Bedrohlich Staat und Mensch in Osteuropa - Berliner Wissenschafts-Verlag

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Bedrohlich Staat und Mensch in Osteuropa - Berliner Wissenschafts-Verlag
Bedrohlich
Staat und Mensch in Osteuropa
70. JAHRGANG / HEFT 12 / 2020

Andreas          Das Naval’nyj-Paradoxon
Heinemann-Grüder Frontal attackiert, Regime konsolidiert               3
Marija Lipman       Aktive und Träge
                    Russlands Gesellschaft nach den Protesten          9
Irina Rastorgueva   Schwarze Spiegel
                    Politische Satire und Protestkultur in Russland   19
Ol’ga Romanova      „Auf Bajonetten kann man nicht sitzen“
                    Der Fall Naval’nyj und Russlands Strafvollzug     29
Grigorij Ochotin    „Die Demonstranten sind keine Kinder!“
                    Russlands Unrechtsstaat und seine Gegner          35
Lukas Latz          Russland: „Einreise verboten!“
                    Der Staat, das Recht und die Willkür              41

                    Bergkarabach
Otto Luchterhandt   Zeitenwende im Südkaukasus
                    Armeniens Niederlage im Krieg um Karabach         59
Egbert Jahn         Aufgetaut und wieder eingefroren
                    Kontinuität und Wandel im Karabach-Konflikt       81

Réka Kinga Papp     Abgeschaltet
                    Ungarns freie Medien und der Fall Klubrádió 105
Dokumentation       Politische Repressionen auf der Krim              111
Andreas Kappeler    Das Echo des Holodomor
                    Die Hungersnot 1932/33 in der österreichischen
                    Presse                                         123
Peter Oliver Loew   Leistungsfähig cum grano salis
                    Die deutschsprachige Polenforschung           145

Hans Günther        Psychopathologie des Totalitarismus
                    Andrej Platonovs Mazedonischer Offizier
                    und Der Müllwind                              165
Manfred Sapper      Oskar Anweiler (1925–2020)
                    Ein Jahrhundertzeuge                          179
Dokument            „Mein Rätebuch kursierte als Raubdruck“
                    Mit Oskar Anweiler auf einer tour d’horizon   181

Abstracts                                                         189

Karten: Bergkarabach                                          80/81
Andreas Heinemann-Grüder                              

          Das Naval’nyj-Paradoxon
          Frontal attackiert, Regime konsolidiert
          Das Putin-Regime ist stabil, solange es die grundlegenden Aufgaben eines
          Staates gegenüber der Bevölkerung erfüllt. Doch etliche Legitimitätsres-
          sourcen von Putins Herrschaft haben sich erschöpft. Deshalb setzt das
          Regime zunehmend auf Repression und grenzt sich von der Außenwelt
          ab. Aleksej Naval’nyj griff das Regime mit der Veröffentlichung seines Vi-
          deos über Putin frontal an. Er löste zwar Proteste aus, doch die Kritik am
          Putinschen Sultanismus trug zur Homogenisierung der Elite bei. Ein Her-
          ausforderer, der erfolgreich sein will, muss jenen Gruppen, die dem Re-
          gime heute klientelistisch verbunden sind, attraktive Anreize zur Abwande-
          rung bieten.

OSTEUROPA: Herr Heinemann-Grüder, was passiert gerade in Russland?

Andreas Heinemann-Grüder: In Russland verstärken sich der Absolutismus des Auto-
kraten, der Autismus des Führungszirkels und die Autonomie der Sicherheitsapparate
gegenseitig. Russland befindet sich in einem Umfeld, das durch Krisen autoritärer Re-
gime in Belarus und Kirgistan sowie instabile, für Russland sehr teure De-facto-Regime
im Donbass, Abchasien, Südossetien oder Transnistrien gekennzeichnet ist. Putins Re-
gime schränkt den begrenzten Pluralismus immer weiter ein und schließt sich gegenüber
der eigenen Gesellschaft und der Außenwelt kategorisch ab.

OSTEUROPA: Worin kommt diese Abschließung zum Ausdruck?

Heinemann-Grüder: Präsident Putin hat seit 2012 erhebliche gesetzliche, repressive
und mediale Anstrengungen unternommen, um sein Regime zu sichern und sich von
Einflüssen abzuschotten, die er für gefährlich hält. Putins präventive Konterrevolution
ist bisher erfolgreich gewesen – durch die Kriminalisierung einer unabhängigen Zivil-
gesellschaft, die Diskreditierung der Opposition als „fünfte Kolonne“ des Westens, die
Kontrolle der Medien, den Ausbau der Sicherheitsapparate, die Instrumentalisierung der
sozialen Medien und durch Cyber-Angriffe.

