AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Sowjetunion - Bundeszentrale für politische ...
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71. Jahrgang, 16/2021, 19. April 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Sowjetunion Maike Lehmann Jochen Hellbeck DAS (POST-)SOWJETISCHE DIE SOWJETUNION ALS POLITISCHE UND IM KAMPF GEGEN IDENTITÄTSRELEVANTE HITLER-DEUTSCHLAND RESSOURCE Frank Grüner Julia Obertreis JUDEN UND SOWJETUNION GLOBAL JÜDISCHES LEBEN IN DER SOWJETUNION Jörg Baberowski SOWJETISCHE GESCHICHTE Irina Scherbakowa ALS GEWALTGESCHICHTE SACKGASSE SOWJETVERGANGENHEIT Susanne Schattenberg NACH STALIN: DAS FUNKTIONIEREN DER UDSSR ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Sowjetunion APuZ 16/2021 MAIKE LEHMANN JOCHEN HELLBECK DAS (POST-)SOWJET ISCHE ALS POLITISCHE DIE SOWJETUNION IM KAMPF GEGEN UND IDENTITÄTSRELEVANTE RESSOURCE HITLER-DEUTSCHLAND Die Begriffe des „Sowjetischen“ und des Die Aufklärung über deutsche Gewaltverbrechen „Postsowjetischen“ scheinen zunächst schlicht durch sowjetische Beobachter rüttelte auch im eine Chronologie zu umreißen. Doch gleichzei- Westen auf. Materiell wie konzeptionell hatte tig sind sie politisch aufgeladen und analytisch, die Sowjetunion eine entscheidende Rolle beim sie stehen in einer spezifischen Tradition und Sieg gegen das nationalsozialistische Deutsch- verzeichnen ihre eigenen Konjunkturen. land inne. Seite 04–09 Seite 32–39 JULIA OBERTREIS FRANK GRÜNER SOWJETU NION GLOBAL JUDEN UND JÜDISCHES LEBEN Bereits die Revolution 1917 verursachte ein IN DER SOWJETU NION internationales Beben und verbreitete Furcht Mit dem Sturz des zarischen Regimes im März wie Hoffnung zugleich. Mit dem Kalten Krieg 1917 begann für die jüdische Bevölkerung wurde die Sowjetunion zur „Supermacht“ und eine neue Epoche. Doch antireligiöse Politik, im Globalen Süden zur Entwicklungshelferin Antisemitismus und Antizionismus ließen den mit Hintergedanken. Wunsch nach Emigration vor allem nach 1945 Seite 10–17 immer stärker werden. Seite 40–47 JÖRG BABEROWSKI SOWJET ISCHE GESCHICHTE IRINA SCHERBAKOWA ALS GEWALTGESCHICHTE SACKGASSE SOWJETVERGANGENHEIT Der sowjetische Staat stand auf einem Fun- Vor knapp 30 Jahren wurde das Ende der dament, das mit Gewalt errichtet wurde. Das Sowjetunion vertraglich besiegelt. An ihrem Regime setzte seine Gewaltexzesse überall dort Erbe, insbesondere dem stalinistischen, trägt das ins Werk, wo es seiner Herrschaft nicht sicher heutige Russland immer noch schwer. Blicke zu sein glaubte. Erst Nikita Chruschtschow zurück und auf die aktuelle Geschichtspolitik beendete den Terror. zeigen, warum dies so ist. Seite 18–24 Seite 48–52 SUSANNE SCHATTENBERG NACH STALIN: DAS FUNKTIONIEREN DER UDSSR Die Forschung zur späten Sowjetunion hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen Aufschwung erlebt. Dominierte in den 1990er Jahren die Stalinismusforschung, ist es jetzt die Forschung zur Zeit nach 1953 unter der Herrschaft Chruschtschows und Breschnews. Seite 25–31
EDITORIAL Am 4. Oktober 1957 schoss die Sowjetunion ihren Satelliten „Sputnik“ erfolg- reich ins All. Diese Pioniertat löste im Westen einen Schock aus: nicht die USA, sondern der kommunistische Gegenspieler im Kalten Krieg hatte beim space race technologisch die Nase vorn. Im August 2020, nach der ersten Welle der Corona-Pandemie, legte Moskau erneut im globalen Wettlauf vor. Doch ein erneuter „Sputnik-Schock“ nach Zulassung des ersten Corona-Vakzins „Sputnik V“ durch russische Behörden blieb bisher weitgehend aus. Die Bezugnahme auf tatsächliche oder vermeintliche Erfolge der Sowjet union ist Teil der aktuellen (Geschichts-)Politik der Russischen Föderation. Das Sowjetische existiert neben dem Postsowjetischen, also den Erfahrungen mit den Umwälzungen und Unsicherheiten nach 1991, weiter. Die größte erinnerungs- kulturelle Rolle spielt dabei der Sieg der Roten Armee im „Großen Vaterländi- schen Krieg“, der mit dem Überfall NS-Deutschlands auf die Sowjetunion vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, begann und mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 endete. Mittlerweile geht die Forschung von etwa 27 Millio- nen Opfern auf sowjetischer Seite aus. Dieses Opfer im Kampf gegen den Faschismus vermochte es allerdings nicht, die Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu stoppen, die mit dem „Großen Ter- ror“ von 1937 einen Höhepunkt erreicht hatte. Die „Ströme“ in die „Gefängnis kanalisation“, wie Alexander Solschenizyn sie detailliert in seinem „Archipel Gulag“ (1974) aufzählt, flossen während und nach dem Krieg weiter. Knapp 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und seinen Folgen noch nicht beendet. Der Schock, den die Stalin- Zeit ausgelöst hat, wirkt bis heute gesellschaftlich nach. Anne Seibring 03
APuZ 16/2021 VON DER HARTNÄCKIGKEIT EINES ATTRIBUTS Das (Post-)Sowjetische als politische und identitätsrelevante Ressource Maike Lehmann Mittlerweile ist es 30 Jahre her, dass der sowje union stelle die größte geopolitische Katastrophe tische Staat zu existieren aufhörte. Mit ihm ende- des 20. Jahrhunderts dar,02 in Russland wie im ten auch der Kalte Krieg und die bipolare Auftei- postsowjetischen Raum Zustimmung. Immerhin lung der Welt in einen durch Moskau weitgehend hatten Finanzreformen und -krisen wiederholt dominierten sozialistischen Block und westliche Familienersparnisse vernichtet; Arbeitsverhält- liberale Staaten, die ihre konkurrierenden Gesell- nisse bleiben bis heute fragil. Auch widerlegten schaftsmodelle mithilfe von Entwicklungspro- die kriminelle Gewalt auf den Straßen postso grammen, wirtschaftlichen Kooperationen, Bil- wjetischer Städte der 1990er Jahre und die zahl- dungsaustausch und militärischen Einsätzen in reichen Bürgerkriege an der ehemaligen sowje damals als „Dritte Welt“ und „blockfreie Staaten“ tischen Peripherie den westlichen Mythos eines bezeichneten Regionen zu etablieren suchten. Auf gewaltfreien Regimewechsels. die euphorische Rede vom „Ende der Geschich- Trotz der Berichte über diese Zustände irri- te“, die den umfassenden Sieg des Liberalismus tierte Putins Aussage im Westen. Hier wird der postulierte,01 folgten im Westen der Entwurf von Zerfall der multiethnischen Sowjetunion keines- Transformationstheorien, die die Härten des Zu- wegs als Tragödie, sondern als Befreiung angese- sammenbruches lediglich als eine Übergangszeit hen, und positive Erinnerungen an die Sowjetzeit entwarfen, die mittels einer Schocktherapie umso als fehlgeleitete, da vergessliche, verharmlosende schneller überwindbar wäre. „Nostalgie“ gefasst.03 Zugleich werden Rechts- Mittlerweile ist eine ganze Generation ohne beugung, Korruption, die Schwäche der Zivil- eigene Erfahrung mit dem Staatsozialismus auf- gesellschaft, Zustimmung für Putins Geopolitik gewachsen. Doch die So wjet union bleibt prä- oder auch die regelmäßige Nennung Stalins als sent. Denn auch die Nachgeborenen, nicht nur bedeutendste Figur in der russischen Geschich- ihre vor 1991 