oder durch Trennung S. 5), deutschlandweit waren es 2017 rund Was viele Menschen daran hindert, mehr als die Hälfte der Einkommen für zwei Wohnungen benötigt werden, können 650 000. Die Zahl derjenigen, die auf der eine Wohnung zu finden, ist einerseits den Grundbedarf aufgewendet …“ (MAIS Zahlen nicht ausdrücken. Im Gegenteil: Sie Straße leben oder von Wohnungslosigkeit die Knappheit an Wohnraum, anderer- 2016, S. 152) (Anmerkung: Die Zahlen be- schaffen eine Distanz zu den Betroffenen bedroht sind, ist offiziell nicht bekannt. seits die Höhe der Miete. Die Anteile der ziehen sich auf das Jahr 2013). und verschleiern die zur Armut führenden Bekannt ist hingegen, dass sich die Zahl Ausgaben für den Grundbedarf sind vor strukturellen und gesetzlichen Rahmen- der erfassten wohnungslosen Personen in allem für Menschen, die über wenig Ein- Auch wenn für 2019 und 2020 noch bedingungen. Die Folge: Lösungen, die aus den letzten fünf Jahren mehr als verdop- kommen verfügen, gestiegen. keine belastbaren Zahlen vorliegen: Es Lebenssituationen abgeleitet werden kön- pelt hat. Knapp jede fünfte wohnungslose Im Sozialbericht 2016 heißt es dazu: ist angesichts der steigenden Preise auf nen und der Hilfe dienen, können weder Person war jünger als 18 Jahre, fast jede „… sowohl bei den Singlehaushalten, als dem Wohnungsmarkt, der nicht wesent- erkannt noch zur Weiterentwicklung oder dritte zwischen 18 und 30 Jahre. Zwei auch bei den Paarhaushalten mit zwei lich gestiegenen Regelsätze (2008: 351 Umsetzung genutzt werden. Drittel waren männlich, und knapp die Kindern hat vor allem in den unteren Euro; 2013: 382 Euro; 2020: 432 Euro) und Hälfte hatte eine nichtdeutsche Staatsan- zwei Quintilen der Anteil der Haushalts- der gedeckelten angemessenen Kosten Was bedeuten aber diese Zahlen für die gehörigkeit (MAGS 2019, S.5f). nettoeinkommen, die für die Posten der Unterkunft durch die Kommunen Menschen mit geringem Einkommen? Wohnen, Nahrung und Bekleidung nicht davon auszugehen, dass sich eine Es liegt auf der Hand, dass Menschen im Grundsätzlich gilt: Nicht alle diese aufgewendet werden, von 2003 bis 2013 spürbare Entlastung bei den Ausgaben- unteren Einkommensbereich Monat für Personen leben auf der Straße. Viele sind zugenommen“ (MAIS 2016, S. 152). anteilen ergibt. Monat um ihre Existenz kämpfen. Un- in Einrichtungen der Wohnungslosen- erwartete Ausgaben können schnell zu hilfe oder in Notunterkünften nach dem Und der Sozialbericht 2016 schreibt Schulden führen. Im schlimmsten Fall Ordnungsbehördengesetz untergebracht. weiter: „Single-Haushalte im untersten kann es zum Wohnungsverlust durch eine Andere hingegen kommen bei Verwand- Einkommensquintil wenden durch- Zwangsräumung kommen. In NRW gab es 8 9
3. Ein Problem mit Ansage im Jahr 2018 für Gerichtsvollzieherinnen lagen. Besonders häufig leiden folgende Die wesentlichen Ursachen von Woh- dem freien Spiel des Marktes überlassen. Die und Gerichtsvollzieher 16 704 Aufträge zur Gruppen darunter: nungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in Konsequenzen in den Ballungsräumen: Gro- Zwangsräumung – nirgendwo in Deutsch- • Kinder, Jugendliche, Seniorinnen einer seit Jahrzehnten fehlgeschlagenen ße Wohnungsbestände in attraktiven Lagen land gab es mehr (insgesamt 54 010 Fälle ). und Senioren Wohnungspolitik in Deutschland. Hinzu stehen wegen der fortschreitenden Gen- Inwieweit all diese Aufträge auch umgesetzt • Alleinstehende kommen geringe Löhne, zu geringe Regel- trifizierung Miethaushalten mit geringem wurden, ist nicht bekannt. Aber nicht nur • Alleinerziehende sätze und die Unterdeckung von Mieten im Einkommen nicht mehr zur Verfügung. eine Räumung bringt Menschen mit gerin- Bereich des SGB II und SGB XII. gem Einkommen in eine Zwangslage. Auch Fazit: Eine Veränderung der Lebensver- 3. Die Landesdarlehen reichen nicht aus, Sanktionen wie das Sperren des Stroms ha- hältnisse (Trennung, Tod des Partners/der An folgenden Schieflagen hat sich in vie- um für den Mietpreis von 6,50 Euro pro ben fatale Folgen im Alltag. 2018 wurde laut Partnerin, Pflege von Angehörigen, eigene len Jahren wenig bis nichts verändert: Quadratmeter wirtschaftlich Wohnungen Bundesnetzagentur fast 100 000 Menschen Erkrankung oder Erkrankung der Partnerin/ zu bauen. Grundstücke, die der Kommune, in NRW der Strom abgestellt. Dies bedeutet, des Partners, Arbeitslosigkeit, Nachwuchs, 1. Seit 2002 nimmt die Zahl der Sozialwoh- dem Land oder dem Bund gehören, werden dass die Bewohnerinnen und Bewohner Umzug in eine andere Stadt) zieht meist eine nungen durch das Auslaufen von Sozialbin- immer noch nicht dem sozialen Wohnungs- ohne Licht, Kühlschrank, warmes Wasser Wohnraumveränderung nach sich. Egal wel- dungen ab. Diesem wurde nicht mit einem bau zur Verfügung gestellt. Ist ein Grund- oder Heizung auskommen müssen. Strom- che Veränderung sich ergibt, sie ist immer Neubau gegengesteuert. Zugleich haben stück bereits einer Investorin oder einem sperren werden unter Umständen dabei mit diesen Fragen verbunden: Kommunen und das Land eigene Woh- Investor zugesprochen, fehlt häufig die schon bei einem Zahlungsrückstand von • Wie schnell finde ich eine Wohnung? nungsbestände meistbietend an private Auflage, Wohnungen im Sinne des sozialen 100 Euro verhängt. • Was kann ich mir leisten? Investorinnen und Investoren verkauft und Wohnungsbaus für Menschen mit geringem • Welche Abstriche muss ich machen bzgl. sich damit geeigneter Reserven preiswer- Einkommen zur Verfügung zu stellen. Wohnungsnot samt allen damit verbunde- der Mobilität? ten Wohnraums beraubt. nen existenziellen Nöten trifft in den aller- • Sind die Nebenkosten zu hoch? 4. Die Armut der unteren Einkommens- meisten Fällen Menschen mit geringem • Welche soziale Infrastruktur finde ich vor 2. Anstelle einer sozialen Wohnungspolitik gruppen hat sich durch die Ausweitung Einkommen in meist schwierigen Lebens- (Kindergarten, Schule, Arztpraxis usw.)? wurde die Wohnung als Ware betrachtet und des Niedriglohnsektors, der atypischen 1 BAG Wohnungslosenhilfe: www.bagw.de/theman/zahl_der_wohnungslosen/index.html 2 Süddeutsche Zeitung vom 28. September 2019. 10 11
