Beitrag: Flüchtlinge zwischen allen Fronten - Kein Wasser, kein Essen, kein Zutritt
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Manuskript Beitrag: Flüchtlinge zwischen allen Fronten – Kein Wasser, kein Essen, kein Zutritt Sendung vom 26. Oktober 2021 von Susan Odenthal und Astrid Randerath Mitarbeit: Roman Krysztoflak und Magdalena Schwabe Anmoderation: Szenen aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet, nahe der Stadt Guben. Es ist Samstagnacht. Die Polizei stoppt eine Gruppe, die auf dem Weg zur Grenze war. Die aufgegriffenen Personen kommen nicht aus Syrien oder dem Irak. Es sind keine Flüchtlinge, die Schutz in Deutschland suchen. Es sind Deutsche, die loszogen, um Flüchtlinge zu jagen. Die rechtsextreme Partei „Der III. Weg“ hatte zum sogenannten „Grenzgang“ aufgerufen. Gewalt wohl inklusive. Die Polizei stellte später Pfeffersprays, Schlagstöcke, ein Bajonett und eine Machete sicher. Zugleich setzten in Guben andere Deutsche ein anderes Zeichen - bei einer Mahnwache gegen Rassismus und für ein Menschenrecht auf Asyl. Man wolle die Region nicht den Neonazis überlassen, meinten die Veranstalter. Und dann sind da die Menschen, um die es geht, die aber von alldem gar nichts ahnen. Flüchtlinge, die eingeklemmt sind zwischen allen Fronten. Kein Wasser, kein Essen, kein Zutritt. Sue Odenthal und Astrid Randerath berichten. Text: Durchnässt, krank und entkräftet - der 5-jährige Lais und sein größerer Bruder Gais irrten mit ihren Eltern sechs Tage im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen umher. Die Familie aus Syrien wurde von polnischen und belarussischen Soldaten hin- und hergetrieben. O-Ton Ala, Migrantin aus Syrien: Die belarussischen Soldaten haben uns gesagt: entweder Sterben oder Polen. Dann haben wir die polnische Armee um
Hilfe gebeten, die Grenze zu überqueren, weil die Kinder hungrig und krank waren. Aber sie haben uns nicht geholfen, sondern zurückgeschickt in der Nacht, uns angeschrien und geschlagen. Polnische Aktivisten hatten die Familie im Wald gefunden und Hilfe angefordert. Ala erzählt, sie seien mit dem Flugzeug nach Minsk geflogen wie Tausend andere Migranten aus Syrien, Irak, Afghanistan in diesen Wochen auch. O-Ton Ala, Migrantin aus Syrien: Irgendjemand hat uns mit dem Auto an die Grenzregion gebracht und gesagt: Ihr sollt zu den belarussischen Soldaten gehen. Dort haben sie uns auf einen Lkw geladen und zur polnischen Grenze gefahren. Und dort haben die Soldaten uns gesagt, wir sollen den Stacheldraht zerschneiden und die Grenze überqueren. Die meisten Migranten stranden in der drei Kilometer breiten Sperrzone, die Polen errichtet hat. Keine Hilfsorganisationen, keine Medien dürfen dort rein, nur das Militär und Anwohner. Was sich dort für eine Tragödie abspielt, das lässt sich nur erahnen. Auf der anderen Seite Lukaschenkos Machtapparat. Der weißrussische Machtinhaber nutzt Migranten als Druckmittel. O-Ton Prof. Gwendolyn Sasse, Direktorin Zentrum für Osteuropa- und Internationale Studien: Lukaschenko ist auf einem Rachefeldzug gegen die EU. Er will sich mit dem Druck, den er durch politische Maßnahmen, durch die Flüchtlinge auf Nachbarstaaten ausübt, für die Sanktionen der EU rächen. Er will damit zeigen, dass er Macht ausüben kann. Küstrin, deutsch-polnische Grenze vergangene Woche: 35 Menschen eingepfercht in einem Kleintransporter. Ryszard Dubik war zufällig da und hat gefilmt. Noch immer hallen die Schreie der Flüchtlinge in seinen Ohren: Wasser, Wasser! O-Ton Ryszard Dubik, Zeitzeuge und Kameramann: Sie waren eingepfercht in einem Auto, im Laderaum, ohne Luft, mit geschlossenen Türen - ein Glück, dass es nicht heiß war. Wären sie in so einer Hitze gefahren, hätten es einige von ihnen es nicht überlebt. Laut Bundespolizei sind seit Anfang August 6.500 Menschen aufgegriffen worden – sie kamen über Belarus und Polen nach Deutschland.
