Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? Eine gouvernementalitätstheoretische Perspektiverweiterung am Beispiel Lesvos
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supported by Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021 © Author(s) 2021. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? Eine gouvernementalitätstheoretische Perspektiverweiterung am Beispiel Lesvos Tobias Breuckmann Department of Geography, Christian-Albrechts-University, Kiel, 24118, Germany Correspondence: Tobias Breuckmann (breuckmann@geographie.uni-kiel.de) Received: 28 May 2020 – Revised: 4 October 2021 – Accepted: 8 October 2021 – Published: 17 November 2021 Kurzfassung. The article examines the strategic role of detention in the Reception and Identification Center on Lesvos, Greece. Basing on works on detention in carceral geography, I will additionally use the theoretical framework of governmentality. It becomes clear that the detention center on Lesvos serves as a spatial configu- ration of localization and circulation of asylum seekers framed as belonging to countries with low recognition rate. This is mainly enhanced through confinement, forced or controlled mobilisation as well as the control of flows of assistance and information through containment. In conclusion, certain modes of circulation and mobi- lization through enclosure can be identified through combination and mutual fertilisation of carceral geography and governmentality. 1 Einleitung zu Geflüchtetenlagern, die diese schon seit geraumer Zeit als Sortier- und Regierungsmechanismus von Migration und we- „You never committed any crime, but they put you to prison niger als Räume des Einschlusses und der Verwahrung sieht anyway“, sagte Amissah1 bei meinem Forschungsaufenthalt (Oesch, 2017:112), drängt sich die Vermutung auf, diese spe- auf Lesvos im September 2019. Einige Wochen vorher war ziellen Hafteinrichtungen nähmen eine bestimmte Funktion er nach dreimonatiger Haft aus dem Detention Center des innerhalb dieses Mechanismus ein. Auch jüngere geographi- lokalen Hot-Spot-Centers Moria entlassen worden. Ich hatte sche Studien, die sich dem Forschungsfeld der carceral geo- die Möglichkeit, neben ihm mit mehreren weiteren Perso- graphy zuordnen lassen, sehen Detention Centers als Räume, nen zu reden, die ähnliche Erfahrungen machten und nach die in unterschiedlichen Kontexten in verschiedene Systeme ihrer Ankunft auf Lesvos unmittelbar nach der Registrierung der Regierung von Migration eingebunden sind (Martin et al., im Hot-Spot-Center für drei Monate inhaftiert wurden. Alle 2019; Conlon und Hiemstra, 2014; Mountz et al., 2012). Die- reisten allein, hatten ihre Migrationsrouten in einem west- ser empirischen Spur folgend möchte ich unter Hinzunahme afrikanischen Land begonnen und keine rechtlich verfolgten des zu Beginn angesprochenen Beispiels eine theoretisch- Straftaten begangen. Aus dieser Tatsache speist sich ihr of- konzeptionelle Rahmung anbieten, die eine geschärfte Ana- fensichtlicher Unmut darüber, lediglich für die Einreise mit lyse der Praktiken des Einschlusses in Detention Centers und einer dreimonatigen Haft bestraft zu werden. Wie sich wäh- deren Einbettung in größere Wirkungszusammenhänge und rend der Forschung herausstellte, wurden die Inhaftierungen speziell räumlich benachbarte Techniken erlaubt. oft auf der Grundlage dessen vollzogen, wie hoch die Behör- Zu diesem Zweck stütze ich mich in meiner Forschung auf den die Chancen der Personen auf Asyl bzw. die Flucht- und das Theoriegebäude der Gouvernementalität. In seinen Vor- Verdunkelungsgefahr einschätzten. Stützt man sich bei der lesungen identifizierte Foucault (2017) einen Übergang von Betrachtung dieses Sachverhalts auf die aktuelle Forschung der Disziplinar- zur Sicherheitsgesellschaft und damit ein- hergehend andere Modi der Regierung, die auf der Sicher- 1 Die interviewten Personen sind im Text durch andere Namen stellung und Steuerung der Zirkulation von Menschen und anonymisiert. Waren durch die Bearbeitung von Raumproblemen fußen. Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
438 T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? Diese Systeme der Zirkulation erlauben es nach Foucault, be- oder der allgemeinen Eingebundenheit von Räumen des Ein- stimmte Formen des Austausches zwischen Raumeinheiten schlusses in das nähere und weitere räumliche Umfeld (vgl. zu forcieren, während unerwünschte Zirkulation durch be- Moran et al., 2010). stimmte Mechanismen unterbunden bzw. so weit wie mög- Ein zentrales Thema der carceral geography bildet das lich verringert werden soll (Foucault, 2017:146). Entspre- Spannungsfeld zwischen Mobilität und Einschluss: Während chend der Konzeption einer Topologie der Macht (vgl. Col- bspw. Fishwick und Wearing (2017) darauf verweisen, dass lier, 2009), laut derer unterschiedliche Techniken und räum- die Räume des Einschlusses der Einhegung einer als schwer liche Ensembles zur Erreichung eines bestimmten Regie- zu regierenden Mobilität von Delinquenten dienen (Fishwick rungsziels relationiert werden, kann ein für die Disziplinar- und Wearing, 2017:44), stellen Moran et al. (2010:448) die gesellschaft so paradigmatisches Arrangement wie die Haft strikte Gegenüberstellung von Mobilität und Inhaftierung in- in liberale Formen der Regierung von Zirkulation eingebun- frage und weisen darauf hin, dass erzwungene bzw. diszipli- den werden. Die Gouvernementalitätsforschung mit der Mi- nierte Mobilität grundlegend in Straf- und Disziplinarregime grationsforschung und der carceral geography zu verschrän- eingebunden sein kann. Die Rationalitäten und Technologi- ken, kann also zum Verständnis der Einbettung bestimmter en der Haft sind also im Spannungsfeld zwischen Fixierung Machttechniken in lokale und übergeordnete Systeme der und kontrollierter Mobilisierung angesiedelt (Moran et al., Migrationssteuerung maßgeblich beitragen. Zusätzlich las- 2010:450), die Haft selbst ist in ein Netzwerk von Institutio- sen sich vom empirischen Material ausgehend Aussagen dar- nen des Strafsystems auf unterschiedlichen sozialräumlichen über treffen, wie bestimmte Personengruppen in gesamtge- Ebenen eingebunden (Moran et al., 2018:674). Es sei jedoch sellschaftliche Regierungsformen eingebunden werden. weiterhin darauf hingewiesen, dass der Einschluss und die Dafür gehe ich im folgenden Kapitel zunächst auf den For- Immobilisierung von Inhaftierten das konstitutive Element schungsstand der carceral geography vor allem in Bezug auf der Haft zum Zwecke der Lokalisierung, Isolierung und ggf. das Themenfeld der Mobilität ein. Während allgemein Räu- Disziplinierung ausmacht, während es immer ein bestimm- me des Einschlusses als vernetzte Praktiken identifiziert wur- tes Verhältnis zur Mobilität gibt (Peters und Turner, 2017:2). den, fungieren Geflüchtetenlager als Mechanismen der Ein- Aus diesem Grund bezeichnen Peters und Turner (2017) den hegung von Mobilität, die wiederum durch verbundene Prak- Zustand des Einschlusses auch als „relative stasis“ (Peters tiken der Immobilisierung und Mobilisierung in Gang gesetzt und Turner, 