„Der Politik fehlt es an sozialer Fantasie“ In Berlin sanierte er Wohnungen für Roma, in Köln verwaltet er integrierte Wohnprojekte für Deutsche und Flüchtlinge. Benjamin Marx, Projektentwickler der katholischen Aache- ner Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft, sagt: Wer die Wohnungsnot beheben will, braucht Kreativität. Lieber Herr Marx, warum tun sich Städte 50 000 Wohnungen, vor allem kleinere und Kommunen so schwer damit, aus- Wohnungen um die 50 Quadratmeter – für reichend Wohnraum zur Verfügung zu ältere, jüngere Paare oder Studierende. Die Beschäftigung sowie durch den unzu- den negativen Schufa-Eintrag nahezu stellen? Stadt hat genau wie wir als Kirche eine reichenden Arbeitslosengeld-II-Regel- chancenlos auf dem Wohnungsmarkt. soziale Verantwortung und darf sich nicht satz verfestigt. Menschen mit geringem Ein Grund ist, dass Wohnungsbau der- verhalten wie ein Hedgefonds. Das heißt, Einkommen müssen einen wesentlich 5. Schließlich gibt es strukturelle zeit eher im oberen Segment beginnt. Wenn Baugenehmigungen dürfen nur noch dann größeren Anteil ihrer Einkünfte für das Defizite, Auftragsstau in der Bauwirt- man es mit der Autobranche vergleicht, erteilt werden, wenn die Miete eine be- Wohnen aufbringen als Menschen mit schaft und übermäßig lang andau- muss man sagen: Wohnungsbau fängt beim stimmte Höhe nicht überschreitet. hohem Einkommen. Es gilt: Je höher ernde Baugenehmigungsverfahren. 3er-BMW an. Darunter ist es für Investie- das Einkommen, desto geringer der Einspruchs- und Widerspruchsver- rende uninteressant. Es werden gezielt vor Wie kann das funktionieren? Wohnkostenanteil. Einkommensarme fahren sowie Bürgerbegehren zur allem nicht öffentlich geförderte Wohnun- Menschen geraten oft in eine Ver- Verhinderung der Schaffung bezahl- gen gebaut, auch um Auflagen wie Barrie- Das Münchener Modell ist hier beispiel- schuldungsspirale, an deren Ende der baren Wohnraums für Menschen mit refreiheit zu umgehen. Viele bauen auch haft. Die Stadt knüpft Baugenehmigun- Wohnungsverlust stehen kann. Und besonderen Schwierigkeiten ziehen gar nicht erst, weil sie sich nicht mit den gen an die Zusage von Bauherren, dass wer erst einmal Miet-, Energie- oder Planungen in die Länge oder verhin- Ämtern anlegen wollen: Die Vorschriften Haushalte mit mittleren Einkommen und sonstige Schulden hat, der ist durch dern Projekte ganz. in Sachen Brandschutz, Schallschutz oder Familien mit Kindern vergünstigt zur Miete Energietechnik sind exorbitant gestiegen wohnen können. Die Höhe liegt zwischen und machen Wohnungsbau immer teurer. 7,50 Euro und 11 Euro je Quadratmeter Wohnfläche im Monat. Ziel ist es, 20 bis 25 Die Folgen sind mangelnder Wohnraum für Prozent unter der ortsüblichen Vergleichs- Familien und Alleinstehende, exorbitante miete zu bleiben. Mieten, Quartiere, die kippen. Was muss 3 „Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner sich ändern? Bezahlbarer Wohnraum ist das eine, die Ge- Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von fahr der Gettoisierung das andere. Schauen Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanz- kräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen Die Städte und Kommunen müssen Sie sich Köln-Chorweiler an, wo vor allem einhergeht.“ http://www.difu.de/publikationen/difu-berichte-42011/was-ist-eigentlich-gentrifizierung.html ihre Standards überdenken. In Köln fehlen ärmere Menschen, die weniger Miete zah- 12 13
len können, in Hochhäusern wohnen. Ist das die zwangsläufige Folge des sozialen Wohnungsbaus? Nein, Chorweiler ist kein Getto. Hoch Politiker beklagen oft Parallelgesellschaften, dabei leben sie selbst in einer und verken- nen, dass Wohnungsnot ein drängendes Problem ist. Es muss sich wirklich schleu- nigst etwas tun, sonst nehmen die sozialen 4 heißt nicht automatisch arm. Wir müssen Spannungen zu. Mit dem 2012 eingeweihten ARMEN EINE STIMME GEBEN. aber darauf achten, dass wir – wenn es um Haus für Roma und Berlinerinnen und Ber- Hochhäuser geht – vertikale Dörfer bauen liner haben wir gezeigt, dass es funktioniert, WIR WOLLEN WOHNEN! und keine Schlafstätten. Die Infrastruktur Bevölkerungsgruppen zu mischen, auch muss sich mitentwickeln. Die Menschen Vorurteile abzubauen. Das Quartier lebt, weil müssen hier leben, arbeiten und einkau- der Ansatz ein kreativer ist. Das ist meine Schon seit Jahren warnt die Landes- Auch wenn Nordrhein-Westfalen mit fen können. Und vor allem: Wir brauchen Botschaft. arbeitsgemeinschaft der Freien Wohl- der Landesinitiative gegen Wohnungslosig- soziale Vielfalt! Die Entmischung, die wir fahrtspflege vor knapper werdendem keit „Endlich ein ZUHAUSE“ gute Impulse in diesen Quartieren auch sehen, ist das Viele Investorinnen und Investoren bekla- Wohnraum, steigenden Mieten und der setzt und deutlich wird, dass die Proble- eigentliche Problem und vor allem eine gen, dass die Auflagen, vor allem in Sachen anwachsenden Zahl Wohnungsloser. matik auch in der Politik angekommen ist, Folge verfehlter Politik. Brandschutz, immer weiter steigen. Insbesondere für einkommensarme fehlt es an einer durchgreifenden Strategie Menschen mit zusätzlichen Hemmnissen mit dem Ziel, bezahlbares Wohnen für alle Merkmal der Projekte, die Sie angestoßen Wenn Sie den Brandschutz aus Köln wie Erkrankungen, Schulden oder körper- Menschen zu ermöglichen und mit einem oder mitentwickelt haben, ist, dass sich nach Berlin mit seinen großen Altbaube- lichen Handicaps ist es immer schwieriger Controlling dafür zu sorgen, dass sich auch hier Menschen verschiedener Herkunft ständen und vielen Hinterhöfen übertragen geworden, eine angemessene Wohnung zu Kommunen und Landkreise ausreichend begegnen. In Berlin-Neukölln haben Sie würden, müssten Sie fast alle Wohnungen finden oder die eigene Wohnung aufgrund beteiligen. einen Wohnkomplex saniert, in dem heute stilllegen. Daran sieht man, wie willkürlich von Mietsteigerungen zu halten. Berlinerinnen und Berliner und zugezoge- er ist. Denn nach dieser Logik sind die Men- Im Kapitel „Armen eine Stimme geben. ne Roma leben, im gerade eingeweihten schen in älteren Bestandsbauten weniger So setzten sich auf Initiative der Lan- Wir wollen wohnen!