Be there Crisis Response Tätigkeitsbericht 2020 - for the future of justice - Amnesty ...
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CRISIS RESPONSE Das Herzstück von Amnesty International Das oberste Ziel des Crisis Response Programms ist es, Gewalt zu verhindern und Menschen in Konfliktsituationen oder auf der Flucht zu schützen. Dies erreichen wir durch sorgfältige Recherchen, öffentliche Kampagnen und gezieltes Advocacy. Zehn Millionen Unterstützer*innen auf der ganzen Welt und die hohe Glaubwürdigkeit unserer Recherchen verleihen unseren Forderungen Gewicht und ermöglichen uns, eine positive Wirkung auf den Schutz der Menschenrechte zu haben. Das Jahr 2020 war geprägt durch die globale Ausbreitung des Coronavirus und die Auswirkungen auf unser aller Leben. COVID-19 hat nicht nur Herausforderungen für unser Gesundheitswesen und unsere Wirtschaft mit sich gebracht, sondern auch unser universelles System der Menschen- rechte auf die Probe gestellt. Weltweit waren die am meisten gefährdeten Menschen (insbesondere Flüchtlinge, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Kinder und Frauen) am stärksten von der verheerenden Wirkung des Virus betroffen und werden es wohl auch weiterhin sein. Das Crisis Response Team war gezwungen, seine Pläne laufend anpassen. Angesichts der strengen Reisebeschränkungen musste es sich neu ausrichten, einzelne Missionen verschieben und mehr auf digitale Untersuchungen ausweichen. Die Arbeit des «Crisis Evidence Lab» war deshalb so gefragt wie nie. Die Pandemie überlagerte auch die zentrale Frage des Klimawandels und dessen Auswirkungen auf die Menschenrechte. Das spezialisierte «Crisis & Environment»-Team liess sich davon jedoch nicht aufhalten und führte mehrere Recherchen durch, über die wir hier berichten. Im Schwerpunkt «Schutz für die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen» führten wir neue Unter suchungen zur Situation von Kindern im Irak und in Nigeria durch und wiesen in mehreren Studien darauf hin, wie die Rechte älterer Menschen in Krisen verletzt werden. In diesem Tätigkeitsbericht informieren wir Sie über einige der spannendsten Aktivitäten des letzten Jahres. In zahlreichen Fällen gelang es uns, mediale Aufmerksamkeit für unsere Anliegen zu erlangen und positive Entwicklungen anzustossen, die einen direkten Einfluss auf die Rechte und das Leben tausender Menschen weltweit haben. Wir danken von ganzem Herzen allen Spenderinnen und Spendern, die mit ihren wertvollen und grosszügigen Beiträgen die Erfolge im vergangenen Jahr überhaupt erst ermöglicht haben. Alexandra Karle Geschäftsleiterin Schweizer Sektion AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 2
© Mohammed Abdulsamad / The Walking Paradox Rohingya-Kinder kehren nach Hause zurück, nachdem sie die Schule im Lager Balukhali besucht haben. Schutz für die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Kinder und Frauen sind in Krisen- und Konfliktsituationen besonders stark gefährdet. Ein Fokus der Arbeit des Crisis Response Programms liegt deshalb darin, die spezifischen Herausforderungen dieser Bevölkerungsgruppen besser zu verstehen und sich für den Schutz ihrer Rechte und die Bewahrung ihrer Würde einzusetzen. Fokus «Kinder und Jugendliche» Im Mai veröffentlichte Amnesty International einen ausführlichen Bericht 1 über die Lage zehn- tausender Kinder im Nordosten Nigerias. Amnesty untersuchte sowohl die Gräueltaten von Boko Haram als auch die weit verbreitete Inhaftierung und Folter von Kindern, die aus dem Gebiet von Boko Haram fliehen konnten, durch das Militär. Die faktenbasierten Ergebnisse und unsere hart- näckige Advocacy-Tätigkeit