2017:9). Dieses Verhältnis drückt sich nicht le- werden sollen. Der Mechanismus der Detention Centers in- diglich in unterschiedlichen Phasen der Mobilität und Im- nerhalb des Lagers, um den es im Artikel vornehmlich ge- mobilität aus, sondern auch in der eingeschränkten Mobilität hen soll, bildet ein prägnantes Beispiel für einen Raum des im Gegensatz zu anderen am Feld beteiligten Akteur*innen: Einschlusses. Im Anschluss daran führe ich das Analyseras- Dadurch, dass in einem Gefängnis die Vollzugsbeamt*innen ter der Gouvernementalität detaillierter aus, um dessen Po- eine deutlich höhere Bewegungsfreiheit besitzen, sind Hand- tenziale für die Untersuchung von Haftzentren in Geflüch- lungsressourcen extrem ungleich verteilt (Mincke und Le- tetenlagern herauszustellen. Unter gegebenem Analyseraster monne, 2014:532). Es lassen sich also unterschiedliche auf werden im Empirieteil die Bedingungen und konkreten Tech- Mobilität bezogene Techniken identifizieren, in die Räume niken in der Haft des Reception and Identification Centers des Einschlusses eingebunden sind: der Einschluss und die (RIC) auf Lesvos analysiert und ins Verhältnis zu anderen Immobilisierung der Inhaftierten und die daraus resultieren- Techniken und übergeordneten Migrationspolitiken gesetzt. de strikte Einhegung ihrer Mobilität, die Nutzung der Hand- lungsressourcen, die sich aus der unterschiedlichen Mobili- tät der Handelnden ergeben, die erzwungene und einer star- 2 Mobilität als Forschungsfeld der carceral ken Kontrolle unterworfene Mobilisierung und die damit auf geography einer übergeordneten Ebene in Beziehung stehende Vernet- zung von Orten des Einschlusses. Schon Mitte der 1970er Jahre bot Foucault eine umfassende Im größeren Maßstab lässt sich die Einhegung mobiler Be- Konzeption der Disziplinargesellschaft an, deren offensicht- völkerungsteile in nationalstaatliche Logiken im Sinne die- lichste Materialisierung die Ausbreitung der Gefängnissys- ser Konzeption anführen. Konkret und besonders prägnant teme war (Foucault, 2016:935, 1976). Diese sehr allgemeine äußert sich dies im Beispiel der Geflüchtetenlager als mate- Beschreibung erfuhr allerdings einige Wendungen und Kri- rialisierte Einhegungsversuche. Neuere Ansätze konzeptua- tiken (vgl. z. B. Gordon, 1980; Alford, 2000; Hsu, 2003), lisieren das Geflüchtetenlager zwar, aufbauend auf ersten die ebenfalls in geographischen Studien zu Räumen des Ein- theoretisch konzeptionellen Ausführungen zu Lagern (vgl. schlusses Widerhall fanden und in der Geographie im car- z. B. Agamben, 2002), weiterhin als Ort der angestrebten ceral turn mündeten (Moran et al., 2018:666). Im Zuge des- Exklusion von Asylsuchenden (Martin et al., 2019:2), je- sen setzte man sich sowohl mit eher konzeptionellen Fragen doch auch als umkämpftes sozialräumliches Ensemble der und einem analytischen Begriff der carcerality auseinander Lenkung, Einhegung und Verlangsamung der Migrationsbe- (Moran et al., 2018:677), als auch mit eher pragmatisch ori- wegungen (Oesch, 2017:112). Aufseiten der Regierungshan- entierten Fragen wie der Standortwahl bei Gefängnisbauten delnden soll das Lager als Mechanismus der Kontrolle und Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021
T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? 439 der selektiven Mobilisierung Asylsuchender dienen. Vor al- on findet (Conlon und Hiemstra, 2014:335). Mountz et al. lem an den Grenzen soll dort die ungeordnete Migration ver- (2012) schreiben zu Besonderheiten der Detention, dass es langsamt, gestoppt oder sogar abgewehrt und in Formen der sich nur partiell um ein räumliches Ensemble zur Festset- angestrebten Ordnung von Migration überführt werden. Vor zung der Inhaftierten handle. Vielmehr entstehe auch hier Ort agieren sowohl Lagerbetreibende und Außenstehende als ein Spannungsfeld aus Einschluss und Mobilisierung, teils auch Geflüchtete auf Basis der materiellen Vorbedingungen innerhalb und zwischen verschiedenen Einrichtungen, aber des Lagers, die die Handelnden jedoch jeweils für sich stra- auch zum Zweck der Deportation (Mountz et al., 2012:524). tegisch zu nutzen versuchen und so an der Transformation Zusätzlich stellen sie heraus, dass es sich dabei nicht ledig- des Raumes teilhaben (Pasquetti, 2015:707). Selbst wenn al- lich um die Immobilisierung, sondern um die selektive Kon- so das Lager als Kontrollstelle für Migrationsbewegungen trolle und Regierung von Migration handle, innerhalb derer dient, sind diese Kontrollen von Brüchen und der Aushand- bestimmt wird, wer sich frei bewegen darf und wer immo- lung zwischen unterschiedlichen Akteur*innen gekennzeich- bil bleibt bzw. kontrolliert mobilisiert wird (Mountz et al., net (Pasquetti, 2015:707). Andere Autor*innen hingegen he- 2012:526). Auch Mountz und Loyd (2014) gehen in ihrem ben das erhebliche Macht- und Mobilitätsgefälle zwischen Artikel zur „off-shore detention“ in den USA auf vernetz- den Handelnden hervor und konzeptualisieren das Lager als te Praktiken des Einschlusses von Migrant*innen ein. Dort „quasi-carceral regime“, da die Mobilität durch die zentra- werden auch über größere Distanzen unterschiedliche Orte le Unterbringung und Registrierung mit einhergehenden Zu- und Institutionen funktional miteinander in Beziehung ge- gangskontrollen und Versorgungsmechanismen in entschei- setzt, sodass sie in ihrer Funktion der Rationalität der Ver- dender Weise eingeschränkt ist (Altin und Minca, 2017:32). waltung von Migrierenden entsprechen (Mountz und Loyd, Losgelöst von dieser Diskussion lassen sich sowohl inner- 2014:390). halb des Lagers als auch in der Einbettung des Lagers in grö- Bosworth (2012) plädiert im Kontext von Strafinstitutio- ßere Zusammenhänge Prozesse der Vernetzung zur Kontrol- nen ganz allgemein dafür, diese im Bezugsrahmen von Glo- le der Asylsuchenden identifizieren. So nehmen unterschied- balisierung zu begreifen (Bosworth, 2012:125). Sie weist liche – teils miteinander kooperierende, teils konkurrieren- darauf hin, dass sich die Rolle von Räumen des Einschlusses de – Akteur*innen bestimmte Funktionen innerhalb des La- mit zunehmender Globalisierung und staatlichem Regulati- gers ein. Inhetveen (2014) beschreibt besonders detailliert onswunsch von Migration dahingehend ändert, dass sie zu- am Beispiel von Geflüchtetenlagern im südlichen Afrika, sätzlich zu Bestrafung und Disziplinierung die Aufgabe der wie unterschiedliche NGOs um Arbeits- und Einflussberei- Identifizierung und Kreierung von citizens unter stark mo- che konkurrieren oder der UNHCR von der Möglichkeit Ge- difizierten Bedingungen übernehmen (Bosworth, 2012:126). brauch macht, Maßnahmen und Anordnungen von NGOs im Zusätzlich falle die aufhebende Wirkung von Strafinstitutio- Lager zu widerrufen (Inhetveen, 2014:128). Eigene empiri- nen weg: Die Insass*innen können nicht einfach eine gewis- sche Arbeiten auf Lesvos haben aber auch gezeigt, dass sich se Zeit absitzen und erhalten damit Zugang zur Staatsbür- unterschiedliche NGOs bei der Unterbringung und der Le- ger*innenschaft, vielmehr bleibt ihr Status als nicht zugehö- bensmittelversorgung Asylsuchender untereinander