———

  Andreas Heinemann-Grüder (1957), Dr. phil. habil., Politikwissenschaftler, apl. Professor an
  der Universität Bonn und Senior Researcher am Bonn International Centre for Conversion
  Von ihm erschien in OSTEUROPA u.a.: Geiselnehmer oder Retter des Staates? Irreguläre Bataillone
  in der Ukraine, in: OE, 3–4/2019, S. 51–80. – Ressourcen und Grenzen der Macht. Personalisti-
  sche Regime in Moskau und Ankara, in: OE, 10–12/2018, S. 107–118. – Lehren aus dem Ukrai-
  nekonflikt. Das Stockholm-Syndrom der Putin-Versteher, in: OE, 4/2015, S. 3–23.
OSTEUROPA, 70. Jg., 12/2020, S. 3–8                                   doi: 10.35998/oe-2020-0090
4                            Andreas Heinemann-Grüder

OSTEUROPA: Das Regime ist also stabil?

Heinemann-Grüder: Zumindest irren jene, die seit 2011 jedes Jahr aufs Neue für das
kommende Jahr „Putin kaputt!“ rufen. Autoritäre Regime überleben, so lange sie über
hinreichende Staatskapazität verfügen.

OSTEUROPA: Die hat Russland!

Heinemann-Grüder: Selbstverständlich. Die Sicherheitsorgane und die Justiz des Putin-
Regimes monopolisieren die öffentliche Gewalt, der Staat verfügt über Steuern und andere
Ressourcen, er garantiert grundlegende öffentliche Dienstleistungen. Die bürokratischen
Abläufe funktionieren. Auch hat Russland keinen Krieg verloren.

OSTEUROPA: Autoritäre Regime scheitern also erst, wenn die Staatskapazität mangelhaft
ist?

Heinemann-Grüder: Ja. Das Putin-Regime ist ein lernendes autoritäres System. Es ist
nicht immun gegen Krisen, aber widerstandsfähig. Es passt sich an. Viele Entscheidungen
werden ad hoc getroffen, weil Entscheidungsprozesse nicht durch Institutionen Legiti-
mität und Qualität gewinnen.
Putin hat den Statusverlust Russlands nach der Auflösung der Sowjetunion sowie das
verbreitete Unbehagen in der Bevölkerung und unter den Eliten darüber, von den Ex-
Bündnispartnern in Osteuropa und von China wirtschaftlich überholt worden zu sein,
sowie die uneingestandene Scham über die sowjetischen Massenverbrechen durch Stolz
auf die historische Größe Russlands und der Sowjetunion ersetzt. Putins Revanche für
die russische Version des Versailles-Syndroms verfängt vor allem bei jenen Generationen,
die ihre prägenden Jahre in der Sowjetunion und in den 1990er Jahren erlebten.

OSTEUROPA: Aber wenn Russland über genug Staatskapazität verfügt, warum radika-
lisiert sich das Putin-Regime seit Jahren?

Heinemann-Grüder: Das hat mehrere Gründe. Zum einen haben sich etliche Legitimi-
tätsressourcen von Putins Herrschaft erschöpft, darunter sein Image als Anti-El’cin, als
russischer James Bond oder als Messias. Der Appell an die Werte des Homo Sovieticus
oder der Orthodoxie verhallt. Auch der Hurra-Patriotismus nach der Krim-Annexion,
die Putin enorme Zustimmung brachte, zieht nicht mehr. Die Generation, die nach der
Auflösung der Sowjetunion geboren wurde, ist kaum mehr durch das Fernsehen und
damit für die Kreml-Propaganda erreichbar. Anders als in den 2000er Jahren ist heute
kaum ein Jugendlicher noch durch eine Retortenbewegung wie die Naši (Die Unsrigen)
zu mobilisieren. Die Zustimmung der Bevölkerung zum Regime nimmt tendenziell ab.
Russlands jahrzehntealtes Geschäftsmodell als Petro-Staat und Gaslieferant ist in der
Krise. Es geht nicht mehr darum, dass der Ölpreis fällt. Das Ende des fossilen Zeitalters
rückt näher.
Das Naval’nyj-Paradoxon                                 5

Zum anderen speist die Radikalisierung sich aus der besonderen Struktur der Macht in
Russland. Macht basiert auf der Nähe zum Präsidenten, aber es gibt mehrere Machtver-
tikalen. Jeder Akteur im Institutionengefüge wägt ab, welcher Einflusskanal in die Präsi-
dialverwaltung am meisten Erfolg verspricht. Russland besteht aus einem System konkur-
rierender „Kuratoren“, wie Putins persönliche Fallmanager genannt werden. Welcher
Kurator dem Zentrum der Macht am nächsten steht, ist nicht immer auszumachen. Über
jeden gibt es ein kompromittierendes Dossier. Dies erklärt manchen Aufstieg und Fall
von Kuratoren, aber auch, warum die Eliten zusammenhalten. Autokratie geht in Russ-
land mit Anarchie einher, die zu krassen Fehlentscheidungen führt, welche dann ver-
deckt oder korrigiert werden müssen. Dieser Druck, Fehler und Mängel verdecken zu
müssen, zieht Radikalisierung nach sich. Der engste Kreis von Putins alten Seilschaften
aus St. Petersburg und aus dem KGB ist allerdings weitgehend sakrosankt.
Zum dritten resultiert die Radikalisierung aus der Autonomie und Konkurrenz der ver-
schiedenen Sicherheitsapparate, insbesondere der Geheimdienste. Die Radikalisierung
speist sich nicht aus ideologischen Gründen. Die Führungsriege ist anti-liberal, aber an-
sonsten weltanschauungsfrei. Die eigentlichen Entscheidungen trifft ein kleiner Kreis
um Putin. In diesem Entscheidungssystem fehlen persönliche oder institutionelle Gegen-
gewichte. Der enge Entscheidungskreis operiert autistisch, das Verhaltensrepertoire ist
eingeschränkt und stereotyp.

