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Aus aktuellem Anlass Maria Schörghuber § 78 StGB – eine tragende Wand im Gebäude des rechtlichen Lebens- und Selbstbestimmungsschutzes § 78 StGB: A Pillar in the Legal Protection Structure for Life and Self-Determination Einleitung derem das Recht auf Selbstbestimmung und Infor- In wenigen Lebenslagen ist der Mensch so gefor- mation zu wahren. dert wie am Lebensende. Besonders im Krankheits- § 110 StGB („Verbot der eigenmächtigen Heil- fall sind komplexe Entscheidungen zu treffen und behandlung“) sichert die autonome Entscheidung es stellen sich dem Betroffenen, den Angehörigen, des Patienten ab, eine – auch lebenserhaltende – Ärzten und Pflegern zahlreiche medizinische, ethi- medizinische Behandlung abzulehnen, so er die- sche und existentielle Fragen. Es ist eine Situation sen Willen durch eine aktuelle oder antizipierte zwischen Hoffnungen und noch viel mehr Ängsten. Erklärung, etwa im Wege einer Patientenverfü- Dem Recht obliegt es, in dieser Grenzsituation des gung, oder auch durch einen bevollmächtigten Menschen Leben und Selbstbestimmung durch Vertreter, wirksam äußert. Verzicht und Abbruch ein tragfähiges Gebäude an Gesetzesnormen zu einer derartigen medizinischen Maßnahme sind schützen. § 78 des Strafgesetzbuches (StGB), der die außerdem rechtlich geboten bei hinreichend doku- „Mitwirkung am Selbstmord“ durch Verleiten oder mentiertem mutmaßlichen Patientenwillen oder Hilfeleisten unter Strafe stellt, ist ein nicht unwe- bei fehlender medizinischer Indikation (einseitiger sentlicher Teil dieses Gefüges von Regelungen. Behandlungsabbruch). Verfassungsrechtlich sind Leben und Selbst- Auch „indirekte Sterbehilfe“, also Schmerz- bestimmung in Österreich vor allem durch Art 2 behandlung mit möglicher oder sogar sicherer le- Abs 1 (Recht auf Leben) und Art 8 Abs 1 (Recht auf bensverkürzender Nebenwirkung, ist rechtmäßig.3 Achtung des Privat- und Familienlebens) der Euro- Um das Leben zu schützen, zieht das Gesetz in päischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ge- diesem Bereich Grenzlinien durch § 78 StGB, der die schützt. Der österreichische Gesetzgeber bewertet Fremdhilfe zur unmittelbaren Selbsttötung durch grundsätzlich das Rechtsgut Leben höher als jenes eigene Hand kriminalisiert,4 sowie durch § 77 StGB der Selbstbestimmung. Dementsprechend wird („Tötung auf Verlangen“) und durch § 75 StGB eine Verletzung des Rechtsguts Leben wesentlich („Mord“), für Fälle der aktiven Tötung ohne Zu- höher bestraft als jene der Selbstbestimmung, also stimmung des Opfers. Der Strafrahmen für eine zum Beispiel der Strafrahmen für eine vorsätzliche „Tötung auf Verlangen“ ist gegenüber dem „Mord“ Tötung wesentlich höher als für eine Nötigung.1 freilich deutlich herabgesetzt. Die Grenze zwi- Auch ist das Rechtsgut des menschlichen Lebens schen diesen Bestimmungen ist oft fließend und „grundsätzlich unabhängig vom Willen des unmit- die Abgrenzung schwierig.5 telbaren Trägers dieses Rechtsguts geschützt…“.2 Weiters ist als Teil dieses Systems der Spiel- Was den Autonomieschutz am Ende des Le- raum relevant, den der Gesetzgeber bei der Straf- bens anbelangt, sind die Vereinbarungen zur Si- zumessung einräumt. So sind etwa im Einzelfall cherstellung der Patientenrechte (Patientencharta) ordentliche oder außerordentliche Milderungs- zwischen dem Bund und den Ländern zu nennen. gründe zu berücksichtigen (§§ 33, 34, 41 StGB). Al- Sie enthalten eine Selbstverpflichtung der Bundes- lenfalls können auch Entschuldigungsgründe an- und Landesgesetzgeber, Patientenrechte, unter an- zuwenden sein. 150 Imago Hominis · Band 27 · Heft 3