koordi- rig von der Haft unberührt (Bosworth, 2012:130). nieren und sowohl die Lagerverwaltung als auch der UNHCR Die vorangegangenen Ausführungen haben dargelegt, dass auf Datenbanken einer NGO zurückgreifen, um Aufenthalts- Räume des Einschlusses stets ein bestimmtes Verhältnis zur orte von Asylsuchenden abzufragen. Mobilität einnehmen und dass sie zum Beispiel in Form von Zudem sind die Akteur*innen und Institutionen wie das Detention Centers eine entscheidende Rolle bei der Einhe- Gesamtensemble des Lagers in ihre Umgebung, in Netzwer- gung von Migration spielen. Dafür werden die Detention ke der Migration, der Migrationskontrolle und der Versor- Centers in ein weiteres Netz von Praktiken und Institutionen gung von Migrant*innen sowie in übergeordnete Politiken eingebunden, die sich zu größeren Zusammenhängen der Mi- eingebunden. Das bedeutet aber auch, dass die Betroffenen grationskontrolle entwickeln und dadurch ihre volle Wirkung eben nicht komplett isoliert und marginalisiert werden, son- entfalten. dern die Netzwerke und Beziehungen in ihrem Interesse nut- Zur klareren Analyse und zur Kontextualisierung dieser zen können (Inhetveen, 2014:116). Dabei stehen nicht nur Praktiken in größere Zusammenhänge möchte ich das Kon- formelle Institutionen miteinander in Verbindung, sondern zept der Gouvernementalität anbieten, mit dem Foucault zusätzlich informelle Routen und Orte, wie zum Beispiel Technologien der Regierung analysiert und seine Werkzeu- an formelle Lager angrenzende informelle Camps, die sich ge der Machtanalyse verfeinert hat. bis zu einem gewissen Grad der Kontrolle entziehen (Martin et al., 2019:4). Teil dieser eingebetteten Praktiken der Migrationskontrol- 3 Gouvernementalität und Raum le sind die Detention Centers. Diese sind laut Conlon und Hiemstra (2014) ein Mechanismus der Migrationskontrol- Zwischen 1977 und 1979 brachte Foucault in seinen Vor- le, der über einen erhöhten Bedarf an nationaler Sicherheit lesungen erstmals den Begriff der Gouvernementalität ins und der Kontrolle „gefährlicher Körper“ seine Legitimati- Spiel. In diesem Kontext analysiert er die Vorgänge der Re- https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021 Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021
440 T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? gierung des Staates seit dem Liberalismus. Dabei beschreibt kels von besonderem Belang, um die konkreten und über- er die Regierung als das In-Gang-Setzen und die Orchestrie- geordneten Systeme der Rahmung von Zirkulation zu analy- rung unterschiedlicher Mechanismen, um bestimmte Formen sieren. Füller und Michel (2012) machen diesbezüglich mit der Verhaltensführung auf Dauer zu stellen und so Gesamt- ihrer Beschreibung des „Raum[s] als Machttechnik“ deut- dynamiken der Bevölkerung beeinflussen zu können (Fou- lich, dass der Raum nicht als Hintergrund von Handlun- cault, 2017:146). Allerdings geht er dazu über, den Begriff gen konzeptualisiert werden kann, sondern als fundamentaler der Gouvernementalität und seine Analyse weiter zu fassen Teil von sozialen Handlungen und Strategien sowie gesell- bzw. auf mehrere Ebenen zu verlagern. So bildet die Ana- schaftlichen Strukturierungen anzuerkennen ist (Füller und lyse der Rationalitäten des Staates nur eine Analyseebene; Michel, 2012:12). Dem folgend erleichtern und erschweren die vorausgehend untersuchten Institutionen wie das Gefäng- Materialitäten bestimmte aufeinander bezogene Handlungen nis oder die Produktion des Wahnsinns sind weitere Baustei- durch räumliches In-Beziehung-Setzen (Füller und Michel, ne einer umfassenden Analyse der Gouvernementalität (Fou- 2012:12). cault, 2015:261). So werden Systeme der Zirkulation von Gütern, Kapital Als konstitutiven Modus der Regierung seit dem Liberalis- und Personen bzw. deren Mobilität über räumlich-materielle mus sieht Foucault das Sicherheitsdispositiv, das den Diszi- Techniken und Strukturen sichergestellt. Über die Verände- plinarmechanismus als vorherrschende Regierungstechnolo- rung der Komponenten der Zirkulation lassen sich Bege- gie ablöst (Foucault, 2015:73). Während Disziplin „komple- benheiten und Handlungen wahrscheinlicher oder unwahr- mentär zur Realität“ (Foucault, 2015:76) eingrenzt und di- scheinlicher machen (Marquardt und Schreiber, 2012:41). rekt auf das Individuum einwirken will, weiten sich Sicher- Dabei stehen Systeme der Zirkulation auf übergeordneter heitsdispositive aus, sie geben die Leitlinien für die Entwick- Ebene – wie beispielsweise das europäische Migrationsre- lung einer bestimmten gesellschaftlichen Tendenz vor und gime – in einem wechselseitigen Verhältnis mit spezifisch lo- wirken nicht ausschweifend disziplinarisch auf das Subjekt kalen Techniken der Relationierung von Personen und Mate- ein – sie lassen, ausgehend von der gegebenen Realität, ge- rialitäten, die wiederum ihrerseits miteinander in Beziehung währen (Foucault, 2015:73). Es geht also bei der Regierung gesetzt werden, woraus sich ein umfassenderes System bil- im Zeichen des Sicherheitsdispositivs darum, Bedingungen det (Salter, 2013:9). Einem topologischen Verständnis von zu durchdringen und so in Beziehung bzw. in Kraft zu set- Macht entsprechend werden die Techniken der Regierung zen und die Zirkulation zwischen ihnen sicherzustellen. Da- von Zirkulationssystemen nicht lediglich von der übergeord- bei soll nicht unterbunden, sondern im Gegenteil allgemein neten Ebene ins Lokale überführt. Vielmehr werden schon ermöglicht werden, jedoch sollen gleichzeitig Risiken der bestehende Techniken und lokale Gemengelagen so in Be- nicht erwünschten gesellschaftlichen Tendenzen minimiert ziehung gesetzt und angeeignet, dass sich die Systeme der werden (Foucault, 2015:100). Die Zirkulation beschreibt also Zirkulation bestenfalls in die gewünschte Richtung entwi- – zum Zweck der größtmöglichen Produktivität – einen mög- ckeln. So kommt es, dass die Detention Centers als Räume lichst ungehinderten Fluss von Personen, Gütern und Kapi- des Einschlusses flexibel in diese Systeme eingebunden wer- tal, der zwischen unterschiedlichen Einheiten sichergestellt, den können. Dabei sind allerdings – bedingt durch die eigene aber vor allem im Sinne der Regierung gerahmt wird (For- Materialität der Ensembles und deren Komplexität – bereits man, 2018:232). Die Zirkulation unterliegt allerdings dem potenzielle Brüche in diese Techniken eingeschrieben und Bestreben und damit teils koordinierter, teils konkurrieren- bieten die Möglichkeit zu Widerstand und möglicherweise der Praktiken verschiedener Akteur*innen, sie möglichst in sogar zur Transformation der übergeordneten Systeme (Col- ihrem Sinne auszugestalten (vgl. Foucault, 2017:146). lier, 2009:90). Seit Foucault erste Raumprobleme der Regierung iden- Eine dieser Techniken besteht zum Beispiel in der Kon- tifizierte (Huxley, 2008:1636), haben sich einige Theore- trolle von Abläufen und Bevölkerungsteilen und damit in tiker*innen an der geographischen Konkretisierung seiner der Produktion konkreten Wissens über bestimmte Abläu- Theorie versucht bzw. sich darum bemüht, Foucaults im- fe. Diese