haben bereits Wirkung gezeigt. Mehrere Gespräche mit der Europäischen Union, Grossbritannien, den USA und den zuständigen Uno-Organisationen führten u.a. dazu, dass ein grosser internationaler Geldgeber klare Verbesserungen an einem von uns untersuchten Haftprogramm forderte – einschliesslich der Forderung, dass Kinder nicht zu den dort Inhaftierten gehören dürfen. Wir gelangten auch an den Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), der zurzeit Verbrechen im Nordosten Nigerias untersucht und drängten darauf, speziell bei den Verbrechen gegen Kinder einen Schwerpunkt zu setzen. Nachdem wir darauf hingewiesen hatten, dass in einem Flüchtlingslager mehr als 2500 Kinder seit zwei Jahren keine Ausbildung erhielten, eröffnete die Lagerverwaltung im September 2020 erfreulicherweise eine Schule. Im Juli erschien ein Bericht 2 über Recherchen von Amnesty in der Region Kurdistan-Irak. Die Recherche befasste sich mit den zahlreichen Herausforderungen, denen sich überlebende jesidische Mädchen und Jungen gegenüber sehen, die nach Monaten oder sogar Jahren der Gefangenschaft 1 h ttps://www.amnesty.org/download/Documents/AFR4423222020ENGLISH.PDF 2 h ttps://www.amnesty.org/en/documents/mde14/2759/2020/en/ AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 3
durch den «Islamischen Staat» zu ihren Familien und ihren Gemeinschaften im Nordirak zurück- gekehrt sind. Auch dieser Bericht hatte bereits positive Auswirkungen. Die kurdische Regional regierung unterstütze öffentlich eine der Hauptempfehlungen unseres Berichts: sicherzustellen, dass Kinder bei sämtlichen Reparationsprogrammen berücksichtigt werden. (Kinder waren im Entwurf des irakischen Parlaments für ein Reparationsgesetz für jesidische Überlebende von IS-Verbrechen nicht namentlich erwähnt). Zudem sprach die bekannte UNHCR-Botschafterin, Schauspielerin und Regisseurin Angelina Jolie 3 über den Inhalt des Berichts vor dem Uno-Sicherheitsrat und sorgte somit auch für internationale Aufmerksamkeit. Fokus «Ältere Menschen» 2020 führte das Crisis Team eine umfassende Recherche zur Situation älterer Menschen in Nigeria durch. Ältere Menschen leiden sehr stark unter dem Konflikt, der seit fast einem Jahrzehnt im Nordosten Nigerias wütet. Sowohl Boko Haram als auch das nigerianische Militär haben Gräueltaten an älteren Frauen und Männern begangen, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Ausserdem hält der im Dezember erschienene Bericht 4 fest, wie vertriebene ältere Menschen konsequent von der humanitären Hilfe übersehen werden. Dazu Osai Ojigho, Direktor von Amnesty International Nigeria: «Allzu oft wurden ältere Menschen bei Hilfsangeboten im Nordosten Nigerias ignoriert. Inklusion bedeutet, die Rechte von Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Risiken zu respektieren, einschliesslich derer, die mit dem Älterwerden verbunden sind. Es ist an der Zeit, älteren Menschen nicht länger eine untergeordnete Rolle zuzuschreiben». Sehr grosse Auswirkungen hatte im letzten Jahr die Pandemie auf das Leben älterer Menschen. Bereits im März berichtete Amnesty International ausführlich über die Folgen von COVID-19 auf das Leben älterer Rohingya-Flüchtlinge im Lager Cox Bazar in Bangladesch. In den folgenden Monaten recherchierte das Crisis Response Team in England, Spanien, Belgien und Italien zur Situation älterer Menschen in Alters- und Pflegeheimen und stellte gravierende Menschenrechtsverletzungen fest. Amnesty forderte die Regierung der einzelnen Länder auf, dringlichst das Leben und die Rechte der Bewohner*innen von Pflegeheimen besser zu schützen und schnell aus Fehlern zu lernen, um sie in der