Aus aktuellem Anlass Dieses kurz skizzierte Gebilde an rechtlichen Be- geber gewählte Begriff des „Selbstmordes“ in der stimmungen ist der Kontext, in dem §78 StGB steht. Überschrift des § 78 StGB per se die Rechtswidrig- Wenn er in weiterer Folge näher betrachtet wird, soll keit des Verhaltens.10 Gemäß § 24 Abs 1 Z 2 Sicher- nicht aus den Augen verloren werden, dass er Teil heitspolizeigesetz (SPG) obliegt den Sicherheitsbe- dieses ausgewogenen Gesamtgefüges ist. hörden die Ermittlung des Aufenthaltsortes eines Menschen, nach dem gesucht wird, unter ande- 1. Auch das Leben im Endstadium hat einen rem weil befürchtet wird, ein Abgängiger werde rechtlichen Wert Selbstmord begehen. Zur gebotenen Verhinderung Das Fundament dieser Normen ist die Wer- eines Selbstmordes kann auch die Anwendung von tung der Rechtsordnung, dass dem menschlichen Zwang (Gewalt oder gefährliche Drohung) erfor- Leben in jeder Situation ein rechtlicher Wert bei- derlich sein, wenn z. B. der Suizident daran gehin- gemessen wird. Diese Wertung wiederum beruht dert wird, von einer Brücke zu springen. Die Ge- auf der Menschenwürde, auf der die Grundrechte waltanwendung als Nötigungsmittel ist in solchen basieren. „Denn“ so erläutert Schmoller sehr tref- Fällen nach § 105 Abs 2 StGB nicht sittenwidrig, die fend, „die Behandlung eines Menschen als ‚wertlos‘ Verhinderung des Selbstmordes rechtmäßig.11 würde ihn auf dieselbe Stufe mit einem wertlosen In dieselbe Richtung weist die Rechtsprechung Objekt, über das einfach verfügt wird, stellen. Die des Verwaltungsgerichtshofs, wonach ernsthafte ‚Menschenwürde‘ verlangt, dass dem Leben eines Selbstmordabsichten die Verhängung eines Waffen- Menschen in jeder Situation ein positiver Wert zu- verbotes (nach §12 Waffengesetz) rechtfertigen12 bzw. erkannt wird; dies gilt auch für Menschen, denen entsprechende Verwahrungspflichten auslösen.13 ein schweres Leiden bevorsteht, deren Leben vo- Diese Wertung der Rechtsordnung entspricht raussichtlich nur mehr kurz dauern wird und/oder dem Umstand, dass der Suizid grundsätzlich dem die im jeweiligen Augenblick ihren eigenen Tod natürlichen Lebenswillen entgegengesetzt ist und wünschen oder sogar einen Selbstmord planen.“6 deshalb vernünftigerweise von der Gesellschaft Indem er der Beihilfe zum Selbstmord Einhalt ge- nicht ohne Weiteres unhinterfragt akzeptiert wer- bietet, drückt § 78 StGB aus, dass auch das Leben den kann.14 Sie steht auch damit in Einklang, dass des leidenden Menschen schützenswert ist. die Gesellschaft dieser vielschichtigen Problematik Selbstschädigendes Verhalten wie etwa ge- mit dem Instrumentarium der Suizidologie und sundheitsschädigender Alkohol- oder Nikotinkon- Suizidprävention zu begegnen sucht. sum, der bloße Drogenkonsum,7 Selbstverletzung oder eben auch Selbstmord ist prinzipiell nicht 2. Die Funktion des § 78 StGB strafbar. Der Verzicht auf ein rechtliches Verbot § 78 StGB entfaltet auf mehrere Weisen eine und die Einordnung dieser Verhaltensweisen in Schutzfunktion für die Rechtsgüter von Leben und diesem Sinne als „rechtmäßig“, bedeutet freilich Selbstbestimmung. nicht eine rechtliche „Gutheißung“ solcher Ver- In erster Linie fordert er die Rechtsunter- haltensweisen, sondern lediglich, dass einem sol- worfenen auf, sich nicht mit dem Suizidwillen, chen Verhalten – aus welchen Gründen auch immer sondern mit der betroffenen Person, dem Suizid- – nicht mit rechtlichen Mitteln entgegengetreten willigen, zu solidarisieren.15 Der Suizidwille eines wird.8 Was den Selbstmord betrifft, drückt die Menschen ist nie grundlos, sondern hat sein Motiv Rechtsordnung jedenfalls mehrfach aus, dass der bzw. seine Ursache regelmäßig in einer Krankheit, Selbstmord quasi „als rechtmäßig toleriert“ wird, Schmerz, Angst, fehlendem Lebenssinn, Frustrati- jedoch nicht „rechtlich neutral“ und möglichst zu on, etc. Nicht mehr leben zu wollen heißt folglich verhindern ist.9 So impliziert etwa der vom Gesetz- genauer gesagt immer, so nicht mehr leben zu wol- Imago Hominis · Band 27 · Heft 3 151