OSTEUROPA: Ist der Mordanschlag auf Aleksej Naval’nyj Ausdruck der Radikalisierung
des Putin-Regimes?

Heinemann-Grüder: Zunächst reiht er sich in eine Serie von Auftragsmorden ein. Denken
sie an die Ermordung von Aleksandr Litvinenko 2006, den versuchten Mord an Sergej
Skripal 2018 oder an die Hinrichtung von Selimchan Changoschwili am 23. August
2019 in Berlin. Dass der Mordanschlag auf Aleksej Naval’nyj scheiterte und die Re-
chercheplattform Bellingcat und Naval’nyjs Team anschließend enthüllt haben, welche
FSB-Agenten zum Todesschwadron gehörten, hinterlässt bei den Geheimdiensten ein
Afghanistan-Syndrom. Sie fragen, wer für dieses Scheitern bzw. die Enthüllung der Tä-
ter verantwortlich ist. Diese Schmach muss getilgt werden. Die Gangart wird sich ver-
schärfen, gerade um die Scharte auszuwetzen.
Vor Jahren sprachen Beobachter wie Andrej Piontkovskij oder Paul A. Goble von der
Tschetschenisierung Russlands. Die Handlungsweisen des Kadyrov-Regimes in Tschet-
schenien – Auftragsmorde, Herrschaft durch Paramilitärs – diffundieren von der Peri-
pherie in Russlands Zentrum.
Schließlich gibt es einen Faktor, der die Radikalisierung des Putinismus vorantreibt: Die
Angst – vor Instabilität, Staatszerfall, Terrorismus, Souveränitätsverlust oder Fremd-
herrschaft – und das Risiko, Pfründe zu verlieren, schweißen potentielle Verlierer zu-
sammen.

OSTEUROPA: Wie fügt sich diese Radikalisierung des Putin-Regimes, die ja eine Ver-
schärfung der autoritären Herrschaft ist, in die globale Entwicklung ein?

Heinemann-Grüder: Zunächst war in Russland seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000
eine Abkehr von Demokratie und Rechtsstaat zu beobachten. Da liegt Russland im
6                            Andreas Heinemann-Grüder

Trend. Global stagniert die Demokratisierung seit Ende der 1990er Jahre. Seit Mitte der
2000er Jahre ist eine Regression von Demokratien bei gleichzeitiger Zunahme autoritärer
Regime zu beobachten. Unter den autoritären Regimen ist die Zahl der Militärregime
und Ein-Parteien-Regime eher rückläufig, während personalistische Regime wie das in
Russland unter Putin vergleichsweise langlebig sind. Das Problem der Nachfolgekrise
ist für Russland nicht gelöst, aber es sollte nicht überschätzt werden. Das System Putin
kann auch ohne Putin überleben. Kommt es in personalistischen Regimen zu einer Krise,
mündet sie selten in eine Demokratie, sondern eher in die Ablösung eines Autokraten
durch einen Nachfolger aus der bestehenden Dynastie oder aus einem anderen Macht-
zweig. Aserbaidschan, China, Kasachstan, Turkmenistan oder Usbekistan haben das
Nachfolgeproblem ohne fundamentale Systemkrisen gemeistert.
Aber eine Regimekrise ist das Schreckgespenst für jeden Autokraten. Instabil sind ins-
besondere defekte Demokratien wie Armenien, Bosnien-Herzegowina, Serbien oder die
Ukraine sowie Wahlautokratien wie die Türkei. Jede Fälschung der Wahl kann zur De-
legitimierung der herrschenden Elite führen. Der Terminus „Wahlautokratie“ ist für
Russland irreführend. Denn nationale Wahlen sind weder fair noch frei, geschweige
denn ergebnisoffen, sondern zu Plebisziten ohne reale Alternative degeneriert. Seit dem
Verfassungsreferendum von Juli 2020 ist es möglich, dass Putin bis 2036 an der Macht
bleibt.

OSTEUROPA: Auf welche Trägerschichten stützt sich das Putin-Regime?