Kontrolle wird vor allem über die Lokalisierung – plizite Konzeptionen von Raum aus seinen Ausführungen ein inhärent räumlicher Begriff – sowie die räumliche Arran- herauszuschälen. Philo (1992) leitete aus einzelnen Aufsät- gierung zur besseren Lokalisierung gewährleistet (Huxley, zen und der Geschichtsauffassung Foucaults ein Raumkon- 2008:1646). Ein weiteres, sehr anschaulisches Beispiel sind zept ab, demzufolge sich der Raum aus gleichberechtigten physische Barrieren, die in die Relationierung zwischen Per- Lagebeziehungen und der Streuung von Beziehungen kon- sonen einbezogen werden, um auf lokaler Ebene bestimm- stituiert, statt auf übergeordneten und allumfassenden Ord- te Handlungen durchzusetzen (vgl. Breuckmann, 2021). Es nungssystemen zu basieren. Foucault selbst konstatiert in ei- macht demnach also bei der geschärften Analyse übergeord- nem Interview, dass er vornehmlich räumliche Begriffe nutzt, neter Systeme der Zirkulation und der Regierung von Mobili- die das Feld der Macht und der Machtbeziehungen abste- tät Sinn, nach konkret kleinräumigen Praktiken Ausschau zu cken und einordnen (Foucault zit. n. Gordon, 1980:70). Die halten, die sich, miteinander in Beziehung gesetzt, zu eben- sich mit sozialräumlichen Beziehungen ko-konstituierenden diesen Systemen zusammensetzen. So bieten die vorgestell- Machtverhältnisse sind im Kontext des vorliegenden Arti- ten Konzeptionen zwei aus meiner Sicht gewinnbringende Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021
T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? 441 Perspektiven an: Zum einen bietet die Foucault’sche Kon- lungen und in Verbindung mit Expert*innenwissen und Do- zeption der Zirkulation die Möglichkeit, eine systemische kumenten einige Punkte zur adäquaten Analyse der Haft auf Perspektive der Vernetzung und der Einhegung von Mobili- Lesvos ausmachen. tät einzunehmen und mit konkreten Techniken in Beziehung zu setzen. Zum anderen eröffnen die Topologien der Macht 4.1 Tendenzen und Entwicklungslinien der Detention in einen Blick auf konkrete Techniken, die ihre eigene Materia- Griechenland lität besitzen und jeweils Beziehungen und Netzwerke her- ausbilden, aber auch miteinander in Beziehung stehen und so Die Inhaftierungsprozeduren von Migrant*innen und Asyl- bestimmte Effekte innerhalb eines übergeordneten Systems suchenden in Griechenland haben in den letzten Jahren vie- der Zirkulation erzeugen. le Wendungen erfahren und unterliegen vor allem nationalen Während im vorliegenden Artikel, aufbauend auf dem Politikwechseln, die sich in die Gemengelage europäischer Forschungsstand zu Geflüchtetenlagern, angenommen wird, Asylpolitik und damit in Verbindung stehender Migrations- dass das Lager als Mechanismus der selektiven Zirkulation dynamiken einfügen. So hat sich vor allem zu Beginn der in das Migrationsregime eingebunden ist, konzentriere ich 2010er Jahre eine Politik herauskristallisiert, die zum einen mich empirisch auf den zweiten Punkt – die Topologien der den Grenzübertritt nach Griechenland illegalisierte, zum an- Macht und die wechselseitigen Beziehungen der einzelnen deren jedoch auf eine Politik der Abschreckung setzte, die zu Techniken. Deshalb spezifiziere ich die anfangs aufgeworfe- einer Steigerung der Inhaftierung von Migrant*innen führte. ne Frage in Bezug auf meine Empirie wie folgt: Wie wird Die Haftbedingungen und -praktiken konsolidierten sich da- das Detention Center in Moria in den Ordnungsmechanis- bei aus dem Spannungsfeld zwischen fingierter Aufnahme- mus Geflüchtetenlager eingebunden und mit anderen lokalen bereitschaft bzw. einem Schutzanspruch gegenüber Geflüch- Techniken sowohl innerhalb als auch außerhalb des Lagers in teten und einem Sicherheitsdiskurs, der eine gezielte Ver- Beziehung gesetzt, um eine selektive Zirkulation von Asyl- schlechterung der Haftbedingungen zur angeblichen Vermei- suchenden durchzusetzen? dung von Anreizen für den illegalisierten Grenzübertritt her- Das Ziel der empirischen Analyse ist es also, mehr über vorbrachte (Fili, 2018:164f.). Dies ging mit nationalen poli- die Vorgänge der Zusammensetzung konkreter Techniken zu tischen Bemühungen einher, möglichst alle illegalisiert ein- erfahren, die einen Ordnungsmechanismus auf lokaler Ebene gereisten Migrant*innen zu internieren und zu deportieren. bilden. Während dies vor allem massenhafte Inhaftierungen auslös- te, waren die meisten Deportationen aufgrund fehlender zwi- schenstaatlicher Abkommen und institutioneller Ressourcen 4 Ergebnisse Griechenlands nicht zu gewährleisten. Unter anderem wegen der Finanzkrise wurde das Vorhaben aufgegeben; die damals Der aufgeworfenen Frage widme ich mich auf Grundlage neue Regierung um die linke Partei Syriza verschrieb sich meiner empirischen Forschung auf der ägäischen Insel Les- einem Ende der Inhaftierungs- und Abschiebepraktiken (Fi- vos zu einem der ehemals größten europäischen Geflüchte- li, 2018:166f.). Die Inhaftierung von Migrant*innen nahm ab tenlager, dem Reception and Identification Center Lesvos, 2016, unter derselben Regierung, nach Inkrafttreten des Ab- besser bekannt als Moria. Nach dem schweren Brand im La- kommens zwischen der EU und der Türkei in Griechenland ger wurde dieses geschlossen und zum Zeitpunkt des Ver- allerdings wieder sukzessive zu, vor allem in Form der Ver- fassens dieses Artikels durch ein Übergangslager in der Nä- waltungshaft (Hänsel, 2019:85f.). Dies lässt sich vor allem he des alten Camps ersetzt (mare liberum, 2020). Während als Folge einer neuen Situation nach besagtem Abkommen vier Feldforschungsphasen zwischen September 2018 und verstehen: Griechenland und vor allem die Ägäischen Inseln April 2020 hatte ich die Möglichkeit, einen tieferen Ein- wurden von Transitorten zu Orten der Registrierung und Un- blick in die Funktionsweisen des Camps zu bekommen, und terbringung von Geflüchteten, was ein verändertes Verwal- zwar hauptsächlich durch teilnehmende Beobachtungen im tungshandeln notwendig erscheinen ließ (Fili, 2018:180). und um das RIC sowie teilnarrative Interviews mit Geflüch- Während 2016 noch ein Großteil der Angekommenen teten, NGO-Mitarbeiter*innen, Anwält*innen und Angehö- für jeweils 25 bis 28 Tage inhaftiert worden war (Hänsel, rigen weiterer Institutionen wie der Polizei und des Camp- 2019:89), verschob sich die Praxis der Inhaftierung von ge- Managements. Im September 2019 fanden in diesem Kontext rade angekommenen und registrierten Asylsuchenden egal Interviews mit vier ehemals Inhaftierten statt. Die folgenden welcher Herkunft auf allein reisende Männer, die meist aus Ausführungen basieren hauptsächlich auf diesen Interviews, Staaten mit einer Anerkennungsquote von unter 25 Prozent auf Gesprächen mit drei Anwält*innen sowie Dokumenten kamen. Dieses Prozedere wurde mit dem Verfahren des Low zum Thema Detention. Auch wenn vor allem aufgrund des Profile Detention Scheme (Saranti, 2019:8) institutionali- erschwerten Zugangs zu Personen – durch eingeschränkte siert. Die rechtliche Grundlage dafür bildet das Gesetz „De- Erreichbarkeit, vor allem aber durch schwer herzustellende tention of Applicants“, das unterschiedliche Umstände fest- Vertrauensverhältnisse – die Anzahl der interviewten ehe- schreibt, unter denen Migrant*innen in Haft genommen wer- mals Inhaftierten nicht groß ist, lassen sich aus den Erzäh- den können. Grund dafür ist vor allem die vermutete Gefahr, https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021 Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021