aufgewachsenen Eltern und Groß- te04 als Ausweis für ein noch nicht überwunde- eltern, wurden durch die Sowjetunion und ihren nes so wje tisches Erbe gewertet. Diese konträ- Zusammenbruch geprägt. So halten sich positive ren Interpretationen sind Grund genug, sich das Bezugnahmen etwa auf die entscheidende Rolle (Post-)Sowjetische als Attribut und seine unter- der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, auf die schiedlichen Bedeutungen näher anzusehen. Breschnew-Zeit oder gar auf Stalin als erfolg- reichen Manager der sowjetischen Modernisie- CHRONOLOGIE UND POLITIK rung. Dies sind Abschnitte in der Geschichte, die trotz der Millionen Opfer, die Krieg und Ter- Die Begriffe des „So wje tischen“ und des ror forderten, und der Einschränkung von Mei- „Postsowjetischen“ scheinen zunächst schlicht nungs- und Versammlungsfreiheit in der späten eine Chronologie zu umreißen – 70 Jahre So Sowjetunion nicht nur in Russland mit Erfolgen, wjetunion einerseits, das „Danach“ andererseits. Sicherheit und globalem Status in Verbindung Doch jenseits dieser Zeitfolge signalisieren diese gebracht werden. Entsprechend fand die De- Attribute auch etwas anderes: Sie sind so poli- klaration des ehemaligen KGB-Offiziers Wla- tisch aufgeladen wie analytisch, sie stehen in ei- dimir Putin, der Zusammenbruch der Sowjet ner spezifischen Tradition und verzeichnen ihre 04
Sowjetunion APuZ eigenen Konjunkturen. So markierte das Attri- Das Amalgam aus sowjetischen Erwartun- but des Postsowjetischen in der Berichterstat- gen, sowjetischer Sprache und sowjetischen Ver- tung der 1990er Jahre zunächst einen Übergang, haltensweisen einerseits und postso wje tischen der – eingeläutet durch die Auflösung des politi- Adaptionsleistungen und Praktiken anderer- schen Systems und den Denkmalsturm auf Sta- seits fiel vor allem AnthropologInnen bald ins tuen sowjetischer Führer, dann veralltäglicht in Auge. So hatte etwa Caroline Humphrey be- durch den Westen inspirierten Namen neuer, nun reits in den 1980er Jahren Feldforschungen auf in privater Hand befindlicher1234 Geschäfte05 – die einer nach Karl Marx benannten Kolchose im Loslösung vom Sozialismus als Ideologie und ostsibirischen Burjatien vorgenommen. Sie stell- Weltbild verhieß. Auch die Kultur- und Sozial- te Mitte der 1990er Jahre fest, dass das Sowje wissenschaften wandten sich nach 1991 zunächst tische nicht einfach ad acta gelegt war, trotz Kri- dem vermeintlich Neuen zu, etwa religiösen tik an der Politik des sowjetischen Staates und Praktiken und wirtschaftlichen Aktivitäten, die der Existenz sowjetischer Arbeitslager, die nicht in einem Kontrast zur antireligiösen Propagan- zuletzt die gewaltsame Kollektivierung und da des untergegangenen Sowjetstaates und sei- Zwangsansiedlung von Burjaten im Stalinismus ner Planwirtschaft standen.06 Jenseits der Adap- deutlich machten. Auch die Loyalität zum rus- tionsleistung an unsichere Zeiten, in denen etwa sischen Staat stand keineswegs infrage. Vielmehr Religiosität einen neuen Halt versprach, übersah fand Humphrey heraus, dass die zur Gruppe der diese Perspektive aber oft, dass es trotz Ressenti- mongolischen Völker gehörenden BurjatInnen ments etwa gegenüber Juden und Muslimen so- eine als „rückständig“ verstandene Identifika- wie der Verfolgung von Sekten und Untergrund- tion als MongolInnen ablehnten. Denn sie ge- kirchen spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg in hörten zu den Gruppen, die vor 1991 vor allem der Sowjetunion durchaus gestattet war, Religi- als nicht-sesshafte, traditionelle Strukturen fort- on auszuüben, sofern sie sich im Rahmen staat- schreibende, abergläubische und somit antimo- lich kontrollierter Kirchenstrukturen bewegte.07 derne Gemeinschaft imaginiert wurden. Doch Hinzu kommt, dass Moralvorstellungen von laut desselben staatlich beförderten Diskur- nach 1991 bekehrten Gläubigen gleichermaßen ses konnten sie ihre Rückständigkeit überwin- von Kirchenlehren wie von im Sozialismus pro- den, indem sie die emanzipatorisch und aufklä- pagierten Werten geprägt waren.08 rerisch gefassten Modernisierungsvisionen des multiethnischen Sowjetstaates verinnerlichten. Die Langzeiteffekte dieser Vorstellungen spie- 01 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National gelten sich nach 1991 darin wider, dass BurjatIn- Interest 16/1989, S. 3–18. nen sich nicht als solche, sondern in Anlehnung 02 Vgl. Heiko Pleines, Nach dem Ende der Sowjetunion, an überethnische, staatsbürgerliche Kategori- 10. 10. 2014, www.bpb.de/192802. 03 Vgl. Walter Sperling Die Ruinen von Grosny. Nostalgie, en identifizierten – waren sie vorher Sowjetbür- Imperium und Geschichte im postsowjetischen Russland, in: gerInnen, sahen sie sich nun als RussländerIn- Historische Anthropologie 2/2015, S. 290–315. nen.09 Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch 04 Das unabhängige Levada-Zentrum erhebt dazu regelmäßig der Sowjetunion mochte es aber nicht überra- Daten und hat einen Anstieg von positiven Stellungnahmen zu schen, dass auch Alltagspraktiken und -regeln, Stalin zwischen 2008 und 2018 festgestellt. Vgl. Levada-Center, The Perception of Stalin, 17. 4. 2018, www.levada.ru/en/2018/ Vorstellungen von Erfolg und Scheitern und die 04/17/the-perception-of-stalin. Logiken sozialer Distinktion von im Stalinismus 05 Vgl. Alexei Yurchak, Privatize Your Name. Symbolic Work etablierten Regeln geprägt blieben.10 in a Post-Soviet Linguistic Market, in: Journal of Sociolinguistics Nach 2000 wurde dann verschiedentlich das 3/2000, S. 406–434. Ende der postsowjetischen Zeit ausgerufen, meist 06 Vgl. Chris Hann (Hrsg.), Postsocialism. Ideals, Ideologies and Practices in Eurasia, London 2002. 07 Vgl. Ulrike Huhn, Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit 09 Im Sinne einer nicht ethnisch-russischen, sondern staatsbür- zwischen orthodoxer Kirche und sowjetischem Staat, 1941–1960, gerlich-russländisch definierten Identität. Entsprechend ist „Russ- Wiesbaden 2014; Eren Tasar, Muslim and Soviet. The Institutio- ländische Föderation“ der korrekte Name für das multiethnische nalization of Islam in Central Asia, 1943–1991, New York 2017. Russland. 08 Vgl. Jarret Zigon, Aleksandra Vladimirovna. Moral Nar- 10 Vgl. Caroline Humphrey, Marx Went Away, But Karl Stayed ratives of a Russian Orthodox Woman, in: Mark Steinberg/ Behind. Updated Edition of The Karl Marx Collective. Economy, Catherine Wanner (Hrsg.), Religion, Morality, and Community in Society, and Religion in a Siberian Collective Farm, Ann Arbor Post-Soviet Societies, Bloomington 2008, S. 85–114. 1998, insb. S. VII-XIX. 05