Aus aktuellem Anlass len. Das Problem bzw. „unwürdig“ ist dann jedoch Gefahr, dass eine eingeschränkte Einwilligungsfä- nicht das Leben des Betroffenen, sondern allenfalls higkeit unerkannt und ein im Suizidwillen ausge- seine Situation. Aus psychiatrischer Perspektive drückter Hilferuf unerkannt bleibt.20 betrachtet, bewerten die Assistenten eines Sui- Drittens schützt § 78 StGB die Autonomie zidenten, „wenn sie tätig werden, dessen Leben als des Einzelnen vor sozialem Druck und tritt ge- nicht mehr lebenswert, anderenfalls würden sie sellschaftlichen Einwirkungen entgegen, die als ihm beim Versuch helfen, es erträglich zu gestal- Pressionen wirken und Suizidwillige gegenüber ten. Damit verlassen sie die Position des ‚anderen‘, Suizidhilfeangeboten in eine Rechtfertigungs- stimmen dem Suizidalen nicht nur im Fühlen und lage bringen könnten.21 So stellte etwa das deut- Denken, sondern im Handeln zu und entziehen sche Bundesverfassungsgericht (dtBVerfG) fest, ihm die Erfahrung des zugewandten und doch dass eine „gesellschaftliche Normalisierung“ der nicht identischen Gegenübers.“16 In diesem Sinne Suizidhilfe – nicht zuletzt angesichts steigenden verbietet § 78 StGB es der Gesellschaft bzw. dem Kostendrucks in den Pflege- und Gesundheitssys- Suizidwilligen nahestehenden Personen, eine Hal- temen – die Gefahr birgt, dass Personen durch ihr tung einzunehmen, die dem Suizidwilligen jede gesellschaftliches und familiäres Umfeld in eine Hoffnung auf Besserung seiner Situation nimmt autonomiegefährdende Situation gebracht werden und durch Taten ausdrückt, dass sein Leben wert- könnten, sich gegen ihren Willen mit der Frage der los ist. Er erinnert daran, dass es – trotz zumeist Selbsttötung auseinandersetzen zu müssen, und sehr achtenswerter Beweggründe - „ein Zeichen mit Verweis auf Nützlichkeiten unter Erwartungs- falschverstandener Selbstbestimmung und feh- druck geraten. Gerade ältere und kranke Menschen lender mitmenschlicher Solidarität“ ist, wenn As- könnten sich durch in der Gesellschaft etablierte sistenten eines Suizidenten mit dem Verweis auf Angebote zur vorzeitigen Lebensbeendigung ver- die scheinbar freie Entscheidung eines autonomen anlasst sehen, solche Angebote unter Zurückstel- Individuums mögliche Hilfe vorenthalten.17 lung der persönlichen, am eigenen Selbstbild ori- Weiters zieht § 78 StGB eine „red line“, um entierten Vorstellungen anzunehmen.22 So dient „der Gefahr für das individuelle Lebensinteresse dieses strafrechtliche Verbot samt entsprechenden des jeweiligen Opfers“ zu begegnen.18 Dies ist vor Sanktionen der Sicherung und Beförderung des dem Hintergrund zu sehen, dass Defizite der me- Vertrauens zwischen Hilfsbedürftigen und Hil- dizinischen Versorgung und in der Pflege oder feleistenden.23 negative Erscheinungsformen medizinischer Überversorgung geeignet sind, Ängste vor dem 3. Die Strafnorm des § 78 StGB als verfas- Verlust der Selbstbestimmung zu schüren und sungskonformes Instrument dadurch Selbsttötungsentschlüsse zu fördern. Verfassungsrechtlich steht die Strafbestim- Ohne „den Entschluss zur Selbsttötung einem mung im bereits erwähnten Spannungsverhältnis unwiderleglichen Generalverdacht mangelnder zwischen dem in Art 2 EMRK garantierten Recht Freiheit und Reflexion“19 zu unterstellen, steht auf Leben und dem Grundrecht auf Privat- und Fa- doch auch außer Zweifel, dass sich die Frage nach milienleben in Art 8 EMRK.24 Einerseits beinhaltet der tatsächlichen Willensfreiheit des Betroffenen das Recht auf Selbstbestimmung des Art 8 EMRK zum Zeitpunkt eines Selbstmords nie eindeutig auch, Aktivitäten nachzugehen, die schädlich beantworten lässt. Zu Vieles bleibt unbewusst oder oder gefährlich für den Berechtigten sind. An- unausgesprochen. Hinzu kommen die vielfältigen dererseits erwachsen dem Staat aus Art 1 EMRK Erscheinungsformen suizidalen Verhaltens, die Schutzpflichten für das Leben des Einzelnen. Ei- sich schwer verallgemeinern lassen. Zu groß ist die nerseits gewährt Art 8 EMRK Selbstbestimmung 152 Imago Hominis · Band 27 · Heft 3