442 T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? die betreffende Person könnte sich dem Asylverfahren ent- Einfussfaktoren2 fanden die medizinischen und psycholo- ziehen oder es unnötig in die Länge ziehen. Eine Inhaftierung gischen Untersuchungen sowie die Unterbringung entwe- einzig aufgrund eines illegalisierten Grenzübertritts ist hin- der unmittelbar nach der Registrierung, nach einigen Ta- gegen nicht erlaubt (Saranti, 2019:6). Es wird eine Haftdauer gen oder teilweise auch gar nicht statt. Die schlechte Vor- von 45 Tagen geplant, bei Revision verlängerbar auf insge- hersehbarkeit und fehlende Regelhaftigkeit der Abläufe war samt 90 Tage (Saranti, 2019). Personen, die einen legitimen auch der Grund, warum sich die Inhaftierungsabläufe bei den Asylgrund vorweisen oder als vulnerabel angesehen werden, Interviewten teilweise unterschieden. So sind zum Beispiel sind explizit von der Inhaftierung ausgenommen. Die Fest- einzelne Interviewte komplett ohne Registrierung inhaftiert stellung dieser beiden Status ist jedoch lediglich im Zuge der worden, während andere zuvor sogar medizinisch untersucht bei der Registrierung vorgesehenen medizinischen Exami- wurden. Zudem war das Aufnahmeprozedere selbst durch In- nierung und des Asylinterviews während der Haft möglich transparenz und Inkonsistenz geprägt. Während sich man- (Saranti, 2019:11). che Inhaftierte entkleiden mussten und durchsucht wurden, Obwohl das Prozedere der Inhaftierung bestimmter Ziel- mussten andere dies nicht tun. Von diesem Zeitpunkt an de- gruppen also einen Namen bekommen hat und auf ein recht- cken sich jedoch die Berichte über die Haft zu großen Tei- lich extrem instabiles Fundament gestellt wurde, lässt sich len. Diese war gekennzeichnet durch unzureichende Versor- konstatieren, dass bis zur Schließung der Detention infolge gung, wenig Platz und kurze Freigänge. Die meisten Inhaf- des Brandes Unklarheit darüber bestand, wer unter welchen tierten führten schon während der Haft ihr erstes Asylinter- Bedingungen inhaftiert wurde (Fili, 2018:171). Während mir view durch, sodass sie bereits kurz nach ihrer Entlassung auf- einzelne Inhaftierte berichteten, dass sie das normale Pro- grund der fehlenden Vorbereitung ihre erste Ablehnung er- zedere durchlaufen hätten, wurden ihre Landsmänner ohne hielten. Im Anschluss an die Haft mussten sie sich eine eige- stichhaltige Begründung inhaftiert. Der Bericht zur Inhaftie- ne Unterkunft meist innerhalb des Lagers organisieren, wäh- rungspraxis auf Lesvos von Saranti (2019) kritisiert explizit, rend Registrierte regulär von staatlichen Stellen und NGOs dass den Asylsuchenden keine individuellen Begründungen untergebracht wurden. gegeben wurden (Saranti, 2019:12). Zusätzlich zu den Verwaltungsinhaftierungen, die einen Großteil der Inhaftierungen darstellten, lassen sich Abschie- 4.3 Lokalisierung, Immobilisierung, Parzellierung beinhaftierungen von Personen, deren Anträge nach einem zweiten Asylverfahren abgelehnt wurden, anführen (Hänsel, Der offensichtliche und grundlegendste Mechanismus der In- 2019:91). Es kam vor, dass Inhaftierte keinen Zugang mehr haftierung lag in der umfassenden Lokalisierung und Immo- zu Anwält*innen bekamen, um einen finalen Einspruch ge- bilisierung der Inhaftierten. Dabei war auch die innere Or- gen die Entscheidung einzulegen, der ihnen jedoch regulär ganisation der Haft durch Parzellierung und teilweise Tren- zusteht (Interview mit Anwalt 3). Als dritter Inhaftierungs- nung der Inhaftierten gekennzeichnet. Laut Hänsel (2019) grund galt das „ordnungsverletzende Verhalten“ von Perso- gab es zwei unterschiedliche Sektoren innerhalb der Haftein- nen, die ohne gerichtliches Verfahren, jedoch durch Anwei- richtung, in denen in den jeweiligen Zellen allein reisende sung der Polizei auf dem Festland inhaftiert wurden (Hänsel, Männer gleicher Nationalität untergebracht wurden (Saranti, 2019:92). Im Folgenden wird es vor allem um das Prozede- 2019:86). Die Hafteinrichtung fasste insgesamt 150 Perso- re und die Spezifika der Verwaltungshaft gehen. Zur besseren nen. Mehrere Interviewte berichteten, dass in einer Zelle 14 Einordnung erfolgt zunächst eine kurze Chronologie der Haft Personen untergebracht waren, andere Berichte gehen von von der Inhaftierung bis zur Freilassung, bevor ich auf ein- neun bis zwölf Personen auf 47 m2 aus (Saranti, 2019:15). zelne Techniken der Regierung der Inhaftierten eingehe und Insgesamt leistete der schiere Einschluss den Großteil der diese zum Lager und konkret zum Asylverfahren in Bezie- Bewegungskontrolle. Zudem wurden die Inhaftierten drei- hung setze. mal täglich gezählt, während sie sonst größtenteils sich selbst überlassen wurden. Ato erzählte im Interview, dass die Zel- len videoüberwacht worden seien, er jedoch keine diesbe- züglichen Auswirkungen im Sinne disziplinarischer Techni- 4.2 Chronologie der Haft in Moria ken wahrgenommen habe. Zusätzlich bestand die Möglich- keit, Inhaftierte in Isolationshaft unterzubringen. Anfang Ja- In der Regel wurden alle ankommenden Asylsuchenden zur nuar 2020 wurden Berichte öffentlich, nach denen sich ein Registrierung in die Reception and Identification Area, kurz Inhaftierter in seiner Zelle suizidierte, nachdem er mehre- New Arrival bzw. RIC Area, gebracht (s. hellblauer Bereich re Wochen in Isolationshaft gehalten worden sei, obwohl er in Abbildung 1). Dort wurden Kurzinterviews zu Flucht- route und Fluchtgründen durch Mitarbeitende von Frontex 2 Beispielsweise unterbrach Kelpno, die mit der medizinischen und lokalen Polizeibehörden geführt. Abhängig von der Zahl und psychologischen Untersuchung betraute staatliche Stelle, infol- der Ankommenden, der allgemeinen Auslastung der betei- ge eines Konflikts mit Asylsuchenden ihre Arbeit für mehrere Wo- ligten Institutionen sowie anderer, weniger vorhersehbarer chen. Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021