zu befürchtenden zweiten Welle nicht zu wiederholen. SPOTLIGHT Kinder in Konflikten Im Nordosten Nigerias haben jahrelange Gräueltaten durch Boko Haram und Menschenrechtsverletzungen durch das Militär tiefe Spuren bei einer ganzen Generation von Kindern hinterlassen. Recherchen wie die in Nigeria stellen die Sicht der Kinder auf das, was sie erlebt haben und was sie jetzt brauchen in den Mittelpunkt. Amnesty bringt diese Perspektive in die Diskussionen zwischen Regierungen, Gebern und der UNO ein und kämpft für mehr Unterstützung und Zugang zu Bildung.5 3 http://webtv.un.org/watch/angelina-jolie-special-envoy-on-sexual-violence-in-conflict-security-council-vtc/6172494978001/?term= 4 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/12/nigeria-older-people-often-an-invisible-casualty-in-conflict-with-boko-haram/ 5 https://www.youtube.com/watch?v=manB-gTSMcU AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 4
CRISIS & ENVIRONMENT Schutz für die Menschen und ihren Lebensraum Massive Schäden an unserer Umwelt gefährden auch uns Menschen und unsere Rechte. Am stärksten von den verheerenden Veränderungen betroffen sind Menschen, die bereits unter Armut, Diskriminierung und Unterdrückung leiden. Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte wurden bislang kaum untersucht. Hier setzt das in Genf gegründete «Crisis & Environment Programm» von Amnesty International an. Update Brasilien 2019 war Amnesty eine der ersten Organisationen, welche die Entwicklung der Waldbrände im brasilianischen Amazonasgebiet beobachteten. In verschiedenen Berichten 6 wies Amnesty nach, wie die Interessen der Viehzuchtindustrie zur systematischen und illegalen Abholzung des Amazonas führte und dabei die Rechte, die Lebensgrundlagen und das Leben der Einheimischen gefährdete. 2020 zeigte unsere Arbeit erste Wirkung: Kurz nach Veröffentlichung unseres neusten Berichts 7 im Juli löschen und ersetzen durch: lancierten die Behörden im Bundessstaat Rondônia eine interne Untersuchung. Zudem gab es internationale, wirtschaftliche Sanktionen 8 gegen den grössten Fleischproduzenten Brasiliens JBS. Dieser hatte es bis dahin versäumt, ein effektives Kontrollsystem einzurichten, welches sicherstellt, dass kein Fleisch von illegal im Amazonas gezüchteten Rindern in seine Lieferkette gelangt. Ende September kündigte JBS an, bis 2025 mit der Überwachung seiner indirekten Lieferanten zu beginnen. Amnesty fordert JBS hingegen auf, unverzüglich mit der Überwachung zu beginnen. © AI 6 https://amazon-violence.amnesty.org/en/ 7 https://www.amnesty.org/en/documents/amr19/2657/2020/en/ 8 https://www.theguardian.com/environment/2020/jul/28/investors-drop-brazil-meat-giant-jbs AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 5
Auch in Brasilien beschäftigte uns die Corona-Pandemie. Wir starteten eine Kampagne, um die Zahl der Todesfälle unter Brasiliens indigenen Gemeinden zu reduzieren und den Schutz ihrer Territorien vor Invasion und Landraub zu stärken. Die Regierung hatte versucht, COVID-19 zu nutzen, um erst ein Dekret und dann ein Gesetz durchzupeitschen, das illegales Landgrabbing sanktioniert hätte. Amnesty bekämpfte beide Vorschläge, die letztendlich verworfen wurden. Salomon-Inseln Vaghena ist eine etwa 110 km² große Insel der Inselrepublik Salomonen. Die Bevölkerung besteht aus ca. 2000 Menschen, die von Subsistenzlandwirtschaft, Fischerei und Algenzucht leben. Im Jahr 2013 erteilte das Umweltministerium der Solomon Bauxite Limited (SBL) eine Bergbau genehmigung. Die Inselbewohner fochten diese Entscheidung jedoch an, da sie über die möglichen Auswirkungen des Bergbaus auf die Fischerei und die Algenzucht besorgt waren. 