“ kommen Frauen Klarissenkloster in Köln leben Kölnerinnen wert. Oder warum gilt der vermeintlich so desarbeitsgemeinschaft die Teilnehmen- und Männer zu Wort, die aus unterschied- und Kölner und Flüchtlinge Tür an Tür. wichtige Brandschutz nur für neue Woh- den des ersten Treffens von Menschen mit lichen Gründen Schwierigkeiten haben, Inwieweit könnte die Politik von solchen nungen? Das ist zynisch. Man sollte beim Armutserfahrung in Nordrhein-Westfalen angemessenen Wohnraum zu finden oder Projekten lernen? Brandschutz also auf ein normales Maß 2018 mit der schlechten Wohnsituation ihre Wohnung zu halten. Menschen, die zurückkehren. von Menschen in besonderen Lebenslagen häufig mit weiteren Herausforderungen zu Das Problem der Politik ist doch, dass ihr und Schwierigkeiten auseinander. kämpfen haben, die aber gleichzeitig mutig die soziale Fantasie fehlt. Politikerinnen und Das Interview führte Markus Harmann von ihren Erfahrungen berichten und so die nüchternen Zahlen und Fakten dieses Sozialberichts lebendig werden lassen. Info: Benjamin Marx, 65, ist studierter Psychologe und Projektleiter der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft. Die Immobiliengesellschaft wurde 1949 unter dem Leitwort „Wohnungsbau ist Dombau“ gegründet. Sie besitzt und verwaltet heute 25 000 Woh- nungen vor allem in Köln, Düsseldorf, Essen und Berlin. 14 15
„Seit ich alleinerziehend bin, fühle ich mich wie eine Zielscheibe“ Für Theresa Lindhurst, 49, zwei Kinder, sind vor allem die Erfahrung mit Ämtern und die Suche nach einer größeren Wohnung zermürbend. Mit ihrer 18-jährigen Tochter Ella und sagt Theresa Lindhurst. „Ich will mir nicht hat sie ihre ganz speziellen Erfahrungen ich auf dem Weg zur Arbeit einfach an zu dem neunjährigen Sohn Paul* lebt Theresa vorstellen, was wäre, wenn ich nur Teilzeit gemacht. Mit der Stadt Köln hat sie Prozesse weinen“, sagt Theresa Lindhurst. Lindhurst in einer Dreizimmerwohnung arbeiten könnte.“ Rund 2 400 Euro bleiben geführt, ebenso mit der Stelle für Unterhalts- im Kölner Stadtteil Kalk. Sie würde gern ihr netto im Monat, davon zahlt sie 950 Euro vorschuss, nachdem der Vater der Tochter Druck, der Spuren hinterlässt. „Ich habe umziehen, raus aus Kalk, in eine größere Miete für die 80 Quadratmeter große Woh- aufgehört hatte, Unterhalt zu zahlen. Auch oft Albträume, träume davon, dass das Auto Wohnung. Obwohl sie Vollzeit arbeitet und nung und einen Stellplatz. „Ich glaube nicht, wenn sie alle Prozesse gewann, so hat sie kaputtgeht und ich nicht mehr zur Arbeit nicht schlecht verdient, ist das Budget stets dass wir bei meinem Verdienst Anspruch sich für die Anwaltskosten hoch verschuldet. fahren kann.“ Von Politik und Gesellschaft knapp. Der Vater der Tochter, die noch zur auf Wohngeld hätten, aber ich kann mich würde sie sich mehr Unterstützung für Schule geht, zahlt seit Jahren keinen Unter- auch nicht darum kümmern, denn für die Sehr belastend empfindet Theresa Lind- Alleinerziehende wünschen: „Bürokratie halt. Wegen hoher Anwaltskosten ist sie ver- ganze Bürokratie bleibt mir keine Zeit.“ hurst die ständig fehlende Zeit und den müsste abgebaut werden. Es müsste mehr schuldet. Von den Behörden fühlt Theresa großen Druck, alles allein schaffen zu müs- Anlaufstellen für Alleinerziehende geben, Lindhurst seit Jahren nur Gegenwind: „Seit Ähnlich resigniert hat sie bei der Woh- sen. Ihr Alltag ist auf die Minute durch- wo man erfährt, was einem alles zusteht. Es ich alleinerziehend bin, fühle ich mich wie nungssuche. Gern würde sie aus Kalk getaktet. Von Kalk aus fährt sie ihren Sohn fehlen niederschwellige Hilfsangebote. Man eine Zielscheibe“, sagt die 49-Jährige. wegziehen, ihre Tochter ist mehrfach auf jeden Morgen auf die andere Rheinseite in hat ja Angst, um Hilfe zu bitten, weil man der Straße auf unangenehme Weise ange- seine bilinguale Grundschule. Die Zwei- fürchten muss, dass das Amt einem dann Nach einer Trennung kam Theresa sprochen worden. Die ganze Familie trainiert sprachigkeit ist der gebürtigen US-Ame- die Kinder wegnimmt.“ Und sie fügt hinzu: Lindhurst vor zwölf Jahren zurück nach darum inzwischen Kampfsport. Auch ein rikanerin wichtig, die Kosten teilt sie sich „Ich denke manchmal, der Staat möchte Köln, dort wohnte der Vater ihrer Tochter, weiteres Zimmer wäre gut, denn Mutter und mit Pauls Vater, außerdem handelt es sich nicht, dass es unseren Kindern zu gut geht. dort waren ihre Freunde. Schon damals, Sohn teilen sich einen Raum. Vor einiger um eine Ganztagsschule. „Die Kinder sind Was am meisten schmerzt, sind die hohen so erinnert sie sich, war es schwierig, eine Zeit hat Theresa Lindhurst noch mal eine dort bis 18 Uhr betreut. Bei jeder normalen Steuern, die ich zahlen muss. Mit Steuer- Wohnung zu finden. Sie zog in eine Drei- Offensive gestartet, hat Anzeigen auf Im- Grundschule hätte ich ein Problem – und klasse III hätte ich rund 300 Euro mehr zimmerwohnung im Stadtteil Kalk – ob- mobilienportalen geschaltet. „Kein Mensch jede Menge Zusatzkosten für Kinder- im Monat zur Verfügung. Wenn mir mehr wohl diese eigentlich als Übergangslösung hat sich darauf gemeldet.