AUTOBIOGRAFISCHES UND GESCHICHTLICHES IN DER SPÄTEN PROSA VON GÜNTER GRASS
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ISSN 0258–0802. LITERATÛRA 2007 49(5) AUTOBIOGRAFISCHES UND GESCHICHTLICHES IN DER SPÄTEN PROSA VON GÜNTER GRASS Jadvyga Bajarûnienë, Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Literatur der Universität Vilnius Das eigene Leben und die deutsche Geschichte allem in dem an intertextuellen Bezügen reichen sind die zwei wichtigsten Quellen, aus denen fast Roman “Ein weites Feld” (1995) zu erkennen alle Werke von Günter Grass schöpfen. Zwar ist. Inzwischen erschien das bis dahin letzte Werk ist die Verflechtung der persönlichen Erlebnisse des Schriftstelllers, nämlich die Autobiografie mit den historischen Zeitläuften eine prägende “Beim Häuten der Zwiebel” (2006). Dieses Buch Eigenschaft der Literatur der Bundesrepublik ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. überhaupt – man kann auf viele bedeutende Es wurde im literarischen und öffentlichen Schriftsteller wie Heinrich Böll, Wolfgang Diskurs zu einer Sensation und löste weltweit Koeppen, Siegfried Lenz, Martin Walser, Uwe die heftigsten Debatten aus. Das betraf das Johnson, Christa Wolf (das ist ungefähr die Geständnis des Autors, er habe während des Generation von Günter Grass) hinweisen, aber Krieges als 17jähriger in einer SS-Panzerdivision wie wohl keinem anderen Schriftsteller gelang gedient. Diese Diskussion ist nach wie vor es Günter Grass, auf eine derart intensive und aktuell, jedoch ist es ebenso sinnvoll, die Selbst- repräsentative Weise fast alle historisch relevan- darstellung von Grass jetzt auch nach ihren “lite- ten Phasen der deutschen Geschichte des 20. rarischen Qualitäten zu befragen” (Klaus Jahrhunderts aus seiner eigenen Erfahrung Hammer). Als eine Autobiografie bietet das Buch heraus episch zu verdichten und sie in symbo- von Grass in gattungsmäßiger Hinsicht viele lische oder allegorische Strukturen zu ver- Bezugspunkte und kann auch als eine Summe wandeln. des bisherigen Lebenswerks von Günter Grass In der späten Prosa von Günter Grass – dem gelten. dokumentarischen Buch “Mein Jahrhundert” In dem vorliegenden Beitrag wird versucht, (1999), der Novelle (gattungsmäßig ist es eher das autobiografische Buch “Beim Häuten der ein Roman) “Im Krebsgang” (2002) – verflech- Zwiebel“ von Günter Grass in einen gattungs- ten sich auf eigenartige Weise das autobiografisch theoretischen Zusammenhang einzuordnen, es Erlebte und das historische Material. Zugleich auf das Gesamtwerk sowie die Ästhetik des könnten diese Werke von der Überwindung der Autors zu beziehen und das Werk auch nach postmodernen Erzählweise zeugen, welche vor seiner ethischen Dimension zu befragen. 172
*** Von der Aktualität der Autobiografie und dem Die Autobiografie als Gattung (auch der ihr anhaltenden Interesse der Literaturforscher für nahestehende autobiografische Roman) erfreut diese Gattung zeugen auch die neuesten wissen- sich in der deutschsprachigen Literatur einer schaftlichen Darstellungen und Untersuchungen großen Verbreitung und Popularität. In bestimm- in diesem Bereich.5 ten Phasen der deutschen Literaturgeschichte Eine Autobiografie ist Selbstdarstellung des wurde das autobiografische Genre zur domi- Subjekts. Als ihr wesentliches Strukturmerkmal nierenden Form. Für verschiedene Schriftste- gilt die Identität von Erzähler und Hauptfigur, llergenerationen wurde die Autobiografie zu einem von erzählendem und erzähltem Ich.6 Ein wichtigen “Medium gesellschaftlicher Selbstver- gegenwärtiges Ich erzählt von einem vergan- gewisserung”1. Vielen Autoren unmittelbar nach genen Ich im Zuge einer weitgehend chrono- 1945 dienten Autobiografien vielfach als “Rech- logisch geschilderten Entwicklung.7 “Unproble- fertigungsschriften”, während in den zahlreichen matisch” (zwanglos gesehen, könnte jeder autobiografischen Büchern der 70er Jahre schreibkundige Mensch sein Leben auf diese “Auseinandersetzungen mit der in den Faschis- oder ähnliche Weise beschreiben) jedoch mag mus verstrickten Elterngeneration” stattfanden.2 diese Gattung nur auf den ersten Blick erschei- Der “autobiografische Erzählmodus” (Klaus- nen. Philippe Lejeune, der seine grundlegende Detlef Müller) konnte sich bereichernd auf die Untersuchung über die Autobiografie übrigens fiktionale Literatur auswirken. Ende der 70er mit der prinzipiellen Frage: “Ist es möglich, Jahre ließen einige Literaturforscher, wie