Über den "Marktsozialismus" hinaus: Ein Vergleich der chinesischen Reform und Öffnung mit den Reformzyklen in Osteuropa seit den 1960er-Jahren ...

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Felix Wemheuer

Über den »Marktsozialismus« hinaus: Ein Vergleich der
chinesischen Reform und Öffnung mit den Reformzyklen
in Osteuropa seit den 1960er-Jahren

      »Die These vom Vorrang der Politik hat zeitweise auch bei uns dazu geführt, dass die
    politischen Zielstellungen und bestimmte Wünsche bei der Festlegung der ökonomischen
 Aufgaben vorherrschten, dass die Pläne nicht immer ausreichend technisch und ökonomisch
         begründet waren, dass sie nicht immer den materiellen Möglichkeiten entsprachen.
           Es wurden bei uns schon Maßnahmen durchgeführt mit Rücksicht darauf, was in
     Westdeutschland dazu gesagt wird […]. Aber in der Tat haben jetzt die ökonomischen
                                                                 Aufgaben den Vorrang.«1

                                                                             Walter Ulbricht (1962)

                                                        »Entwicklung ist das Kardinalprinzip.«2

                                                                              Deng Xiaoping (1992)

In der Volksrepublik lässt die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die Reform und
Öffnung als eine nationale Erfolgsgeschichte schreiben. Dabei werden die Lehren betont,
die die Führung um Deng Xiaoping 1978 aus den »zehn Jahren Chaos« der »Kultur­
revolution« (1966–1976) gezogen habe.3 Neben der Wiederherstellung des Ansehens der
Partei und der politischen Stabilität stand für die Reformer die Erhöhung des Lebens­
standards der Bevölkerung ganz oben auf der Prioritätenliste. Dieses Ziel sollte durch

	Für ein kritisches Feedback zu diesem Beitrag danke ich Prof. Dr. Susanne Weigelin-Schwiedrzik
   (Universität Wien), Dr. Tobias Rupprecht (University of Exeter), Dr. Isabella M. Weber (University
   of Massachusetts Amherst) sowie Prof. Dr. André Steiner (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische
  ­Forschung, Potsdam).
1 Neues Deutschland vom 15. 12. 1962, zitiert nach: Jörg Roesler: Zwischen Plan und Markt: Die
   Wirtschaftsreform in der DDR zwischen 1963 und 1970, Berlin 1990, S. 25.
2 Deng Xiaoping: Zai Wuchang, Shenzhen, Zhuhai, Shanghai dengdi de tanhua yaodian [Die Kern­
   punkte der Gespräche in Wuchang, Shenzhen, Zhuhai, Schanghai und anderer Orte], in: Deng
   Xiaoping wenxuan [Ausgewählte Werke Deng Xiaopings], Beijing 1993, Bd. 3, S. 377.
3 Siehe z. B. Xi Jinping: Zai qingzhu gaige kaifang 40 zhounian dahui shang de jianghua [Rede auf der
   großen Konferenz zur Feier des 40. Jahrestages der Reform und Öffnung], 2018, www.cssn.cn/zt/
   zt_rdzt/jnggkfsshzhn/tt1/201812/t20181218_4795519.shtml (ges. am 10. 12. 2019).
16     JHK 2020                                                                   Felix Wemheuer

Wirtschaftswachstum erreicht werden. China war nicht das erste staatssozialistische
Land, das versuchte, durch Wirtschaftsreformen und Öffnung zum Weltmarkt neue
Quellen der Legitimation zu erschließen, sondern mit Beginn der Reformen 1978 eher
ein Nachzügler. Da die Vorgeschichte osteuropäischer Wirtschaftsreformen in China
heute weitgehend vergessen und auch in der westlichen Forschung kaum präsent ist, soll
sie an dieser Stelle nachgezeichnet werden. Wie es zu transnationalen Ideentransfers zwi­
schen osteuropäischen Reformmodellen und China kam, wird im Beitrag von Susanne
Weigelin-Schwiedrzik und Liu Hong in diesem Band behandelt. An dieser Stelle werden
die Reformzyklen in Osteuropa und China seit den 1960er-Jahren in einem Überblick
periodisiert, analysiert und verglichen.
    Nach 1992 ging die KPCh über den »Marktsozialismus« hinaus, indem sie die »eiserne
Reisschüssel«, die lebenslange Anstellung und Versorgung für die städtischen Arbeiter
der Mao-Ära, abschaffte und eine weitgehende Privatisierung der Staatsindustrie einlei­
tete. Außerdem gelang es den Unterstützern der Reform und Öffnung seit 1978, sich an
der Spitze der Partei zu behaupten, während in Osteuropa Interventionen der Sowjet­
union, innerparteiliche Machtkämpfe oder Unmut in der Bevölkerung zur Einleitung
von Gegenreformen führten.

I. Krise des klassischen Modells: Reformzyklen in der Sowjetunion und
Osteuropa

In der Sowjetunion und Osteuropa hatte es nach Stalins Tod 1953 mehrfach Versuche
von Wirtschaftsreformen gegeben. Um die Fortschritte und Rückschritte auf diesem
Gebiet zu beschreiben, sprachen Forscher von Reformzyklen bzw. -wellen.4 Mitte der
1950er- bzw. spätestens seit Beginn der 1960er-Jahre hatten Parteiführungen in einigen
Ländern erkannt, dass das von der Sowjetunion übernommene Modell einer zentralis­
tischen Planwirtschaft in einer Krise steckte. Zwar gelang es, besonders in den Agrar­
staaten Osteuropas nach 1945 eine rasante Industrialisierung zu vollziehen. In den
1950er-Jahren waren die Wachstumsraten in der Sowjetunion und in den von ihr kon­
trollierten Staaten beeindruckend.5 Die einseitige Ausrichtung auf den Aufbau der
Schwerindustrie hatte jedoch zur Vernachlässigung der Landwirtschaft und der Bedürf­
nisse der Konsumenten geführt. Bei der Versorgung der Bevölkerung kam es immer
wieder zu Engpässen. Im Zuge des Tauwetters nach Stalins Tod und als Reaktion auf die
Aufstände in der DDR 1953 sowie in Ungarn und Polen 1956 gab es erste ernsthafte
Diskussionen zur Korrektur von Fehlentwicklungen bzw. einer »Vervollkommnung« der
Planung. In Polen versuchte die neue Führung um den Nationalkommunisten Władysław

4    Wlodzimierz Brus: Geschichte der Wirtschaftspolitik in Osteuropa, Köln 1986, S. 279–287;
     Władysław Jermakowicz/Jane Thompson Follis: Reform Cycles in Eastern Europe, 1944–1987: A
     Comparative Analysis from a Sample of Czechoslovakia, Poland, and the Soviet Union, Berlin 1988.
5    Für eine statistische Übersicht siehe Dieter Segert: Staatssozialismus, ökonomische Entwicklung
     und Modernisierung in Osteuropa, in: Joachim Becker/Rudy Weissenbacher (Hg.): Sozialismen:
     Entwicklungsmodelle von Lenin bis Nyerere, Wien 2009, S. 111.
Über den »Mark tsozialismus« hinaus                                                 JHK 2020      17