Aus aktuellem Anlass auch am Ende des Lebens, andererseits kann das Selbstmord oder der Zulassung von Ausnahmen Recht auf Leben des Art 2 EMRK ohne Entstellung zu beurteilen, wobei nach Auffassung des EGMR des Wortsinns nicht im Sinne eines negativen As- solche Risiken – ungeachtet der Argumente hin- pekts interpretiert werden und gewährleistet kein sichtlich der Möglichkeit von Schutzvorkehrungen Recht zu sterben, weder durch Dritte noch mit und Schutzverfahren – eindeutig bestehen.29 Bei Unterstützung der Behörden.25 Es gibt also kein den Mitgliedsstaaten bestehe bezüglich des Rechts Recht des Einzelnen, das den Staat oder Dritte ver- eines Individuums auf Treffen einer Wahl, wann pflichten könnte, Handlungen zu setzen, die den und wie es sein Leben beenden will, kein gemein- eigenen Tod ermöglichen würden. samer Konsens. Die große Mehrheit der Konven- Der Europäische Gerichtshof für Menschen- tionsstaaten scheint aber dem Schutz des Lebens rechte (EGMR) hat in seiner Entscheidung Koch einer Person mehr Gewicht als deren Recht ein- gg. Deutschland betont, dass es keine Prioritäts- zuräumen, es freiwillig zu beenden. In diesem Be- regelung zwischen den beiden Grundrechten reich sei der staatliche Ermessensspielraum daher gibt.26 Das Spannungsverhältnis zwischen dem als erheblich einzustufen.30 Infolgedessen hat es Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und der der EGMR im Fall Pretty gg. das Vereinigte König- Pflicht des Staates, das hohe Rechtsgut Leben reich auch als gerechtfertigt angesehen, dass das zu schützen, aufzulösen, ist grundsätzlich Auf- Gesetz nicht zwischen Personen, die körperlich in gabe des Gesetzgebers. Dieser kann sich dabei der Lage sind, Selbstmord zu begehen, und jenen, frei entscheiden, welche Instrumente er in der die dies nicht können, unterscheidet. Die Grenze jeweils gegebenen Situation zur Verwirklichung zwischen diesen Kategorien sei nämlich oft sehr seiner Zielsetzungen für geeignet erachtet und schmal und eine gesetzliche Ausnahme für dieje- anwendet. Verwehrt ist ihm hierbei nur die Über- nigen, die nicht in der Lage sind, sich das Leben zu schreitung der von Verfassungs wegen gezogenen nehmen, würde den von diesem Gesetz angestreb- Schranken, beispielsweise zur Zielerreichung völ- ten Schutz des Lebens aushöhlen.31 lig ungeeignete Mittel zu wählen.27 Grundsätzlich In Anbetracht der Schwere der in Rede stehen- stellt die Regelung des § 78 StGB als Strafnorm ein den Handlungen ist auch ein generelles, ausnahms- geeignetes Instrument des Rechtsgüterschutzes loses Verbot, nicht unverhältnismäßig. Ausnah- dar, weil das strafbewehrte Verbot gefahrträch- men oder die Duldung einer rechtswidrigen Praxis tiger Handlungsweisen den erstrebten Rechtsgü- in Form nachträglicher Strafbefreiung würden terschutz zumindest fördern kann. dem Extremfall seine Extremstellung nehmen und Der Rechtsprechung des EGMR zufolge, ver- ihm den Charakter einer Pseudonormalität verlei- stößt ein Verbot der Suizidbeihilfe an sich nicht hen, gegen die gewichtige sozial-ethische Gründe gegen die EMRK und ist dieser Eingriff in das Recht bestehen.32 Es darf auch nicht außer Betracht blei- auf Selbstbestimmung, den es darstellt, im Sinne ben, dass eine Rechtsordnung aus prinzipiellen von Art 8 Abs 2 EMRK nicht unverhältnismäßig; es Erwägungen ein Leitbild mit absolutem Geltungs- dient vielmehr dem Schutz des Lebens insbeson- anspruch durchhalten kann, selbst wenn Umstän- dere derjenigen – oft verwundbaren – Personen, de des Einzelfalles eine Abweichung aus höheren die nicht in der Lage sind, freie und unbeeinflusste Gerechtigkeitsgründen zu gebieten scheinen.33 Entscheidungen über ihren Tod zu treffen.28 Nach Freilich muss nach den Grundsätzen des EGMR der Rechtsansicht des EGMR obliegt es in erster die nationale Rechtslage die Berücksichtigung der Linie den Mitgliedsstaaten, das Risiko und die Umstände des Einzelfalls ermöglichen, etwa durch Wahrscheinlichkeit von Missbräuchen im Fall ein flexibles Strafmaß oder die Möglichkeit des einer Lockerung des Verbotes der Beihilfe zum Verzichts auf eine Anklageerhebung.34 Die österrei- Imago Hominis · Band 27 · Heft 3 153