zum Autobiographie zu definieren?” beginnt, Beispiel Bernd Neumann, sogar die These von formuliert seine Definition so: “Rückblickender der “Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über der Autobiografie” verlauten.3 ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptge- Auch ist das Genre der Autobiografie ein wicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf anziehender bzw. provozierender Gegenstand die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.”8 Die der Literaturforschung. In der Einleitung des Identität von Erzähler und Hauptfigur komme fundamentalen Sammelbandes “Die Autobio- am häufigsten durch die Verwendung der ersten graphie. Zu Form und Geschichte einer litera- Person zum Ausdruck. Problematischer wird rischen Gattung” stellt Günter Niggl fest: “Seit dieses Verhältnis, wenn (darauf verweist Gérard etwa zwei Jahrzehnten ist das wissenschaftliche Genette) in der ersten Person erzählt wird, ohne Interesse an der Gattung Autobiographie in den dass Erzähler und Hauptfigur identisch sein neueren Philologien mehrerer Länder müssen.9 sprunghaft angestiegen und hält bis heute an.” 4 5 Vgl.: Autobiographie, bearbeitet von Martina 1 Michaela Holdenried, Autobiographie / Horst Wagner-Egelhaaf,. Stuttgart-Weimar: J. B. Metzler, 2000. 6 Ebenda, S. 8. Brunner, Rainer Moritz (Hrsg.), Literaturwissenschaft- 7 Siehe: Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er liches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik, Berlin: Jahre: Autoren, Tendenzen, Gattungen, hrsg. von Walter Erich Schmidt Verlag, 1997, S. 32. 2 Ebenda. Delabar und Erhard Schütz, Darmstadt: Wissenschaftliche 3 Siehe: Dieter Hoffmann, Deutschsprachige Prosa Buchgesellschaft, 1997, S. 86–90. 8 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt / seit 1945. Ein Arbeitsbuch, Band 2, Tübingen und Basel: A. Franke Verlag, 2006, S. 79. Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer 4 Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl, Darmstadt: literarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989, S. 214–215. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989, S. 1. 9 Ebenda, S. 217. 173
Als andere problematische Momente der nissen, Erfahrungen, Erkenntnissen, Bestrebun- Autobiografie als Gattung können ihr Wert “als gen, Taten, Fügungen und Wirrungen, Erfolgen geschichtliche Quelle” (Werner Marholz)10, “als und Niederlagen”.14 Kunstform” (Roy Pascal)11 bzw. “als Sprach- kunstwerk” (Ingrid Aichinger)12, das Verhältnis *** von “Wahrheit” und Fiktion genannt werden. Obwohl Grass seine Autobiografie erst in Ingrid Aichinger macht eine interessante Beo- relativ reifem Alter verfasst hat15, war seine bachtung, nämlich dass die Abgeschlossenheit fiktive epische Welt bereits von Anfang an stark einer Autobiografie (im Gegensatz zum Roman) autobiografisch geprägt. Vor allem ist das von prinzipiell nicht möglich ist: “Der Lebensrhyth- der “Danziger Trilogie” (“Die Blechtrommel”, mus schwingt – durch das Offenstehen zum 1959; “Katz und Maus”, 1961; “Hundejahre”, Autor – gleichsam weiter, das Rätsel der eigenen 1963) zu sagen. Der Grass-Forscher Heinrich Existenz ist im Grunde nie völlig gelöst. Das Ich Vormweg bemerkt, dass der Stoff und das scheint sich immer wieder zu entziehen . Material der Werke der Trilogie bis in die Details Leben ist vor allem Bewegung, und in der weitgehend autobiografisch sind.16 Viele Figuren Selbstdarstellung wird das Gleichbleibende, die haben ihre realen Prototype, nicht wenige Identität des Ich, in allen Wandlungen und Ve- Situationen sind authentisch erlebt. Genauer ränderungen wohl gesucht, aber nie vollkom- gesehen, ist “Die Blechtrommel” eigentlich eine men erreicht.”13 eingerahmte Selbstbiographie der Hauptfigur Bei einer autobiografischen Darstellung ist – Oskar Matzerath, an der er als Insasse einer Heil- wie die klassischen, ja kanonischen Texte dieser und Pflegeanstalt schreibt. Der Schreiber Gattung, nämlich “Confessiones” von Augusti- verwendet das klassische Modell dieser Gattung, nus (397), “Les confessions” von Jean-Jacques indem er von seinen Vorfahren erzählt und auch Rousseau (1782–1789) und “Aus meinem Leben. so den Eindruck der “Wahrheit” erreichen will: Dichtung und Wahrheit” von Johann Wolfgang 14 R. M. G. Nickisch, Der Brief und andere Textsorten Goethe (1811–1814) beweisen -, die Bedingung im Grenzbereich der Literatur / Grundzüge der Literatur- der “Bekenntnis” und “Wahrheit” vordergründig. wissenschaft, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Der Autor eines autobiografischen Textes Heinrich Detering, München: Deutscher Taschenbuch schildert sein Leben als “die Summe von Erleb- Verlag, 1997, S. 363. 