Gomułka 1956, die Unterstützung der Bevölkerung durch ein Paket von Maßnahmen zu
gewinnen. Dazu gehörte die Einleitung einer weitgehenden Dekollektivierung der Land­
wirtschaft, da große Teile der Bauernschaft das sowjetische Modell der Kollektivierung
ablehnten. Der Anteil des Agrarlandes, der von kollektiven und staatlichen Betrieben
bewirtschaftet wurde, sank zwischen 1953 und 1960 von 19 auf 13 Prozent.6 Auf dem
Gebiet der Industrie führte die Regierung 1956 Arbeiterräte zur Mitbestimmung in den
Betrieben ein. Die neue Parteiführung beschloss außerdem eine Dezentralisierung der
Wirtschaftsplanung durch Reduzierung der zentral bestimmten, verbindlichen Planziele
sowie eine Ausweitung der Autonomie der Staatsunternehmen.7
    In den meisten Ländern wurden die Debatten und Reformversuche allerdings ab
1957 wieder abgebrochen. In der DDR zum Beispiel maßregelte die SED-Führung um
Walter Ulbricht in einer »Anti-Revisionismus«-Kampagne die Befürworter von Refor­
men für eine weitgehende Dezentralisierung der Planung und einem stärkeren Einsatz
von materiellen Anreizen für die Betriebe.8 Die Probleme, die das klassische System der
Planwirtschaft mit sich brachte, wurden dadurch aber nicht gelöst.
    In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre ließ das Wirtschaftswachstum der meisten
staatssozialistischen Länder Osteuropas deutlich nach.9 Ambitionierte Pläne, die west­
lichen kapitalistischen Staaten in kurzer Zeit nicht nur einzuholen, sondern auch zu
überholen, stellten sich als völlig unrealistisch heraus.10 Tatsächlich erlebte der Kapitalis­
mus in Westeuropa in den 1950er- und 1960er-Jahren sein »goldenes Zeitalter« mit hohen
Wachstumsraten, Ausbau des Sozialstaates sowie einer massiven Steigerung des Lebens­
standards der breiten Masse. Große Teile der Bevölkerung Osteuropas verglichen ihr
Konsumniveau nicht mit der Vorkriegszeit, sondern mit »dem Westen«. Den kommunis­
tischen Führungen wurde zunehmend klar, dass die Idee, sich vom Weltmarkt abzukop­
peln und eine autarke sozialistische Wirtschaftsgemeinschaft aufzubauen, schwierig war,
da die kapitalistischen Länder auf einigen Gebieten Erfinder führender Technologien
waren. Die eigene Entwicklung war sehr kostspielig und zeitintensiv. Die Sowjetunion
hatte zwar große Erfolge bei der Weiterentwicklung von Waffen und in der Raumfahrt
erzielt, der technologische Abstand zum Westen in der zivilen Industrie war jedoch groß.
Das Wirtschaftsembargo der USA und ihrer Verbündeten hatte die sozialistischen Län­
der systematisch von Hochtechnologie abgeschnitten. Im Rahmen der »Entspannungs­
politik« zwischen den Blöcken in den 1960er-Jahren wurde der Boykott zwar nicht auf­
gehoben, es ergaben sich jedoch neue Möglichkeiten des Handels zwischen Ost und
West.

6  Mark Harrison: Communism and Economic Modernization, in: Stephen A. Smith (Hg.): The
   Oxford Handbook of the History of Communism, Oxford 2014, S. 396.
7 Brus: Geschichte der Wirtschaftspolitik in Osteuropa (Anm. 4), S. 199.
8 Günter Krause: Wirtschaftstheorie in der DDR, Marburg 1998, S. 125–132.
9 Segert: Staatssozialismus (Anm. 5), S. 111.
10 Siehe z. B. André Steiner: The Plans that Failed: An Economic History of the GDR, New York 2013,
   S. 90; Frederick C. Teiwes und Warren Sun: China’s Road to Disaster: Mao, Central Politicians, and
   Provincial Leaders in the Unfolding of the Great Leap Forward, 1955–1959, Armonk 1999.
18    JHK 2020                                                                Felix Wemheuer

Preis- und Betriebsreform: Gemeinsamkeiten der Reformagenda der 1960er-Jahre
In den Jahren zwischen 1963 und 1968 wurde ein zweiter Reformzyklus in der Sowjet­
union und Osteuropa eingeleitet. Trotz aller nationalen Besonderheiten gab es gemein­
same Nenner: Marktmechanismen sollten in die Planwirtschaft eingeführt werden, um
die Produktivität zu steigern. Zentrale Elemente waren in diesem Zusammenhang
Betriebs- und Preisreformen. Eine stärkere Dezentralisierung des Planungssystems sowie
eine Reduzierung der Planvorgaben hatten das Ziel, die Autonomie der Betriebe zu ver­
größern. »Gewinn« sollte zum zentralen Kriterium der Betriebsführung werden. Durch
Gewinnbeteiligung und stärker ausdifferenzierte Prämiensysteme hofften die Reformer,
sowohl Management als auch Belegschaften aufgrund materieller Anreize zur Steigerung
der Produktivität zu animieren. Durch die Einführung von Marktelementen als Ergän­
zung zum Plan sollte ein echter Wettbewerb zwischen den Betrieben entstehen. Anstatt
ihnen für alle Produkte genaue Produktionszahlen von oben vorzugeben, wurde die
Fünfjahresplanung nun als »Perspektivplan« oder in einigen Fällen sogar als »Zukunfts­
prognose« gesehen. Durch eine regelmäßige Anpassung an Produktionsentwicklung und
Nachfrage sollte die Planung flexibler werden. Ein weiteres Element stellten Preisrefor­
men dar, mit denen nicht mehr alle Preise von den zentralen Planungsbehörden nach
politischen Kriterien festgelegt wurden. Die Festlegung der Preise sollte sich stärker an
deren Wert, d. h. der notwendigen durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit zu
ihrer Herstellung orientieren.11 Eine Privatisierung der Staatsindustrie war zwar bis Ende
der 1980er-Jahre ein politisches Tabu. Dennoch traten die Reformkräfte für eine Auf­
wertung des kollektiven und kleinen privaten Sektors ein, um Angebotslücken zu schlie­
ßen und mehr Wettbewerb zu generieren.
    Diese Agenda bedeutete natürlich auch einen Abschied von der Ideologie der »Ver­
schärfung des Klassenkampfes«, die in der Phase des Aufbaus des Sozialismus die Stalin-
Ära prägte. Kader sollten sich nicht nur durch politischen Eifer und Loyalität gegenüber
der Parteiführung auszeichnen, sondern auch durch eine verbesserte fachliche Qualifika­
tion. Der ideale Kader entsprach nun eher einem Technokraten als dem bolschewis­
tischen Revolutionär der Zwischenkriegszeit. Im Unterschied zur ersten Kadergeneration
kamen die Vertreter der zweiten Generation nicht mehr aus dem Untergrund, dem
Zuchthaus oder dem Exil, sondern aus den Parteischulen oder Universitäten in ihre
Posten.

Der jugoslawische Sonderweg zwischen den Blöcken
Der Vorreiter in Richtung »Marktsozialismus« und Öffnung zum Weltmarkt war Jugos­
lawien. 1947 kam es zum Konflikt zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien unter
Führung von Josip Broz Tito. Um Jugoslawien zur Unterwerfung unter Moskau zu zwin­
gen, ließ Stalin ein Wirtschaftsembargo verhängen. 1948 wurde Jugoslawien aus dem
Kommunistischen Informationsbüro (Kominform) ausgeschlossen, das ein überstaat­
liches Bündnis von kommunistischen Parteien unter Führung der Sowjetunion dar­