Aus aktuellem Anlass chische Rechtsordnung enthält – wenn auch nicht Angemessener Respekt vor der österreichi- unbegrenzte – Möglichkeiten dieser Art, echten schen Verfassung bedeutet daher, den rechtspoli- Härtefällen zu begegnen (etwa durch eine Straf- tischen Wertungs- und Gestaltungsspielraum, den milderung sowie gegebenenfalls durch die Berück- sie dem Gesetzgeber einräumt, zu wahren. Dies sichtigung von Entschuldigungsgründen). wird auch der VfGH bei seiner Entscheidung über Der durch den EGMR vorgegebenen Linie ent- das Verbot der aktiven Sterbehilfe in den kommen- spricht auch die bisherige Judikatur des österreichi- den Wochen37 vor Augen haben. Ihm kommt es zu, schen Verfassungsgerichtshofs (VfGH), vor allem in quasi als „negativer Gesetzgeber“38 punktuell ein- seinem Erkenntnis vom 08.03.2016 zu E1477/2015. zugreifen, etwa im Fall einer Verletzung der Ver- Darin führt er aus, dass dem Gesetzgeber bei der fassung. Dabei sind Umsicht und Zurückhaltung Bewertung des Unrechtsgehaltes einer Tat und da- gefragt, wenn es um komplexe Gesamtlagen geht, mit auch bei der Festlegung der Strafdrohung ein um den Gesetzgeber nicht zu überspielen oder zu weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu- einem reaktiven Handeln zu zwingen. komme. § 78 StGB sei unter Bedachtnahme auf Art 11 Ein Rechtsvergleich39 zeigt, dass die europä- Abs 2 EMRK nicht verfassungswidrig, da der Gesetz- ischen Staaten bezüglich der vorliegenden Proble- geber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum matik verschiedene Wege gegangen sind, wobei nicht überschritten habe, wenn er das generelle in den meisten Staaten genauso wie in Österreich Verbot der Beihilfe zum Selbstmord als zum Schutz die Mitwirkung am Selbstmord und die „Tötung der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes auf Verlangen“ als Straftat ausgestaltet sind. Lo- der Rechte und Freiheiten anderer als notwendig er- ckerungen im Bereich des Verbots von aktiver achte. Der Gesetzgeber könne jedoch diesen rechts- Sterbehilfe bzw. der Fremdhilfe zur Selbsttötung politischen Gestaltungsspielraum auch mit ande- hatten dabei häufig problematische Auswirkungen rem Ergebnis nutzen. zur Folge. Dies trotz gesetzlich festgeschriebener An dieser Rechtslage hat sich seither nichts Aufklärungs-, Beratungs- und Wartepflichten oder Wesentliches geändert. All dies lässt die Einschät- anderer prozedualer Sicherungsmechanismen. So zung zu, dass § 78 StGB in der derzeitigen Fas- musste das dtBVerfG etwa feststellen, „dass die sung EMRK – und somit verfassungskonform, „die bis zum Inkrafttreten von § 217 dStGB bestehende Strafrechtslage in dem angesprochenen Themen- Praxis geschäftsmäßiger Suizidhilfe in Deutsch- bereich grundsätzlich ausgewogen ist und kein land nicht geeignet war, die Willens- und damit grundsätzlicher Handlungsbedarf besteht.“35 die Selbstbestimmungsfreiheit in jedem Fall zu wahren.