15 Das ist wiederum ein charakteristisches gattungsmä- ßiges Moment der Autobiografie. R. M. G. Nickisch 10 Werner Mahrholz, Der Wert der Selbstbiographie bemerkt dazu: “Da der Autor diese Darstellung in aller als geschichtliche Quelle / Die Autobiographie. Zu Form Regel erst im reiferen Alter formuliert, verbindet er mit und Geschichte einer literarischen Gattung, hrsg. von dem Bericht über sein Leben zumeist den Versuch, die Günter Niggl, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell- dessen Gang prägenden Faktoren und Einflüsse herauszuar- schaft, 1989, S. 72 ff. beiten . Ebenda, S. 362. Ein Gegenteil davon wäre 11 Roy Pascal, Die Autobiographie als Kunstform / der Fall, wenn der Autor die Autobiografie als sein Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer lite- Erstlingswerk veröffentlicht und der Leserschaft die rarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl, Darmstadt: Vergleichsbasis mit der früheren Produktion, d.h. mit den Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989, S. 148 ff. nichtautobiografischen Texten fehlt. Vgl. dazu auch: Au- 12 Ingrid Aichinger, Probleme der Autobiographie tobiographie, bearbeitet von Martina Wagner-Egelhaaf,. als Sprachkunstwerk / Die Autobiographie. Zu Form und Stuttgart-Weimar: J. B. Metzler, 2000. 16 Heinrich Vormweg, Günter Grass mit Selbstzeug- Geschichte einer literarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, nissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: 1989, S. 170 ff. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1996, dritte ergänzte und 13 Ebenda, S. 191. aktualisierte Aufgabe, S. 17. 174
“Ich beginne weit vor mir; denn niemand sollte zusammenhängt, sieht man daran, daß einzelne sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld Phasen seines Lebens mit historiografischen aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz Begriffen beschrieben werden können. So be- wenigstens der Hälfte seiner Großeltern zu deutete der Beginn des Krieges das Ende der bedenken.”17 Kindheit, so fiel die Jugend mit dem Militärdienst Direkt rückt die Person des Autors Grass und der harten Nachkriegszeit zusammen. Die dann im “Tagebuch einer Schnecke” (1972) in Autobiografie beginnt mit der Darstellung der den Vordergrund. “Grass, der Künstler und der Kindheit und Jugend in Danzig/Gdansk, führt Wahlkampfreden haltende Zeit- und Kulturkri- über die Kriegs- und Nachkriegszeit und schließt tiker, tritt dazu erstmals innerhalb seiner Fiktion mit der entscheidenden Zäsur im Leben des als Erzählerfigur auf, die dadurch zum Teil der Schriftstellers, der anfangs bildender Künstler Textinszenierung wird.” 18 In dem als eine werden wollte – nämlich mit dem Erscheinen Chronik angelegten Buch “Mein Jahrhundert” des Romans “Die Blechtrommel” im Jahre 1959, (1999) werden die historisch oder lebens- der ihm Weltruhm verschaffte. Das für eine geschichtlich relevanten Episoden aus verschie- Autobiografie übliche chronologische Verfahren denen Perspektiven, darunter auch aus der Pers- und die teleologische Struktur werden mit pektive des Autors in der Ich-Form, dargelegt, modernen Erzähltechniken verschmolzen – es wobei die Daten der individuellen Biografie stets sind Betrachtungen, Reflexionen, Einsichten, durch das historische Prisma gesehen werden. Rückbesinnung, Assoziationen, Verschränkung So zum Beispiel verbindet der Autor das Jahr von Zeitebenen, Ketten von rhetorischen Fragen 1927, das heißt das Jahr seiner Geburt, mit und schließlich das Reflektieren über das Schrei- historischen und kulturellen Realien dieser Zeit: ben von Erinnerungen. Das Buch von Grass liest “Bis in die Mitte des goldenen Oktober trug meine sich auch wie ein Nachtrag zu seinem Werk – Mama mich aus, aber genau betrachtet war nur sehr oft wird auf die eigentliche Herkunft der mein Geburtsjahr golden, während die übrigen Motive oder Figuren der Werke des Autors hinge- zwanziger Jahre davor und danach allenfalls wiesen, so zum Beispiel hat Günter Grass das glitzerten oder den Alltag bunt zu überschreien Liliputanertheater während eines Luftangriffs in versuchten. Was aber hat meinem Jahr zu Glanz einem Bunker tatsächlich erlebt – diese Szene verholfen? Etwa die Reichsmark, weil sie sich wurde später in der “Blechtrommel” verwendet. stabilisiert hatte? Oder ”Sein und Zeit“, ein Buch, Diese Verweise auf die eigenen Texte verleihen das mit erhabenem Wortprunk auf den Markt der Autobiografie wiederum eine interessante kam, worauf jeder Feuilletonbengel unterm zusätzliche Perspektive auf das künstlerische Strich zu heideggern begann?”19 Werk des Autors, vermitteln einen Einblick in Wie eng das individuelle Schicksal des Ver- die literarische Werkstatt des Schriftstellers und fassers der Autobiografie “Beim Häuten der beleuchten das Verhältnis von “Nachahmung” Zwiebel” mit den historischen Begebenheiten der Wirklichkeit und ihrer künstlerischen Trans- formation in immer wieder neuen Variationen. 17 Günter Grass, Die Blechtrommel, Hamburg-Zürich: Jedes autobiografische Literaturwerk ist Luchterhand Literaturverlag, 1988, S. 9. 18 Dieter Stolz, Günter Grass zur Einführung, Ham- mehr als eine bloße Sachverhaltsdarstellung. Was burg: Junius, 1999, S. 151–152. die Autobiografie wiedergibt, ist das Selbstbe- 19 Günter Grass, Mein Jahrhundert, Göttingen: Steidl wußtsein des Einzelnen und dessen Entwicklung. Verlag, 1999, S. 98. Sie dient der rückblickenden Rekonstruktion des 175
Werdegangs des erzählenden Ichs. Das zentrale ersten Person: “Noch während der letzten Jahre Problem einer Autobiografie, nämlich die (bereits der Freistaatzeit – ich zählte zehn – wurde der erwähnte) Identität von erzählendem und Junge meines Namens durchaus freiwillig erzähltem Ich, wird von Günter Grass direkt Mitglied des Jungvolks, einer Aufbauorganisa- angesprochen: “Ich bin bereits angejahrt, er tionder Hitlerjugend. Ich war ja als Hitler- unverschämt jung… Er liest sich Zukunft an, junge ein Jungnazi. Gläubig bis zum Schluß.“ mich holt Vergangenheit ein; meine Kümmernisse (S. 27, 43). sind nicht seine…”20 Bei Günter Grass beobach- Ob für solche Konstruktion des Erzählers ten wir ein eigentümliches Verfahren, und zwar allein das ideologische Motiv ausschlaggebend geht er von Anfang an auf Distanz zu sich selbst. ist? Die Spaltung der einen und derselben Figuren Das heißt, der Ich-Erzäher, der jetzt 79jährige in die erste und dritte Person, die Inszenierung Autor, stellt den Jungen von damals sich selbst des Wechselspiels von Autor-Ich und Erzähler- in der dritten Person gegenüber. Er ist “der Ich ist ein charakteristische Verfahren von Günter Junge, der unter meinem Namen anzurufen ist”, Grass bezeichnend – bereits in seinen frühen “der Junge meines Namens”, oder “der Entwurf Werken wie “Die Blechtrommel” fällt die meiner selbst”, “mein uniformiertes Selbst”, “der Hauptfigur ja aus der Ich-Perspektive hinaus und Rekrut meines Namens”. Diese suggerierte nimmt sich in der dritten Person wahr.22 Nicht-Identität von erzählendem und erzähltem Es wäre wohl nicht ganz falsch zu behaupten, Ich wird bereits im ersten Satz angekündigt: “Ob daß Günter Grass, der praktisch in jedem seinem heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Werk gern mit der ästhetischen Form experi- Versuchung, sich in dritter Person zu verkappen: mentiert, auch in seinem Erinnerungsbuch be- Als er annähernd zwölf zählte, doch liebend gern wußt innovativ verfährt, so daß der Autobiograf auf Mutters Schoß saß, begann und endete zugleich als literarische Figur auftritt und in die erwas. Aber läßt sich, was anfing, was auslief, Selbstdarstellung in die Nähe eines Bildungsro- so genau auf den Punkt bringen? Was mich mans gerät. Oder ob es diese personale Kons- betrifft, schon.” (S. 7). Klaus Hammer bemerkt truktion doch eine Art Ausweichmanöver, eine dazu: “Dieses kühle Abstandhalten erlaubt ihm, Flucht vor sich selbst bedeuten mag? Ist “Beim über alles Fatale, die “Schande”, die “Scham” Häuten der Zwiebel”23 eine Rechfertigungsschrift? und “Reue” so zu schreiben, als seien es nicht Eindeutig lassen sich diese Fragen wohl nicht seine Gefühle und Empfindungen, sondern die beantworten, da die moralischen und ästheti- eines Dritten, einer fremden Figur, die er zwar schen Aspekte in dieser Autobiografie wie sonst genau, aber aus sicherer Distanz beobachtet.”21 in keinem anderen Werk von Günter Grass kaum Von den seine Biografie belastenden Fakten voneinander zu trennen sind. spricht der Autor mal in der dritten, mal in der 20 Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen: 22 Mathias Mertens. Günter Grass (Stand 1.4. 