11 Zu dieser Debatte siehe Włodzimierz Brus: Funktionsprobleme der sozialistischen Wirtschaft,
   Frankfurt a. M. 1971, S. 196–198; Krause: Wirtschaftstheorie in der DDR (Anm. 8), S. 178–182.
Über den »Mark tsozialismus« hinaus                                             JHK 2020     19

stellte. Die USA honorierten Belgrads Willen zur Unabhängigkeit von Moskau anfangs
mit großzügigen Krediten und Militärhilfen. Zunächst führte die jugoslawische Regie­
rung in ausdrücklicher Abgrenzung zum Modell der Sowjetunion in den 1950er-Jahren
schrittweise eine »Arbeiterselbstverwaltung« in den Betrieben ein. Belegschaften sollten
ihre Manager selbst wählen und in wichtigen Angelegenheiten ein Recht auf Mitsprache
haben. Planungsbehörden und Partei wurden zwar nicht entmachtet, sie sollten aber eine
geringere Rolle spielen. Diese Maßnahmen wurden als Meilenstein in Richtung Verge­
sellschaftung der Produktionsmittel gesehen. Die jugoslawischen Genossen stellten die
Gleichsetzung von Sozialismus mit Staatseigentum unter der Kontrolle der Bürokratie
infrage. Die Regierung hoffte darüber hinaus, durch die stärkere Autonomie der Betriebe
und deren Eigenverantwortung für Gewinn und Verluste die wirtschaftliche Effizienz zu
erhöhen. Während der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wurden die Betriebe in weiteren
Reformschritten zunehmend von zentralen Planvorgaben befreit und sollten miteinander
konkurrieren.12 Die Entstehung eines Arbeitsmarktes führte zu einer, für ein sozialisti­
sches Land, hohen Arbeitslosigkeit.13 Die Regierung versuchte diese Entwicklung durch
die Billigung von Arbeitsmigration in kapitalistische Länder wie Westdeutschland und
Österreich zu kompensieren. Radikale Veränderungen gab es auch auf dem Gebiet der
Landwirtschaft. Wie in Polen wurde die jugoslawische Landwirtschaft weitgehend
dekollektiviert. Zwischen 1953 und 1960 sank die Agrarfläche, die von kollektiven und
staatlichen Betrieben bewirtschaftet wurde, von 37 auf 10 Prozent.14
    Tito versuchte die Beziehung zur Sowjetunion zu verbessern, allerdings mit dem Ziel,
dass Moskau den unabhängigen jugoslawischen Weg anerkannte. Als Vorreiter der Bewe­
gung der blockfreien Staaten gelang es Jugoslawien, sich sowohl vom sowjetischen als
auch vom amerikanischen Einfluss zu emanzipieren. Blockfreie Staaten, darunter die
meisten Länder der »Dritten Welt«, schlossen sich weder der NATO noch dem War­
schauer Pakt an. Jugoslawien genoss damals großes internationales Ansehen. So wurde
Tito als erstes Staatsoberhaupt eines sozialistischen Landes vom Papst empfangen.15 Um
mehr westliches Kapital anzuziehen, erließ die jugoslawische Regierung 1967 als erstes
Land in Osteuropa ein Gesetz zur Gründung von Joint-Venture-Betrieben.16

12 Für eine Einführung in das damalige ökonomische Modell siehe Branko Horvat: Die jugoslawische
   Gesellschaft: Ein Essay, Frankfurt a. M. 1969. Die neuere Forschung betont die Zusammenhänge
   zwischen innerparteilichen Machtkämpfen und der Entwicklung der »Arbeiterselbstverwaltung«:
   Vladimir Unkovski-Korica: The Economic Struggle for Power in Tito’s Yugoslavia: From World
   War II to Non-Alignment, London 2016.
13 Zur Debatte siehe Susan L. Woodward: Socialist Unemployment: The Political Economy of Yugos­
   lavia, 1945–1990, Princeton 1995.
14 Harrison: Communism and Economic Modernization (Anm. 6), S. 396.
15 Jože Pirjevec: Tito: Die Biografie, München 2016, S. 478.
16 Petru Buzescu: Joint-Ventures in Eastern Europe, in: The American Journal of Comparative Law
   32 (1984), H. 2, S. 408.
20     JHK 2020                                                                    Felix Wemheuer

Wirtschaftsreformen in Ungarn, der DDR und der CSSR
In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre wurden auch die mit der Sowjetunion verbündeten
Staaten von einer Welle von Reformversuchen erfasst. In der UdSSR strebte Parteiführer
Nikita Chruščëv im Zuge der sogenannten Liberman-Debatte 1962 eine stärkere
Gewinn­orientierung und Autonomie der Staatsbetriebe an.17 Außerdem wurde die rasche
Steigerung des Konsumniveaus der Bevölkerung als ein zentrales Ziel definiert. Auch
nach der Machtübernahme durch den neuen Parteiführer Leonid Brežnev sollten die
»Kosygin-Reformen« 1965 die Autonomie der Betriebe stärken und in Modellversuchen
bei Unwirtschaftlichkeit Konkurse zugelassen werden. Ein System von Prämien und
Sank­tionen sollte Management und Belegschaft animieren, die Produktivität zu steigern.
Die Reformer hofften, dass die Betriebe die weitverbreitete Praxis des Hortens von Roh­
stoffen, Ersatzteilen und Arbeitskräften als Ergebnis der Profitorientierung aufgeben
würden. In der Folge könnten brachliegende Ressourcen mobilisiert, Arbeitskräfte ratio­
naler auf die Sektoren verteilt und die Planung verbessert werden.18 Diese Entwicklung
in der Sowjetunion eröffnete auch für die Bruderstaaten neue Freiräume. Besonders
ambitioniert waren das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung« (NÖS
oder NÖSPL) bzw. das »Ökonomische System des Sozialismus« (ÖSS) in der DDR
(1963–1970) und der »Neue Ökonomische Mechanismus« (1968–1973) in Ungarn.19
    In der DDR wollte die Führung um Ulbricht den technologischen Rückstand gegen­
über der Bundesrepublik durch massive Investitionen in Branchen wie Chemie, Elek­
tronik, Halbleiter und Maschinenbau überwinden. Zu Beginn des NÖS plante die SED-
Führung, ein in sich geschlossenes System von »ökonomischen Hebeln« zu etablieren.
Durch die Hebel Gewinn, Preis und Berücksichtigung der Selbstkosten sollten die
Betriebe zur ökonomischen Effizienz sowie zum rationalen Umgang mit Ressourcen ani­
miert werden. Damit übernahm die SED-Führung um Ulbricht Teile einer Agenda, die
1957 noch als »Revisionismus« gebrandmarkt worden war. Bei Löhnen und Einkommen
war die Regierung bereit, Betriebsleiter, Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler
deutlich aufzuwerten. Trotz der Industriepreisreform fürchtete die Parteiführung die
Freigabe der Preise für Konsumgüter, könne eine Erhöhung doch negative Auswirkung
auf die Bevölkerung haben.20 Die SED-Führung sorgte sich um die politische Stabilität
des Systems.

17 Evsej Grigor’evič Liberman (1897–1981) war ein einflussreicher sowjetischer Ökonom, der sich seit
   den 1950er-Jahren für »Profit« als Kriterium der Betriebsführung aussprach. Für eine Übersicht über
   die Debatte siehe Myron E. Sharpe (Hg.): The Liberman Discussion: A New Phase in Soviet Econo­
   mic Thought, New York 1966, zwei Bände.
18 Evsej G. Liberman: Methoden der Wirtschaftslenkung im Sozialismus: Ein Versuch über die Stimu­
   lierung der gesellschaftlichen Produktion, Frankfurt a. M. 1974, S. 21 f.
19 Für eine Bewertung siehe André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre: Konflikt
   zwischen Effizienz-und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 551–559; Roesler: Zwischen Plan und Markt
   (Anm. 1), S. 160 f.; zu Ungarn siehe János Kornai: The Hungarian Reform Process: Visions, Hopes,
   and Reality, in: Journal of Economic Literature 24 (1986), H. 4, S. 1687–1737; Ivan T. Berend: The
   Hungarian Economic Reforms 1953–1988, Cambridge 1990.
20 Dieses Problem wird erörtert in: Erich Apel/Günter Mittag: Planmäßige Wirtschaftsführung und
   ökonomische Hebel, Berlin 1964, S. 90.
Über den »Mark tsozialismus« hinaus                                              JHK 2020     21