“40 Weiters sei die Anzahl assistierter Su- 4. Ausblick izide in der Schweiz,41 in den Niederlanden42 und Angesichts aktueller Reformüberlegungen36 sei in Belgien43 stetig angestiegen.44 In den Nieder- angemerkt, dass eine Reform gegebenenfalls vorran- landen werde in Alters- und Pflegeheimen inzwi- gig Aufgabe des Gesetzgebers wäre. § 78 StGB steht schen offen Sterbehilfe angeboten, weswegen sich im Kontext grundlegender Wertentscheidungen ältere Menschen in grenznahen Regionen schon bezüglich der Würde und des Lebens des Menschen dazu veranlasst gesehen hätten, nach Deutschland und der Identität der Gesellschaft. Gestaltungen in entsprechende Einrichtungen auszuweichen. in diesem Zusammenhang sind in der gewalten- In der Gesundheitspolitik von Oregon greife be- teiligen Kompetenzordnung der österreichischen reits ein Wirtschaftlichkeitsgebot, das bei termi- Verfassung dem formellen Gesetzgeber, dem Parla- nalen Erkrankungen die Kostenübernahme für ment, überantwortet, das mit dem entsprechenden bestimmte medizinische Therapien ausschließe, demokratischen Mandat ausgestattet ist. demgegenüber aber die Erstattung der Ausgaben 154 Imago Hominis · Band 27 · Heft 3
Aus aktuellem Anlass für einen assistierten Suizid vorsehe.45 Angesichts der Nachweisbarkeit der Beweggründe. Weiters derartiger Entwicklungen verbieten sich simpli- wäre dadurch auch keine der unter Punkt 2. aufge- fizierte Darstellungen und es zeigt sich, dass eine zeigten Problematiken gelöst. einfache Lösung und die Möglichkeit einer raschen Stellt man für eine Ausnahmeregelung auf eine Reform Illusionen sind. „unheilbare, zum Tod führende Erkrankung mit Im österreichischen System des rechtlichen begrenzter Lebenserwartung“49 ab, um eine Tö- Lebens- und Selbstbestimmungsschutzes kommt tung oder eine Mitwirkung am Selbstmord nicht § 78 StGB auch deshalb eine tragende Funktion zu, schon in Fällen von Insolvenz, Liebeskummer oder da es sich um eine generelle, ausnahmslose Rege- Schicksalsschlägen zu erlauben, wird die Willkür- lung handelt. Jede Änderung wäre ein massiver lichkeit der Grenzziehung noch deutlicher: Jede Eingriff, der auch Änderungen anderer Normen zu Festlegung von Wochen oder Monaten an Lebens- dieser Problematik nach sich ziehen würde, jede erwartung für eine Ausnahme von der Strafbarkeit Ausnahme wäre eine willkürliche Grenzziehung, kann nur willkürlich sein. Zudem ist problema- die in einem derart sensiblen Bereich Grauzonen tisch, so weitreichende Entscheidungen an bloße schaffen würde. Wahrscheinlichkeiten zu knüpfen, zumal derartige Der Unterschied etwa zwischen § 77 („Tötung Prognosen mit deutlichen Unsicherheiten behaftet auf Verlangen“) und § 78 StGB verschwimmt be- sind. Sodann wäre nicht einsichtig, warum gerade sonders beim Unterlassen des Täters und beim in Krankheitsfällen die Autonomie des Einzelnen Unterlassen der möglichen Abwehr durch das Op- so aufgewertet würde, dass sie den Lebensschutz fer.46 Die Zuordnung in diesen Fällen ist daher auch überwiegt, in anderen Fällen des Wunsches, sein häufig streitig. Wenn jemand z. B. das tödliche Gift Leben zu beenden, hingegen nicht. Warum also ge- in den Mund eines Patienten einflößt und dieser rade die Autonomie des Kranken mehr geschützt es – obwohl er es ausspucken könnte – schluckt, werden sollte als sonst die Autonomie des Gesun- hängt es von detaillierten Abgrenzungen ab, ob den, was einen Wunsch auf Lebensbeendigung be- das Einflößen als eine Fremdtötung oder aber das trifft, wäre wohl nicht leicht zu begründen.50 Schlucken als eine Selbsttötung eingestuft wird.47 Insgesamt zeigt sich, dass das Gebäude an Eine isolierte Änderung des § 78 StGB ohne am Rest derzeit geltenden rechtlichen Bestimmungen des Gefüges zu rütteln ist daher nicht möglich. durchaus geeignet ist, die Rechtsgüter Leben und Manche der bisherigen Änderungsvorschläge Selbstbestimmung zu schützen. Darin finden sich bezüglich Ausnahmeregelungen würden zahl- weniger tragende Bestimmungen wie beispiels- reiche neue Probleme aufwerfen. So wird etwa eine weise einzelne Details im Bereich der Patienten- Neufassung des § 78 StGB vorgeschlagen, die einer- verfügung betreffend. § 78 StGB hingegen, der die seits an der strafbaren Verleitung zum Selbstmord Mitwirkung am Selbstmord durch Verleiten oder festhalten, andererseits