2004) Steidl Verlag, 2006, S. 51. Im Weiteren wird nach dieser / Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwarts- Ausgabe zitiert und in Klammern auf die entsprechenden literatur, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Edition Text + Seiten des Buches hingewiesen. Kritik, 6/2004, 77. Nlg, S. 12. 21 Klaus Hammer, Die Zwiebel “Erinnerung”. Günter 23 Es ist interessant zu bemerken, daß das Leitmotiv Grass’ Autobiografie “Beim Häuten der Zwiebel”/ Die der Häutung auch das autobiografisch ausgerichtete Buch Berliner Literaturkritik, 25.10.2006, www.berlinerlite- Häutungen (1975 der schweizerischen feministischen raturkritik.de. Schriftstellerin Verena Stefan durchzieht). 176
Zur Verfremdung des eigenen Ichs tragen bei Die vielen Episoden und Begebenheiten, aus Grass auch häufige Identifizierungen des Erzäh- denen sich die individuelle Geschichte des Autors lers mit bekannten literarischen Figuren bei. Günter Grass zusammenfügt, werden auf narra- Somit wären die zahlreichen intertextuellen tiver Ebene durch zwei Motive unterstützt. Zum Bezüge ein weiteres hervorstechendes Merkmal einen ist es die Zwiebel, deren Eigenschaften dem dieser Schriftstellerbiografie. Der Erzähler sti- Vergleich mit einem erzählten Leben dienen: lisiert sich zum Beispiel bei der Schilderung der Schale um Schale wird geschält, Schicht für Kriegswirren und der Frontschlacht zu dem Schicht abgetragen, bis nur noch ein kleiner Rest “Überlebenskünstler” Simplicius, der Haupt- übrigbleibt: “Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird, gestalt des Romans “Der Abenteuerliche Simpli- gleicht die Erinnerung einer Zwiebel, die gehäutet cissimus” von Hans Jakob Christoffel von sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Grimmelshausens (1668) oder zieht Parallelen Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten zwischen seinen eigenen Erlebnissen und ana- eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonstwie logen Situationen im Roman “Im Westen nichts verrätselt.” (S. 9). Obwohl die Motivik der Nah- Neues” von Erich Maria Remarque (1929). rung, des Kochens, des Essens die Werke von Wenn Grass von seinen Schuldgefühlen gegen- Günter Grass besonders stark prägt, verweist über der Mutter spricht, versetzt er sich in die das Bild der Zwiebel nicht nur auf das eigene Rolle des “verlorenen Sohnes” oder vergleicht Schaffen, sondern auch auf Henrik Ibsens “Peer sich mit Peter Gynt, dem Helden des gleichna- Gynt”. Im fünften Akt dieses Dramas sammelt migen “dramatischen Gedichts” (1867) von der Protagonist im Hochwald wilde Zwiebeln Henrik Ibsen. Mit dieser weltbekannten litera- und spricht zu sich selbst: “Du bist kein Kaiser; rischen Figur hat es eine eigene Bewandtnis – du bist eine Zwiebel. / Jetzt will ich dich schälen, darüber an einer anderen Stelle. mein Peer! / Da liegt die äußre, zerfetzte Man hört auch pessimistische, fatalistische Schicht: / Der Gescheiterte, der um sein Leben Töne heraus – die Gnade oder Ungnade des ficht.”25 Das Bild der Zwiebel kann mehrere Zufalls bestimme den Lebensweg eines Men- Funktionen erfüllen: Sie kann das Wesen des schen. Barocke Töne klingen besonders deutlich Menschen (Charakterlosigkeit, Kernlosigkeit) auch an den Stellen, wo über den Sinn der ausdrücken, für die gescheiterte Existenz stehen, Geschichte nachgedacht wird: “Was ist der andererseits jedoch die Wahrheit enthüllen, indem Mensch? Nichts anderes als ein Partikel, Teilha- man beim Häuten bis in ihr Innerstes vordringt. ber, Mitläufer, ein Stück im Stückwerk der Bei Grass ist sie auch Allegorie des literarischen Geschichte. So etwa, als jeweils anders bunter Textes. Die Vielschichtigkeit des die Erzähl- und Spielball24, den andere quwerfeldein stießen, Erinnerungsstränge zusammenhaltenden Leitmo- werde ich mich eingeschätzt haben, als ich tivs erinnert an die Funktion der Trommel im wiederum die Schulbank drückte.” (S. 118). So Roman “Die Blechtrommel” – diente die Trom- werden aus der Rückperspektive konkrete mel dem Erzähler und der Hauptfigur Oskar Begebenheiten in den ewigen Lauf der Geschich- Matzerath dazu, die Vergangenheit “zurückzu- te eingebettet. trommeln”, fungierte dort das “Trommeln als 24 Der Spielball ist ein beliebtes Motiv der barocken Lyrik. Die barocke Dichtung ist eine der Quellen, aus der 25 Henrik Ibsen, Dramen, Berlin: Rütten & Loening, das reichhaltige Werk von Günter Grass schöpft (Das Treffen in Telgte u.a.). 1977, S. 145. Nachgedichtet von Christian Morgenstern. 177