    Die ungarische Parteiführung um János Kádár ging 1968 mit der Freigabe eines Teils
der Preise und der Reduzierung der zentralen Planvorgaben vergleichsweise weit. Auch
die Bildung der noch festgelegten Preise sollte sich stärker am Weltmarkt orientieren.
Das rohstoffarme Land verabschiedete sich vom Primat der Schwerindustrie und wollte
vor allem die Leichtindustrie entwickeln. Der ungarische »Gulaschkommunismus« sollte
durch die Schaffung einer sozialistischen Konsumgesellschaft die Legitimation der Par­
tei erneut stärken, die durch die Niederschlagung des Aufstandes von 1956 durch die
verbündete UdSSR gelitten hatte. Dafür war die ungarische Führung auch bereit, eine
größere Verschuldung im westlichen Ausland in Kauf zu nehmen.
    Die ČSSR (Tschechoslowakische Sozialistische Republik) wurde zu Beginn der
1960er-Jahre besonders hart von wirtschaftlicher Stagnation und einer Versorgungskrise
getroffen. Die Parteiführung musste einsehen, dass es nicht mehr weitergehen konnte
wie bisher. Die ökonomischen Reformen um das »Neue Leitungssystem« (1963–1968)
wurden schließlich Teil der Agenda des Prager Frühlings. Das Aktionsprogramm der
Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei von 1968 verband Wirtschaftsreformen
mit einer politischen Liberalisierung, wie zum Beispiel der Lockerung der Pressezensur
und der Aufwertung der Rolle der Gewerkschaften sowie nicht kommunistischer Kräfte.
Der Slowakei sollte gegenüber Tschechien der Status einer gleichberechtigen autonomen
Teilrepublik zugebilligt werden.21
    Zunächst sah es so aus, dass sich in einigen Ländern Osteuropas Chancen für Wirt­
schaftsreformen oder einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« eröffneten.

II. Das vorzeitige Ende des kleinen Reformzyklus in der Volksrepublik China
(1961–1963)

Auch China durchlief Anfang der 1960er-Jahre einen Reformzyklus. Wie die Länder
Osteuropas hatte die Volksrepublik nach 1949 zunächst eine »neudemokratische« Phase
bewältigt, in der eine Bodenreform durchgeführt und vor allem das ausländische Kapital
enteignet wurde. Ab 1953 übernahm China mit der »Transformation zum Sozialismus«
das sowjetische Modell der zentralen Planwirtschaft. Allerdings orientierte sich die Füh­
rung um Mao Zedong stärker am »revolutionären Stalinismus« der »Großen Offensive«
(1928–1931) mit Massenmobilisierung und antibürokratischer Rhetorik als am »techno­
kratischen Spät-Stalinismus« der Nachkriegszeit.22 Das radikale Industrialisierungspro­
gramm des »Großen Sprungs nach vorn« von 1958 und die Einführung von Volkskom­

21 »The Action Program of the Czechoslovak Communist Party April 1968«, http://parevo.eu/1parevo/
   images/PDF/01.%20The%20Action%20Program%20of%20the%20Czechoslovak%20Commu­
   nist%20Party.pdf (ges. am 8. 5. 2018).
22 Thomas Bernstein: Introduction: The Complexities of Learning from the Soviet Union, in: Thomas
   Bernstein/Li Hua-yu (Hg.): China Learns from the Soviet Union, 1949–Present, Lanham, MD
   2010, S. 7.
22    JHK 2020                                                                 Felix Wemheuer

munen endeten zwischen 1959 und 1961 in einer großen Hungersnot. Diese Entwicklung
wies große Parallelen zur sowjetischen Hungersnot von 1931 bis 1933 unter Stalin auf.23
    Um die Folgen der Hungersnot zu überwinden, ließ die Regierung die Wirtschaft
»re-adjustieren« (zhengdun). In diesen Jahren spielten vor allem Liu Shaoqi und Deng in
der Parteiführung eine leitende Rolle, während sich Mao zweitweise stärker im Hinter­
grund hielt. Einige Provinzführungen wie in Anhui ließen sogar eine Dekollektivierung
der Landwirtschaft zu. Das Land wurde den Bauernfamilien zur Nutzung übergeben.
Die Familien waren für die Erfüllung der staatlichen Abgabequoten zuständig und durf­
ten den Rest der Produktion selbst konsumieren oder auf dem Markt verkaufen. Diese
Maßnahme sollte Anreize bilden, um die Agrarproduktion wieder zu steigern. Deng
sprach sich 1962 für weiteres Experimentieren mit diesem Modell in anderen Landes­
teilen aus. In diesem Zusammenhang zitierte er einen Genossen aus Sichuan: Es sei egal,
ob die Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache sie esse Mäuse.24 Damit wollte Deng
sagen, dass die Steigerung der Produktion die Hauptsache sei und nicht das Festhalten
an orthodoxen Vorstellungen von sozialistischer Landwirtschaft. Mao gingen die Maß­
nahmen in Anhui zu weit, er ließ das Experiment der Familienverantwortung stoppen.
Allerdings stimmte er zu, dass die Volkskommunen deutlich verkleinert wurden. Außer­
dem hatten die Bauern ein Anrecht auf Parzellen zur privaten Nutzung für die Selbstver­
sorgung innerhalb der Kollektive. Die Regierung erkannte damit an, dass die Ressourcen
und die Unterstützung der Landbevölkerung für eine vollständige Umwälzung der
Eigentumsverhältnisse in Richtung Kommunismus fehlten.
    Die Regierung entschied sich, in den Städten die Zahl der Arbeiter zu reduzieren, um
Kosten zu sparen und das staatliche Versorgungssystem zu entlasten. Nur die Stadtbevöl­
kerung war in das Rationierungssystem und den sozialistischen Wohlfahrtsstaat einbe­
zogen. Zwischen Ende 1960 und 1963 ließ die Regierung über 26 Millionen Menschen
wieder auf die Dörfer zurückschicken, die während des »Großen Sprungs« in die Städte
gekommen waren.25 Das war die wohl radikalste »Sparmaßnahme« einer Regierung
gegenüber der städtischen Arbeiterschaft in der Geschichte des Staatssozialismus.
    Nachdem sich Wirtschaft, Versorgungslage und Staatshaushalt wieder stabilisiert
hatten, zeichnete sich 1964 ein Ende des Reformzyklus ab. Mao wollte mit der Sozialis­
tischen Erziehungskampagne den Klassenkampf auf den Dörfern neu entfachen. Er
glaubte, dass die Macht in vielen Dörfern faktisch nicht mehr in den Händen der Kom­
munistischen Partei sei. Der Kontrollverlust habe zu einem »schwarzen Wind der Einzel­
wirtschaft« (danganfeng) in Form von Schwarzhandel und Unterschlagung geführt.26
Nach dem offenen Bruch mit der Sowjetunion griff die KPCh den »Pseudokommunis­
mus« Chruščëvs an und warnte vor einer »Restauration des Kapitalismus« in der UdSSR.