“ Sich selbst auf betreuung“, sagt Theresa Lindhurst. Von Geld bliebe, könnte ich etwas sparen, etwas gedacht war, lebt sie heute noch immer dort. Wohnungsanzeigen zu bewerben, das hat sie dort fährt sie zurück über den Rhein, zu fürs Alter zurücklegen, mir vielleicht sogar Mit einem neuen Partner bekam sie einen längst aufgegeben: „Ich habe nicht die Zeit, ihrem Arbeitsplatz nach Köln-Porz. Nach eine Putzfrau leisten.“ Oder einmal Urlaub Sohn, kurz nach der Geburt folgte die Tren- jedes Wochenende zu Besichtigungen zu einem achtstündigen Arbeitstag dann machen mit ihren Kindern – das wäre ihr nung. Schnell begann sie, wieder Vollzeit zu gehen, mich in lange Schlangen zu stellen, den ganzen Weg wieder zurück. Abends Traum –, doch das gibt das Budget einfach arbeiten. „Ich gehöre wahrscheinlich zu den um die Wohnung als Alleinerziehende am stehen noch Haushalt und Papierkram an. nicht her. besser verdienenden Alleinerziehenden“, Ende doch nicht zu bekommen.“ Mit Ämtern Ein hartes Pensum: „Es gibt Tage, da fange *Namen der Kinder geändert 16 17
Im Blickpunkt „Wie können die MENSCHEN MIT Politikerinnen und BEHINDERUNG Politiker überhaupt noch in den Spiegel Die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt trifft Menschen mit Hinzu kommt, dass auch die Ein- richtungen und Dienste, in denen Men- schauen?“ Behinderung besonders hart. Auf- schen mit Behinderung leben, zuneh- Angelika Zwering, 66, muss mit kleinem Budget auskommen. Ihre Erfahrungen haben sie grund ihrer Einkommenssituation sind mend von der angespannten Situation zu einer Aktivistin für arme Menschen gemacht. viele dieser Menschen auf öffentlich am Wohnungsmarkt betroffen sind. geförderte und mietpreisgebundene Das wiederum wirkt sich nachteilig Angelika Zwering lebt in Monheim am bereite mir größere Mengen zu und friere Wohnungen angewiesen. Dass die Zahl auf Zahl und Qualität angebotener Rhein. Obwohl die Rentnerin und ihr in- mir einzelne Portionen ein.“ So schafft sie solcher Wohnungen sinkt, trifft Men- sozialer Hilfen und Therapieanstren- zwischen verstorbener Mann immer hart es, über die Runden zu kommen. Schwierig schen mit Behinderung also besonders gungen aus. Dies wiegt umso schwe- gearbeitet haben, bleiben der 66-Jährigen wird es, wenn größere Anschaffungen an- hart. Dies umso mehr, da die Wohnun- rer, weil aufgrund der seit Jahren von heute gerade einmal 300 Euro im Monat stehen. „Im letzten Jahr ist meine Wasch- gen nicht nur bezahlbar sein müssen, den Landschaftsverbänden Rheinland zum Leben. Ein enges Budget, das Spar- maschine kaputtgegangen, eine neue zu sondern auch möglichst barrierefrei. und Westfalen-Lippe vorgegebenen samkeit und gutes Wirtschaften verlangt. kaufen ist einfach nicht drin“, sagt Angelika Deckelung stationärer Plätze in der Gern würde sich Angelika Zwering etwas Zwering. Zum Glück gibt es in dem Haus, Da die Wohnraumförderung des Behindertenhilfe dringend zusätz- dazuverdienen mit einem 450-Euro-Job. in dem sie lebt, Gemeinschaftswaschma- Landes überwiegend in Städte und licher Wohnraum für Menschen mit Doch wegen ihrer Schwerbehinderung gibt schinen. „Wenn ich neue Kleidung brauche, Regionen mit einem hohen Mietniveau Behinderung hätte geschaffen werden ihr niemand die Chance dazu. Aktiv ist die spare ich, bis ich das Geld zusammenhabe. fließt, verschärft sich die Wohnungs- müssen. 66-Jährige trotzdem: Unter anderem kocht Ich warte lieber, bis ich etwas von besserer not für Menschen mit Behinderung sie einmal pro Woche ehrenamtlich für Be- Qualität kaufen kann, die Sachen halten in kleineren Städten und Gemeinden. Diese Entwicklung konterkariert dürftige beim SkF Langenfeld, und auch in dann einfach länger.“ Ins Theater würde sie Denn diese profitieren von der Förde- aus Sicht der Landesarbeitsgemein- der Nationalen Armutskonferenz setzt sie gern einmal wieder gehen, „aber das geht rung häufig nicht, weil die Mieten hier schaft der Freien Wohlfahrtspflege die sich für die Belange von Betroffenen ein. eben nicht“. im Schnitt meist etwas günstiger sind. schrittweise Umsetzung des Bundes- Dazu gehören immerhin 75 Prozent teilhabegesetzes (BTHG), das sich an Obwohl erst der 21. des Monats ist, be- Zwei Söhne hat Angelika Zwering groß- aller Städte und Gemeinden in Nord- der UN-Behindertenrechtskonvention finden sich im Portemonnaie von Angelika gezogen, zusammen mit ihrem Mann war rhein-Westfalen. orientiert und die Teilhabe von Men- Zwering gerade einmal vier Euro. Das Geld, sie viele Jahre selbstständig. Sie führte ein schen mit Behinderung verbessern mit dem sie die restlichen Tage des Monats kleines Lotto-Geschäft, ihr Mann einen Der stagnierende Bau von öffentlich soll. Doch solange diese Menschen auskommen muss. Die 66-Jährige hat Malerbetrieb, am Wochenende waren sie geförderten Mietwohnungen in diesen kaum bezahlbare und barrierefreie gelernt, sich einzurichten: „Ich lege mir zu mit ihrem Briefmarkenhandel auf Messen Regionen hindert somit die Menschen Wohnungen in zentralen Lagen finden, Anfang des Monats Vorräte an, damit ich und Börsen unterwegs. Die Familie lebte mit Behinderung an einer selbstbe- kann für viele Menschen von einer auch am Ende des Monats noch satt wer- in einem schönen Bungalow am Rande stimmten und gleichberechtigten Teil- echten gesellschaftlichen Teilhabe de.“ Gerade jetzt, im Herbst, sei es gar nicht von Monheim. „Mein Mann war unheim- habe am Leben in der Gesellschaft. keine Rede sein. schwer, sich auch mit kleinem Budget gut lich fleißig, sein Antrieb war immer, dass zu ernähren: „Es gibt alle möglichen Gemü- es uns einmal besser gehen sollte.“ Doch searten frisch und günstig zu kaufen. Ich irgendwann hatte der Malerbetrieb große 18 19