Heinemann-Grüder: Zu den Trägerschichten gehören erstens alle Regionen, die agra-
risch oder mono-industriell geprägt sind und von Subventionen aus dem Zentrum ab-
hängig sind, zweitens die Heerscharen von mittleren und höheren Staatsbediensteten,
insbesondere in den Regionalverwaltungen, drittens natürlich die siloviki, die Beschäf-
tigten in den umfangreichen Sicherheitsapparaten, schließlich die Vertreter staatsmono-
polistischer Unternehmen. Stützen des Putin-Regimes sind Oligarchen wie die Brüder
Arkadij und Boris Rotenberg, Aleksej Mordašov, Ališer Usmanov oder Oleg Deripaska.

OSTEUROPA: Welche Rolle spielen die westlichen Putin-Freunde für das System?

Heinemann-Grüder: Putins hiesige Höflinge sind nicht systemrelevant. Zu ihnen ge-
hören amtierende und ehemalige Politiker wie Silvio Berlusconi, Boris Johnson, Karin
Kneissl, Oskar Lafontaine, Matthias Platzeck, Gerhard Schröder oder Donald Trump.
Sie bilden einen Konvent der Weißwäscher und Weichspüler.
Den deutschen Putin-Advokaten ist es gelungen, dass weder Russlands Annexion der
Krim, noch der Krieg im Donbass, noch die Vergiftung von Naval’nyj dazu geführt
haben, die Spielregeln für den Bau der Nord Stream 2 Pipeline zu ändern. Das bestärkt
den Kreml in seiner zynischen Sicht, wonach dem Westen Rohstoffe, Märkte und In-
vestitionen wichtiger sind als Werte und das Völkerrecht.

OSTEUROPA: Sollte es in Russland zu einer Machtkrise kommen, welche Interessen-
gruppen könnten dem Putin-Regime ihre Loyalität aufkündigen?
Das Naval’nyj-Paradoxon                                 7

Heinemann-Grüder: Regime werden instabil, wenn die politische oder soziale Auf-
wärtsmobilität gebremst wird, wenn sich – wie in der späten Brežnev-Periode – eine
Gerontokratie verfestigt, der Kreis der Regimebegünstigten sich zu sehr verengt, oder
er mit dem angeschlagenen Patron unterzugehen droht. Die Kleptokratie der Hofkama-
rilla konnte lange auf stillschweigende oder billigende Hinnahme in der Bevölkerung
rechnen, weil den transferabhängigen Schichten und Regionen sozial-klientelistische
Güter offeriert werden konnten. Die Sozialklientel, die bedient werden kann, schrumpft,
dies erhöht den Unmut insbesondere im abstiegsgefährdeten urbanen Mittelstand.
Im postsowjetischen Raum gab es keine Revolution von unten, sondern jeder Regime-
wechsel war, ungeachtet von gelegentlicher Massenmobilisierung, im Kern eine Veran-
staltung von oben. Ein Herausforderer muss Teilen der Elite, der bisherigen Gewinner-
koalition, glaubwürdige Angebote unterbreiten, die Eliten-Kohäsion aufbrechen.

OSTEUROPA: Hat das Naval’nyj mit seinem Video über Putins Palast geschafft, das ja
über 110 Millionen Mal angeschaut wurde?

Heinemann-Grüder: Nein, im Gegenteil. Das Paradoxon von Naval’nyjs Erfolg be-
steht darin, dass er de facto zur Homogenisierung der Elite beiträgt; er macht kein Ab-
wanderungsangebot. Ein Herausforderer muss jenen, die dem Regime klientelistisch
verbunden sind, attraktive Anreize für Abwanderung bieten.
Das Geheimnis der Regimewechsel von 1989 bis 1991 war, dass es keine Nacht der
langen Messer gab, sondern eine Spaltung der Eliten in Hardliner und „Reformer“. Ein
Herausforderer muss den Angehörigen der Elite die Angst vor den Kosten der Illoyalität
nehmen. Naval’nyj operierte eher wie ein Populist, seine Strategie ist die Delegitimie-
rung der Herrschenden. Opposition in Russland müsste das Kosten-Nutzen-Kalkül der
Regimegünstlinge beeinflussen. Die Chancen einer Revolution von unten sind gering.
Massenproteste brauchen eine organisierte Avantgarde oder sie zerfasern.

OSTEUROPA: Welche Faktoren bestimmen das Verhalten der Sicherheitsapparate in
Krisen autoritärer Ordnungen?

Heinemann-Grüder: Die Sicherheitsapparate, insbesondere die Geheimdienste, Spezial-
einheiten und das Militär, können sich als Regimebegünstigte hinter den Patron stellen,
neutral bleiben oder die Seiten wechseln. Wie sie sich verhalten, entscheidet über den
Ausgang von Regimekrisen.
Das Kalkül der Angehörigen der Sicherheitsapparate wird beeinflusst von der Einschät-
zung der Kräfteverhältnisse (niemand will auf Seiten des Verlierers sein), der Aussicht
auf Amnestie (keine Prozesse), der Gefahr eines Übergreifens der Instabilität auf die
eigene Organisation (kein Zerfall der russländischen Armee nach dem Muster der Sow-
jetarmee), der vermutlichen Patronageaussicht (werden Militärs und Geheimdienste ihre
Privilegien verlieren?) und dem Inkorporationsangebot der Herausforderer.
Auch wenn die Schlussfolgerung ernüchternd ausfällt, zu einer Art 20. Juli 1944 würde
es in Russland erst kommen, wenn Putin einen Krieg zu verlieren droht und die Armee
und die Sicherheitsapparate aus Selbsterhaltungsgründen auf Distanz gingen. Auf die
siloviki dürften die Ermordung von Litvinenko und der versuchte Mord an Skripal’ als
wirksame Abschreckung gegen Illoyalität wirken.
8                             Andreas Heinemann-Grüder