APuZ 16/2021 in Zusammenhang mit den Versuchen Russlands, der postsowjetischen Ära endlich zum Durch- sich als geopolitischer Hegemon zu reetablieren, bruch verholfen werden, hatte die Vorannah- und einer Abkehr von einer Reformpolitik im me gelautet. Solche Vorannahmen schwingen postsowjetischen Raum, die auf eine Demokra- dann auch in der Feststellung mit, dass mit dem tisierung im westlichen Sinne ausgerichtet war.11 Ende der 1990er Jahre viele Staaten im postso Das Chaos der 1990er Jahre befeuerte nicht nur wjetischen Raum von diesem „richtigen“ Weg eine Sehnsucht nach sozialer Absicherung und immer mehr abwichen. Die kritische Berichter- politischer Stabilität, die die Bevölkerung in der stattung zur zunehmend autoritär und auf eine späten So wjet union als Normalität kennenge- Führungsfigur fokussierte Politik in diesen Staa- lernt hatten. Dieses Chaos diskreditierte auch die ten, Menschenrechtsverletzungen, Korruption Demokratie, die für die Mehrheit der Bevölke- und ökonomischer Raubbau an Gesellschaft rung in der Russländischen Föderation nun nicht und Umwelt sowie die Verweise auf Russlands mehr mit ihren großen Versprechen, sondern mit Großmachtambitionen enthielten immer eine permanenter Instabilität assoziiert war. Orien- doppelte Referenz, die nun stärker sichtbar wur- tierung brachten neue Zeithorizonte in Gestalt de: Sie setzte die liberale westliche Demokratie einer affirmativen Einordnung der sowjetischen und die von ihr propagierten Werte als universa- Geschichte in eine längere Kontinuität russischer len Referenzrahmen, für den Staaten im postso imperialer Größe, die es schon in den 1990er Jah- wjetischen Raum mit ihrer Abweichung von ren gab, aber durch Putin und russische Intellek- dieser Ordnungsvorstellung wieder als Kon- tuelle nun verstärkt referenziert wurde.12 Doch trast, als das „Andere“ dienten. Dieses „Ande- diese positiven Bezugnahmen auf die Sowjetzeit re“ wurde als Bedrohung gelesen, nicht zuletzt und das Zarenreich waren mehr als eine Erwei- aufgrund der geopolitischen Konsequenzen rus- terung des Betrachtungszeitraumes. Russland sischer Großmachtambitionen. Deren Verunsi- stellte sich damit in eine längere politische Tradi- cherungspotenzial wird ausgeglichen durch eine tion, in der Sicherheit und Stärke großgeschrie- umso bestimmtere Beharrung auf dem „eige- ben wurden, die brutale Modernisierungspolitik nen“ Modell, der eigenen Identität. Der Begriff des Stalinismus und der Sieg im Zweiten Welt- des Postsowjetischen markiert somit nicht ein- krieg nicht in Bezug auf ihre Kosten und Opfer fach einen Zeitabschnitt, sondern verweist auch reflektiert, sondern die Heroisierung der Opfer- auf die jeweilige politische Position und dahin- bereitschaft der Bevölkerung politisch instru- terstehende Identitätskonstruktionen. mentalisiert wurden. Eben diese Interpretation der Rolle Russlands und der Sowjetunion, die DIE TRADITION DES „ANDEREN“ sich wie jede Traditionsbildung selektiv der Ver- ALS RESONANZRAUM gangenheit bedient,13 ist im Westen traditionell DES (POST-)SOWJET ISCHEN negativ besetzt. Spätestens hier entpuppt sich das Postso Hierfür lieferte eine Tradition Bilder und Zu- wjetische als ein politischer und, wie das Sowje schreibungen, die nicht erst in der Zeit des Kal- tische, ein politisierter Begriff. Während er in ten Krieges Verbreitung gefunden hatten. Als Russland mit Chaos assoziiert blieb, implizier- Beispiel können Karikaturen dienen, die im Wes- te er im Westen den Abschied vom Staatssozi- ten die russische Politik kommentierten und zu- alismus als einer „anderen“ Ordnung. In dieser gleich positionierten. So wurde Putin im Kontext Perspektive waren Russland und andere ehema- der russischen Invasion in Georgien 2008 als Kra- lige Sowjetrepubliken nach 1991 auf dem „rich- ke dargestellt, der nicht nur den Kaukasus, son- tigen“ Weg. Demokratie und Recht sollte in dern auch das Baltikum, die Ukraine und Bela- rus in den Würgegriff nahm. Einen Oktopus mit 11 Vgl. Kevin M. F. Platt, The Post-Soviet Is Over. On Reading Putins Kopf zierte auch die Titelseite einer Aus- the Ruins, in: Republics of Letters 1/2009, https://arcade.stan- gabe des „Economist“ zur russischen Einfluss- ford.edu/rofl/post-soviet-over-reading-ruins. nahme auf den US-Präsidentschaftswahlkampf 12 Vgl. Isabelle de Keghel, Die Staatssymbolik des neuen Russ- 2016.14 Diese Karikaturen zitierten Darstellungen land. Traditionen – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse, Münster 2008. 13 Vgl. Eric Hobsbawn/Terence Ranger, The Invention of Tradi- 14 Siehe The Economist, 22. 2. 2018, www.economist.com/ tion, Cambridge 1992. weeklyedition/2018-02-24. 06
Sowjetunion APuZ Stalins in den 1930er Jahren, die die Angst vor ei- diente als aufregender Kontrast für das Selbstbild nem Sieg des Kommunismus nicht nur im Spa- westlicher Autoren und LeserInnen. nischen Bürgerkrieg versinnbildlichten, oder eine Nach 1917 fungierte dann die Sowjetunion Europakarte von 1877, die Russlands Agieren in als Projektionsfläche unterschiedlichster politi- der Balkankrise ebenfalls mit einer Krakenallego- scher Bewegungen und den Zyklen ihrer Iden- rie kommentierte.15 Weitere Kriege und Krisen titätskonstruktionen: Intellektuelle aus Asien produzierten Varianten dieser entmenschlichten und Afrika sahen sich in ihrem Kampf gegen Darstellung Russlands sowie der Sowjetunion – die westliche Kolonialpolitik durch die Unter- wie Russland als Bär oder Wolf, das auf Euro- stützung der in Moskau ansässigen Kommunis- pakarten den als Menschen dargestellten west- tischen Internationale (Komintern) bestärkt.18 und südeuropäischen Ländern die Zähne zeigt, Der Einfluss der Komintern auf Kommunisti- oder Stalin, der als sich gen Westen vorarbeiten- sche Parteien weltweit produzierte wiederum des menschenfressendes Monster auf Landkarten Bedrohungsszenarien eines langen Armes Mos- des Kalten Krieges präsentiert wird. Diese Bilder kaus im Westen, obwohl die Sowjetführung sehr illustrieren so sehr die Kritik an russischer be- bald das Projekt der Weltrevolution ans Ende ih- ziehungsweise sowjetischer Politik, wie sie das rer politischen Prioritätenliste gesetzt hatte und Selbstbild des Westens untermauern: die Imagina- die Komintern selbst von der Radikalisierung tion Russlands beziehungsweise der Sowjetunion der Arbeiterschaft infolge der Weltwirtschafts- als unberechenbares, „unvernünftiges“, „barba- krise kaum profitieren konnte. Während die Na- risches“ Tier bestätigt das Bild einer zivilisatori- tionalsozialisten ihre Rassen- und Expansions- schen Überlegenheit des aufgeklärten Westens. politik unter anderem mit dem Bild von Slawen Identitätskonstruktion mittels Abgrenzung als unzivilisierten „Untermenschen“ legitimier- zum „Anderen“ ist kein Alleinstellungsmerk- ten, fuhren westeuropäische Intellektuelle selbst mal des westlichen Russlanddiskurses. Das antike zu Hochzeiten des stalinistischen Terrors nach Rom wie die italienische Renaissance produzier- Moskau auf der Suche nach einer politischen Al- ten ähnliche Bilder von den „Barbaren“ nördlich ternative zum europäischen Faschismus.19 Die der Alpen. Der Historiker Larry Wolff hat un- Studentenbewegungen von 1968 waren wiede- tersucht, wie sich diese Nord-Süd-Polarisierung rum eklektisch in ihrer Auswahl sozialistischer der (Un-)Zivilisiertheit mit der französischen Lehren – neben Lenin wurden Mao und Trotzki Aufklärung in