Im Blickpunkt ALLEIN- ERZIEHENDE 41,5 Prozent aller Personen aus Viele der Alleinerziehenden kom- Alleinerziehenden-Haushalten leben men nicht über die Runden, selbst Außenstände, weil Kunden ihre Rechnun- fährt sie zu Kongressen und vertritt dort in Armut, so der Armutsbericht des Pa- wenn sie Vollzeit arbeiten. Angesichts gen nicht bezahlten, Probleme mit den die Positionen der Betroffenen, hält Reden, ritätischen Wohlfahrtsverbandes 2019. niedriger Rentenbeiträge ist Alters- Steuerbehörden kamen hinzu. Das Lotto- beteiligt sich an Diskussionen. Wie zum Damit stieg die Quote innerhalb von armut beinahe vorprogrammiert. Geschäft musste verkauft werden, dann Beispiel im Frühjahr 2019 beim Sympo- zehn Jahren um 4,5 Prozent. Das große Wichtig sind daher höhere Regelsätze auch das Haus. Die Familie war plötzlich sium zum Armuts- und Reichtumsbericht Risiko von alleinerziehenden Müttern in den Sozialgesetzbüchern II und XII, auf die Hilfe des Jobcenters angewiesen. der Bundesregierung. In der Politik läuft und Vätern, in Armut zu leben, ist seit ein auskömmlicher Mindestlohn und Das war 2009. Im Jahr darauf erkrankte so einiges schief, findet Angelika Zwering: Jahrzehnten bekannt. Dennoch ist zu mehr Hilfen und Angebote in der Kin- ihr Mann an Krebs, 2011 verstarb er. Wegen „Das macht mich richtig wütend. Wer sein wenig getan worden, um gegenzusteu- derbetreuung. ihrer Schwerbehinderung durfte Angelika Leben lang gearbeitet hat, sollte im Alter ern. Statt etwa eine Grundsicherung Zwering zumindest in der 60 Quadratmeter von seiner Rente leben können. für Kinder einzuführen, wird an einzel- großen Wohnung bleiben, die sie noch mit nen kleinen Stellschrauben gedreht. ihrem Mann bezogen hatte. „Die war laut Und wer heute Vollzeit arbeitet, der sollte Ob Kinderzuschlag oder Bildungs- und Jobcenter eigentlich zehn Quadratmeter zu so viel verdienen, dass er seine Familie Teilhabepaket – zwar erhöhten sich groß für mich.“ ernähren kann. Ich frage mich oft: Wie einzelne Leistungen, doch um von ih- können die Politikerinnen und Politiker nen zu profitieren, ist meist ein hoher Ihre eigenen Erfahrungen mit den Be- überhaupt noch in den Spiegel schauen?“ bürokratischer Aufwand nötig. hörden haben Angelika Zwering zu einer Ihr Einsatz hilft nicht nur anderen, sondern Aktivistin für die Anliegen armer Men- auch ihr selbst: „Ich bin selbstbewusster Wer Sozialleistungen benötigt, schen gemacht. Über den SkF in Langen- geworden und bekomme Anerkennung, das muss sich auskennen, braucht einen feld hat sie Langzeitarbeitslose betreut, tut mir sehr gut.“ langen Atem oder fachliche Hilfe. Das sie zum Jobcenter oder zu Arztbesuchen System an sich wird von der Politik begleitet. Inzwischen kocht sie einmal Diese Energie würde sie gern auch in bis heute nicht in Frage gestellt. So ist pro Woche für Bedürftige, „die freuen sich, eine bezahlte Tätigkeit stecken, doch dazu die Kinderbetreuung nach wie vor nur wenn ich komme, die lieben mein Essen“, gibt ihr niemand die Chance. „Ich würde unzureichend ausgebaut, der Niedrig- an einem anderen Tag backt sie Waffeln für jeden Job annehmen, den ich körperlich lohnsektor groß und der Dschungel der die Bewohnerinnen und Bewohner eines hinkriege.“ Dann könnte sie sich hier und Leistungen für manche undurchdring- Altenheims, für die Polizei will sie künftig da einen kleinen Wunsch erfüllen – „mal lich: Kinderzuschlag, Kindesunterhalt, Seniorinnen und Senioren über die Enkel- mit Freundinnen essen gehen“ – oder Geld Unterhaltsvorschuss, Einkommens- trick-Masche aufklären. zurücklegen für ihren großen Traum: „Noch freibeträge, Wohngeld und Asylbewer- einmal 14 Tage Urlaub an meiner geliebten berleistungen. Diese Liste ließe sich Doch sie ist nicht nur eine Frau der Ta- Nordsee machen. Das werde ich irgend- fortsetzen. ten, sie ist auch eine Frau der Worte gewor- wann auch schaffen, da bin ich sicher. Ich den: Für die Nationale Armutskonferenz gebe nicht auf!“ 20 21
„Wer Menschen helfen will, der muss nicht immer gleich eine Lösung parat haben“ Jürgen Schneider, 55, ist seit mehr als 25 Jahren wohnungslos. Das hindert ihn nicht Jobcenter abholen muss. Er hat sich im zu tun. Lobbyarbeit auf höchster Ebene. daran, sich für andere einzusetzen. Denn er weiß: Obdachlose haben keine Lobby. Laufe der Jahre ein Netzwerk geschaffen: Der Mann war skeptisch, als er Schneider Schlafplätze, darunter ein Kloster in Dink- mit seinem Rauschebart sah. „Der nahm Jürgen Schneider zieht seinen Per- Schneider hat keine feste Bleibe. Im lage, ein privates Postfach in Stadthagen mich erst nicht ernst, wollte das Gespräch sonalausweis aus dem Portemonnaie. Gegensatz zu den meisten Wohnungslosen westlich von Hannover, Bekannte in ganz schnell beenden, hörte dann aber doch „Anschrift: Stadt Köln“ steht da auf dem sucht Schneider allerdings auch keine. Deutschland. Sehr selten nur noch schläft zu.“ Schneider erlebt das immer wieder, Aufkleber der Rückseite. Bis vor Kur- „Man kann mich nicht mehr ansiedeln“, er im Freien oder in Notunterkünften. wenn er mit Menschen, die in der Politik zem gab es diesen Aufkleber noch nicht. sagt er, während er über den Kölner Ron- tätig sind, oder Funktionärinnen und „Kein Hauptwohnsitz in Deutschland“ calliplatz hinunter zum Rhein spaziert. Ein Sein Smartphone klingelt. Ein alter Be- Funktionären spricht. „Es ist manchmal war stattdessen zu lesen. „Das wurde Versuch, zurückzukehren ins bürgerliche kannter und Mitstreiter. Er will von Jürgen schwer zu vermitteln, dass ich eigenstän- mir irgendwann zu bunt“, sagt Jürgen Leben, sei vor Jahren kläglich gescheitert. Schneider wissen, wie der Ablauf ist beim dig denken kann.“ Schneider und lacht. „Einige dachten, ich In Mainz wurde er kurz sesshaft, hatte sogar Treffen der Menschen mit Armutserfah- würde auf Mallorca wohnen.