OSTEUROPA: Das Regime setzt also auf Abschreckung und dosierte Gewalt?
Heinemann-Grüder: Kein Autokrat möchte in die Lage von Gorbačev, Gaddafi, Assad
oder Janukovič kommen. Keiner will eine Liberalisierungsdynamik auslösen, die er
nicht mehr kontrollieren kann. Aber Gewalt darf eine Rebellion auch nicht erst zur Ex-
plosion bringen. Das Putin-Regime verschärft stetig die Repression. Am Anfang der
Putin-Ära wurden namhafte Oppositionelle wie Boris Beresovskij ins Exil getrieben,
dann – wie Michail Chodorkovskij – ins Gefängnis gesteckt, schließlich wurden Oppo-
sitionelle ab 2006 zunehmend ermordet. Putin wird weiter führende Oppositionelle um-
bringen lassen, sich aber hüten, in Menschenmengen zu schießen – das war der Fehler
von Gaddafi, Assad und Janukovič. Putin wird effektive „riot control“ betreiben, aber
nicht den Fehler eines Blutsonntags von 1905 wiederholen.
OSTEUROPA: Wie konnte es Naval’nyj überhaupt gelingen, unter den Bedingungen eines
autoritären politischen Systems eine eigenständige politische Kraft aufzubauen?
Heinemann-Grüder: Die alte liberale Opposition wie Jabloko oder die Union der rechten
Kräfte konnte nie klar machen, ob sie das politische System (den Superpräsidentialismus,
die Rezentralisierung, die Verschmelzung von Business und politischen Ämtern) über-
winden oder nur das Führungspersonal austauschen wollte. Diese Opposition war durch
die 1990er Jahre diskreditiert. Die alte Opposition verkörperte das ukrainische Modell
– ein Pluralismus der Oligarchen, die politische Ergebnisse durch Lobbyismus, Ämter-
patronage, Taschenparteien und Medien kaufen.
Die Naval’nyj-Opposition setzt auf die Strategie „Der Feind meines Feindes ist mein
Freund“. Sie bezieht potentiell jeden ein, der unzufrieden ist – sozial Marginalisierte,
Kommunisten, postmaterialistisch eingestellte Jugendliche und früher sogar von Putin
enttäuschte Chauvinisten. In Russland werden die Proteste von einer jungen urbanen,
Generation bestimmt, die das Putinsche Regime nicht mehr erreicht.
OSTEUROPA: Naval’nyj hat mit seiner Rückkehr nach Russland die Öffentlichkeit und
das Putin-Regime überrascht. Wie lässt sich sein Handeln politisch einordnen?
Heinemann-Grüder: Naval’nyj hatte vorübergehend das Heft des Handelns in der
Hand. Er zwang Putin zu reagieren. Die Nervosität in den Machtzirkeln stieg, weil Pu-
tins Macht in vielen Konflikten darauf gründete, dass er die Eskalationsdominanz inne-
hat. Genau diese hatte ihm Naval’nyj durch seine überraschenden Schritte entzogen.
Naval’nyj suchte eine Entscheidungsschlacht. Er hoffte, durch eine Art Amoklauf zum
Auslöser von Massenprotesten zu werden. Naval’nyjs Regimekritik richtet sich gegen
den Sultanismus des Putin-Regimes. Er will es in eine Legitimationskrise stürzen. Erst
wenn die Anti-Korruptionsbewegung den Modus der personalistischen Politik von Na-
val’nyj überwindet, wird ihr Erfolg jedoch nicht mehr von einer Person abhängen. Cha-
rismatische Erwartungen an einen Führer sind stets Ausdruck von Ohnmacht – dies gilt
für Putin – und für die Anhänger Naval’nyjs.
Die von Naval’nyj verkörperte Opposition ähnelt in gewisser Weise dem Putin-Regime.
Sie ist stark auf eine Person bezogen, polarisierend, populistisch, und macht Anti-Politik,
hinter der die eigene programmatische Agenda verblasst. Naval’nyjs Handeln gründet
darauf, Putin vor sich her zu treiben. Einstweilen geht es nun um das blanke physische
Überleben – um das Leben Naval’nyjs in Haft und auch um das einiger Demonstranten.
                                 Mit Andreas Heinemann-Grüder sprach Manfred Sapper.
Marija Lipman                

          Aktive und Träge
          Russlands Gesellschaft nach den Naval’nyj-Protesten
          Trotz Verboten und Abschreckung gingen Ende Januar Hunderttausende,
          vor allem junge Menschen in Russland auf die Straße, um gegen die Ver-
          haftung und Verurteilung von Aleksej Naval’nyj zu protestieren. Aus diesen
          Protesten erwachsen noch keine stabilen politischen Strukturen. Aber sie
          finden vor dem Hintergrund einer gewachsenen Unzufriedenheit statt. Das
          Regime reagiert mit Härte. Doch die Gesellschaft lässt sich nicht mehr in
          Winterstarre versetzen. Was gestern unvorstellbar schien, ist heute in den
          Bereich des Möglichen gerückt: Putin ist nicht mehr der Quell aller Legiti-
          mität, sondern wird zu einer Last, die das Establishment loswerden
          möchte.