2019 besuchte Amnesty Vaghena, sprach mit der Bevölkerung und Regierungsvertreter*innen. Im Anschluss an die Mission forderte Amnesty den Umweltminister auf, ordnungsgemässe Konsultationen mit den lokalen Gemeinden durchzuführen, um deren Bedenken zu berücksichtigen, bevor über das Schicksal einer geplanten Bauxit-Tagebaumine entschieden wird. Im November 2020 entschied der Umweltminister der Salomonen 9, die Tagebaumine auf Vaghena nicht zu entwickeln. Zum Entscheid meint Richard Pearshouse, Leiter «Crisis & Environment»: «Dies ist ein hart erkämpfter Sieg für die Bewohner*innen von Vaghena Island, die für ihren Lebensunterhalt auf ihre Insel und die Gewässer rund um die geplante Abbaustelle angewiesen sind». Papua-Neuguinea Amnesty International half bei der Vorbereitung und Einreichung einer Gemeindebeschwerde bezüglich einer geplanten Gold- und Kupfertagebaumine in der Sepik River Provinz in Papua- Neuguinea. Das geplante Projekt birgt das hohe Risiko einer Umweltkatastrophe, da es in einem Gebiet mit seismischer Aktivität liegt. Wir haben die Einreichung einer Beschwerde an den Uno- Sonderberichterstatter für Giftmüll bezüglich der geplanten Mine am Frieda River (einem Nebenfluss des Sepik River) durch lokale und regionale Organisationen in Papua-Neuguinea und Australien erleichtert. Dieses Projekt wird 2021 weiterverfolgt. SPOTLIGHT Richard Pearshouse, angesehener Anwalt und Umweltschützer, leitet seit 2019 das Crisis & Environment Programm: «Umweltschäden durch Krieg sind so alt wie der Krieg selbst. Wir arbeiten auf diesem Gebiet, weil wir wissen, dass die Umwelt einen wichtigen Einfluss darauf haben kann, wie Konflikte beginnen, wie Kriege geführt werden und wie sie enden. Ressourcenknappheit und Klimawandel werden diese Konflikte dramatisch beschleunigen.»10 © AI https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/11/solomon-islands-blocks-bauxite-mine-in-victory-for-wagina-islanders- 9 who-feared-for-livelihoods/ 10 https://www.youtube.com/watch?v=9xwEdmd0iMw AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 6
CRISIS EVIDENCE LAB Innovation & Technologie Das «Crisis Evidence Lab» von Amnesty International ist auf den Einsatz neuer und innovativer technologischer Lösungen zum Aufdecken von Menschenrechts verletzungen spezialisiert. Es spielt bei vielen Länderrecherchen von Amnesty eine wichtige Rolle, in dem es zusätzliche Beweise sammelt und dies dank digitaler Technologie äusserst schnell und effektiv. So hilft es Amnesty, Menschenrechts verletzungen zeitnah aufzudecken und auch dort hinzuschauen, wo kein direkter Zugang möglich ist. Insgesamt war das «Evidence Lab» 2020 in über 100 Projekte von Amnesty involviert – mehr als je zuvor. Einerseits weil der Einsatz digitaler Recherche für den Schutz der Menschenrechte 11 immer wichtiger wird. Andererseits weil die Mobilität im letzten Jahr stark eingeschränkt war, und die direkten Untersuchungen in Krisengebieten durch die Analyse von Videos, Fotos oder Satelliten bildern ersetzt werden musste. Das Evidence Lab hat 2020 darüber hinaus vier thematische Websites (oder Mikrosites) erstellt, darunter eine über die Bedeutung des Internet-Shutdowns im Iran während der Proteste im November 2019. Iran Im November 2019 töteten Sicherheitskräfte während der fünftägigen, landesweiten Proteste mindestens 304 Männer, Frauen und Kinder. Bis heute wurde kein einziger Beamter dafür zur Rechenschaft gezogen. Während der Demonstrationen blockierten die Behörden für einen Grossteil der Bevölkerung den Zugang zum Internet. Das Abschalten des Internets ist keine neue Taktik. In den letzten zwei Jahren