23 Felix Wemheuer: Famine Politics in Maoist China und the Soviet Union, New Haven 2014.
24 Deng Xiaoping: Zenme huifu nongye shengchan [Wie die Agrarproduktion wieder hergestellt
   ­werden soll], in: Deng Xiaoping wenxuan (Anm. 2), Bd. 1, S. 323.
25 Felix Wemheuer: A Social History of Maoist China: Conflict and Change, 1949–1976, Cambridge
    2019, S. 165.
26 Bo Yibo: Ruogan zhongda juece yu shijian de huigu [Reflektionen zu einigen wichtigen Entschei­
    dungen und Ereignissen], Beijing 1991, Bd. 2, S. 1078.
Über den »Mark tsozialismus« hinaus                                               JHK 2020     23

Titos Jugoslawien wurde sogar als »faschistischer Staat« bezeichnet, der sich an den
­»US-Imperialismus« verkauft habe.27 Im Sommer 1966 startete Mao die Große Prole­
tarische Kulturrevolution. In der Massenbewegung wurden auch die meisten Reform­
 maßnahmen aus den Jahren 1961 bis 1963 als »Revisionismus« angeprangert und ihre
 Anhänger in der Partei verfolgt. Dass in keinem anderen Land die Massen zur Rebellion
 gegen die »Machthaber auf dem kapitalistischen Weg innerhalb der Partei« aufgerufen
 wurden, zeigt, wie stark sich China 1966 von den Entwicklungen im sowjetischen Lager
 abgekoppelt hatte. Von den osteuropäischen Ländern stellte sich nur Albanien unter
 Führung von Enver Hoxha im Konflikt mit dem »sowjetischen Revisionismus« auf die
 chinesische Seite.

III. Gegenreformen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968

Die Spielräume für wirtschaftliche Reformen wurden in Osteuropa nach der Nieder­
schlagung des Prager Frühlings durch die sowjetische Invasion im August 1968 deutlich
kleiner. Mit der sogenannten Brežnev-Doktrin gestand die Sowjetunion den Bruderstaa­
ten nur eine eingeschränkte Souveränität zu und behielt sich eine Intervention vor, falls
ein Land das sozialistische Lager verlassen wolle. Polen, Ungarn, Bulgarien und die DDR
beteiligten sich an der Invasion des Warschauer Paktes in der ČSSR. Die Regierungen
von China, Albanien, Rumänien und Jugoslawien kritisierten den Einmarsch in Prag
scharf. Nicht zuletzt, weil sie selbst ein sowjetisches Eingreifen befürchteten. Die Füh­
rung in Moskau wollte nach der »beinahe Konterrevolution« in der ČSSR keine weit­
reichenden Experimente der Bruderstaaten mehr zulassen. Auch die Kommunistische
Partei der Sowjetunion (KPdSU) setzte die Kosygin-Reformen nicht wie geplant um.
      Darüber hinaus waren Wirtschaftsreformen in Partei und Bevölkerung umstritten.
 In der DDR konnten sich die hohen Erwartungen der Parteiführung an die Reform­
 agenda nicht erfüllen. 1970 kam es zu eklatanten Versorgungsschwierigkeiten bei alltäg­
lichen Konsumgütern, die für Unmut in der Bevölkerung sorgten. Die Gegner des NÖS
in der SED-Spitze konnten mit Unterstützung der sowjetischen Führung Ulbricht ent­
machten. Die Sowjetunion hatte besonders Ulbrichts Versuch, die Wirtschaftsbeziehun­
gen mit der Bundesrepublik zu intensivieren, mit Skepsis betrachtet. Die neue Führung
um Erich Honecker schwor den »sowjetischen Freunden« ewige Treue und vollzog mit
der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« eine Wende. Durch eine Verbesserung
des Konsumniveaus und mit einem ambitionierten Wohnungsbauprogramm sollte die
Bevölkerung befriedet werden. Die vorsichtige Aufwertung von halbstaatlichen und
­k leinen Privatbetrieben während des NÖS wurde zurückgenommen und stattdessen ihre

27 Von den Redaktionen der Renmin Ribao und der Zeitschrift Hongqi: Über den Pseudokommunis­
   mus Chruschtschows und die historischen Lehren für die Welt: Neunter Kommentar zum Offenen
   Brief des ZK der KPdSU (1964), www.pagina-libre.org/MPPA/Texte/Mao/Pseudokommunismus.
   html; Zentralkomitee der KPCh: Ist Jugoslawien ein sozialistischer Staat? Dritter Kommentar zum
   offenen Brief des ZK der KPdSU (1963), www.infopartisan.net/archive/maowerke/jugo-polemik.
   htm (ges. am 21. 11. 2018).
24     JHK 2020                                                                    Felix Wemheuer

Verstaatlichung wieder vorangetrieben. Die hohen staatlichen Subventionen für die
Grundversorgung, die während des NÖS als zu überwindendes Problem definiert wur­
den, galten unter Honecker als »Errungenschaft des Sozialismus«.28 In der ČSSR hoffte
die neue Führung nach dem Ende des Prager Frühlings, auf ähnliche Weise wie in der
DDR mit sozialpolitischen Zugeständnissen eine »Normalisierung« zu erreichen. In
­beiden Fällen konnte die Erhöhung von Löhnen und Sozialleistungen nicht durch Wirt­
schaftswachstum getragen werden, sondern musste durch sowjetische Hilfe bzw. stei­
gende Verschuldung im westlichen Ausland finanziert werden.29
    Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings setzte Ungarn den zum Jahresbeginn
1968 eingeführten »Neuen Ökonomischen Mechanismus« fort. Die Führung um Kádár
musste Moskau aber glaubhaft versichern, dass Ungarn gerade nicht dem Beispiel der
ČSSR in Richtung einer weitreichenden politischen Liberalisierung folgen werde.30
Ungarn machte als Land mit großer Abhängigkeit vom Weltmarkt in der Folge die glo­
bale Krise nach dem Erdölschock von 1973 schwer zu schaffen und das Wirtschafts­
wachstum verlangsamte sich. Außerdem kritisierten die Hardliner im Apparat den Zer­
fall »sozialistischer Werte« und forderten eine Stärkung der Führungsrolle der Partei.
Arbeiter beschwerten sich über die hohen Lebenshaltungskosten sowie zunehmende
Überstunden.31 Die Reformen von 1968 wurden 1973 zunächst gestoppt und erst später
weitergeführt.
    Jugoslawien hielt offiziell weiter an »Arbeiterselbstverwaltung« und marktwirtschaft­
lichen Mechanismen fest. Innenpolitisch geriet die Führung um Tito zunehmend unter
Druck. In den Belgrader Studentenprotesten von 1968 wurde die Parteiführung von
links kritisiert, inspiriert von der »Praxis-Gruppe«, die für einen »humanistischen Mar­
xismus« eintrat. Die Studierenden forderten die Partei auf, die sozialistischen Ideale nicht
zu vergessen und gegen die »rote Bourgeoisie« vorzugehen.32 Die Bewegung des »kroa­
tischen Frühlings« stellte nationalistische Forderungen bezogen auf die Sprachpolitik
sowie die ökonomische Ressourcenverteilung zwischen den Teilrepubliken. In den frü­
hen 1970er-Jahren versuchte Tito, die zentrale Führungsrolle der Partei Bund der Kom­
munisten Jugoslawiens wieder aufzuwerten, da nationalistische Konflikte zwischen
Kadern der kroatischen und serbischen Teilrepublik außer Kontrolle gerieten. Außerdem
ging die Regierung gegen die Anhänger des »kroatischen Frühlings« vor.