Im Sommer 2010 lag eine ungewöhnliche Hitze über dem europäischen Teil Russlands.
Im Umland von Moskau standen die Wälder in Brand. Der Feuerwehr und den Ret-
tungsdiensten fehlte es an Personal und Ausrüstung zum Löschen der Brände und zur
Versorgung der Verletzten.
Das Versagen der staatlichen Einsatzkräfte kam nicht unerwartet. Überraschend war,
dass sich rasch eine große Zahl von Freiwilligen organisierte. Sie kamen vor allem aus
Moskau und sammelten in kürzester Zeit Geld für Medikamente, Lebensmittel, Schläu-
che, Pumpen und andere Gerätschaften. Möglich wurde dies dank spezieller Internet-
plattformen, welche die Freiwilligen spontan eingerichtet hatten. Dies zeigte, dass in
Russland zumindest ein Teil der Gesellschaft über den inneren Antrieb und die Erfah-
rung verfügt, die für zivilgesellschaftliche Selbstorganisation unerlässlich sind.
Anderthalb Jahre nach den Bränden trat dieser Habitus erneut hervor, das organisatori-
sche Know-how kam wieder zum Einsatz. Doch dieses Mal ging es um Politik. Anlass
waren die Proteste gegen die Fälschungen bei den Duma-Wahlen im Dezember 2011.
Die 2010er Jahre waren von einem stetigen Ausbau des Überwachungsstaats gekenn-
zeichnet. Die Behörden gingen immer rigider gegen politisches Engagement und oft
sogar gegen nahezu unpolitische zivilgesellschaftliche Organisationen vor. Doch die
Bereitschaft der Gesellschaft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, konnte das Re-
gime nicht brechen. Diese ist vielmehr gewachsen. Russlands Gesellschaft hat eine soziale
Modernisierung durchlaufen. Sie ist heute nicht nur zum kollektiven Handeln bereit,
———
 Marija Lipman (1952), Journalistin, Moskau, Senior Associate am Institut für Europäische,
  Russländische und Eurasische Studien der George-Washington-Universität, Washington D.C.
  Von Marija Lipman erschien in OSTEUROPA: Coronavirus statt Kaiserkrönung. Putins Verfas-
  sung und die Pandemie, in: OE, 3–4/2020, S. 89–98. – Kontrolle durch Kooptation. Der Kreml
  und die Medien, in: OE, 11–12/2018, S. 215–231. – Doppelte Polarisierung. Russlands ge-
  spaltene Gesellschaft, in: OE, 6–8/2012, S. 9–22.
OSTEUROPA, 70. Jg., 12/2020, S. 9–18                              doi: 10.35998/oe-2020-0091
10                                      Marija Lipman

sondern auch dazu in der Lage. Sie kann mit vereinten Kräften auf ein selbstgestecktes
Ziel hinarbeiten. Besonders wichtig sind altruistische Organisationen, die nicht nur die
Interessen ihrer Mitglieder verteidigen, etwa wenn sie einen Neubau in der Nachbar-
schaft oder den Bau einer gefährlichen Produktionsanlage in einem nahegelegenen
Wald verhindern wollen.
Die Zahl altruistischer NGOs ist heute in Russland unüberschaubar groß. Am einen
Ende des Spektrums stehen unpolitische Wohltätigkeitsorganisationen, die Waisen, In-
validen, schwer erkrankte Kinder oder hochbetagte Menschen unterstützen. Dem Staat
kommt es zupass, dass diese Organisationen Aufgaben übernehmen, die er selbst zu
erfüllen nicht in der Lage oder nicht willens ist. Am anderen Ende des Spektrums stehen
etwa nichtstaatliche Online-Medien, insbesondere jene, die häufig über Korruption und
Machtmissbrauch berichten, aber auch zahlreiche Organisationen, die im Bereich der
politischen Bildung tätig sind, etwa Memorial oder das Sacharov-Zentrum, wo öffent-
liche Diskussionen zu politischen Themen stattfinden. An vorderster Front arbeiten
auch OVD-Info, eine Freiwilligenorganisation, die über Verhaftungen bei Protesten be-
richtet und den Betroffenen einen Anwalt vermittelt,1 Apologija Protesta, eine Men-
schenrechtsinitiative, die ebenfalls willkürlich Festgenommenen und politischen Ge-
fangenen juristische Hilfe zukommen lässt, und Mediazona, eine Internetplattform, die
über Festnahmen, Verhaftungen und alle Formen der politischen Verfolgung berichtet.