Erzählen”26, so erfüllt hier der Akt des fiktiven Deutschland als auch im Ausland – ähnlich, und “Häutens” eine analoge Rolle. zwar mit der Frage des größten Erstaunens: “Wa- Das Kontrastmotiv ist der Bernstein – übri- rum so spät? Darf man das als Lebenslüge de- gens ein litauischer Bernstein. Der Autor erinnert nunzieren?“ Befremden, Erschütterung, Schock sich an eine Episode während seines Besuchs in überall. Die Ursachen des 60jährigen Schweigens Litauen. Das Bernsteinstück, welches er in Klai- wurden verschieden geklärt. Es gab zahlreiche pëda (Memel) gekauft hat, hatte einen Insekten Stimmen, die den Schriftsteller, bisher die ein- als Einschluß. (Warum die litauische Ostseestadt flußreichste moralische Instanz der Bundesre- hier Erwähnung findet, kann man aus dem publik Deutschlands, eindeutig verurteilten. Kontext des Schaffens von Grass unschwer “Grass mit SS. Was nun?” fragt Julian Schütt in erklären – vor allem wurde hier im 17. Jahrhun- der Zeitschrift “Die Weltwoche” (Nr. 33/ dert der barocke Dichter Simon Dach geboren, 2006).27 “SS-Mann Günter Grass. Die Feder welcher wiederum die Zentralgestalt der Gra- sträubt sich, so einen Satz aufs Papier zu brin- sseschen Erzählung “Das Treffen in Telgte” ist.) gen”, schreibt der bekannte Literaturforscher Das durchsichtige Bernsteinstück mit dem Fritz J. Raddatz in der Zeit am Anfang seines eingeschlossenen Insekt symbolisiert das men- Artikels.28 Peter von Matt, ein international schliche und historische Gedächtnis: “Hier, dieses anerkannter Schweizer Literaturkritiker, sagte in honiggelbe Stück, das durchsichtig und nur zum einem Interview, mit Günter Grass als mora- krustigen Rand hin milchig eingetrübt ist. Wenn lischer Instanz sei es jetzt “Essig”.29 Nicht ich es lange gegen Licht halte, das ständige wenige meinten, hätte Günter Grass früher seine Ticktack im meinem Kopf abstellt und auch sonst Zugehörigkeit zu der Waffen-SS eingestanden, durch nichts, keinen tagespolitischen oder son- hätte er den Nobelpreis nicht erhalten. Der pol- stwie gegenwärtigen Einspruch abzulenken, also nische Publizist und Schriftsteller Adam Krze- ganz und gar bei mir bin, erkenne ich anstelle des minski wirft Grass vor, daß er, “ein Meister der eingeschlossenen Insekts, das soeben noch eine Selbstinszenierung”, auch diesmal eine erfol- Zecke sein wollte, mich in ganzer Figur. < …> In greiche Werbeaktion gestartet habe, obwohl – ihm hält sich alles, was er im weichen, noch andererseits – es keinen Grund gäbe, die Be- flüssigen Zustand zu fassen bekam.” (S. 65, 70). hauptung Günter Grass’ zu verwerfen, er wolle Jedoch ist es unumgänglich, auf die ethische sich durch seine Lebensbeichte von einem drük- Dimension der Autobiografie einzugehen, weil kenden Schamgefühl befreien.30 der Autor darin von seinen Erlebnissen als Sieb- Vielfach war die Reaktion auf die öffentliche zehnjähriger in der Waffen-SS erzählt. Bevor das Selbstrechtfertigung des Schriftstellers Empö- Buch erschienen war, legte der Schriftsteller in rung und Ironie. Jens Jessen bezeichnete die Hal- einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (am 12. August 2006) ein Bekenntnis 27 Julian Schütt, Grass mit SS. Was nun? / Die ab, im Alter von 17 Jahren Mitglied der Waffen- Weltwoche, Nr. 36, 17. August 2006, S. 6–7. SS (Panzerdivision Frundsberg) gewesen zu 28 Fritz J. Raddatz, “Ich habe mich verführen lassen” sein. Somit brach Günter Grass sein Schweigen, / Die Zeit, Nr. 34, 17. August 2006, S. 41. 29 Julian Schütt, “Große Kunst kommt aus der und darauf reagierte man zuerst – sowohl in Wildnis”. (Ein Interview mit Peter von Matt) / Die Weltwoche, Nr. 33, 15. August 2006, S. 9. 26 Volker Neuhaus, Günter Grass, Stuttgart-Weimar: 30 Adam Krzemiñski, Unser Grass, / Die Zeit, Nr. 34, J. B. Metzler, 1993, S. 36. 17. August 2006, S. 42. 178