einen Ost-West-Gegensatz ver- studiert, um die Kritik an den Missständen der lagerte, mit dem die Beschreibung von Dunkel- westlichen Industriegesellschaften auf eine theo- heit und Barbarei im „Osten“ die neue Ära der retische Grundlage zu stellen.20 Zugleich fanden westlichen Vernunft in ein umso helleres Licht Berichte über die Verbrechen des Stalinismus im tauchte.16 Beliebte „Reiseberichte“ des 18. Jahr- Westen eine breite Resonanz. So befeuerte etwa hunderts etwa von Giacomo Casanova oder des die Publikation von Alexander S olschenizyns Lügenbarons Münchhausen exotisierten dieses „Archipel Gulag“ 1974 nicht nur die Legitimi- Bild des Russischen Reiches mit Beschreibun- tätskrise der Sozialistischen Parteien in Frank- gen eines vermeintlich ungebändigten Sexualtrie- reich und diente rechtsnationalen Kreisen in bes oder Schilderungen von Banketten, bei denen der Bundesrepublik zur Relativierung der nati- echte Bären die Speisen auftrugen.17 Dieses wenig onalsozialistischen Verbrechen.21 Ein Exemplar an Realitäten vor Ort interessierte Bild Russlands des Buches durfte zugleich in keinem Haushalt fehlen, der etwas auf sich hielt. 15 Vgl. How Communism Works. Keep This Pamphlet Mo- ving (1938), in: Frank Jacobs, Cartography’s Favourite Map 18 Vgl. Elisabeth McGuire, Red at Heart. How Chinese Com- Monster. The Land Octopus, 5. 7. 2011, https://bigthink.com/ munists Fell in Love with the Russian Revolution, Oxford 2017. strange-maps/521-cartographys-favourite-map-monster-the- 19 Vgl. Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, land-octopus; Serio-Comic War Map For the Year 1877, www. München 2008; Katerina Clarke, Moscow. The Fourth Rome, landkartenarchiv.de/satire.php?q=rose_revised_edition_se- Cambridge 2011. rio_comic_war_map_for_the_year_1877. 20 Vgl. Gerd Koenen, Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deut- 16 Vgl. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of sche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001. Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994. 21 Dazu führten etwa rechtsnationale Publikationen wie die 17 Vgl. ebd.; Rudolph Erich Raspe, The Travels and Surprising „Deutsche National-Zeitung“ in den 1970er Jahren die Schriften Adventures of Baron Munchhausen, New York 1888 [1785]. Alexander Solschenizyns und Lew Kopelews ins Feld. 07
APuZ 16/2021 Die zyklische Reproduktion solcher iden- oft genauso schwer voneinander zu trennen wie titätsrelevanten Bilder und Bezugnahmen auf Tradition von dem, was man als das (post)sowje Russland und die Sowjetunion bilden den Re- tische Erbe bezeichnen könnte. „Erbe“ ist das sonanzraum, in dem wir die Attribute „sowje spezifische Reservoir an Ereignissen, Erfahrun- tisch“ und „postsowjetisch“ im politischen Sin- gen und Erinnerungen, die Gesellschaften in ih- ne weiterhin verwenden. Sie kommen besonders ren Wahrnehmungen, Emotionen, Reflexen und in Krisen zum Zuge, wie etwa während der völ- Verhaltensmustern nachhaltig prägen. Es bildet kerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014. die Grundlage für „Tradition“ als selektive Be- Jenseits des Mobilisierungseffektes innerhalb der zugnahme auf die Vergangenheit, geht über sie russischen Gesellschaft schufen sie auch Klar- jedoch hinaus und umfasst damit auch das, was heit und Einheit im „Westen“. Dieser war sich man sich nicht aussuchen kann. zu dem Zeitpunkt unschlüssig über seine Rolle Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien, und die im postsowjetischen Raum ist ein Beispiel für EU rieb sich im Streit über den Euro-Rettungs- die erfolgreiche Mobilisierung dieses Erbes für schirm und die Staatsschuldenkrise in Griechen- eine fortgesetzte Traditionsbildung. Während land auf. im Westen die Bedrohungsszenarien des Kalten In diesem Resonanzraum verschwimmt die Krieges den entscheidenden Beitrag der Sowjet Definitionsschärfe des Sowjetischen und Postso union zum Sieg über das „Dritte Reich“ aus dem wjetischen genauso wie in der Identitätspolitik Bewusstsein verdrängten, bildet der „Sieg über des Kremls.22 Letzterer vermag Kontinuität und den Faschismus“ beziehungsweise der „Große Bruch mitunter meisterlich zusammenzubringen Vaterländische Krieg“ den emotionalen Schlüssel und in politisches Kapital umzuwandeln, etwa für eine positive Identifikation mit der Sowjet wenn Putin verkündet: „Wer die Sowjetunion union vor wie nach 1991. Bezeichnenderwei- nicht vermisst, hat kein Herz, wer sie sich zu- se wurde der Krieg zu einer Identitätsressource rückwünscht, hat keinen Verstand.“23 Dieser viel auch für Gruppen, die vor und nach 1945 unter zitierte Ausspruch unterstreicht, dass das Sowje staatlicher Unterdrückung und gesellschaftlicher tische zählt, obwohl die Sowjetunion nicht mehr Exklusion gelitten hatten, noch bevor der Staat existiert und ihr Ende anerkannt wird. Jenseits überhaupt begann, Kriegserinnerung zu instru- einer bewussten Traditionsbildung wird hier mentalisieren.24 Dass sich bis heute nachgebore- aber auch jenseits des Politischen ein Erbe adres- ne Generationen mit diesem Sieg identifizieren, siert, das bis heute fortwirkt. Bezeichnenderwei- wird zwar staatlich befeuert durch den geschick- se haben sich dann auch Vorschläge für Nach- ten Einsatz unter anderem von so wjetischen folgeattribute für das (Post-)So wjetische nicht Kriegsliedern bei Popkonzerten am Tag des Sie- wirklich etabliert, um den Einfluss der Lebens- ges (9. Mai) oder von Gedenkmärschen etwa im zeit und -erfahrung der heute in der Russländi- sibirischen Novosibirsk, dem tatarischen Kasan, schen Föderation Lebenden auf den Punkt zu im kirgisischen Bischkek oder dem Treptower bringen. Park in Berlin, bei denen die TeilnehmerInnen Plakate mit dem Bild von Familienmitgliedern DAS (POST-)SOWJET ISCHE tragen, die am Zweiten Weltkrieg teilgenom- ALS ERBE men hatten.25 Letztere waren jedoch ursprüng- lich eine Graswurzelinitiative, deren Erfolg und Somit bedienen wir uns dieser Attribute weiter- Übernahme durch den russischen Staat letztlich hin, zumal sie auch jenseits vermeintlich klarer auf die übergenerationelle emotionale Bindung politischer Implikationen auch diffusere soziale an das Thema Kriegsteilnahme zurückgeht. Und und kulturelle Konstellationen immer noch am während die recht breite Definition von Kriegs- besten umreißen. Dabei sind Politik und Kultur 24 Vgl. Amir Weiner, Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution, Princeton 2001; 22 Vgl. dazu auch Jutta Scherrer, Russland verstehen? Das Harriet Murav/Gennadyi Estraikh (Hrsg.), Soviet Jews in World postsowjetische Selbstverständnis im Wandel, 11. 11. 2014, War II. Fighting, Witnessing, Remembering, Boston 2014. www.bpb.de/194818. 25 Vgl. dazu Beiträge in Mischa Gabowitsch/Cordula Gda- 23 Putin – Kto ne zhaleet ot razpade SSSR, u togo ne serdtsa, niec/Ekaterina Makhotina (Hrsg.), Kriegsgedenken als Event. Der in: Argumenty i fakty, 16. 12. 2010. 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, Paderborn 2017. 08