28 Peter Hübner: Reformen in der DDR der sechziger Jahre, in: Christoph Boyer (Hg.): Sozialistische
   Wirtschaftsreformen: Tschechoslowakei und DDR im Vergleich, Frankfurt a. M. 2006, S. 534, 537.
29 Für eine Bewertung siehe Christoph Boyer: Einleitung, in: Boyer: Sozialistische Wirtschaftsreformen
   (Anm. 28), XXXIII–XXXVII.
30 Zur Analyse der schmalen Gradwanderung der ungarischen Reformen siehe Hannes Lachmann:
   Das Jahr 1968 in Ungarn – gab es einen »Budapester Frühling«?, in: Angelika Ebbinghaus (Hg.): Die
   letzte Chance? 1968 in Osteuropa: Analysen und Berichte über ein Schlüsseljahr, Hamburg 2008,
   S. 121–131.
31 Adam Fabry: The Origins of Neoliberalism in Late ›Socialist‹ Hungary: The Case of the Financial
   Research Institute and ›Turnabout and Reform‹, in: Capital & Class 42 (2018), H. 1, S. 87.
32 Für Details siehe Boris Kanzleiter: Die »Rote Universität«. Studentenbewegung und Linksopposition
   in Belgrad 1964–1975, Hamburg 2011.
Über den »Mark tsozialismus« hinaus                                           JHK 2020    25

    Die weitgehende Autonomie der Betriebe hatte dazu geführt, dass Manager im kapi­
talistischen Ausland mit unterschlagenen Geldern ihre eigenen Firmen gegründet hatten.
Die Wahl der Manager durch die Belegschaft im Rahmen der »Arbeiterselbstverwal­
tung« schien den Aufstieg einer »neuen Klasse« nicht zu verhindern. Strengere Kontrollen
von oben sollten eine hemmungslose private Bereicherung wieder eindämmen. Die Füh­
rung um Tito nutzte den Kampf gegen die illegalen Geschäfte der Manager gleichzeitig
als Vorwand, um die Kräfte in der serbischen und slowenischen Partei zurückzudrängen,
die für die Ausweitung der Marktmechanismen eintraten.33
    Einige Länder des sowjetisch geführten Blocks versuchten in den 1970er-Jahren,
Wachstums- und Technologietransfer durch die Anziehung von ausländischem Kapital
zu fördern. Nach Jugoslawien ließen auch Rumänien (1971), Ungarn (1972), Polen (1976)
und Bulgarien (1980) Joint-Venture-Betriebe mit ausländischem Kapital zu.34 Um west­
liche Kredite aufnehmen zu können, integrierten sich einige Staaten in das internationale
Finanzsystem. Das war faktisch das Eingeständnis, dass die eigenen Ressourcen zur
Modernisierung der Wirtschaft nicht ausreichten. Rumänien wurde 1972 Mitglied des
von den USA dominierten Internationalen Währungsfonds, Ungarn folgte 1982 und
Polen 1986. Die DDR verschuldete sich ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre hoch bei
der Bundesrepublik.35 Die Rückzahlung stellte sich als schwierig heraus, da nur wenige
Produkte der sozialistischen Staaten auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig waren, Pro­
duktionssteigerungen durch neue Technologie hinter den Erwartungen zurückblieben
und Außenhandelsdefizite entstanden. Mit den Zahlungsschwierigkeiten von Polen 1981
wurde es für die Staaten im sowjetisch geführten Lager deutlich schwieriger bzw. zeit­
weise unmöglich, neue Kredite von internationalen Geldgebern zu bekommen.

IV. Reform und Öffnung: Chinas »Marktsozialismus« der 1980er-Jahre

Der Volksrepublik kam zugute, dass sie sich seit 1972 an die USA angenähert hatte, um
die sowjetische Bedrohung auszugleichen. Schon unter Mao hatte China die westlichen
kapitalistischen Länder Europas sowie Japan als Verbündete umworben und die Han­
delsbeziehungen ausgeweitet (siehe Beitrag von Philippe Lionnet in diesem Band). Erst
der Tod von Mao 1976 eröffnete jedoch die Möglichkeit grundlegender Veränderungen
im Inneren. In keinem anderen staatssozialistischen Land hatte es eine Führung zugelas­
sen, dass Fraktionskämpfe innerhalb der Partei und Konflikte in der Bevölkerung in
einen Bürgerkrieg ausarteten wie in China zwischen 1966 und 1969. Dass die staatliche
Ordnung damals beinahe kollabierte, hatte langfristige Auswirkungen. 1976 waren die
linken Kräfte in der KPCh und der Bevölkerung isoliert. Durch Landverschickung,

33 Pirjevec: Tito (Anm. 15), S. 486 f.
34 Buzescu: Joint-Ventures in Eastern Europe (Anm. 16), S. 408 f.
35 Zur Bewertung der Auslandverschuldung der DDR siehe André Steiner: Zwischen Konsumverspre­
   chen und Innovationszwang: Zum wirtschaftlichen Niedergang in der DDR, in: Konrad H.
   Jarausch/Martin Sabrow (Hg.): Weg in den Untergang: Der innere Zerfall der DDR, Göttingen
   1999, S. 172–178.
26    JHK 2020                                                                   Felix Wemheuer

bewaffnete Fraktionskämpfe und endlose »Säuberungskampagnen« hatten viele Chine­
sen den Glauben an die sozialistischen Ideale verloren. Nach der Übergangszeit unter
Hua Guofeng konnte die Fraktion um Deng ab 1978 Wirtschaftsreformen durchsetzen.
Die Maßnahmen stellten eine klare Abkehr vom Maoismus der Kulturrevolution dar.
Die alten Kader um Deng, die während der Kulturrevolution als »Machthaber auf dem
kapitalistischen Weg« verfolgt worden waren, konnten sich bei ihrer Reformagenda auf
breite Teile der Bevölkerung stützen.
     1979 wurde ein Gesetz erlassen, um in Sonderwirtschaftszonen ausländisches Kapital
anzuziehen. Ein zentrales Ziel war von Beginn an, auf diese Weise einen Transfer von
westlicher Technologie nach China zu ermöglichen. 1979 wurden schließlich volle
­diplomatische Beziehungen zwischen der Volksrepublik und den USA etabliert. Die Ver­
 einigten Staaten und andere westliche Länder standen einem Technologietransfer nach
 China nicht mehr ablehnend gegenüber, sondern hofften, sich auf dem Markt des r­ iesigen
 Reiches etablieren zu können.
     Die radikalste Maßnahme der chinesischen Führung stellte die Auflösung der Volks­
 kommunen (1979–1983) dar. Im Prinzip ließ die Regierung das System der Familienver­
 antwortlichkeit wieder zu, das in den Jahren zwischen 1961 und 1962 in einigen Provin­
 zen als Maßnahme gegen die Hungersnot existiert hatte.36 Dank dieser Reform sowie
höherer Ankaufspreise für Agrarprodukte und neuer Verdienstmöglichkeiten auf den
Märkten stiegen die Einkommen der Landbevölkerung enorm. Auch die Nahrungsmit­
 telversorgung verbesserte sich deutlich. Die Bauern machten 1980 ca. 80 Prozent der
 Bevölkerung aus.37 Das war ein bedeutender Unterschied zur Sowjetunion und den Län­
 dern Osteuropas, die zu diesem Zeitpunkt schon eine Urbanisierung der Gesellschaft
 vollzogen hatten.
     Die Führung um Deng schaffte schrittweise das System des Klassenstatus ab. Diese
 Klassifizierung hatte seit den frühen 1950er-Jahren einerseits die Nachkommen von
 Arbeitern und einfachen Bauern bevorzugt und andererseits die Nachkommen von
 »Kapitalisten« und »Großgrundbesitzern« diskriminiert. Alle Bürger wurden nun formal
 gleichgestellt. Die KPCh ließ darüber hinaus kleine Familienunternehmen (getihu) zu.
 Unter anderem, um den Millionen während der Kulturrevolution auf das Land ver­
 schickten Jugendlichen wieder ein Einkommen in den Städten zu ermöglichen. Der Staat
 sparte dadurch enorme Kosten, die deren Integration in die Belegschaften der Staats­
 betriebe mit den entsprechenden Anrechten auf Sozialleistungen verursacht hätte. Privat­
 betriebe durften bis 1988 allerdings nicht mehr als acht Personen einstellen.
     In der Staatsindustrie waren die Reformen in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre weni­
 ger radikal als in der Landwirtschaft. Es entstand ein duales System mit festgelegten
 Preisen im Rahmen der Planwirtschaft und Preisen, die auf dem Markt gebildet wurden
 (siehe dazu auch den Beitrag von Isabella M. Weber in diesem Band). Eine deutliche