Die neue Protestwelle und die Zivilgesellschaft
Trotz Verboten und massiver Abschreckung gingen am 23. und 31. Januar 2020 in vielen
Städten Russlands zahlreiche Menschen auf die Straßen, um gegen die Verhaftung von
Aleksej Naval’nyj und seine Verurteilung zu protestieren. Der Staat reagierte auf die
Proteste mit Massenfestnahmen und brutaler Gewalt, verhängte Geldbußen und Arrest-
strafen. Betroffen waren auch viele Menschen, die sich während der Proteste rein zu-
fällig auf der Straße aufgehalten hatten. In vielen Fällen wurden ihnen Vernehmungs-
protokolle zur Unterschrift vorgelegt, in denen weder der Zeitpunkt noch der Ort ihrer
Festnahme stimmten. Ohne den geringsten Beweis wurden ihnen Ordnungswidrigkeiten
angehängt.2
Die Freiwilligen von OVD-Info und Mediazona dokumentierten diese Fälle. Andere
Freiwillige brachten Lebensmittel und warme Kleidung in die Haftanstalten, die teils
weit außerhalb Moskaus lagen und wo es weder Matratzen noch Decken gab. Stunden-
lang mussten die Verhafteten im Freien oder in ungeheizten Räumen warten und wurden
nicht mit Essen versorgt. Mitunter bekamen sie nicht einmal Wasser. Die Freunde und
Verwandten der Zellengenossen gründeten gemeinsame Telegramkanäle, um sich bei
der Unterstützung der Festgenommenen zu koordinieren und jenen, die noch auf der
Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen oder Bekannten waren, Informationen
geben zu können.
OVD-Info, Mediazona und der unabhängige Internetfernsehsender Dožd’, der ausführlich
über die Proteste berichtet, verzeichneten einen massiven Anstieg von Besuchern auf
———
1
     Zu OVD-Info siehe den Beitrag von Grigorij Ochotin in diesem Band, S. 35-40.
2
     Zu den Betroffenen gehörte auch der Chefredakteur von Mediazona Sergej Smirnov, der sich
     nicht an den Protesten beteiligt hatte, .
Aktive und Träge                                     11

ihren Internetseiten und erhielten zahlreiche Spenden.3 „Zivilgesellschaft in Hochform:
wechselseitige Hilfe, Solidarität, lebendiger Austausch“, schrieb die Moskauer Anwältin
Maria Ėjsmont, die seit langem Opfern von Polizeiwillkür hilft, auf ihrer Facebook-Seite.4
Zweifellos ist Russlands Gesellschaft heute fähig, sich selbst zu organisieren. Doch was
ist der politische Effekt dieser Errungenschaft?

„Same procedure as every year“?
Straßenproteste sind keine Seltenheit in Russland. Oft sind sie lokal und richten sich
gegen Baupläne des Staats, der Kirche oder einflussreicher Wohnungsgesellschaften.
Seit den großen Demonstrationen im Winter 2011/2012 sind jedoch immer wieder auch
Proteste aufgeflammt, in denen es nicht um konkrete Interessen, sondern um die Will-
kür des Staates als solche ging: Kundgebungen zur Unterstützung der in politischen
Prozessen, den sogenannten Bolotnaja-Prozessen, verurteilten Teilnehmer der Proteste
von 2012, Demonstrationen gegen die Verurteilung von Aleksej Naval’nyj in dem Pro-
zess wegen angeblicher Veruntreuung von Holz, in dem Naval’nyj 2013 zu einer Be-
währungsstrafe verurteilt wurde, 5 die Proteste gegen den von Russland entfesselten
Krieg im Donbass im Jahr 2014 und gegen das Verbot, Waisenkinder aus Russland zur
Adoption ins Ausland zu vermitteln, die Kundgebungen nach dem Mord an Boris Nemcov
im Februar 2015 und die Proteste gegen die groben Fälschungen bei den Wahlen zur
Moskauer Stadtversammlung im Jahr 2019. Die Liste ist bei weitem nicht vollständig.
Die gegenwärtigen Proteste finden vor dem Hintergrund einer generell gewachsenen
Unzufriedenheit in der Gesellschaft statt. Zu dieser hat etwa die Rentenreform von 2018
beigetragen. Nach besseren Umfragewerten für das Regime im Jahr 2019 sanken diese
im Jahr 2020 wegen der Corona-Pandemie und der Einschränkung des öffentlichen Le-
bens wieder. Vor allem aber sind die Reallöhne gesunken, nach offiziellen Angaben im
Jahr 2020 um 3,5 Prozent. Im Vergleich zum Jahr 2013 beträgt der Rückgang gar zehn
Prozent. Die Zahl der Menschen, die nach der amtlichen Definition in Armut leben, ist
im Jahr 2020 um 400 000 auf 19,6 Millionen oder 13,3 Prozent der Bevölkerung ge-
wachsen.6
Hinzu kommt die Unzufriedenheit mit der Verfassungsänderung und dem Verfassungs-
referendum vom Juli 2020, das mitten in Pandemiezeiten stattfand und selbst nach russ-
ländischen Maßstäben mit himmelschreienden Manipulationen einherging.7 Bei einer