haben Staaten wie Myanmar, Sudan, Venezuela, Weissrussland und Äthiopien den Zugang zum Internet vorübergehend eingeschränkt oder gesperrt. Damit schränken die Staaten nicht nur den Zugang zu Informationen für Menschen innerhalb des Landes ein, sondern hindern sie auch daran, Informationen mit dem Rest der Welt zu teilen. Zudem wird die Recherche über begangene Menschenrechtsverletzungen und die Identität der Täter und der Opfer erschwert. Am Jahrestag der Internet Shutdown und der tödlichen Niederschlagung im Iran hat das «Evidence Lab» eine thematische Website 12 erstellt, um derer zu gedenken, die bei den Protesten getötet wurden, um zu erklären, was eine Internetabschaltung bedeutet und um zu zeigen, warum sie eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte darstellt. Chile Im Oktober veröffentlichte Amnesty International einen detaillierten Bericht 13, der die Muster und Einzelfälle von Polizeigewalt während der Zeit der sozialen Unruhen Ende 2019 in Chile dokumentiert. Der Bericht entlarvt die Verantwortung der Kommandeure der Carabineros (chilenische Polizei) für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen und fordert eine Polizeireform und sofortige straf rechtliche Ermittlungen gegen hochrangige Beamte der Carabineros. Entscheidend für den Bericht waren auch hier die Analysen zahlreicher digitaler Quellen durch das «Evidence Lab». 11 https://www.spiegel.de/politik/ausland/wie-kuenstliche-intelligenz- 12 https://iran-shutdown.amnesty.org/ bei-der-aufklaerung-von-kriegsverbrechen-hilft-a-670d8c14-0b8b- 13 https://www.amnesty.org/en/documents/ 42bc-a5b0-e74250cff225 amr22/3133/2020/en/ AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 7
Äthiopien Im November eskalierte der Konflikt zwischen der äthiopischen Regierung und der Volksbefreiungs front TPLF in der Region Tigray. Das eritreische Militär intervenierte ebenfalls und ging gezielt gegen die Zivilbevölkerung vor. Die Kampfhandlungen begannen am 4. November 2020. Der Konflikt fand im Schutz der Dunkelheit statt, da Internet und Telefon blockiert und der Zugang eingeschränkt war. Amnesty war dank der Analysen des «Evidence Lab» eine der ersten Organisa- tionen, die auf die Gräueltaten aufmerksam machte 14. Das Lab setzte Fernerkundungs- und digitale Verifizierungstechniken ein und wies Plünderungen und die systematische Tötung von Hunderten von unbewaffneten Zivilpersonen nach. Die Beweise legen den Schluss nahe, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Diese Recherche erzeugte eine immense Medienresonanz und war die meistbeachtete Amnesty-Nachricht des Jahres 2020. Amnesty fordert eine von der Uno geführte Untersuchung. Obwohl ein Ende der Menschenrechtsverletzungen schwer abzusehen ist, hoffen wir, dass die Aussicht auf eine Rechenschaftspflicht als Abschreckung für weitere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dienen kann. Digital Verification Corps (DVC) Das Digital Verification Corps, ein Netzwerk des «Evidence Lab» von 150 Studierenden aus sieben Universitäten, war im letzten Jahr in zahlreiche Projekte involviert. Es verifizierte Videos und Bilder aus sozialen Medien und unterstützte so die Menschenrechtsforschung des Lab entscheidend. Im September ist ein Team der Ibero-American University aus Mexiko City zum DVC gestossen. Somit ist das DVC nun erstmals auch in Lateinamerika vertreten. Eine schöne Ehrung widerfuhr dem DVC Team der Universität Cambridge. Es gewann den «Technology Enabled Learning Prize» für seinen gezielten Einsatz neuer Technologien und den sozialen Nutzen, den das Team damit erzielt. SPOTLIGHT «Digital Verification Corps» «Das Digital Verification Corps» ist ein Netzwerk von rund 150 Studierenden aus 7 Universitäten in England, Südafrika, Kanada, Hong Kong, Mexico und den USA, das Amnesty International bei der Überprüfung von digitalem Beweismaterial unterstützt. Im Video 15 erklären Studierende der Universität Essex, was ihre Arbeit ist und worin ihre Motivation besteht. 