Sowjetunion APuZ teilnahme in diesen staatlich geförderten Mär- tischen Elementen, das Humphrey in den 1990er schen eine neue postsowjetische Tradition dar- Jahren in Burjatien beobachtete, bis heute fort. stellt, gehört zum Erbe der Sowjetunion, dass Referenzen auf offiziell propagierte Ideale und sich Familien auch daran erinnern, dass in Ge- sowjetische Filmklassiker tauchen bis heute in fangenschaft geratene oder unter deutscher Be- Alltagskonversationen auf und markieren die satzung zwangsrekrutierte SowjetbürgerInnen Sprechenden als Teil derselben Gemeinschaft. als vermeintliche VaterlandsverräterInnen im Auch wenn Lenin mittlerweile eher selten zi- Gulag landeten.26 Auch Invaliden konnten kaum tiert wird, prägen vor 1991 erlernte Sprech- und mit staatlicher Hilfe rechnen.27 Sichtweisen weiterhin die Verhandlung von Zu- Ähnlich emotional, aber bislang weniger Teil gehörigkeit, auch im Konflikt. So erntete etwa einer ausgesprochenen Tradition, sind die Erin- Alexey Navalny 2017 Spott, als er in einem nerungen an den Systemwechsel und die Erfah- Fernsehinterview behauptete, Usbeken würden rung von Chaos der 1990er Jahre. Das Trauma Alexander Puschkin nicht kennen, worauf zahl- klingt an etwa in den Apellen von Eltern und reiche UsbekInnen mit Rezitationen des Dich- LehrerInnen an Kinder und Jugendliche, sich ters in den sozialen Medien reagierten.28 Was wie nicht an regimekritischen Demonstrationen zu ein kleines Detail in einem Konflikt um die Rei- beteiligen. Die in Ton und Körpersprache ent- sefreiheit von postsowjetischen Arbeitsmigran- haltene Angst vor einer Destabilisierung sowie tInnen erscheinen mag, hat im postsowjetischen einer Wiederkehr von Gewalt unterlegt die mit Raum umso mehr Bedeutung. Denn beide Sei- Handykameras festgehaltenen Mahnungen ein- ten validierten lange nach dem Zerfall der So drücklich. Ähnliche Effekte sind in der Ableh- wjetunion einen fest verankerten Maßstab für nung etwa des Euromaidans in Russland und die Zugehörigkeit zu einer kultivierten Sowjet- dem trotz kremlkritischer Proteste bislang mehr- gemeinschaft, den aber alle unabhängig von ih- heitlich auf Stabilität zielenden Wahlverhalten zu rer ethnischen Herkunft erfüllen konnten. Hier sehen – beide spiegeln die negative Erfahrung fällt Politik mit Alltag in einer sehr spezifischen mit den politischen Umbrüchen der Transfor- Art und Weise zusammen, für die wir bei aller mationszeit in Russland, die sich dann auch die Situativität und Ambivalenz um das Attribut des Berichterstattung der staatlichen Medien zunut- (Post-)Sowjetischen nicht herumkommen. ze macht.28 Vor diesem Hintergrund erscheint die sowje tische Vergangenheit umso attraktiver. Die Er- innerungen an eine im Krieg gewonnene, auf Völkerfreundschaft und Solidarität gebaute Ge- meinschaft und Stabilität überdecken die Erfah- rungen etwa von ethnischer Diskriminierung und abnehmender sozialer Mobilität in der spä- ten Sowjetunion. Obwohl widersprüchlich, zäh- len alle diese Elemente zu den Realitäten einer (post)sowjetischen Gesellschaft, deren Hete- rogenität die Sozial- und Kulturwissenschaften weiterhin beschäftigt. Immerhin schreibt sich das Amalgam aus sowjetischen und postsowje 26 Vgl. Ekaterina Makhotina, Der Krieg der Toten und der Krieg der Lebenden. Russlands Familien haben ein tieferes Wissen über „1945“, als dem Kreml lieb sein kann, 9. 5. 2019, www.nzz.ch/ld.1479685. MAIKE LEHMANN 27 Vgl. Beate Fieseler, Die Invaliden des „Großen Vaterländi- ist promovierte Historikerin und forscht zu schen Krieges“, in: Osteuropa 4–6/2005, S. 207–218. Osteuropa, insbesondere zur Sowjetunion. Ihr 28 Vgl. Russian Opposition Leader Aleksei Navalny Is Facing a Social-Media Backlash After Making a Controversial Comment aktueller Schwerpunkt liegt auf der Geschichte des About Uzbeks, 16. 6. 2017, www.rferl.org/a/navalny-uzbeks/ Austausches sowjetischer Intellektueller mit dem 28559046.html. Westen. 09
APuZ 16/2021 SOWJETU NION GLOBAL Exportmodell – Drehscheibe – Aggressor Julia Obertreis Bereits das Zustandekommen und die frühe Exis- wirkungen und trugen etwa in den USA 1919 zu tenz der So wjetunion lösten gewaltige globale einer rassistischen Gewaltentladung bei oder in Druckwellen aus. Als erster sozialistischer Staat Deutschland zu einem hohen Maß an Brutalität der Welt, Revolutionsträger sowie ideologischer beim Vorgehen von Freikorps gegen Anhänger* Wegweiser machte der junge Sowjetstaat in den innen der Münchner Räterepublik.01 Auch in Ar- 1920er und 1930er Jahren von sich reden, als Ex- gentinien bezogen sich Anfang 1919 gewalttätige portmodell für Planung, Entwicklung und Kul- Konflikte zwischen Streikenden und konterrevo- tur. Vor allem nach 1953, mit dem Sieg im Zwei- lutionären Freikorps auf die Bolschewiki, und die ten Weltkrieg im Rücken und nach Stalins Tod, meist aus Russland eingewanderten Jüdinnen und war die Sowjetunion nicht nur zunehmend global Juden wurden Opfer von Attacken, da man sie als vernetzt, sondern auch in vielen Teilen der Welt „Russen“ mit „Kommunisten“ gleichsetzte.02 In engagiert und muss als „Supermacht“ im Kalten Japan sorgte die Kunde von der Revolution über Krieg sowie als internationaler Player ersten Ran- die 1920er Jahre hinweg zu einer zunehmend ges gelten. Im Folgenden werden einige Schlag- rücksichtslosen Unterdrückung der gesamten lichter auf die globalhistorische Dimension der linken Opposition sowie zu einer Ausdifferen- Geschichte der Sowjetunion geworfen. Dabei ist zierung der politischen Strömungen und Zu- zu berücksichtigen, dass an der Schnittstelle der kunftsentwürfe im rechten Spektrum, von natio- beiden Teildisziplinen Osteuropäische Geschich- nal-liberal über monarchistisch bis faschistisch.03 te und Globalgeschichte erst seit etwa zehn Jah- Die negative Rezeption der Oktoberrevolu- ren intensiver geforscht wird. Bisher wurden zum tion wurde vielfach durch den antisemitischen Teil Forschungsperspektiven auf etablierte The- Topos der „jüdischen Verschwörung“ bezie- men wie den Kalten Krieg weiterentwickelt, zum hungsweise der „Judäo-Kommune“ angereichert. Teil aber auch neue inhaltliche Akzente gesetzt, Zurückgehend auf die Beteiligung von Revoluti- darunter die vielfältigen Verbindungen der Ge- onären aus jüdischen Familien in Russland, die al- schichte des östlichen Europas zum global wirk- lerdings in aller Regel kaum Verbindung zur Re- samen Prozess der Dekolonisation. ligion hatten und gesamtrussisch geprägt waren, zeichneten Revolutionsgegner eine hässliche Frat- DIE REVOLUTION VON 1917 – ze des hakennasigen Juden, der die Revolution an- FURCHT UND HOFFNUNG geleitet habe und nach der Weltherrschaft strebe. IN DER WELT In der entsprechenden Bildpropaganda wurden jüdische und kommunistische Symbole oft mitei- Die Oktoberrevolution von 1917 wurde inter- nander kombiniert. Die „Judäo-Kommune“ wur- national umgehend und entgegengesetzt inter- de in Polen zuvorderst durch den polnisch-so pretiert: als Schreckgespenst wie als Fanal für die wjetischen Krieg von 1920 eine feste Größe im Weltrevolution. Für die Konservativen und Rech- politisch-ideologischen Haushalt der Rechten und ten in vielen Ländern war sie ein Horrorszenario prägte das polnische Nationsverständnis über das und eine unmittelbare Bedrohung, ähnlich wie es 20. Jahrhundert hinweg.04 Und in Deutschland die Französische Revolution in ihrer Zeit gewe- transportierten die Publikationen des Deutschbal- sen war. Die Abwehrhaltungen und -kämpfe, die ten Alfred Rosenberg das Amalgam von Antibol- sich aus der großen Furcht vor der kommunis- schewismus und Antisemitismus in das Weltbild tischen Revolution, der „roten Gefahr“ oder red Adolf Hitlers und die nationalsozialistische Pro- scare, speisten, hatten früh sehr handfeste Aus- paganda – mit weitreichenden Folgen.05 10