36 Yang L. Dali: Calamity and Reform in China: State, Rural Society, and Institutional Change since
   the Great Leap Famine, Stanford, CA 1996, S. 143.
37 National Bureau of Statistic of China (Hg.): China Statistical Yearbook 2017, Abschnitt 2.1,
   www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2017/indexeh.htm (ges. am 29. 10. 2018).
Über den »Mark tsozialismus« hinaus                                                JHK 2020     27

Abkehr vom klassischen System des Staatssozialismus stellte in der zweiten Hälfte der
1980er-Jahre die Zulassung von Betriebskonkursen sowie die schrittweise Einführung
von Arbeitsverträgen in den Staatsbetrieben dar. Neue Arbeitskräfte wurden oft nur
noch befristet angestellt. Eine umfassende Privatisierung von Staatsbetrieben leitete die
Regierung jedoch nicht ein.
    Ein wichtiger Motor des Wirtschaftswachstums in den 1980er-Jahren waren die
ländlichen Gemeindebetriebe (xianzhen qiye). Sie wurden in der Regel kollektiv von den
lokalen Regierungen betrieben. Dank der Korruption gelang es auch privaten Unterneh­
mern, die »rote Mütze aufzusetzen« und ihren Betrieb als »kollektiv« registrieren zu las­
sen. Für die Gemeindeunternehmen gab es keine Begrenzung, Arbeitskräfte aus der
ländlichen Bevölkerung einzustellen. Im Unterschied zu den Staatsbetrieben hatten die
prekär beschäftigten »Bauern-Arbeiter« keine Anrechte auf Sozialleistungen. Damit hat­
ten die Gemeindebetriebe anfangs einen großen Wettbewerbsvorteil sowohl gegenüber
den Staatsbetrieben als auch dem privaten Sektor. Lokale Regierungen und ihre Kader
erkannten schnell, dass sie unter dem dezentralisierten »Akkumulationsregime« viel Geld
verdienen konnten. Deshalb wurden sie zur wichtigen Triebkraft der Reformpolitik.
1988 hob die Regierung die ursprüngliche Begrenzung der Anstellung von Arbeitskräf­
ten für Privatunternehmen auf. Damit hatte die KPCh faktisch ihren Frieden mit der
Entstehung einer privaten Kapitalistenklasse gemacht. Größere soziale und regionale
Unterschiede sah die Führung um Deng nicht als Übel, sondern als Ansporn für mehr
Wettbewerb an. Zunächst sollten die einen reich werden und später die anderen, so
Deng.38
    Von den Reformen und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung pro­
fierten breite Teile der Bevölkerung, vor allem Bauern in den ärmeren Regionen. Für
Akademiker und die Millionen von Nachkommen der ehemaligen »Klassenfeinde« eröff­
nete die Partei neue Aufstiegschancen. Allerdings wurden durch diese Entwicklung auch
Hoffnungen auf politische Reformen geweckt, die die Führung um Deng nicht erfüllen
konnte oder wollte. Im Zuge der Ausweitung der Preisreform kam es 1988 zu einer höhe­
ren Inflation und Teuerung von Lebensmitteln, die zu Panikkäufen führten. Im Juni
1989 mündeten die »goldenen 1980er-Jahre« mit der Protestbewegung auf dem Platz des
Himmlischen Friedens in einer schweren politischen Krise.39

V. Das Scheitern der zentralistischen Planwirtschaft und des osteuropäischen
»Marktsozialismus« 1989

Nach der Welle der Gegenreformen in den 1970er-Jahren wurden weitreichende struk­
turelle Reformprojekte im sowjetisch geführten Lager erst wieder in den 1980er-Jahren

38 Deng: Zai Wuchang, Shenzhen (Anm. 2), Bd. 3, S. 374.
39 Für Details siehe Felix Wemheuer: 20 Jahre nach dem Massaker: Wem gehört die Bewegung vom
   Platz des Himmlischen Friedens?, in: Ulrich Mählert u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommu­
   nismusforschung 2009, Berlin 2009, S. 107–120.
28    JHK 2020                                                              Felix Wemheuer

in einigen Ländern in Angriff genommen. Zum Beispiel veranlasste der Druck der unab­
hängigen Gewerkschaftsbewegung Solidarność und der drohende Staatsbankrott in Polen
die Militärregierung unter General Wojciech Jaruzelski, Reformen in Richtung »Markt­
sozialismus« einzuleiten (siehe Beitrag in diesem Band von Florian Peters). In Bulgarien
beschloss die Parteiführung 1987, die Wirtschaftsreformen zu intensivieren. Neben der
Zulassung einer Vielfalt von Eigentumsformen, sollte die Einführung der Selbstverwal­
tung von Betrieben durch die Arbeitskollektive zu einer Dezentralisierung der Planung
und Verwaltung führen (siehe Beitrag von Evgenij Kandilarov).
     Die Sowjetunion war im Vergleich zu Polen und China in vieler Hinsicht in den
1980er-Jahren ein Nachzügler in Sachen Wirtschaftsreformen. Zu Beginn von Michail
Gorbačëvs Glasnost und Perestroika standen Wirtschaftsreformen 1985 zunächst nicht
weit oben auf der Prioritätenliste. In den Jahren 1987 und 1988 bereitete die Regierung
schließlich Gesetze zur Liberalisierung des Außenhandels, zur Zulassung von Joint-Ven­
ture-Betrieben, zur Legalisierung der Verpachtung von Agrarland sowie zur Gründung
  von Kleinbetrieben und für die Möglichkeit von Entlassungen in Staatsbetrieben vor.
  Das Management bekam mehr Kompetenzen und sollte für die Rentabilität der Betriebe
  sorgen. Diese Maßnahmen führten allerdings nicht zum erhofften Ergebnis. Im Gegen­
teil, sie verschärften die allgemeine Versorgungskrise und beschleunigten den Nieder­
gang der Sowjetunion. 40 Die Wirtschaftskrise untergrub die anfängliche Popularität von
Gorbačëvs politischer Reformagenda in der Bevölkerung. Neue Freiräume durch die
politischen Reformen in Moskau gaben auch nationalistischen Kräften in den kommu­
nistischen Parteien und in den Bevölkerungen der Unionsrepubliken im Baltikum
Auftrieb. Sie forderten zunächst mehr Autonomie und schließlich die staatliche
­
Unabhängigkeit.
     Die Lockerung der Kontrolle über die Bruderstaaten und die offizielle Aufhebung der
»Brežnev-Doktrin« 1988 eröffneten in Osteuropa neue Entwicklungsmöglichkeiten. Die
  Regierungen konnten sie aber nicht nutzen, um den Untergang des Staatssozialismus
  abzuwenden. Während sich Ungarn weiter in Richtung »Marktsozialismus« entwickelte,
  lehnte die SED-Führung unter Honecker grundlegende Wirtschaftsreformen als über­
flüssig ab. Das jugoslawische Modell hatte nach dem Tod von Tito 1980 weiter an Glanz
verloren, da das Wirtschaftswachstum einbrach und die Auslandsverschuldung des
­Landes, Inflation und Arbeitslosigkeit große Ausmaße annahmen. Darüber hinaus ver­
 schärften sich die Konflikte zwischen den wohlhabenderen und ärmeren Teilrepubliken.
 Während in den 1970er-Jahren die weitgehende Abgabe von Kompetenzen der Zentral­
 regierung an die Teilrepubliken als mutige Reform gepriesen wurde, sahen Kritiker darin
 nun die Ursprünge eines nationalistischen Verteilungskampfes um wirtschaftliche
 ­Ressourcen, der schließlich zum Untergang des Staates führen sollte.41