14 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/11/ethiopia-investigation-reveals-evidence- that-scores-of-civilians-were-killed-in-massacre-in-tigray-state/ 15 https://www.youtube.com/watch?v=vqvN3KrZT-8 AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 8
2020 HAT DAS CRISIS RESPONSE TEAM AUSSERDEM… … aufgedeckt, wie äthiopische Migrant*innen unter unwürdigen Verhältnissen in Saudi-Arabien festgehalten werden Tausende äthiopische Migrant*innen, die nach dem Ausbruch des Coronavirus aus dem Jemen ausgewiesen wurden, sind willkürlich verhaftet und unter prekären Bedingungen in saudi-arabischen Gefängnissen festgehalten worden. Darunter auch schwangere Frauen, Säuglinge und Kleinkinder. Ein Bericht von Amnesty im Oktober 2020 deckte den mangelnden Zugang zu Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung und sanitären Einrichtungen auf. Häftlinge wurden gefoltert oder miss handelt. Der Bericht 16 trug dazu bei, den internationalen Druck – inklusive der EU – auf Saudi- Arabien zu erhöhen und die Missstände zu beheben. Die äthiopische Regierung ihrerseits versprach, pro Woche 1000 Migrant*innen zu repatriieren. … wiederholt den Schutz von Flüchtenden unter Covid-19 Bedingungen gefordert Die Situation war 2020 für Flüchtende überall auf der Welt prekär. Die ohnehin schon schwierigen Lebensumstände wurden durch das Coronavirus zusätzlich erschwert. Amnesty brachte bereits im Mai eine öffentliche Erklärung 17 zur globalen Situation der Flüchtenden heraus mit klaren Empfeh- lungen an Staaten zum besseren Schutz dieser Menschen. Während der folgenden Monate lancierte und beteiligte sich Amnesty in zahlreichen nationalen und regionalen Initiativen zum Schutz von Flüchtenden, beispielweise in Griechenland, Jordanien und Ostafrika 18. … zahlreiche weitere Menschenrechtsverletzungen durch Open-Source Recherchen nachgewiesen Die eingeschränkte Mobilität im letzten Jahr machte es schwierig oder gar unmöglich, Krisen und Konflikte vor Ort zu untersuchen. Umso mehr war die Arbeit des «Evidence Lab» gefragt. Das Lab war 2020 in weit über 100 Projekten involviert, analysierte Videos, Fotos, Satellitenbilder, und nutzte sämtliche Open Source Quellen 19, um zahlreiche Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt zu dokumentieren. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In Mosambik 20 konnte das Lab im September dank Open Source Recherchen schlimme Verbrechen des Militärs gegen die Zivilbevölkerung in der Cabo Delgado Region nachweisen. Im Libanon 21 gingen Sicherheitskräfte nachweislich äusserst aggressiv gegen friedlich Demonstrierende vor, die nach der schweren Explosion im Hafen von Beirut ihren Unmut über die Regierung äusserten. 16 https://www.amnesty.org/en/documents/mde23/3125/2020/en/ 17 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/05/refugees-and-migrants-being-forgotten-in-covid19-crisis-response/ 18 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/06/east-africa-people-seeking-safety-are-trapped-at-borders-due-to- covid-19-measures/ 19 https://citizenevidence.org/ 20 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/09/mozambique-video-showing-killing-of-naked-woman-further-proof-of- human-rights-violations-by-state-armed-forces/ 21 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/08/lebanon-military-and-security-forces-attack-unarmed-protesters- following-explosions-new-testimony/ AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 9