die Hilfeleistung beim Sui- Hilfeleisten unter Strafe stellt, ist von fundamen- zid durch Angehörige oder persönlich nahestehen- taler Bedeutung. de Personen aus der Strafbarkeit herausnehmen Das österreichische System stellt klarerweise will, allenfalls zusätzlich gebunden an Beweggrün- nicht die einzige Möglichkeit dar, diesen Themen- de, die auch einem mit den rechtlich geschützten bereich zu regeln. Dementsprechend billigt auch Werten (§ 10) verbundenen Menschen verständlich der EGMR die verschiedenen Lösungen der europä- sein müssen.48 Tritt man dem näher, so stellt sich ischen Gesetzgeber. Die österreichische Strafrechts- die Frage nach einer Diskriminierung jener Per- lage ist jedoch verfassungskonform und durchaus sonen, die keine Angehörigen oder persönlich na- ausgewogen51 und bewährt. Um dieses Gebäude des hestehenden Personen haben sowie vor allem nach Lebens- und Selbstbestimmungsschutzes nicht Imago Hominis · Band 27 · Heft 3 155
Aus aktuellem Anlass etwa: Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 13. zum Einsturz zu bringen, bedürfte jede maßgeb- 15 Anderer Ansicht zum Wesen der Solidarität in derarti- liche Änderung eines äußerst behutsamen Vorge- gen Situationen: Velten in Sbg Kommentar zum StGB, hens, auf der Basis eines angemessenen und umfas- Vorbemerkung zu den §§ 77 bis 78, Rz 18. senden Diskurses und mit Blick auf den gesamten 16 Teising M., Lindner R., Niemand stirbt für sich allein, Bereich der „Würde am Ende des Lebens“. Leben Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.10.2019 (online). und Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen 17 Vgl. ebd. 18 Velten P., §§ 77 bis 78, in: Hinterhofer H., Rosbaud C., sind zu kostbar, um in diesem Bereich Grauzonen Triffterer O., Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch oder willkürliche Abgrenzungen zuzulassen. (2019), Rz 16. 19 dtBVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 Referenzen – 2 BvR 2347/15 –, Rn 279. 1 Vgl. Schmoller K., Lebensschutz bis zum Ende? Strafrecht- 20 dtBVerfG, ebd, Rn 245: „Nach Einschätzung der sach- liche Reflexionen zur internationalen Euthanasiediskussi- kundigen Dritten bilden psychische Erkrankungen on, ÖJZ (2000), S. 361 ff. eine erhebliche Gefahr für eine freie Suizidentschei- 2 Regierungsvorlage zum StGB 1975, 30 der Beilagen dung. Ihren Ausführungen zufolge liegen nach welt- XIII. GP, S. 196. weit durchgeführten empirischen Untersuchungen in 3 Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 361 ff.: „Häufig wird dabei rund 90% der tödlichen Suizidhandlungen psychische der Unterschied zur aktiven ‚direkten‘ Euthanasie im Störungen, insbesondere in Form einer Depression (in Motiv (bzw in der Zielvorstellung) des Täters gesehen: etwa 40 bis 60% der Fälle), vor. Depressionen, die häu- Dieses sei auf Schmerzbehandlung, nicht auf Lebens- fig – selbst für Ärzte – schwer zu erkennen sind, füh- verkürzung gerichtet.“ ren bei etwa 20 bis 25% der Suizidenten zu einer ein- geschränkten Einwilligungsfähigkeit (…). Vor allem 4 Birklbauer A., § 78 StGB. Mitwirkung am Selbstmord, in: unter betagten und schwer erkrankten Menschen ist Höpfel F., Ratz E., Wiener Kommentar zum Strafgesetz- der Anteil depressiver Suizidenten groß.“ buch (WK)², Rz 1. 21 Vgl. dtBVerfG, siehe Ref. 19, Rn 223. 5 Stellvertretend für zahlreiche Literatur: Birklbauer A., 22 Vgl. dtBVerfG siehe Ref. 19, Rn 249 und Rn 259; in den siehe Ref. 4, Rz 85 f. Rn 258 f. referiert das dtBVerfG in diesem Zusam- 6 Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 361 ff. mwN. menhang zahlreiche Belege für die Tatsache, dass 7 Wobei dieser regelmäßig mit Erwerb und Besitz ver- ein wichtiges Motiv für einen assistierten Suizid der bunden ist, die gemäß § 27 SMG sehrwohl strafbar sind. Wunsch ist, Angehörigen oder Dritten nicht zur Last 8 vgl. Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 363. zu fallen. 9 Ausführlich dazu siehe beispielsweise Schmoller K., 23 Pöltner G., Grundkurs Medizin-Ethik, Wien (2006), siehe Ref. 1, S. 361 ff. und Birklbauer A., siehe Ref. 4, 2. Aufl., S. 281. Rz 10 und Rz 13. 24 Vgl. Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 12. 10 Lengauer S., Selbstmord oder Fremdtötung: Unrecht, Ab- 25 RIS-Justiz RS0125083, EGMR, Pretty gegen das Vereinigte grenzung und StRÄG 2015, JSt (2016), S. 109; vgl. Birkl- Königreich, Urteil vom 29.4.2002, Bsw2346/02, http:// bauer A., siehe Ref. 4, Rz 13. hudoc.echr.coe.int/fre?i=001-60448 (letzter Zugriff 11 Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 62 mit zahlreichen wei- am 4.11.2020); Steiner E., Ausschussbericht NR 491 der teren Nachweisen. Beilagen XXV. GP, Anlage A1, S. 8. 12 Erkenntnisse des VwGH vom 2. März 2016, 26 Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 26; Koch gg Deutschland Ra 2016/03/0011; vom 24. Juli 2012, 2012/03/0071; BswNr 497/09 v 19.7.2012. vom 27. Februar 2013, 2012/03/0123; vom 22. Mai 2013, 27 Vgl. VfGH Erkenntnis vom 3.10.1989, G227/88; 2013/03/0025 und vom 21. Oktober 2011, 2010/03/0148. G2/89 mwN. Verwehrt ist dem Gesetzgeber „die Verlet- 13 Erkenntnisse vom 22. Juni 1976, Zl. 1055, 1056/76: In zung des aus dem Gleichheitssatz erfließenden Sach- diesen Erkenntnissen stellte der VwGH fest, dass der lichkeitsgebots“ Bewilligungsinhaber jedenfalls nach der Drohung 28 Vgl. EGMR, Pretty v. The United Kingdom, Appl. der Ehefrau mit Selbstmord entsprechende Vorkeh- No. 2346/02, Rz 74, abrufbar auf der Webseite des EGMR rungen hätte treffen müssen, um die Waffe sicher dem unter http://hudoc.echr.coe.int/fre?i=001-60448. Zugriff seiner Ehefrau zu entziehen. 29 Ebd. 14 Bzw. als „sozialethisch verwerflich“ gesehen wird; so 30 RIS-Justiz RS0128276. 156 Imago Hominis · Band 27 · Heft 3
Aus aktuellem Anlass 31 RIS-Justiz RS0125087, EGMR, Pretty gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 29.4.2002, Bsw2346/02. 32 Vgl. Pöltner G., siehe Ref.23, S. 281. 33 Udo di Fabio, Rechtsgutachten vom November 2017 zur „Erwerbserlaubnis letal wirkender Mittel zur Selbsttötung in existenziellen Notlagen“, S. 41 be- züglich der Rechtslage in Deutschland; weiters: „So akzeptiert unsere Rechtsordnung nicht das Argument der ‚Rettungsfolter‘, auch wenn nur unter Einsatz des verbotenen Instruments einem unschuldigen Opfer mit seinem Würdeanspruch und seinem Lebensrecht geholfen werden kann.“ 34 Vgl. RIS-Justiz RS0125087, EGMR, Pretty gg. das Verei- nigte Königreich, Urteil vom 29.4.2002, Bsw 2346/02. 35 Schmoller K., Ausschussbericht NR 491 der Beilagen XXV. GP, Anlage A4, S. 67; vgl. Steiner E., siehe Ref. 25, S. 6 ff. 36 Etwa vgl. Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 25, sowie Rz 28- 33; Velten P., siehe Ref. 18, Rz 18 f. 37 Verlautbarung des VfGH vom 31.7.2020, https://www. vfgh.gv.at/medien/Nach_Juni_Juli_Beratungen.de.php. 38 Öhlinger T., Verfassungsrecht, Wien (20056), Rn 1002. 39 Velten P., siehe Ref. 18, Rz 18 f.; Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 16 ff. 40 Vgl. dtBVerfG, siehe Ref. 19, Rn 249. 41 Ebd., Rn 252. 42 Ebd., Rn 253. 43 Ebd., Rn 254: Hier hat sich die Zahl der gemeldeten Fälle von Sterbe- und Suizidhilfe im Zeitraum von 2002/2003 bis 2015 nahezu verachtfacht. 44 Ebd., Rn 255. 45 Ebd., Rn 257. 46 Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 86. 47 Schmoller K., siehe Ref. 1, S. 361 ff. 48 Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 30; Lengauer S., siehe Ref. 10, S. 110. 49 Birklbauer A., siehe Ref. 4, Rz 31. 50 Vgl. Schmoller K., siehe Ref. 35, S. 67. 51 Ebd. Mag. iur. Maria Schörghuber Richterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien maschoerghuber@hotmail.com Imago Hominis · Band 27 · Heft 3 157
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