O-Ton Gerald Knaus, Vorsitzender Europäische Stabilitätsinitiative (ESI): Wenn es nicht gelingt, eine Antwort, eine Strategie der humanen Kontrolle, die gleichzeitig der Erpressung von Lukaschenko etwas entgegensetzt, zu finden, dann wird das ein tödlicher Winter, dann werden an der Grenze auf europäischem Boden Menschen erfrieren, denn Lukaschenko hat keine Skrupel. Und das bedeutet auch für die nächste deutsche Regierung, dass alle Versprechen, die Menschenwürde – ja, nur wenige Stunden von der deutschen Grenze entfernt - an der EU-Außengrenze zu wahren, dass diese Versprechen sich als leer enthüllen werden. Die Bilder erinnern an den Beginn der Flüchtlingskrise von 2015. Sie platzen mitten in die Koalitionsverhandlungen. Was wollen SPD, Grüne und FDP in der Migrationspolitik - ganz konkret - anders machen? Im Sondierungspapier ist die Rede von schnelleren Asylverfahren. Migration müsse besser geordnet werden. O-Ton Stephan Thomae, FDP, MdB, stellvertretender Fraktionsvorsitzender: Wir müssen insbesondere auch Verwaltungsgerichte hinreichend ausstatten, damit die Asylverfahren, Klageverfahren, schnell durchgeführt werden können. Wenn man Verfahren beschleunigen will, gibt es zwei Möglichkeiten, einmal Verfahrensgänge zu vereinfachen oder eben mehr Personal einzustellen. Und mehr Personal heißt dann natürlich auch immer, dass man über die Finanzierung des Personals reden muss. O-Ton Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, MdB, Sprecherin für Europapolitik in der Fraktion: Wir brauchen eine gemeinsame europäische Antwort auf die illegalen Schleuseraktivitäten Lukaschenkos. Und dafür braucht es unserer Meinung nach jetzt geordnete Verfahren, also, dass wir Unterstützung geben bei der Aufnahme, bei der Registrierung, und dann wahrscheinlich mit einigen Mitgliedsstaaten die Flüchtlinge dann auch verteilen auf die EU. Die Handlungsfähigkeit wäre auch ein Zeichen an Lukaschenko, dass wir uns nicht erpressen lassen. Zurück, nahe der Sperrzone zwischen Belarus und Polen. Lais und Gais, die beiden syrischen Jungen müssen nach knapp einer Woche Odyssee ins Krankenhaus. Nach Nächten im Wald und gewalttätigen Soldaten hat Mutter Ala Angst - Angst, wieder nach Belarus abtransportiert zu werden. Sie will sich auf keinen Fall von ihren Kindern trennen.
Die Angst ist berechtigt, sagt Crystal von Leeuwen von "Ärzte ohne Grenzen". Sie war dabei, wie polnische Soldaten Menschen mitgenommen haben. 13 Migranten, darunter vier Kinder, suchten internationalen Schutz bei einer polnischen Hilfsorganisation, doch dann: O-Ton Crystal van Leeuwen, Ärzte ohne Grenzen: Die polnischen Grenzsoldaten kamen schwer bewaffnet an und nahmen alle Schutzsuchenden mit, sie brachten sie weg. Wir fuhren an den Ort, von dem wir wussten, dass es der einzige Ort in der Gegend ist, an dem Menschen abgefertigt werden, bevor sie in Internierungslager gebracht werden. Aber dort waren sie nicht. Ein paar Stunden später sandten sie uns mit dem Handy ihren Standort: Sie waren zurück in Belarus. Pushbacks: In Polen sind sie an der Tagesordnung, obwohl sie nach EU- und Völkerrecht rechtswidrig sind. Heute wurden sie in Polen per Gesetz erlaubt. O-Ton Franziska Vilmar, Amnesty International: Es ist sicherlich keine leichte Aufgabe, aber es geht darum, dass auf dem Recht - auf dem Papier - jetzt gerade Europarecht einzuhalten ist. Und wir erwarten von der Bundesregierung, aber auch von den Koalitions- verhandelnden, dass solche Menschenrechtsverletzungen zunächst erst mal wirklich deutlich verurteilt werden, aber auch in Zukunft unterbunden werden. frontal will wissen, wie die künftige Ampel-Koalition solche Pushbacks in Polen stoppen will: O-Ton Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, MdB, Sprecherin für Europapolitik in der Fraktion: Wir als Grüne wollen, dass die Gelder, die diese Länder ja bekommen für ihre Arbeit an den Grenzen, gestoppt wird, wenn sie eben illegale Pushbacks durchführen, auch übrigens für Ausrüstung, die sie dafür ja benutzen, und dass es eben gegebenenfalls auch juristische Verfahren gegen die betroffenen Personen braucht, um wirklich hier wieder auf den Grund der Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union zurückzukommen, und dass wir uns nicht auch noch daran beteiligen. O-Ton Stephan Thomae, FDP, MdB, stellvertretender Fraktionsvorsitzender: Pushbacks sind völkerrechtlich ein unrechtmäßiges Mittel. Man muss hier deutlich machen, dass, wer schon EU-Terrain
erreicht hat und hier einen Asylantrag stellt, dann auch die Chance hat, dass dieser Asylantrag bearbeitet wird. Die SPD wollte sich zu Fragen von frontal nicht äußern. Im Sondierungspapier der Ampel-Koalition steht, man wolle das Leid und Sterben an den Außengrenzen beenden. Die Frage ist, ob diese Ziele auch umgesetzt werden. O-Ton Gerald Knaus, Vorsitzender Europäische Stabilitätsinitiative (ESI): Wird Deutschland, wird die deutsche Regierung sich dafür einsetzen, dass es wirkliche Untersuchungen und Sanktionen gibt, wenn Staaten EU-Recht brechen? Ist die Regierung dazu bereit? Wenn nicht, dann fürchte ich, dass auch die Ampel- Koalition mit all ihren Versprechen und Hoffnungen und ernsthaften Absichten am Ende scheitern wird. Zurück in Polen. Die syrische Mutter Ala und ihre Kinder können aufatmen, sie sind am Krankenhaus angekommen. Hier werden Lais und Gais untersucht und versorgt. Für sie hat die gefährliche Route ein glückliches Ende genommen: Sie sind in Sicherheit – vorerst. Abmoderation: Pushbacks in Polen und Streit in der EU. Für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, die heute übrigens formal entlassen wurde, eine bittere Bilanz: Auch über die Verteilung der Migranten auf die Mitgliedsstaaten streitet die EU bereits seit Jahren. Europa hat noch nicht mal das geschafft. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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