… den Einsatz illegaler Streubomben in Krieg um die Region Bergkarabach nachgewiesen Im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach war das Evidence Lab stark involviert. Das Lab analysierte zahlreiche Videos und wies u.a. den Einsatz verbotener Streubomben 22 nach. Die Recherchen fanden ein breites Medienecho und wurden in diplomatischen Kreisen und in einer Erklärung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte ausführlich zitiert. … eine neue Leiterin gewählt Im August 2020 übernahm Joanne Mariner die Leitung des Crisis Response Programms. Sie folgt auf Tirana Hassan, die das Programm fünf Jahre erfolgreich geführt und weiterentwickelt hat. Joanne Mariner stiess 2013 als leitende Krisenberaterin zu Amnesty International und untersuchte Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Sie ist Absolventin der Yale Law School und erhielt 2005 die Auszeichnung «Distinguished Woman in International Law» der American Society of International Law. Weitere Projekte aus dem Berichtsjahr finden Sie im «Crisis Response Halbjahresbericht 2020» den wir Ihnen auf Wunsch gerne zustellen. Senden Sie dazu bitte eine Nachricht an m.dolfini@amnesty.ch. SPOTLIGHT Be There 2020 Video Es freut uns, Ihnen die Highlights unserer Arbeit im letzten Jahr auch in Form eines 10-minütigen Films zu präsentieren. Das Video zeigt, wie es Amnesty International in zahlreichen Fällen gelang, Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen und positive Entwicklungen anzustossen, die einen direkten Einfluss auf die Rechte und das Leben tausender Menschen weltweit haben. 22 22 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/10/armenia-azerbaijan-civilians-must-be-protected-from-use-of- banned-cluster-bombs/ 23 https://www.youtube.com/watch?v=puetL5pygZo AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 10
Medien em Be There Crisis Response Programm gelang es 2020 sehr gut, die Ergebnisse seiner Arbeit in D den Medien zu platzieren. Print- und Onlinemedien veröffentlichten weltweit über 4000 Beiträge über die Arbeit des Teams und in Fernsehen, Radio und Social-Media-Kanälen wurden zahlreiche Interviews gegeben. Die grösste Aufmerksamkeit erlangten unsere Recherchen in der Region Tigray 24 im Norden Äthiopiens. Allerdings war es 2020 insgesamt schwieriger Menschenrechtsthemen zu platzieren, da die Corona-Pandemie weltweit das dominante Thema war. Thematische Roundtable Die Durchführung thematischer Roundtable, wie wir das in den letzten Jahren in Basel, Bern, Genf, Luzern und Zürich gemacht haben, war im letzten Jahr leider nicht möglich. Als Alternative führten wir zwei virtuelle Roundtable durch: Sam Dubberley 25 berichtete über den Schutz der Menschenrechte durch Innovation und Technologie und Matt Wells 26 gab einen Einblick in die Arbeit zum Schutz der verletzlichsten Bevölkerungsgruppen in Krisen- und Konfliktgebieten. Die informativen und gut besuchten Anlässe boten eine ideale Gelegenheit, die Arbeit des Crisis Response Teams besser kennen zu lernen und direkt mit den beiden Experten zu diskutieren. Podcast: «Witness from Amnesty International» Amnesty International hat im letzten Jahr eine neue Podcast-Serie Witness from Amnesty International 27 gestartet. Die Serie stellt die Recherchen des Crisis Respons Teams vor, deren Ermittlungen sie an einige der gefährlichsten Orte der Welt führen. Ihre Arbeit ist komplex und riskant. Pläne müssen oft über den Haufen geworfen werden. Sie führt jedoch dazu, dass