Sowjetunion APuZ Auf der anderen Seite löste die Oktober- satz der „gelebte Internationalismus“, den die revolution riesige Hoffnungen auf Befreiung, Agent*innen in der Komintern erfuhren.08 Die mehr Selbstbestimmung und einen „Revoluti- politischen Erfolge der Organisation, die nach onenbrand“ aus, nicht nur in Europa. In vielen der anfänglichen Hoffnung auf die Weltrevoluti- Ländern sahen Linke sich in der Hoffnung auf on während der 1920er und 1930er Jahre immer Revolution im eigenen Land und auf die „Weltre- mehr zu einem Machtinstrument Moskaus im volution“ bestärkt. In Deutschland hielt sich diese Kontext des Stalinismus wurde, sind differenziert Hoffnung über die gescheiterte Novemberrevolu- zu beurteilen und insgesamt eher gering. In Japan tion von 1918 hinaus. Hier kam es noch 1923 zu etwa war die Kommunistische Partei zunächst dem erfolglosen Versuch, eine „deutsche Okto- unabhängiger von der Komintern als oft darge- berrevolution“ zu vollbringen. Eine Kommission stellt und erst seit 1928 wegen japanisch-chinesi- mit dem Journalisten und Politiker Karl Radek, scher Zusammenstöße und der wachsenden Ag- der vor dem Ersten Weltkrieg auch in Deutsch- gressivität des japanischen Imperialismus nach land aktiv gewesen war, wurde vom Moskauer außen auf Moskauer Linie.09 Zentralkomitee nach Deutschland entsandt, um Nicht nur die sozialistisch-kommunistische in der KPD auf die Revolution hinzuwirken, die Revolution, sondern auch die zentrale Planwirt- dann an der mangelnden Militanz der deutschen schaft erwies sich als attraktives Exportmodell: Arbeiter*innen12345 scheiterte.06 Nach der Phase der sowjetischen „Neuen Öko- Das Ziel der proletarischen Weltrevolution nomischen Politik“ in den 1920er Jahren, mit de- verfolgte auch die Kommunistische Internationa- nen die Bolschewiki in der Selbstwahrnehmung le (Komintern), die von Lenin als Dritte Interna- vieler, vor allem junger Parteimitglieder die re- tionale gegründet wurde und zwischen 1919 und volutionäre Linie verlassen mussten, führte Sta- 1943 bestand. Als „Reisende der Weltrevolution“ lin 1928/29 den Ersten Fünfjahresplan ein. Die waren Kommunist*innen verschiedenster Natio- Fünfjahrespläne (und ein Siebenjahresplan) eta- nalität und Herkunft unter großem persönlichen blierten sich fortan durchgängig als periodisie- Risiko im Einsatz, um weltweite Fäden zu spin- rende Planungspraxis, und Planung wurde in der nen.07 Neben der politischen Überzeugung war, Sowjetunion ein „rationality ritual“,10 das der so Brigitte Studer, die Motivation für den Ein- Herrschaftslegitimierung diente. Auch interna- tional wurden sowjetische ökonomische Model- 01 Zu den USA vgl. Helke Rausch, Red Scare. Bodenwellen der le und das zentralistische Planen in den 1920er russischen Oktoberrevolution in den USA 1918/19, in: Jahrbuch für und 1930er Jahren einflussreich. Der Vorsitzen- Historische Kommunismusforschung 2017, S. 131–148. Zur Münch- de des Indischen Nationalkongresses und spätere ner Räterepublik vgl. Jörg Ganzenmüller, Zwischen weltrevolutio- erste Ministerpräsident Indiens Jawaharlal Nehru nären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen. schrieb 1933: „Everybody talks of ‚planning‘ Europäische und globale Resonanzen auf die Oktoberrevolution, in: ders. (Hrsg.), Verheißung und Bedrohung. Die Oktoberrevoluti- now, and of Five-Year and Ten-Year and Three- on als globales Ereignis, Köln 2019, S. 9–24, hier S. 16. Year plans. The Soviets have put magic into the 02 Vgl. María Inés Tato, Global Moments, Local Impacts. Ar- word.“11 Auch in den USA hatten unter sowje gentina at the Critical Juncture of 1917, in: Stefan Rinke/Michael tischem Einfluss und angesichts der Großen De- Wildt (Hrsg.), Revolutions and Counter-Revolutions. 1917 and Its pression Planungen mit starkem Staat Hochkon- Aftermath from a Global Perspective, Frankfurt/M.–New York 2017, S. 219–234. junktur. Die raschen ökonomischen Fortschritte 03 Vgl. Tatiana Linkhoeva, Revolution Goes East. Imperial Russlands wurden anerkannt, und der Planungs- Japan and Soviet Communism, Ithaca 2020, S. 100–123. kult ließ Technokraten mit Neid Richtung So 04 Vgl. Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“ – ein Feind- wjetunion blicken. In den 1930er Jahren „wur- bild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948, Paderborn 2007. 05 Vgl. Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, 08 Ebd., S. 537. München 2005, S. 55–75. Siehe auch Karsten Brüggemann, 09 Vgl. Linkhoeva (Anm. 3), S. 160, S. 184. Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolsche- 10 Vgl. Michael Ellman, The Rise and Fall of Socialist Planning, wismus? Max Erwin von Scheubner-Richter und die Idee der in: Saul Estrin/Grzegorz W. Kolodko/Milica Uvalic (Hrsg.), Tran- „Weißen Internationale“, in: Ganzenmüller (Anm. 1), S. 101–126. sition and Beyond. Essays in Honor of Mario Nuti, London 2007, 06 Vgl. Otto Wenzel/Manfred Wilke, 1923. Die gescheiterte S. 17–34, hier S. 23. Deutsche Oktoberrevolution, Münster 2003. 11 Zit. nach Valeska Huber, Introduction. Global Histories of 07 Vgl. Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Glo- Social Planning, in: Journal of Contemporary History 1/2017, balgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 2020. S. 3–15, hier S. 3. 11