tung von Günter Grass als Unfug und Heuchelei: Historiker Bernd Wegner, nach seiner Meinung “Es steht zu fürchten, dass die Debatte um die über das späte Bekenntnis von Grass gefragt, Waffen-SS-Zeit des Autors, je länger sie fort- erklärte, “daß sich hier lediglich eine relativ schreitet, zur Stunde der Heuchler werden normale deutsche Biografie zeigt mit allen ihren könnte. Er selbst hat für ein Höchstmaß Widersprüchen und all ihrem Zwiespalt”.34 an Dramatik gesorgt, indem er in kalkuliertem Nach dem Erscheinen des Buches “Beim Abstand zum Erscheinen der Autobiografie sein Häuten der Zwiebel“ werden auch die biogra- Geständnis als Aufschrei einer gequälten Seele fischen Darstellungen des Lebens von Günter in maximaler Lautstärke inszenierte, hat Grass durch die Literaturhistoriker teilweise Geständnis und Selbstanklage zu einem umgeschrieben oder ergänzt werden müssen, verkaufsfördernden Instrument gemacht.”31 hieß es doch bis jetzt über die entsprechenden “Günter Grass falle durch seine Enthüllung herab Stationen des künftigen Dichters: “ im “aus göttlichen Höhen und reiht sich wieder ein Spätsommer 1944 Einberufung zur Panzer- bei uns Fehlbaren und Verstrickten”, hieß es im waffe, Verletzung beim Fronteinsatz, ame- “Spiegel”.32 rikanische Kriegsgefangenschaft, in der Nach- Es gab auch solche Teilnehmer der heftigen kriegszeit umhergeworfen in Westdeutsch- Debatten, die den Schriftsteller mit Nachsicht land.”35 (Hervorgehoben – J. B.). Diese Tatsache und Verständnis behandelten und in erster Linie zeugt von einer lebhaften Zusammenwirkung die literarische Bedeutung und die ästhetischen von den geschriebenen Biografien und Auto- Qualitäten des Gesamtwerks von Günter Grass biografien – allerdings kann man im Falle dieser akzeptieren wollten. Wie es dem sei, wird es Autobiografie von Grass das politische und zukünftig wohl unmöglich sein, an dieser bio- ethische Moment leider nicht ausschließen. grafischen Tatsache vorbeizusehen. Der bereits In dem Erinnerungsbuch selbst ist dieser zitierte Peter von Matt fügt nach den lobenden autobiografischen Episode (d. h. der Beschrei- Worten auf “Die Blechtrommel” – dieser herrliche bung des Dienstes in der Waffen-SS) ein Kapitel Roman habe “die deutsche Literatur durchge- (“Wie ich das Fürchten lernte”) gewidmet – in lüftet – frech, poetisch, ergreifend, genussver- Anlehnung an das berühmte “Märchen von sessen, wüst und human” – hinzu: “Man wird einem, der auszog, das Fürchten zu lernen” der allerdings das Frühwerk auch neu lesen müssen. Brüder Grimm. Sein zentrales Geständnis legt “Katz und Maus” zum Beispiel liest sich heute Grass also in einer für sein Werk durchaus aufregend anders. Da steht nämlich schon alles charakteristischen, märchenhaft anmutenden drin. Man hat es damals nur nicht gesehen: Trau- Form.36 Obwohl der Erzähler in weiteren Kapi- ma, Stigma, Selbstanklage, Selbstbestrafung… Sogar die schwarze Uniformjacke kommt vor. 34 Die Reaktionen sind wie ein Fallbeil (Ein-Gespräch Alles ist verschlüsselt, ist verschoben wie in mit Bernd Wegner) / Die Zeit, Nr. 34, 17. August 2006, S. 42. 35 Heinrich Vormweg, Günter Grass mit Selbstzeu- einem Traum. Aber es steht da.”33 Der deutsche gnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Ro- wohlt Taschenbuch Verlag, 1996, 3. ergänzte und aktua- 31 Jens Jessen, Und Grass wundert sich / Die Zeit, Nr. lisierte Ausgabe, S. 18. 36 Elemente märchenhaften Erzählens beobachten wir 34, 17. August 2006, S. 1. 32 Fehlbar und verstrickt / Der Spiegel, Nr. 34/ 2006, auch in anderen Werken von Grass wie z.B. in Die Rättin S. 58. oder Der Butt.Näheres darüber siehe in: Walter Filz, Dann 33 Julian Schütt, “Große Kunst kommt aus der leben sie noch heute? Zur Rolle des Märchens in “Butt” Wildnis”. (Ein Interview mit Peter von Matt) / Die und “Rättin” / Text + Kritik. Günter Grass. München, IX/ Weltwoche, Nr. 33, 15. August 2006, S. 9. 1997. Siebte, revidierte Auflage, S. 95–102. 179
teln des Buches zu diesem Abschnitt seiner nissen, ähnlich wie zwischen den Schalen einer Jugend direkt nicht mehr zurückkommt, wird Zwiebel: “So fleischig die Haut unter der Haut häufig über diese Zeit – mit dem Gefühl der glänzt, davon weiß die Zwiebel nichts. Nur Scham und Schuld – reflektiert. Der Autor Leerstellen zwischen verstümmeltem Text. Es bekennt, bis zum Schluß an den Nationalsozia- sei denn, ich deute, was sich als unleserlich lismus und den Endsieg geglaubt zu haben. Erst entzieht, und reime mir etwas zusammen.” der Nürnberger Prozeß habe ihm wie auch tau- (S. 239). Die “Leerstelle“ ist bekanntlich der senden jungen deutschen Menschen die Augen zentrale Begriff der Theorie der Wirkungsästhetik geöffnet. Der Erzähler Günter Grass macht sich von Wolfgang Iser und weist auf die prinzipielle Vorwürfe, rechtzeitig keine Fragen gestellt zu Unbestimmtheit des literarischen Werks. Wenn haben: “Meine unterlassenen Fragen… Der es aber auch unmöglich ist, seine Vergangenheit verhärtete Glaube… Die Lagerfeuer der Hitler- vollkommen zu rekonstruieren, so