T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? 443 Abb. 1. Übersicht Reception and Identification Center Lesvos (eigene Abbildung). stets über starke psychische Beschwerden geklagt hatte (De- fängnisbus in die naheliegende Haftanstalt überstellt. Wäh- portation Monitoring Aegean, 2020:o. S.). rend nur einzelne Personen einer Leibesvisitation unterzo- Trotz der starken Einschränkungen bestand ein – wenn gen wurden, mussten alle Inhaftierten ihre persönlichen Ge- auch starker Regulierung unterworfener – Moment, in dem genstände aushändigen, die dann inventarisiert wurden. Nach die Inhaftierten eigenständig mit dem Außen der Haftanstalt ihrer Durchsuchung wurden die neu Inhaftierten aufgefor- in Beziehung treten konnten: Zweimal täglich gab es andert- dert, ein auf Griechisch verfasstes Dokument zu unterzeich- halb Stunden Hofgang. Die Zeit des Hofgangs variierte je- nen. Das Dokument wurde jedoch weder übersetzt noch wur- doch, sodass der Kontakt zu Mithäftlingen aus anderen Zel- de ihnen erklärt, was es beinhaltet (Interview mit Ato). Im len im Außenbereich möglichst vermieden und Informations- Nachhinein stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Unterschrift fluss unterbunden wurde (Interview mit Amissah). Zusätzlich die Zustimmung zu ihrer eigenen Inhaftierung für einen Zeit- bestand während dieser Zeit die Möglichkeit, zu Außenste- raum von 90 Tagen gegeben hätten (Interview mit Yoofi). henden durch die Absperrungen hindurch Kontakt aufzuneh- Demgegenüber hätten sie laut Saranti (2019) lediglich einer men. Inhaftierung von drei Tagen – zur Durchführung des Ver- Die Immobilisierung wirkte sich zudem auf die Zeit nach waltungsakts – zugestimmt. Auf die Frage, was passiert wä- der Haft aus: Während Einzelne dem Anschein nach schon re, wenn sie das Dokument nicht unterzeichnet hätten, sagte vor der Haft traumatisiert waren, berichteten andere von Ato aus, dass sich ihnen diese Frage gar nicht gestellt habe. Angstzuständen und Flashbacks, wenn sie in die Nähe der Kwesi sagte andererseits aus, dass die 90 Tage erst nach der Hafteinrichtung kamen, die unmittelbar neben der Essens- Unterschrift gezählt worden seien. Zudem wurde von Aussa- ausgabe des Lagers lag. Die ehemals Inhaftierten klagten gen anderer Gefangener berichtet, wonach Beamt*innen die über Probleme, ihren Alltag unter den ohnehin schon schwie- Papiere nach ihrer Weigerung selbst unterschrieben hätten. rigen Umständen zu bestreiten, und erzählten von anderen Meist hätten die Inhaftierten erst von Mithäftlingen die Dau- ehemaligen Insassen, die starke posttraumatische Stresssym- er und Umstände der Haft erfahren (Interview mit Amissah). ptome aufwiesen (Interview mit Ato). Diese Tatsache kann als sehr prägnantes Beispiel dafür die- nen, wie essenziell Informationen für Asylsuchende sind, um 4.4 Zirkulation von Informationen und Gütern ihre Rechte einfordern, ihre Lage verbessern bzw. informiert handeln zu können. Die eingeschränkte Zirkulation von Informationen und Gü- Zudem sei der Zugang zu Versorgungs- oder Alltagsgütern tern bestimmte den Haftalltag der Interviewten. Alle muss- erheblich eingeschränkt und von Willkür gekennzeichnet ge- ten sich ohne Vorinformation in ihrer ursprünglichen Gruppe wesen. So wurde bspw. berichtet, dass einzelne Zellen nur sammeln und wurden vom New-Arrival-Areal mit einem Ge- https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021 Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021
444 T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? zwei Flaschen Wasser pro Tag für alle Insassen bekommen trierung inklusive der Untersuchungen und der Ankündigung hätten. Bei einem anderen Beamten habe man für jedes Glas des Asylbegehrens noch vor der Haft durchgeführt wird, um Wasser fragen müssen, während ein weiterer unbegrenzten festzustellen, ob die Personen von der Haft ausgenommen Zugang zu Trinkwasser gewährt habe. Auch der Zugang zu werden können. Dies hätte entweder aufgrund nachvollzieh- Hygieneartikeln sei stark eingeschränkt gewesen, teils habe barer Asylgründe der Fall sein können, vor allem aber auf- alles nachgefragt werden müssen. Es habe zwar regelmäßig grund ihres Vulnerabilitätsstatus’3 , der eine Überführung in Essen gegeben, jedoch sei die Ausgabe teils verzögert oder das reguläre Verfahren ein- und damit eine Rücküberweisung das Essen zu lange in der Sonne stehengelassen worden (In- in die Türkei ausschloss (Interview mit Anwältin 1). terview mit Ato). Selbst der Zugang zu persönlichen Medika- Mehrere Autor*innen identifizieren fehlende Untersu- menten sei reguliert gewesen und hätte stets erfragt werden chungen und Feststellungen der Vulnerabilität ebenfalls als müssen, was Amissah als eine starke Einschränkung seines substanzielles Problem der Wahrung der Rechte von poten- Autonomieempfindens wertete. Des Weiteren hatten die In- ziell Inhaftierten. So gibt Hänsel (2019) an, dass die Feststel- haftierten keinen Anspruch auf die finanzielle Versorgungs- lung der Vulnerabilität aufgrund von Verfahrens- oder struk- leistung von zum Zeitpunkt der Interviews 90 Euro, sodass, turellen Mängeln weder vor noch nach der Haft durchgeführt selbst bei geringem Kontakt nach außen, beispielsweise kei- wurde und damit eine andauernde Inhaftierung nach sich zog ne SIM-Karten gekauft werden konnten. (Hänsel, 2019:90), zumal andere Möglichkeiten der Feststel- Die Regulierung des Zugangs zu einem bestimmten per- lung außerhalb der Erstregistrierung und des Asylinterviews sönlichen Gegenstand hatte für die Befragten eine enorme während der Inhaftierung nicht vorgesehen waren (Saranti, Bedeutung, da sie weitreichende Folgen für das Leben in 2019:11). Dazu kam eine ebenfalls unzureichende medizi- Haft wie für das Asylverfahren und den Kontakt nach au- nische und psychologische Versorgung, die unter anderem ßen hatte: Nur jeweils von Samstagmorgen bis Sonntagabend aus dem Einschluss der Inhaftierten resultierte. Es lässt sich erhielten die Inhaftierten ihr Mobiltelefon. Die Beschrän- zwar konstatieren, dass die unzureichende Gesundheitsver- kung wirkte sich zum einen auf das Zeiterleben der Inhaf- sorgung auf Lesvos generell einen Einflussfaktor darstellte tierten aus, deren Wochenende nach eigener Aussage durch und mit dazu führte, dass Geflüchteten keine angemessene den Kontakt zur Außenwelt deutlich erträglicher wurde (In- Behandlung zuteil wurde (und immer noch wird). Allerdings terview mit Kwesi). Zum anderen fungierte das Mobiltelefon war die ärztliche Versorgung der Inhaftierten auch von der als Mittel, um Netzwerke aufrechtzuerhalten oder Beratun- Willkür der Beamt*innen abhängig. Einige Personen wurden gen zu organisieren, was erhebliche Auswirkungen auf die etwa in das nahegelegene Krankenhaus gebracht, um behan- Chancen eines erfolgreichen Asylverfahrens hatte (s. nächs- delt zu werden, während andere im gesamten dreimonatigen ter Abschnitt). Haftzeitraum überhaupt keine Behandlung erhielten. Kwesi Die Zeit nach der Haft war für die meisten Inhaftierten vermutete, dass die Polizei eine Haftentlassung durch Krank- eine Phase der Orientierungslosigkeit und des verminderten heit habe vermeiden wollen. Die psychologische Versorgung Wissens über örtliche (Unterstützungs-)Strukturen. So muss- wurde als ähnlich desaströs beschrieben. Es sei zwar regel- ten einzelne Interviewte in der ersten Zeit nach der Haft auf mäßig psychologisches bzw. sozialarbeiterisches Personal in der Straße in Moria schlafen, da sie weder von der mit der die Hafteinrichtung gekommen, jedoch beschrieben die ehe- Unterbringung betrauten NGO noch über soziale Netzwer- maligen Inhaftierten dieses als für ihre Situation wenig hilf- ke untergebracht wurden. Die Interviewten wussten teilweise reich. Alle Befragten klagten zudem darüber, sich von den nicht, bei welchen Problemen sie sich an welche Organisati- Beamt*innen nicht ernst genommen gefühlt zu haben, selbst on oder Institution zu wenden hatten, wo sich die Asylbe- wenn sie schon