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3
    Effekt Naval’nogo: kak protesty pomogli-„Doždju“, „Mediazone“ i „OVD-Info“ privleč’ mil-
    liony požertvovanij i podpisčikov. The Bell, 10.2.2021.
4
    .
5
    Das ist jener Prozess, der mit einem Urteil auf Bewährung endete, das der Europäische Ge-
    richtshof für Menschenrechte als rechtswidrig verwarf. Nun wurde die damalige Bewährungs-
    strafe aus einem rechtswidrigen Prozess zur Grundlage für den Bewährungswiderruf, so dass
    Naval’nyj für zwei Jahre und acht Monate eine Haftstrafe antreten muss. Zum damaligen Pro-
    zess aus dem Jahr 2013: Otto Luchterhandt: Missbrauch des Strafrechts. Das „System Putin“
    im Kampf gegen Aleksej Naval’nyj, in: OSTEUROPA, 1–2/2015, S. 95–124, .
6
    www.rbc.ru/economics/28/01/2021/60129a749a7947cf1ca85d53
7
    Zum frühen Umgang mit Corona: Marija Lipman: Coronavirus statt Kaiserkrönung. Putins
    Verfassung und die Pandemie, in: OSTEUROPA, 3–4/2020, S. 89–98.
12                                       Marija Lipman

Umfrage des Levada-Zentrums zeigten sich zum Zeitpunkt der Verabschiedung der
neuen Verfassung, die Putin weitere Amtszeiten über das Jahr 2024 hinaus ermöglicht,
48 Prozent der Respondenten einverstanden mit der „Reform“, 47 sprachen sich dage-
gen aus.8 Das offizielle Ergebnis des Referendums lautete: 78 Prozent Zustimmung.
Ein Großteil der Gegner der Verfassungsänderungen ignorierte die Abstimmung
schlicht. Ebenso ignorierte der Kreml diesen Teil der Gesellschaft. Putins Pressesprecher
Dmitrij Peskov sprach von einem „triumphalen Sieg des Vertrauens in den Präsidenten“.9
Der Ärger über diese Behauptung spielt sicher eine Rolle bei der sinkenden Zufrieden-
heit der Bürger.10
Auffällig ist, dass die Kluft zwischen der „Generation Internet“ und der „Generation
Fernseher“ weiter wächst. Es ist die Altersgruppe der über 60-Jährigen, die loyal zu
dem Regime im Kreml stehen und dies bei Wahlen zum Ausdruck bringen. Der Gegen-
satz zwischen Jung und Alt hatte sich bereits Ende der 2000er Jahre und besonders
deutlich während der Proteste im Winter 2011/2012 gezeigt. Die Annexion der Krim
hat jedoch die Fronten eingeebnet, die gesamte Nation stand hinter Putin. Eine sehr
große Mehrheit der Menschen in Russland sah in ihr eine Wiederherstellung histori-
scher Gerechtigkeit und war stolz, dass Russland nach eigenem Gutdünken und nicht
mehr nach dem Taktstock des Westens handelt. Mit dieser nationalen Einheit ist es
vorbei, die Spaltung der Gesellschaft ist heute tiefer als 2011/2012. Nicht mehr nur die
Ansichten und Werte der jungen Generation unterscheiden sich von jenen der Älteren,
sondern auch die konkrete Beurteilung der politischen Lage. In der Altersgruppe der
18- bis 24-Jährigen ist heute eine Mehrheit der Ansicht, das Land bewege sich in die
falsche Richtung.11
Ein wichtiger Unterschied zu den Protesten 2011/2012 ist die gewachsene technische
Versiertheit der Demonstranten: „Die Zahl der Tools, die eine schnelle Reaktion er-
möglichen, Live-Schaltungen, Nachrichtenticker, stundenlange Streams, all das hat
sich vervielfältigt. Diese Kanäle informieren nicht nur über die laufenden Ereignisse,
sie sind ein Medium neuer sozialer Praktiken: der Teilhabe, des Benachrichtigens, der
Unterstützung und der Hilfe.“12

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8
     Levada centr: Obnulenie prezidentskich srokov. 27.3.2020,
     .
9
     V Kremle nazvali itogi golosovanija po popravkam triumfal’nym referendum о doverii Putinu.
     TASS, 2.7.2020.
10
     Levada centr: U protesta est’ rezultat, 9.2.2021, .
11
     Levada centr: Prezidentskie rejtingi i položenie del v strane. 4.2.2021, .
12
     Effekt Naval’nogo [Fn. 3].
Aktive und Träge   13

Russlands Verfassung

Nižnij Novgorod, 31.1.2021
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