sieht Günter jugend… Mein Wunsch, wie der U-Boot-Held Grass den eigentliche Sinn des Lebens in der Kapitänleutnant Prien zu sterben… Und zwar schriftstellerischen Existenz: “So lebte ich fortan freiwillig… und als dann auf Fotos un- von Seite zu Seite und zwischen Buch und glaublich: Bergen-Belsen, die gestapelten Leichen Buch.” (S. 478). – hinsehen, los, hinsehen, nicht abwenden, nur Der Widerspruch zwischen Erinnern und weil das schnellgesagt unbeschreiblich ist…” Vergessen wird durch eigentümliche Wortverbin- (S. 331–332). dungen “weißnichtwomit”, “weißnichtmehr- Dieses gedankliche Leitmotiv erinnert gleich was”, “wirtunsowasnicht” und ähnliche ausge- an das mittelalterliche höfische Epos “Parzival” drückt. Wolframs von Eschenbach, an die berühmte Das Buch von Günter Grass ergreift auch Parzival-Frage. Der junge Ritter versäumt es, emotional, zwar nicht an allen Stellen, aber es vor dem Leiden des Gralskönigs Anfortas die gibt beeindruckende Darstellungen. Zum Beispiel Frage des Mitleids zu stellen und beweist damit, wird über die drei Arten von Hunger erzählt: den daß er für das Königtum des Grals noch nicht wahren Hunger nach dem Ende des Krieges, die reif ist. Deshalb verliert er seine Ehre als Ritter, sexuellen Nöte der Jugendzeit und den Hunger ihn ergreifen Trotz und Zweifel, erst viel später, nach der Kunst. nachdem er sich selbst überwindet, gelangt er An einer Stelle bemerkt Günter Grass mit zur wahren Erkenntnis. Somit kann das Problem skeptischer Ironie, daß man die Menschen in der Biografie auch im breiteren Kontext der zwei Gruppen einteilen kann: in diejenigen, die – deutschen Geistes- und vielleicht Mentalitätsge- je nach der historischen Konstellation - eine schichte gesehen werden. “richtige” und die eine “falsche” Biografie haben Die verschlüsselten Schichten seiner Persön- (S. 239). Damit lässt der Autor den Leser selbst lichkeit und seiner Vergangenheit aufzudecken, das Urteil über die “Richtigkeit“ oder “Falschheit” einen Code zu sich selbst zu finden – darum dieser Biografie fällen. geht es dem Verfasser der Autobiografie. Zug- Der literaturhistorische und ästhetische Wert leich wird die Unmöglichkeit reflektiert, eine ideale der Autobiografie von Günter Grass liegt in ihrer literarische Selbstdarstellung zu schreiben. Es Authentizität, in der Bereitschaft des Autors, die besteht nämlich ein Widerspruch zwischen der Wahrheit – wenn auch verspätet – zu bekennen. epischen Abgeschlossenheit eines Textes und den Wilhelm Dilthey schrieb in seiner fundamentalen vielen Leerstellen zwischen den einzelnen Ereig- Untersuchung “Das Erleben und Selbst- 180
biographie“ (1906–1911/1927) Folgendes: “So ßung, autoreflexives Schreiben, Selbstverstän- erscheint das Leben unter dem Wertgesichts- digungsliteratur, Rechtfertigungsschriften und punkt als eine unendliche Fülle von positiven und andere mehr. Spezifisches Gepräge erhält diese negativen Daseinswerten. Es ist wie ein Chaos Lebensdarstellung dadurch, dass sie als Auto- von Harmonien und Dissonanzen.” 37 biografie eines Dichters angelegt ist. Das Erinnerungsbuch “Beim Häuten der Abgesehen von den Eigentümlichkeiten des Zwiebel” von Grass ergänzt auf markante Weise Individualstils von Günter Grass ist “Beim die deutsche autobiografische Literatur der Häuten der Zwiebel” ein charakteristisches Zeug- Gegenwart. Es ist symptomatisch für die neue- nis der deutschen Bekenntnisliteratur und ren Tendenzen dieser Gattung, treten doch in zugleich ein origineller Versuch, das eigene Ich den letzten drei Jahrzehnten an die Stelle der in seinem Bezug zur Welt und Geschichte – trotz traditionellen Autobiografie – alternativ oder des erlittenen existentiellen Traumas – sinnvoll ergänzend – solche Begriffe wie Selbstentblö- zu verorten. Das Buch fordert zu einer Ethik- diskussion heraus, und dieser Zug markiert die Wende von der Postmoderne zur Literatur, in 37 Wilhelm Dilthey. Das Erleben und die Selbstbio- der nicht nur die ästhetischen, sondern auch die grafie / Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl, Darmstadt: moralischen und ethischen Werte den Rang eines Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989, S. 31. literarischen Werkes bestimmen. Adresse der Verfasserin: Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Literatur Universität Vilnius Universiteto 5, LT-01513 Vilnius e-mail: j.bajaruniene@ gmail.com 181
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