APuZ 16/2021 den die Vereinigten Staaten mit einem Tumult der im Kosmos, das historiografisch bereits recht gut wirtschaftlichen Planvorschläge konfrontiert“.12 untersucht ist. Die großen sowjetischen Erfolge Staatliche Planung hatte in unterschiedlichsten waren der Launch des ersten Sputnik 1957 und politischen Systemen den Auftrag, ökonomische mit Juri Gagarin der erste bemannte Weltraum- Entwicklung zu kanalisieren und weiteren Krisen flug im April 1961. Sie stellten eine riesige He- vorzubeugen. rausforderung für die USA dar, und nachdem oft wohl etwas einseitig vom „Sputnik-Schock“ DER KALTE KRIEG – gesprochen worden ist, scheint es heute ange- SPACE RACE UND raten, eher die Mobilisierung zu betonen, die in KONFETTIPARADEN den USA als Reaktion auf die sowjetischen Er- folge einsetzte. Diese technologische Mobilma- Nach dem unter unvorstellbaren Verlusten er- chung führte zur Mondlandung der Amerika- kämpften Sieg im Zweiten Weltkrieg avancierte ner 1969. In den frühen 1960er Jahren aber war die Sowjetunion zur Supermacht und zur großen die Sowjetunion klar im Vorteil, und ihre tech- Gegenspielerin der USA. Der Ost-West-Gegen- nologischen, symbolträchtigen Großtaten führ- satz ist lange und mit viel Berechtigung vor allem ten in einen rasch entstehenden und umfassen- als Geschichte von ideologisch-politischer und den Kosmoskult nicht nur in der Sowjetunion, militärischer Gegner- und Feindschaft zwischen sondern im gesamten Ostblock und darüber hi- den USA und der Sowjetunion erzählt worden. naus.15 Juri Gagarin und die erste Kosmonautin Im Unterschied dazu haben neuere Forschungen Walentina Tereschkowa wurden als Held*innen die vielfältigen Kontakte zwischen Ost und West, mit Vorzeigebiografien inszeniert in einer Zeit, in die gegenseitige Beobachtung und das Aufeinan- der die sowjetischen Revolutions- und Kriegshel- der-Reagieren in den Vordergrund gestellt. Der den bereits etwas in die Jahre gekommen waren. Kalte Krieg brachte nicht nur das Wettrüsten und Besonders Gagarin fungierte in der sowjetischen die durchaus heißen „Stellvertreterkriege“ mit Propaganda als Verbindung zwischen verschiede- sich, sondern auch Begegnungen, Kooperationen nen Bevölkerungsgruppen (darunter die Jugend und gegenseitige Beeinflussung verschiedens- und das Militär) und wirksame Identifikations- ter Akteursgruppen, darunter Ingenieur*innen, folie. Die Beherrschung der Technologie durch Künstler*innen oder Wissenschaftler*innen.13 den sowjetischen Menschen und der Eintritt in Von einer „geteilten Geschichte“ zu sprechen, die himmlischen Sphären ergaben zusammen ein ist sehr passend, denn die Doppelbedeutung des attraktives Modell, das Elemente der vor- und Begriffes im Deutschen verweist auf die wichti- frühsowjetischen Fliegerkulte integrierte.16 ge Trennlinie des Eisernen Vorhangs, aber auch Die sowjetischen Kosmonauten- und die US- auf die gemeinsam erlebte und durchlebte Zeit amerikanischen Astronautenkulte waren unmit- geschichte.14 telbar aufeinander bezogen. So ahmte etwa die Besonders deutlich wird die Verflochtenheit sowjetische Seite mit der Zusammenstellung ei- der Geschichten von Ost und West am Beispiel ner Gruppe von Kosmonauten, die medial prä- des space race, des Wettlaufs um die Vorherrschaft sentiert wurde, die Inszenierung der amerikani- schen space boys nach. Hier wie dort entschied 12 Vgl. Steven G. Marks, „Im russischen Spiegelreich“: Wie man sich bei der Auswahl für Piloten, auch wenn amerikanische Vorstellungen des Kapitalismus vom sowjetischen Kommunismus geprägt wurden, in: Martin Aust (Hrsg.), Globa- 15 Vgl. James T. Andrews/Asif A. Siddiqi (Hrsg.), Into the lisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjet Cosmos. Space Exploration and Soviet Culture, Pittsburgh 2011; union in der Globalgeschichte 1851–1991, Frankfurt/M. 2013, Eva Maurer (Hrsg.), Soviet Space Culture. Cosmic Enthusiasm in S. 333–352, hier S. 338. Socialist Societies, New York 2011. 13 Neben zahlreichen weiteren Titeln Sari Autio-Sarasmo/ 16 Vgl. Julia Richers, Himmelssturm, Raumfahrt und „kosmische“ Katalin Miklóssy (Hrsg.), Winter Kept Us Warm. Cold War Symbolik in der visuellen Kultur der Sowjetunion, in: Igor J. Po- Interactions Reconsidered, Helsinki 2010; Simo Mikkonen/Jari lianski (Hrsg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expedi- Parkkinen/Giles Scott-Smith (Hrsg.), Entangled East and West. tionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt/M. 2009, S. 181–209; Cultural Diplomacy and Artistic Interaction During the Cold Matthias Schwartz, Bote des Weltalls, Ikone des Fortschritts. War, Berlin–Boston 2019. Heroische und postheroische Figurationen des ersten Kosmonau- 14 Vgl. Shalini Randeira, Geteilte Geschichte und verwobene ten Jurij Gagarin, in: Zaal Andronikashvili (Hrsg.), Kulturhe- Moderne, in: Jörn Rüsen (Hrsg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für ros. Genealogien – Konstellationen – Praktiken, Berlin 2017, eine Kultur der Veränderung, Frankfurt/M. 2000, S. 87–96. S. 334–365. 12
Sowjetunion APuZ die so wje tischen unerfahrener und jünger wa- chelte unaufhörlich. Erste historiografische Pro- ren.17 Nach ihrer Rückkehr aus dem All wurden bebohrungen in diese Reisen lassen vermuten, sowohl für Gagarin als auch für John Glenn, der dass der Umgang mit neuen Medien und Medien- als erster US-Amerikaner einen Weltraumflug ab- formaten (darunter das Fernsehen, private Foto- solvierte, große Rückkehrfeiern in Moskau bezie- grafie) eine große Rolle in der Berichterstattung hungsweise New York veranstaltet. Für beide gab und für ihre Wirkungsmacht spielte.20 Zu un- es eine Konfettiparade. tersuchen wäre bezüglich der Reisen auch, wel- Die in New York entstandene Feierform war che politischen Auswirkungen sie in den besuch- bereits in den 1930er Jahren in die Sowjetunion ten Ländern hatten, etwa auf den Zulauf zu den importiert worden, als die Rückkehrer der be- Kommunistischen Parteien. rühmten Tscheljuskin-Expedition in die Bering- straße damit geehrt wurden. 1961 in Moskau ver- OST-SÜD-VERBINDUNGEN – wendete man nicht nur, wie bereits in den 1930er ANTIIMPERIALISMUS Jahren, anstelle des in New York üblichen zerris- UND AFGHANISTAN senen Zeitungspapiers Flugblätter mit Willkom- mensgrüßen, man ließ auch Tauben aufsteigen, Neben der erweiterten Perspektive auf die Ost- sodass sich der Feierraum in den Himmel hinein West-Beziehungen spürt man neuerdings ver- erweiterte. Das Geschehen wurde live im Fernse- mehrt den vielfältigen, oft asymmetrischen Be- hen übertragen, womit eine erfolgreiche Praxis des ziehungen zwischen dem östlichen Europa und US-Fernsehens nachgeahmt wurde. Die so wje dem Globalen Süden nach. Zu Recht ist der Ap- tischen Medienmacher*innen toppten dabei aber pell laut geworden, die Geschichte des Ostblocks die üblichen amerikanischen Kamerabilder aus und der sich dekolonisierenden Staaten nicht, wie Hochhäusern durch Aufnahmen aus Hubschrau- bisher meist, als eine von parallelen Strängen zu bern. Zudem war das Besondere des Medienereig- erzählen, sondern als eine mit verschlungenen nisses die transnationale und systemübergreifen- Knotenpunkten.21 de Vernetzung, die den US-Amerikaner*innen in Nach Stalins Tod kam es zu einer Öffnung dieser Zeit noch nicht gelang, da Eurovision und und einer deutlich aktiveren sowjetischen Aus- Intervision erstmals bei einer Liveübertragung landstätigkeit in vielen Bereichen und in vie- kooperierten. Es ging also bei den „wechselseitig le Richtungen einschließlich der „Länder Asiens konkurrierenden Imitationen“, die an diesem Bei- und Afrikas“, wie sie in sowjetischer Rhetorik oft spiel sehr deutlich werden, nicht nur um die Vor- hießen. Chru sch tschow gab die eurozentrische herrschaft im Kosmos, sondern auch um die „Vor- Haltung Stalins auf und betrieb eine rege Reise- herrschaft im Kommunikationsbereich durch diplomatie. Angesichts der Dekolonisation und Funk, Satelliten und Kupferdraht“.18 des antiimperialen