Menschenrechtsverletzungen aufge- deckt werden, die die Welt schockieren. In den Podcasts wird der Frage nachgegangen, was es braucht, um die Wahrheit aufzudecken, selbst wenn mächtige Leute alles daransetzen, dies zu verhindern. Die einzelnen Episoden sind seit September auf den gängigsten Podcast-Plattformen verfügbar. Finanzen Die Gesamtausgaben des Be There Programms betrugen im letzten Jahr CHF 4,6 Mio. Amnesty International investierte aus eigenen Mitteln CHF 2,3 Mio. in das Programm. Weitere 2,3 Millionen Franken gingen als Spenden für Be There ein. Zu diesem fantastischen Ergebnis trugen mehrere Amnesty-Ländersektionen bei. Um die Unabhängigkeit zu wahren, fliessen keine staatlichen Gelder in das Programm. Die Schweizer Sektion von Amnesty International war mit 1,2 Millionen Franken für etwas mehr als die Hälfte der Spenden verantwortlich. Wir danken von ganzem Herzen allen Spenderinnen und Spendern, die mit ihren wertvollen und grosszügigen Beiträgen die Erfolge im letzten Jahr überhaupt erst ermöglicht haben. 24 https://www.spiegel.de/politik/ausland/aethiopien-amnesty- 25 https://vimeo.com/483455877 international-spricht-von-massaker-in-tigray-a-47b4ffea-4b4e- 26 https://vimeo.com/486883173/f6242afd57 4e5e-9a54-e0a8fccb67fa 27 https://www.amnesty.org/en/witness/ AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 11
Ausblick 2021 Das «Be There Crisis Response Programm» ist auf fünf Jahre ausgelegt, von 2019 bis 2023. Die Ergebnisse der ersten beiden Jahre – über die wir gerne und ausführlich berichtet haben – sind sehr ermutigend. Das Team war nicht nur in der Lage, zahlreiche Recherchen unter schwierigsten Bedingungen erfolgreich durchzuführen, sondern nutzte für die Bekanntmachung der Resultate auch neue Wege digitaler Beweiserfassung und Berichterstattung. Es erreichte dadurch sowohl eine breite Öffentlichkeit als auch Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Das Programm wird 2021 konsequent weitergeführt. Wie uns das letzte Jahr einmal mehr bewiesen hat, kann man nie alles voraussehen. Das Crisis Response Team ist deshalb immer bereit, flexibel auf neue Gegebenheiten zu reagieren und die bestmögliche Lösung für eine rasche Krisenintervention zu finden. Es ist und bleibt unsere grösste Bestrebung, Krisen und Konflikte frühzeitig zu erkennen, eine Eskalation zu verhindern und so Menschenleben zu retten. Helfen Sie uns dabei, diese Arbeit fortzuführen. Das Programm erhält keinerlei staatliche Unter- stützung, sondern finanziert sich rein über Spenden und Eigenmittel. Nur mit Ihrer Unterstützung kann es uns gelingen, weiterhin auf der ganzen Welt zeitnah schlimme Menschenrechtsverletzungen aufzudecken und eine Stimme für all die zu sein, die nicht selbst für ihre Rechte einstehen können. Mit Ihrer Hilfe können wir neue und wichtige Recherchen über die Bedürfnisse besonders verletzlicher Menschen in Konflikten durchführen, Folgen des Klimawandels untersuchen und in neue Technologien investieren, welche die Menschenrechtsarbeit revolutionieren können. Wir freuen uns auf die Herausforderungen, die vor uns liegen und danken allen herzlich, die uns dabei unterstützen. AMNESTY INTERNATIONAL Schweizer Sektion Speichergasse 33 . 3011 Bern T: 031 307 22 72 mdolfini@amnesty.ch www.amnesty.ch BANKKOORDINATEN «BE THERE» Bank: UBS AG IBAN: CH73 0023 5235 1127 2201 U Konto: Amnesty International – Schweizer Sektion, Postfach, 3001 Bern Zweck: Bitte geben Sie folgende Zweckbestimmung an: Be There Amnesty International ist Trägerin des Friedensnobelpreises AMNESTY INTERNATIONAL CRISIS RESPONSE TÄTIGKEITSBERICHT 2020 12
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