“ Kaum einer einen Job, ein Sozialarbeiter kümmerte sich rung in einigen Monaten. Mehrmals im Genau das mag Schneider nicht an un- glaubte ihm nämlich, dass er gar keinen um ihn. Doch das Experiment misslang. Jahr findet ein solches Treffen statt, meist serer Gesellschaft, und deshalb möchte er Wohnsitz hat – weder in Deutschland Was vor allem an Schneider selbst lag: „Ich in Berlin und Köln. Dutzende Menschen sich auch nicht so ganz integrieren. „Viele noch im Ausland. Seit mehr als 25 Jahren möchte nicht so sein, wie die Leute mich kommen dann zusammen, sie alle ver- sehen nicht zunächst den Menschen, son- lebt Jürgen Schneider aus dem Rucksack. haben wollen“, sagt er und wirkt zufrieden. bindet, dass sie zum Beispiel wohnungs- dern nur eine Schublade“, sagt Schneider. Er reist kreuz und quer durch Deutsch- Persönliche Freiheit gehe ihm über alles. los, arbeitslos oder alleinerziehend sind. Jemand hat ein bestimmtes Aussehen, ein land. Genauer gesagt: Er wandert, fährt Deshalb organisieren sie sich – und Jürgen bestimmtes Leben – und schon ist er auf mit dem Bus, dem Zug, lässt sich im Auto Über seine Kindheit in Solingen möchte Schneider ist einer ihrer Sprecher. eine Rolle festgelegt.“ Mit diesem Denken mitnehmen. er eigentlich nicht sprechen, sagt nur, dass will er brechen, das ist seine Mission. er seinen Eltern „wenig Freude“ gemacht Er weiß, dass vor allem Wohnungslose Jürgen Schneider, 55 Jahre, nie verhei- habe, ständig ausgerissen und im Heim ge- keine Lobby haben – im Gegensatz zu Nie habe er ein Alkohol- oder Drogen- ratet, keine Kinder, abgebrochene Bäcker- landet sei. Das unstete Leben wurde seins. Menschen mit Behinderung oder Allein- problem gehabt. „Das ist selbst Sozialarbei- lehre, lange, lockige Haare, dichter grauer Bis heute weiß er nicht, was aus seinen erziehenden. Auch deshalb engagiert er terinnen und Sozialarbeitern schwer zu Bart. Ein bisschen erinnert er an Rainer Eltern und Geschwistern wurde. Ein Leben sich. Sein Vorteil: Die, für die er eintritt, vermitteln. Die wollen mir immer helfen, Langhans, 68er-Ikone und Alt-Kommu- auf der Durchreise, unterwegs zu Hause. nehmen ihn als einen aus ihrer Mitte wahr aber ich brauche diese Hilfe nicht“, sagt er narde, als er aus dem Schatten des Kölner Heimat? „Jedenfalls nicht an einen Ort ge- und vertrauen ihm. „Um das machen zu und nippt an seinem Kaffee. Doms tritt. Pünktlich auf die Minute. Er bunden, nur an Menschen“, sagt Schneider. können, muss ich glaubwürdig sein“, sagt ist mit der Bahn gekommen, aus Olden- er, als er aufgelegt hat. Wer anderen Menschen helfen wolle, burg. Wie lange er bleibt? „Zwei, drei Tage, Heute vertraue er darauf, dass es schon der müsse nicht immer gleich eine Lösung dann geht’s weiter.“ irgendwie klappen werde – mit dem Essen, Neulich hatte er mal mit einem Presse- parat haben, sagt er. „Einfach nur mal zu- dem Schlafen, dem Geld, das er sich beim sprecher aus einem Bundesministerium hören, das reicht oft schon.“ 22 23
Im Blickpunkt „Als Familie mit drei OBDACHLOSIGKEIT – Kindern hat man EXTREMSTE FORM DER ARMUT auf dem Kölner Wohnungsmarkt Ende Juni 2018 waren in Nord- rhein-Westfalen 44 434 Menschen zu: Zu abhängig sind die Menschen von Wind und Wetter, von anderen Perso- kaum eine Chance“ wohnungslos gemeldet. Ein deutlicher nen, von Öffnungszeiten oder schlicht Der fünfköpfigen Familie von Silvia Lessig, 29, wurde der Mietvertrag gekündigt – wegen Anstieg, ein Jahr zuvor lag diese Zahl von einem vorhandenen Ort zum Eigenbedarf. Bei der Suche nach einer neuen Bleibe musste sie erleben, wie angespannt noch bei 32 300 (MAGS 2018, S. 5). Schlafen. Ein Leben auf der Straße be- der Wohnungsmarkt ist. Hinzu kommen nach Einschätzung der deutet Stress, macht früher oder später Caritas in NRW rund 5 000 Frauen und krank. Obdachlosigkeit gilt daher auch Familie Lessig lebt mit ihren drei Kindern glauben, dass er keine Kinder dort haben Männer , die schutzlos auf der Straße als extremste Form von Armut. im Alter von zehn, sechs und vier Jahren wollte. Auch im rechtsrheinischen Köln leben, also akut obdachlos sind. Auch im Kölner Stadtteil Braunsfeld. Dort bewoh- hatte die Familie eine Vierzimmerwohnung deren Zahl steigt – vor allem in den Doch selbst die eigene Wohnung bie- nen sie 82 Quadratmeter, verteilt auf drei in Aussicht – bis zu einem Telefonat mit Städten und Ballungsräumen. Der An- tet nicht immer ausreichenden Schutz Zimmer. Den Preis von 1 100 Euro Warm- dem Vermieter: „Er sagt: Für Kinder ist die stieg ist auch eine Folge der Zuwande- und Möglichkeiten der Selbstbestim- miete kann die Familie gerade so aufbringen Wohnung nicht geeignet, ich stelle mir eher rung aus anderen Staaten der EU und mung. Etwa wenn vom Partner oder – Silvia Lessig macht eine Ausbildung zur ein älteres Ehepaar vor“, erzählt die Mutter. der großen Zahl Geflüchteter – immer von der Partnerin, von einem Elternteil Hebamme, ihr Mann arbeitet als Medien- mehr Menschen konkurrieren also um oder dem Kind körperliche, sexuelle gestalter. Im vergangenen Sommer hat der Dann kam alles anders: „Im letzten das knapper werdende Gut Wohnraum. oder psychische Gewalt ausgeht. In sol- Vermieter der Familie wegen Eigenbedarf Frühjahr bekamen wir eine Mieterhöhung chen Situationen bleibt manchmal nur gekündigt, bis Ende Mai 2020 müssen sie von rund 100 Euro. Doch weil es zu der Zwar haben Obdachlose in der Regel die überstürzte Flucht mit dem Notwen- ausziehen. Seither sind die Lessigs auf Woh- Zeit hier viel Baulärm gab, haben wir nur ein Anrecht auf eine Unterbringung digsten – etwa in ein Frauenhaus, eine nungssuche. Ihr Fazit nach vielen belasten- eingeschränkt zugestimmt. Der Vermieter in einer Einrichtung der Wohnungs- Notunterkunft oder eben auf die Straße. den Monaten: „Als Familie mit drei Kindern nahm das persönlich, das Verhältnis war losenhilfe. Das jedoch lehnt ein Teil und normalem Gehalt hat man auf dem seitdem angespannt“, sagt Silvia Lessig. der Menschen ab. Manche scheuen Wohnungs- oder Obdachlosigkeit Kölner Wohnungsmarkt kaum eine Chance.