vor der Haft gesundheitliche Probleme ange- hörden innerhalb des Lagers befanden oder welche Unter- geben hatten. Teilweise seien ihre Beschwerden ins Lächer- stützungsstrukturen außerhalb des Lagers existierten, sodass liche gezogen worden (Interview mit Amissah). sich die Einschränkung der Handlungsmacht der Interview- Eine weitere, sich sowohl auf die Haftzeit selbst als auch ten über die Haft hinaus eingeschrieben hat. auf das Asylverfahren auswirkende Beschränkung lag im fehlenden Zugang zu Anwält*innen. So war es den Inhaftier- 4.5 Zugänge zu Institutionen und ten kaum möglich, ohne Unterstützungsnetzwerke von au- Unterstützungsleistungen ßen anwaltliche Hilfe zu organisieren und sich etwa adäquat 3 „As vulnerable groups shall be considered for the purposes of Doch bereits während des konkreten Einschlusses hatten die this law: a) Unaccompanied minors, b) Persons who have a disabi- Inhaftierten keinen Zugang zu essenziellen Institutionen und lity or suffering from an incurable or serious illness, c) The elderly, Unterstützungsleistungen – Gründe dafür waren die stark d) Women in pregnancy or having recently given birth, e) Single pa- eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die Abschottung nach rents with minor children, f) Victims of torture, rape or other serious außen und damit der fehlende Zugang zu Unterstützer*innen. forms of psychological, physical or sexual violence or exploitation, Wie in der Chronologie kurz angerissen, begann dies bereits persons with a post-traumatic disorder, in particularly survivors and damit, dass teilweise keine medizinische und psychologische relatives of victims of ship-wrecks, g) Victims of trafficking in hu- Voruntersuchung stattfand. Vorgesehen war, dass die Regis- man beings.“ (Asylgesetz 4375, Absatz 14, § 8) Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021
T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? 445 auf das Asylinterview vorzubereiten, das meist während der cherten Schutzstatus verholfen hätte (Interview mit Ato). Zu- Haft stattfand (s. Abschnitt zu Mobilisierung). Zwar hät- sätzlich sorgte die weitestgehende Beschränkung von Kon- te eine Möglichkeit darin bestanden, selbstständig über das takten dafür, dass die Inhaftierten keine Möglichkeiten hat- Mobiltelefon nach Anwält*innen zu suchen, jedoch durften ten, Beweise für das Interview zu sammeln und vorzube- die Inhaftierten ihr Mobiltelefon nur am Wochenende nutzen reiten (Interview mit Amissah). Neben anwaltlichen Versu- und waren unter der Woche nicht erreichbar. Einzelne Perso- chen, das Interview auf nach der Haft zu verschieben, führ- nen hatten nach Aussage von Ato bspw. nicht die Möglich- te lediglich das Auftreten bzw. das Anhalten einer Krank- keit, ihren Anwalt bzw. ihre Anwältin zu sprechen, während heit zur Verschiebung des Interviewtermins, im besten Fall sie kurzfristig einen Interviewtermin oder Ähnliches bekom- bis über die Haftzeit hinaus (Interview mit Ato). Die Mög- men hätten. Auch konnten auf dem Handy befindliche Be- lichkeiten, den Rahmen für das Interview annehmbarer zu weise für den Asylgrund während des Interviews nicht er- gestalten, waren für die Inhaftierten folglich stark einge- bracht werden (Interview mit Yoofi). So wird deutlich, dass schränkt. Dies hatte in mehreren dokumentierten Fällen zur sich die unterschiedlichen Techniken der Regierung wie im Folge, dass die ehemals Inhaftierten kurz nach Haftentlas- vorliegenden Fall ergänzten und miteinander verschränkten, sung eine erstinstanzliche Ablehnung ihres Asylantrags er- sodass die unterbundene Zirkulation von Informationen und hielten. Im Anschluss daran blieb ihnen der Einspruch und Gütern auch zu einer Einschränkung des Zugangs zu Unter- ein zweites Verfahren oder die Deportation. Die Beschleuni- stützungsleistungen führte, die diesen Mangel möglicherwei- gung des Verfahrens, gepaart mit unzureichendem Zugang zu se hätten ausgleichen können. Informationen und Unterstützung, führte dementsprechend Trotz alledem bestanden vereinzelt Möglichkeiten, Kon- zu einer beschleunigten Zirkulation im übergeordneten Sin- takte nach außen und zu Unterstützungsnetzwerken auf- ne, die Personen mit niedriger Anerkennungsquote schnellst- zubauen, die im Anschluss Anwält*innen oder bspw. möglich aus dem Asylsystem herausbefördern sollte. SIM-Karten organisierten. Diese gingen jedoch meist auf schon bestehende Netzwerke zurück, etwa wenn Unterstüt- 4.7 Umgangsstrategien und Widerstand zer*innen vorher von der Inhaftierung erfuhren oder gemein- sam mit den Inhaftierten auf der Insel angekommen waren. Auch wenn – so wie im vorliegenden Artikel – die Subjek- tivität und Handlungsmacht der Asylsuchenden stets betont werden, bestand in diesem Fall – etwa hinsichtlich der Ver- 4.6 Mobilisierung und Beschleunigung der Zirkulation schiebung des Asylverfahrens – nur wenig Handlungsspiel- Zudem stützte sich die Regierung der Asylsuchenden nicht raum. Darauf würden sich laut Yoofi allerdings die meis- lediglich auf die Immobilisierung und die Unterbindung von ten Anwält*innen konzentrieren, um mehr Zeit für die Vor- Zugängen, sondern auch auf die bewusste und kontrollierte bereitung des Asylverfahrens zu erwirken. Dass auftretende Mobilisierung sowie eine vor allem in Bezug auf das Asyl- Krankheiten das Interview verzögern können, lässt sich in verfahren beschleunigte Zirkulation, die sich mit anderen diesem Kontext wohl weniger als dezidierte Handlungsstra- Techniken verschränkte. tegie fassen, die Bemühung darum, dies als legitimen Grund So wurden Asylsuchende von Vollzugsbeamt*innen mo- anerkennen zu lassen, hingegen schon. bilisiert – meist zur Durchführung eines Asylinterviews Wie bereits erwähnt, beschreibt der Hofgang einen der bzw. zu Krankenhausbesuchen. Dabei wurden die Inhaftier- wenigen Momente, mit Personen und sozialen Netzwerken ten außerhalb der Haft stets in Handschellen transportiert, außerhalb in Beziehung zu treten, indem Bekannte an den selbst bei Krankenhausbesuchen und Behandlungen. Die Be- Zaun des Außenbereichs treten und mit den Inhaftierten re- amt*innen hätten auf Beschwerden der Inhaftierten hin geäu- den (Interview mit Ato). Teils versuchten die Beamt*innen, ßert, so seien die Gesetze, sie müssten in Handschellen trans- dies zu unterbinden, dann verständigten sich die Parteien je- portiert werden (Interview mit Amissah). doch über Zurufe. Informelle Netzwerke nach außen bildeten Während ein Großteil der Asylsuchenden im RIC Lesvos so eine zwar eingeschränkte, aber doch hilfreiche Ressour- bis zu zwei Jahre auf das erste Asylinterview warten muss- ce für die Inhaftierten. Während Besucher*innen sie nicht te, gaben sich die Behörden bei Inhaftierten große Mühe, das mit Lebensmitteln oder Ähnlichem versorgen durften, hatten Interview während der Haftzeit durchzuführen. Damit gin- Außenstehende die Möglichkeit, emotionale und finanziel- gen einige Besonderheiten einher, hinter denen sich System le Unterstützung, bspw. für Medikamente oder SIM-Karten, vermuten lässt. So sorgte der beschränkte Zugang zu An- zu leisten (Interview mit Kofi). Ein besonders großer Vorteil wält*innen während der Haft dafür, dass sich die Inhaftier- dieser Praxis bestand darin, dass der Zugang zu anwaltlicher ten unzureichend auf das Interview (das ihnen den Asylsta- Beratung von außen deutlich erleichtert wurde und die Un- tus verschaffen sollte) vorbereitet fühlten. Neben den allge- terbringung nach der Haft selbst organisiert werden konnte. meinen Haftbedingungen löste dies erhöhten Stress aus. So wurde in den Interviews gesagt, dass Inhaftierte nicht wuss- ten, welche die richtige Formulierung zur Beantwortung der jeweiligen Fragen gewesen sei und was ihnen zu einem gesi- https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021 Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021