40 Helmut Altrichter: Russland 1989: Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009,
   S. 103–108.
41 Susan L. Woodward: The Political Economy of Ethno-Nationalism in Yugoslavia, in: Socialist
   Register 39 (2003), S. 78–82.
Über den »Mark tsozialismus« hinaus                                                 JHK 2020     29

     Auch Rumänien litt unter der hohen Auslandsverschuldung. Die Regierung unter
 Nicolae Ceauşescu entschied sich Anfang der 1980er-Jahre als Einzige in Osteuropa, die
 westlichen Kredite durch ein radikales Sparprogramm und eine Exportoffensive von
 Agrarprodukten zurückzuzahlen, um die Abhängigkeit zu verringern. Dadurch kam es
 zu schwerwiegenden Versorgungsengpässen bei Grundnahrungsmitteln sowie in der
 Energie- und Stromversorgung. Im Bildungs- und Gesundheitssystem wurden harte
Sparmaßnahmen durchgesetzt. Das führte insgesamt dazu, dass Teile der Bevölkerung
verarmten.42
     Die Kluft zwischen den propagierten Idealen und den Alltagserfahrungen der Men­
schen wurde in allen Staaten des »Realsozialismus« immer größer. Schon in den 1970er-
Jahren hatte sich in der Sowjetunion eine »zweite Wirtschaft« neben der offiziellen
­herausgebildet. Zum Beispiel bestand der unausgesprochene »kleine Deal« der Brežnev-
 Ära darin, dass die Bevölkerung durch Tauschhandel, Schwarzmarktaktivitäten,
 Schwarzarbeit oder Unterschlagung ihre Einkommen aufbessern konnte. Die unteren
 Staatsorgane drückten häufig ein Auge zu bzw. waren selbst an diesen Geschäften betei­
 ligt. Im Gegenzug erwartete die Partei, dass die Bürger nicht offen gegen sie opponier­
 ten.43 In den Reformländern wie Ungarn, Jugoslawien, Polen oder auch China der
 1980er-Jahre bot das duale System von Markt und reguliertem Staatssektor viele Mög­
 lichkeiten von Korruption oder Unterschlagung für Kader und Menschen mit Beziehun­
 gen. Diese Entwicklungen delegitimierten das Ansehen der Parteien in der Bevölkerung,
 weil die neuen sozialen Ungleichheiten sowohl dem sozialistischen Versprechen einer
 gerechteren Gesellschaft als auch einem »fairen Wettbewerb« auf dem Markt widerspra­
 chen.44 In den letzten Jahren der Sowjetunion führte die Abnahme der Kontrolle über die
 Ressourcen durch die Zentralregierung dazu, dass viele Gelder in undurchsichtigen
 Kanälen von Netzwerken aus Kadern der Partei und des Kommunistischen Jugendver­
 bandes Komsomol verschwanden.45
     Insgesamt ist die Bilanz der wirtschaftlichen Reformversuche in der Sowjetunion und
 Osteuropa bescheiden. Die Ergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen zurück. In
 der Regel waren die Reformen halbherzig, da die meisten Regierungen die »Errungen­
 schaften des Sozialismus« wie das »Recht auf Arbeit«, weitreichende Sozialleistungen und
 staatliche Subventionierung der Preise für Grundnahrungsmittel, Wohnen und Kultur
 nicht aufgeben wollten.
     Die Parteiführungen in Ostdeutschland und der Tschechoslowakei der 1970er-Jahre
fürchteten um die politische Stabilität und lehnten weitgehende Experimente ab. Die
konservativen Teile der Parteibürokratien wehrten sich gegen einen Machtverlust bei der

42 Cornel Ban: Sovereign Debt, Austerity, and Regime Change: The Case of Nicolae Ceausescu’s
   Romania, in: East European Politics and Societies: and Cultures 26 (2012), H. 4, S. 763–765.
43 Stefan Merl: Von Chruschtschows Konsumkonzeption zur Politik des ›Little Deal‹ unter Breschnew,
   in: Bernd Greiner/Christian Müller/Claudia Weber (Hg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg
   2010, S. 304.
44 János Kornai: The Socialist System: The Political Economy of Communism, Oxford 1992, S. 510.
45 Steven L. Solnick: Stealing the State: Control and Collapse in Soviet Institutions, Cambridge, MA
   1998, S. 124.
30    JHK 2020                                                          Felix Wemheuer

Abgabe von Kompetenzen und Wettbewerb auf dem Markt. Auch Teile der Beleg­
schaften der Industrie standen in einer egalitären Tradition der Arbeiterbewegung der
Zwischenkriegszeit einem stärkeren Wettbewerb der Betriebe sowie größeren Ausdiffe­
renzierungen der Löhne und Einkommen ablehnend gegenüber.46 Sie befürchteten, dass
durch einen Wettbewerb untereinander die Solidarität am Arbeitsplatz untergraben und
die Schwächeren zu kurz kommen würden. Einen privaten Sektor wollten die Reformer
höchstens als Ergänzung zum öffentlichen zulassen, um einige Angebotslücken auszu­
schließen und Wettbewerbsdruck für die Staatsbetriebe zu erzeugen. Die Anhäufung
von großem privaten Reichtum oder gar die Entstehung einer neuen Kapitalistenklasse
waren allerdings Horrorvorstellungen für die Parteiführungen, vor allem für die alte
Garde der Revolutionäre.
    Im sowjetisch geführten Lager waren die Kräfte für Wirtschaftsreformen seit den
1950er-Jahren immer von den Spielräumen abhängig, die die Sowjetunion jeweils zuließ.
In der ČSSR stoppte die Sowjetunion den Prager Frühling 1968 gewaltsam und unter­
stützte die Entmachtung von Ulbricht 1971 in der DDR. 1989 wurde deutlich, dass
weder konservatives Beharrungsvermögen wie in der DDR noch Reformbereitschaft wie
in Ungarn die Regimewechsel im sowjetisch geführten Lager verhindern konnten. Zu
einer »chinesischen Lösung« im Umgang mit der Opposition, sprich einer gewaltsamen
Niederschlagung, wollten sich die Parteiführungen im sowjetischen Block in Osteuropa,
mit Ausnahme von Rumänien, nicht durchringen. In Polen, Ungarn und der DDR
stimmten sie schließlich einem am »runden Tisch« ausgehandelten Regimewechsel zu.
Teile der politischen Eliten hofften, so nach dem Namenswechsel ihrer Parteien in das
neue politische System integriert werden zu können.
    1991 entschieden die Präsidenten der Unionsrepubliken Russlands, der Ukraine und
Weißrusslands, dass die Sowjetunion aufgelöst werden sollte. Damit endete auch das
sowjetische Modell des Vielvölkerstaates. Auch die ČSSR löste sich 1993 als Staat auf, in
dem die Reformer des Prager Frühlings der Slowakei 1968 den Status einer föderalen
Teilrepublik zugebilligt hatten. Die Nachfolger Titos ließen Jugoslawien sogar in einem
Bürgerkrieg untergehen.

VI. Die Zerschlagung der »eisernen Reisschüssel«: Chinas Abschied vom
»Marktsozialismus« der 1980er-Jahre

Nach der blutigen Niederschlagung der Bewegung am 4. Juni 1989 durch die Volks­
befreiungsarmee war es zunächst unklar, ob die Wirtschaftsreformen weitergehen
­würden. Besonders der konservative Flügel der KPCh fürchtete eine Destabilisierung des
 politischen Systems. Nach der Auflösung der Sowjetunion und den Regimewechseln in
 Osteuropa entschied sich die Parteiführung schließlich, die Reform und Öffnung zu
 intensivieren. 1992 gab Deng bei seiner berühmten Reise in die Sonderwirtschaftszonen
 des Südens den Anstoß, China stärker in den kapitalistischen Weltmarkt zu integrieren.

46 Boyer: Einleitung (Anm. 28), S. XXXIII.
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