“ Wenige Monate später kam die Kündigung Massenunterkünfte ohne Privat- und stehen häufig am Ende eines schlei- wegen Eigenbedarf. „Wir haben überlegt und Intimsphäre, stattdessen bevorzugen chenden Verarmungsprozesses, der Wie schwierig die Wohnungssuche mit kamen zu dem Schluss, dass es am besten sie ein Leben auf der Straße oder über- etwa mit einem Jobverlust oder einer drei Kindern sein kann, haben die Lessigs wäre, wenn wir die Kinder nicht aus ihrem nachten bei Bekannten. Auf der Straße Trennung beginnt. Es folgen nicht sel- bereits fünf Jahre zuvor erlebt. „Ich war da- Sozialraum, aus Schule und Kita heraus- zu leben heißt aber auch: kaum Privat- ten Suchtprobleme und psychische Er- mals mit der jüngsten Tochter schwanger“, reißen müssten.“ Außerdem wohnt Lessigs heit, wenig Schutz und Geborgenheit. krankungen. Zunehmende Zahlungs- erzählt Silvia Lessig. „Wir wollten mit unse- Mutter im Nachbarhaus. Sie unterstützt die Es bedeutet, keinen ruhigen Ort der schwierigkeiten führen schließlich ren drei Kindern in eine größere Wohnung Familie bei der Betreuung der Kinder. Entspannung zu haben, sich weder zu- zum Verlust der Wohnung. Mit frühzei- nach Wuppertal ziehen, weil dort die Preise rückziehen noch Freunde einladen zu tiger Prävention kann dieser Abstiegs- günstiger sind. Wir fanden eine schöne Für die Lessigs begann ein Marathon: können. Ein Leben auf der Straße lässt entwicklung begegnet werden. Vierzimmerwohnung, doch bekommen „Wir haben Suchprofile bei den Immobilien- nur eine begrenzte Selbstbestimmung haben wir sie nicht.“ Der Vermieter habe es portalen im Internet eingerichtet, haben all zwar nicht explizit gesagt, aber die Lessigs unsere Kontakte angeschrieben, haben in 4 Dpa, 21. Januar 2020 24 25
Im Blickpunkt änderbar ist,denn fehlendes Einkommen WOHNEN kann im Alter kaum mehr revidiert oder aufgebessert werden. Die Betroffenen IM ALTER schränken sich meist zunehmend in ihrem persönlichen Konsumverhalten ein. Es drohen Isolierung und gesundheitliche Fast 18 Millionen Menschen in Deutsch- Auswirkungen, weil etwa Medikamente der Kita einen Aushang gemacht, auf dem doch dafür bekommt man höchstens in der land sind 65 oder älter – die Zahl steigt nicht mehr gekauft werden können. In der Straßenfest und in der Viertelsbuchhand- Eifel ein Haus, und das in schwer zu errei- von Jahr zu Jahr. Mit zunehmendem Altersgruppe der über 65-Jährigen können lung Flyer verteilt“, sagt Silvia Lessig. Auch chenden Gegenden.“ Alter verbringen Menschen statistisch deshalb schon geringfügige finanzielle alle Wohnungsbaugenossenschaften hat sie mehr Zeit in ihren eigenen vier Wänden Mehrbelastungen – etwa durch Krankheit, kontaktiert, doch dort bekam sie ebenfalls Silvia Lessigs Verzweiflung nahm zu: – sei es aus gesundheitlichen Gründen defekte Haushaltsgeräte, ÖPNV-Mehrkos- immer nur zu hören, dass nichts frei sei „Anfangs hatte ich noch die naive Vorstel- oder weil die Menschen das Arbeitsle- ten – zum Verlust der Wohnung führen. und dass es ohnehin kaum Vierzimmer- lung, dass einen die Stadt doch irgendwie ben hinter sich haben und weniger aus wohnungen gebe. „Einmal habe ich eine unterstützen muss, wenn man als Familie dem Haus gehen. Damit werden eine Notwendig ist eine veränderte Alters- Hausverwaltung angerufen, weil die gerade mit drei Kindern auf einmal auf der Straße wohnungsnahe medizinisch-pflegeri- sicherungspolitik, um problematische ein Dachgeschoss in Braunsfeld ausbau- sitzt. Aber da gibt es wirklich gar keine sche Versorgung sowie barrierearmes gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ten. Der Verwalter ist am Telefon richtig Hilfe. Der Wohnberechtigungsschein bringt Wohnen bedeutsamer, um ein selbstbe- zu verhindern. Menschenwürdiges und unverschämt geworden, als er hörte, dass auch nichts. Er verlangt viel Bürokratie, stimmtes Leben führen zu können. bedarfsgerechtes Wohnen in der ge- wir drei Kinder haben. Er hat mir das Ge- und am Ende erfährt man, dass es kaum wünschten oder gewohnten Umgebung fühl gegeben, nach etwas Unverschämtem Sozialwohnungen gibt und schon gar nicht Anfang der 90er-Jahre lebte eine von muss auch für einkommensarme Men- zu fragen.“ In einem anderen Fall kam die für Familien.“ Die ungeklärte Situation be- fünf Personen über 65 Jahre in einer schen im Alter möglich und bezahlbar direkte Antwort: „Der Vermieter stellt sich drückt die Familie: „Das Ganze hat meinen Wohnung, die nicht angemessen, also sein. Der Erhalt von Selbstbestimmung eher eine Familie mit einem Kind vor.“ Mann und mich sehr belastet, wir haben zum Beispiel zu teuer war. 2017 waren und Lebensqualität erfordert: uns immer wieder gefragt: Wo soll das nur es schon zwei von fünf Personen . Und • die Schaffung von bezahlbarem, Also begannen die Lessigs, nach Alter- hinführen?“ die Mieten steigen schneller an als die barrierearmem Wohnraum für mobili- nativen zu suchen: „Wir dachten, wenn wir Altersbezüge (Renten). Insbesondere tätseingeschränkte Menschen, schon von hier wegziehen müssen, dann Gott sei Dank ist inzwischen eine ältere Frauen sind von dieser Entwick- • den Bau von mehr Sozialwohnungen, wenigstens mit einer Steigerung der Wohn- Lösung in Sicht: Über viele Ecken erfuhr lung betroffen. Sie leben häufiger in • die effektive Anpassung des Wohn- qualität, vielleicht richtig ins Grüne.“ Doch Silvia Lessig von einer leerstehenden nicht barrierefreien Wohnungen. Etwa geldes an aktuelle Entwicklungen, auch im Umland machten sie die Erfah- Vierzimmerwohnung gleich um die Ecke. zwei Drittel aller älteren Miethaushalte • eine vereinfachte Bürokratie, etwa rung, dass entweder die Preise hoch sind Mit regelrecht detektivischem Geschick müssen mindestens 30 Prozent des bei Wohngeldanträgen, oder die Erreichbarkeit schlecht ist. „Mein machte sie die Besitzer ausfindig, ein Ehe- Einkommens für Miete aufwenden. Bei • den Erhalt und die ausreichende Mann arbeitet mitten in der Kölner Innen- paar aus dem Bergischen. „Die waren sehr älteren Frauen ab 65 Jahren entfallen Finanzierung der über Pflegekassen stadt, ich mache meine Ausbildung im Ber- freundlich. Und wir fanden es richtig krass, sogar 35 Prozent des Einkommens auf und Kommunen finanzierten Wohnbe- gischen, muss einen Bahnanschluss in der einmal keine Ablehnung zu erfahren.