Kampfes etwa in Südostasien Gagarin wurde von Moskau als Friedensbot- waren die sowjetischen Kommunisten sehr zu- schafter entsandt und entfaltete eine enorme Rei- versichtlich, dass es zu einem weltweiten revolu- setätigkeit. Er besuchte über 30 Länder, darun- tionären Prozess kommen und dass die aus der ter auch eine Reihe von nicht-sozialistischen wie Kolonialherrschaft befreiten Länder sich auf so- Großbritannien (hier kam es zu einem Treffen mit zialistische Entwicklungswege begeben würden. der Queen), Japan und Indien.19 Er verkörperte Im gesamten Ostblock glaubte man an die Mög- eine friedliche, sympathische und weltoffene Sei- lichkeit, in diesem großen Umwälzungsprozess te der Sowjetunion und gab den Hoffnungen der Menschen auf eine technologisch gestaltbare, bes- 20 Unveröffentlichte Vorträge von Fabian Schäfer und Julia sere Zukunft ein Gesicht – und dieses Gesicht lä- Obertreis im Rahmen der Ringvorlesung „Mondlandungen. Imaginations- und Rezeptionswelten“, organisiert von Sven 17 Vgl. Klaus Gestwa, „Kolumbus des Kosmos“. Der Kult um Grampp, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Jurij Gagarin, in: Osteuropa 10/2009, S. 121–151, hier S. 130 f. Sommersemester 2019, www.fau.de/2019/04/news/veran- 18 Sven Grampp, Konfettiparaden in offener Limousine. staltungen/ringvorlesung-m ondlandungen-imaginations-u nd- Gagarin und Glenn kehren zurück aus dem Erdorbit. Zur Struk- rezeptionswelten-2 . turierungsleistung wechselseitig konkurrierender Imitationen, 21 Vgl. James Mark/Quinn Slobodian, Eastern Europe in the in: Sandra Rühr/Eva Wattolik (Hrsg.), Medien im Fest – Feste im Global History of Decolonization, in: Martin Thomas/Andrew Medium, Köln 2017, S. 19–47, hier S. 35. Thompson (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Ends of Empire, 19 Vgl. Andrea Rose (Hrsg.), Gagarin in Britain, London 2011. Oxford 2018, S. 351–372, hier S. 352. 13
APuZ 16/2021 die Führung übernehmen zu können.22 Nüchter- von Technologien und Know-how, die Entsen- ner betrachtet war die Dekolonisationswelle mit dung von Spezialisten, der Aufbau von Schulen ihrem Schlüsseljahr 1960 eine große Herausfor- und Krankenhäusern sowie finanzielle Unter- derung für die Sowjetunion und den Ostblock, da stützung sind zu nennen. Zu den Projekten in nun deutlich wurde, dass es Modelle postimpe- Afrika, bei denen die Sowjetunion involviert war, rialer beziehungsweise postkolonialer Ordnung gehörten die Rekonstruktion des Assuan-Stau- gab, die nicht (explizit) sozialistisch waren. damms in Ägypten, ein Wasserkraftwerk in An- Die Sowjetunion war mit dem Globalen Sü- gola, die Unterstützung für die staatlich dirigierte den vielfältig über Handelsbeziehungen und Landwirtschaft in Ghana oder eine Zementfabrik Entwicklungshilfe verbunden. Oscar Sanchez- in Mali. Der Bau von Kraftwerken und besonders Sibony betont, dass die So wjetunion als neu- Wasserkraftwerken war ein Bereich der Zusam- er Akteur auf diesem Feld vielfach auf bereits menarbeit, der sich dynamisch entwickelte und existierende, durch die ehemaligen europäischen in dem die Sowjetunion sich international profi- Kolonialmächte und westliche Staaten gepräg- lierte. Die aus Sicht der sowjetischen Wirtschaft te Wirtschafts- und Abhängigkeitsstrukturen massiven Investitionen im Globalen Süden recht- traf, die ihren Einfluss beschnitten. Die holz- fertigten sich weniger ökonomisch als vielmehr schnittartigen und teils vorurteilsbeladenen An- durch die Aussicht auf anhaltenden oder steigen- nahmen früherer Literatur über die Haltung der den politischen Einfluss; der oben angesproche- Staaten beziehungsweise Eliten im Globalen Sü- ne Optimismus diesbezüglich schwand allerdings den, etwa hinsichtlich eines bloßen Kopieren- auf sowjetischer Seite im Laufe der Zeit.27 Wollens westlicher oder so wje tischer Modelle, Während der Begriff „Dekolonisation“ im sind durch neuere Forschung mit postkolonialem Ostblock gemeinhin als westlicher Begriff aufge- Hintergrund infrage gestellt worden; das Bild, fasst und diskreditiert wurde und man hier eher das wir erhalten, wird zusehends komplexer.23 vom gemeinsamen antiimperialistischen Kampf Angesichts der relativen Schwäche der sozialisti- mit den Ländern des Globalen Südens sprach,28 schen Wirtschaften im Vergleich zu den kapitalis- nahm die Sowjetunion an den intensiven inter- tischen nahm im Ostblock allgemein der Export nationalen Debatten um Dekolonisation bezie- von Waffen, Militär- und Geheimdiensttraining hungsweise die damit einhergehenden Heraus- sowie Energieprodukten eine wichtige Stellung forderungen der Transformation von Wirtschaft, ein.24 Dabei wirkten sich die Beziehungen der eu- Politik und Gesellschaft in den betroffenen Län- ropäischen sozialistischen Staaten zum Globalen dern teil. Die Sowjetrepubliken Zentralasiens und Süden vielfältig auf die Machtverhältnisse inner- des Kaukasus hatten ihre eigene koloniale Vergan- halb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe genheit, die zwar nominell mit der sowjetischen (RGW) aus.25 Herrschaft überwunden worden war, die aber Die Sowjetunion lockte mit günstigen Öllie- strukturell teils noch mit den gleichen Problemen ferangeboten und betrieb mit zahlreichen Staaten zu kämpfen hatten wie die ehemaligen Koloni- den direkten Austausch von Rohstoffen, etwa mit en westlicher Mächte. Gleichzeitig wurden genau Kuba gegen Zucker.26 Die sowjetischen Exporte diese Regionen, vor allem Zentralasien, im sowje aber auf Öl und Gas sowie Waffen reduzieren zu tischen Kontext seit Jahrzehnten als Vorzeigeregi- wollen, wäre zu kurz gegriffen. Auch der Transfer onen gesehen und als solche nach außen präsen- tiert. Sie hätten, so die offizielle Sichtweise und 22 Ebd., S. 355 f. Rhetorik, das koloniale Erbe überwunden, den 23 Vgl. Oscar Sanchez-Sibony, Red Globalization. The Political Sprung in die Moderne vollzogen und zeigten die Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, Transformationskraft des Sozialismus deutlich. Cambridge 2014, S. 127–131. 24 Vgl. Mark/Slobodian (Anm. 21), S. 358. 25 Vgl. Anna Calori et al., Alternative Globalization? Spaces 27 Neben einer wachsenden Zahl von Einzelstudien siehe als of Economic Interaction Between the „Socialist Camp“ and the grundlegenden Beitrag Odd Arne Westad, The Global Cold „Global South“, in: dies. et al. (Hrsg.), Between East and South. War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Spaces of Interaction in the Globalizing Economy of the Cold Cambridge u. a. 2010; als Beitrag von Kolleg*innen aus Russland War, München–Wien 2019, S. 1–31, hier S. 5. Elena Kochetkova et al., Soviet Technological Projects and Tech- 26 Vgl. Douglas Rogers, Petrobarter, Oil, Inequality, and the nological Aid in Africa and Cuba, 1960s–1980s, St. Petersburg Political Imagination in and after the Cold War, in: Current 2017, hier insb. S. 7 ff., S. 16. Anthropology 2/2014, S. 131–143. 28 Vgl. Mark/Slobodian (Anm. 21), S. 352. 14
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