446 T. Breuckmann: Detention Centers als vernetzte Räume des Einschlusses? 5 Fazit zusammenhänge. Dabei lassen sich unterschiedliche Ebe- nen räumlicher Reichweite ausmachen, deren Funktionieren Bei rückblickender Betrachtung der Empirie lässt sich nun nicht ohne ihre jeweilige Verschränkung bewerkstelligt wer- unter Rückgriff auf die Gouvernementalitätstheorie die Her- den könnte. Während konkret die Körper der Inhaftierten von ausbildung bestimmter Systeme der Zirkulation auf kleinräu- unterstützenden Netzwerken isoliert und über erzwungene miger wie übergeordneter Ebene ausmachen, die durch die Mobilisierung in die beschleunigte Zirkulation eingebunden Verschränkung nicht nur – wie von Foucault identifizierter wurden, waren die Inhaftierten durch ihre mögliche Abschie- – liberaler Techniken der Regierung gewährleistet werden. bung in weitreichendere Netzwerke eingebunden, die durch Vor allem Techniken, die auf der Praxis des Einschlusses im ihre Inhaftierung und damit Lokalisierung nicht hätten auf- Detention Center fußten, machten den beschriebenen Mecha- rechterhalten werden können. Diese waren wiederum Teil ei- nismus aus. Dabei wurde zum einen die Verlangsamung oder ner weitreichenderen Rationalität und Migrationspolitik der die starke Einschränkung von Zirkulationen und zum ande- EU, die auf übergeordneter Ebene die generelle Immobili- ren die Beschleunigung der Zirkulation vor allem der Inhaf- sierung schon vor Eintritt in die EU anstrebte (s. z. B. EU- tierten angestrebt. Türkei-Deal). Falls die Asylsuchenden trotzdem die Mög- Zu diesem Zweck wurden die unterschiedlichen, in der lichkeit der Einreise in die EU wahrnahmen, sollte über die Empirie genannten Techniken in einer Art und Weise rela- in Beziehung stehenden Institutionen eine selektive Zirkula- tioniert, dass sie der Verminderung der Chancen auf Asyl tion erreicht werden, innerhalb derer vor allem als potenziell für Personen mit niedriger Anerkennungsquote und damit ei- gefährlich Markierte oder aus vermeintlich wirtschaftlichen nem spezifischen Zirkulationssystem für unerwünschte Asyl- Gründen Migrierte aus Systemen der Zirkulation innerhalb suchende dienten. Die vereinzelten Techniken lassen sich da- Europas herausgefiltert werden sollten. bei nicht isoliert betrachten, sondern entfalteten ihre Wir- Was ist nun mit der im Artikel dargelegten Analyseme- kung hin zum Ziel der Regierung erst in ihrer Beziehung thode gewonnen? Der konkrete Gewinn der Analyse liegt in zueinander, aber auch im Zusammenspiel mit anderen Or- der Aufdeckung der Relationierung konkreter Techniken, die ten des Asylsystems. So führte die übergeordnete Technik zwar auch isoliert betrachtet werden können, ihre Wirkmäch- des selektiven Einschlusses dazu, dass die Inhaftierten einen tigkeit aber erst in der Beziehung zu anderen Techniken ent- begrenzten und meist willkürlichen Zugang zu Informatio- falten. Ebenjene Wirkmächtigkeit konnte in der Analyse ver- nen und Gütern besaßen, der sich mit dem geringen Zugang deutlicht werden. Was jedoch ebenfalls deutlich wurde, ist, zu Unterstützungsleistungen und Netzwerken ergänzte und dass sich die Technologien der Zirkulation bei der Unter- in ihrer Kombination eine prekäre Situation für die Inhaftier- bindung ebenjener nicht lediglich auf die liberalen Sicher- ten hinsichtlich ihrer Asylverfahren schuf. Netzwerkbildun- heitsmechanismen des Anreizes und der Beeinflussung von gen, die den Asylsuchenden hätten dienen können, wurden Handlungsgrundlagen stützen. Vielmehr wird verlangsamte also durch die Inhaftierung unterbunden. Gleichzeitig wur- und beschleunigte Zirkulation innerhalb von Geflüchteten- den durch eine gezielte und unter sehr strikten Umständen lagern und vor allem in Detention Centers durch ein spe- stattfindende Mobilisierung die Netzwerke, die dem Errei- zifisches Verhältnis zwischen kontrollierter Mobilisierung chen des Regierungsziels folgten, produziert. Dies beginnt und Immobilisierung sichergestellt. Dies wiederum wird nur mit dem Low Profile Detention Scheme, das eine bestimm- durch einen konkreten Zugriff auf den individuellen Körper te Gruppe von Asylsuchenden in das System der Detention der Asylsuchenden ermöglicht – Techniken, die eher an Dis- einbindet und sich über die beschleunigten bzw. erschwer- ziplinarinstitutionen erinnern. ten Verfahren und damit niedrig bleibenden Anerkennungs- Abschließend kann festgehalten werden, dass sich die Zir- quoten reproduzierte. Die gezielte und dieser beschleunig- kulationssysteme unterschiedlich ausdifferenzieren und sich ten Zirkulation dienende Mobilisierung drückte sich räum- nicht nur im klassischen Sinne verstandener liberaler Techni- lich vor allem im Transport zu den Interviews unter den aus ken bedienen, sondern – je nachdem, welchem Ziel die Zir- dem Einschluss resultierenden Einschränkungen und zeitlich kulationssysteme dienen sollen – auch Merkmale des Ein- in der zeitnahen Durchführung der Interviews aus und mün- schlusses, der Immobilisierung und der erzwungenen bzw. dete auf übergeordneter Ebene bei ausbleibendem Erfolg sei- kontrollierten Mobilisierung aufweisen können. Es ließe sich tens der Asylsuchenden in ihrer Deportation. Diese wird wei- in diesem Kontext also eher von mehreren Zirkulationssyste- terhin entweder durch das angesprochene Abkommen mit men reden, die durch unterschiedliche Techniken liberal, dis- der Türkei oder durch Rücknahmeabkommen mit den Her- ziplinarisch, autoritär etc. produziert werden und ineinander- kunftsstaaten gewährleistet, sodass das Detention Center in greifen, sodass selektive Zirkulationen geschaffen werden, ein größeres Netz der Prozessierung und Rückführung einer die im Falle des Asylregimes bestimmte Personengruppen bestimmten Gruppe eingebunden war. unter gegebenen Kategorien (z. B. hohe Verdunklungsgefahr, Diese Perspektive kann zum Anlass genommen werden, Wirtschaftsmigrant*in, vulnerabel) unterschiedlich einbindet um über den zweiten Aspekt der Foucault’schen Theorie und ihre Bewegung in unterschiedliche Richtungen (z. B. nachzudenken: der Verknüpfung und Relationierung lokaler nach Athen/Europa oder durch die Rückführung wieder aus Techniken und ihrer Eingebundenheit in größere Wirkungs- der EU heraus) beschleunigt, verlangsamt oder sogar tempo- Geogr. Helv., 76, 437–448, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-437-2021
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