“ Die die Miete . Problematisch an dieser ratungsstellen, Nähe haben, und auch die Oma muss uns Wohnung ist so teuer wie ihre jetzige, in Situation ist, dass die Wohnsituation • eine intakte Infrastruktur mit Geschäf- weiter gut erreichen können.“ In ihrer Ver- den nächsten Tagen soll die Familie den in Fällen hoher Mietbelastung und ten und einer medizinisch-pflegeri- zweiflung haben die Lessigs sogar überlegt, Schlüssel bekommen, die Freude ist riesig: geringen Einkommens kaum ver- schen wohnortnahen Versorgung. in Eigentum zu investieren. „Die Bank wäre „Wir sind sehr glücklich. Das ist das aller- bereit gewesen, uns 250 000 Euro zu leihen, schönste Weihnachtsgeschenk.“ 5 Deutscher Alterssurvey in: DIW Wochenbericht Nr. 27, 2019, S. 471 6 Deutscher Alterssurvey in: DIW Wochenbericht Nr. 27, 2019, S. 468 ff. 26 7 www.dza.de/forschung/fws/anstieg-der-altersarmut; Zugriff 15. November 2019 27
„Ich fühle mich wie weggeschlossen“ Für Günter Maleski aus Essen bedeutet Armut vor allem eines: das Gefühl, allein zu sein. Anfang November in Köln: Der goldene Doch die Luft zum Atmen nimmt Mal- Tafel am Essener Wasserturm geht: Milch, Sich mit anderen Betroffenen auszu- Herbst ist längst vorbei, und ein eisiger eski nicht nur der malade Körper, sondern Brot, Gemüse oder Obst holt er sich dort ab. tauschen, das tut Maleski augenschein- Wind pfeift durch den Stadtgarten unweit vor allem auch die Angst, dass er sich sein Ans Schlangestehen mit den anderen hil- lich gut. Was er mit nach Hause nehme, des angesagten Belgischen Viertels. Sogar Leben in Zukunft nicht mehr leisten kann. fesuchenden Menschen hat er sich längst sei neben der Hoffnung auf eine bessere durch das dicke Gemäuer der Pfarrkirche „Ich sehe immer mehr Menschen, die im gewöhnt, an andere Begleitumstände Zukunft vor allem die Solidarität von und St. Alban ist er noch zu spüren. Auch bei Abfall wühlen, um zu überleben – der seines täglichen Lebens aber noch lange mit anderen. Aber auch die gezielte Anlei- Günter Maleski, dem Neuling beim heu- absolute Horror für mich“, sagt er. Einmal nicht. „Die Armut macht sich schleichend tung, die eigene Situation zu analysieren tigen Caritas-Treffen für Menschen mit sei er auch durch die Essener Innenstadt in deinem Leben breit. Essen gehen, Aus- und zu verbessern: Wo drückt der Schuh Armutserfahrung. Er setzt sich auf einen gezogen, um Pfandflaschen und -dosen zu flüge, Sportverein: Ich kann mir Gesell- am meisten? Welche Möglichkeiten stellt Stuhl aus sakralem Massivholz und reibt sammeln – heimlich im Dunkeln. „Tage- schaft einfach nicht mehr leisten und der Gesetzgeber zur Verfügung? Wie kann sich wärmend die Hände. „Früher war ich lang habe ich mich dafür geschämt.“ bleibe deshalb oft allein zu Hause. Ich fühle ich Bürgerbeteiligung am sinnvollsten bei so einem Wetter immer in der Sauna. mich wie weggeschlossen“, sagt Maleski. nutzen? Angehört werden, Tipps be- Heute? Kannste vergessen! 18,50 Euro für Es gab auch andere, bessere Zeiten. Mal- kommen, das alles hilft gegen Stille und vier Stunden – viel zu viel Geld.“ eski hat früher bei Krupp im Essener Stahl- Freunde seien ihm ganz wenige ge- Stillstand: „Wir müssen kämpfen, damit werk gearbeitet. Sogar bis zum Vorarbeiter blieben. Der Grund ist genauso einfach wie unser Staat sich mehr für Menschen wie Der 67-Jährige kommt aus Essen. Im hat er es dort geschafft. Zum 25. Dienst- traurig: Die allerwenigsten können Ver- uns interessiert und besonders denjeni- Ruhrgebiet redet man gewöhnlich so, jubiläum bekam er eine goldene Uhr – und ständnis für seine Situation aufbringen: „Ein gen in unserer Gesellschaft Hilfestellung ohne Tamtam. Jede oder jeder weiß sofort, mit ihr gleich die Kündigung. Der Anfang armer Freund passt einfach vielen nicht ins anbietet, denen es nicht gut geht“, fordert woran er ist. Günter Maleski weiß das vom persönlichen Niedergang: Maleski Konzept. Oft höre ich Dinge wie ‚Streng dich der Rentner. auch. Dem Rentner bleiben jeden Monat fand mit Mitte 40 keine neue Anstellung doch ein bisschen an‘ oder ‚Du hättest ein- 250 Euro zum Leben, viel zu wenig. Er ist mehr, bezog zunächst Arbeitslosengeld, fach mehr arbeiten sollen‘ und werde so als In zwei Wochen hat Günter Maleski zusätzlich auf Stütze vom Amt angewie- dann Hartz IV und war mit 63 Jahren Nichtsnutz abgestempelt und ausgegrenzt. Geburtstag. Große Geschenke erwartet er sen. „Extrawürste gibt’s bei mir nicht. Ich Rentner. Seine Ehe ging in der Zwischen- Das tut mir sehr weh.“ Irgendwann war es weder vom Staat noch von anderen. Des- schaue, dass ich über die Runden kom- zeit in die Brüche. Die Kinder Lena und Maleski dann einfach leid, immer wieder halb macht er sich in diesem Jahr selbst me“, sagt Maleski. Er wirkt angeschlagen Mathias kamen nach der Scheidung zur gegen diese und ähnliche Vorurteile anzu- eines: Er wird in die Sauna gehen – für und spricht leise. Ein Herzinfarkt und Frau, ein schmutziger Rosenkrieg mit der kämpfen. „Lieber allein als in schlechter Ge- 18,50 Euro. Das leistet er sich ausnahms- ein Schlaganfall hinterließen körperliche Ex-Gattin obendrauf. sellschaft“ ist seither sein Motto. Das heißt weise: „Die Wärme, der Geruch, das Ab- Spuren. Kleinere Mini-Jobs, um die Rente aber auch, dass der Tisch in seiner Essener schalten vom Alltag: Das werde ich vier ein wenig aufzupolieren, kann er seitdem Heute hat Maleski so wenig Geld zur Wohnung mit Menschen, die es gut mit ihm Stunden lang in vollen Zügen genießen nicht mehr annehmen. Verfügung, dass er jeden Mittwoch zur meinen, oft sehr spärlich besetzt bleibt. – egal, was da noch kommt.“ 28 29
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