Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022

 
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Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
Kartellrechtliche
Entwicklungen in Europa
und Deutschland
Competition Outlook 2022
Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                 COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

                                         Vorwort

                                              In unserem Competition Outlook fasst die Noerr Antitrust & Competition Group für Sie die wichtigsten
                                         kartell-, fusionskontroll- und beihilferechtlichen Entwicklungen in Europa und Deutschland aus 2021 zusammen –
                                         dem Leitsatz folgend: „Learn from the past, plan for the future“.

                                              Ferner werfen wir insbesondere einen Blick auf die Frage, auf welche Entwicklungen Unternehmen
                                         2022 vorbereitet sein sollten. In unserem Ausblick legen wir den Fokus auf die relevanten Kernthemen,
                                         von denen wir erwarten, dass sie eine wichtige Rolle in diesen Rechtsgebieten sowie im Bereich der
                                         Investitionskontrolle spielen werden.

                                              Unser Rückblick auf das Jahr 2021 befasst sich dabei u.a. mit der kartellrechtlichen Einordnung
                                         sog. enger Bestpreisklauseln durch den Bundesgerichtshof ("BGH") und ihren Folgen für die Praxis, dem
                                         gestiegenen Sanktionsrisiko beim sog. Gun Jumping und der Stärkung der Rechte von Kartell-
                                         geschädigten in Kartellschadensersatzprozessen.

                                              Unser Blick auf das anstehende Jahr zeigt, dass die großen Gegenwarts- und Zukunftsthemen
                                         unserer Zeit ihren Niederschlag auch im Kartellrecht finden werden: Welche Auswirkungen wird unsere
                                         neue Realität infolge der Covid-19-Pandemie zeitigen? Wie und mit wie viel Regulierung den grünen und
                                         digitalen Wandel gestalten?

                                              Trotz der anhaltenden Covid-19-Pandemie ist (wieder) mit verschärften Ermittlungsmaßnahmen
                                         durch Kartellbehörden zu rechnen und entsprechende Compliance-Programme von Unternehmen ge-
                                         winnen erneut an Bedeutung. Erleichterungen im Bereich der Fusionskontrolle sind für sog. Sanierungs-
                                         fusionen weiterhin nicht zu erwarten. Abzusehen sind jedoch auf EU-Ebene Änderungen im Bereich des
                                         Vertriebskartellrechts durch die anstehende Neufassung der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung
                                         und Implikationen für das kartellrechtliche Missbrauchsverbot durch den Digital Markets Act. Darüber
                                         hinaus sind schon jetzt – auch und gerade wegen der Covid-19-Pandemie – eine Renaissance und weiter
                                         zunehmende Bedeutung des Beihilferechts zu erkennen. Hinzu tritt, dass auch die Investitionskontrolle
                                         und die damit einhergehenden Notifizierungspflichten angesichts der jüngsten Gesetzesverschärfungen
                                         für das Transaktionsgeschäft immer wichtiger werden.

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Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
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      Inhalt

      Vorwort ....................................................................................................................................................................................... 3

      Rückblick: Wesentliche Entwicklungen aus 2021 . . ......................................................................................................... 7                                                    Ausblick: Was 2022 zu erwarten ist .................................................................................................................................... 25

      1. Kartellverbot . . ..................................................................................................................................................................... 8                     1. Kartellverbot . . ..................................................................................................................................................................... 26
            Kommission verhängt Geldbußen gegen VW und BMW wegen Absprachen                                                                                                                                                  Verschärfung von Ermittlungsmaßnahmen gegen beschuldigte Unternehmen . . ............................................. 27
            über technische Entwicklungen . . ................................................................................................................................... 9
                                                                                                                                                                                                                             Weiter zunehmende Bedeutung von Compliance-Programmen . . ......................................................................... 28
            Bundesgerichtshof erklärt auch enge Bestpreisklauseln für unzulässig . . ......................................................... 10
                                                                                                                                                                                                                             Nachhaltigkeit und Kartellrecht . . ................................................................................................................................... 29

      2. Missbrauchsverbot ........................................................................................................................................................... 11
                                                                                                                                                                                                                       2. Missbrauchsverbot ........................................................................................................................................................... 30
            Google unterliegt im Streit um Google Shopping                                        .....................................................................................................   12
                                                                                                                                                                                                                             Europäische Richter befassen sich weiter mit Google ............................................................................................. 31

      3. Fusionskontrolle ................................................................................................................................................................ 13
                                                                                                                                                                                                                       3. Fusionskontrolle ................................................................................................................................................................ 33
            Untersagung eines Zusammenschlusses nach § 36 Abs. 1 GWB bei Verstärkung einer
                                                                                                                                                                                                                             Covid-Pandemie – neue Sanierungsfusionen in Sicht? ........................................................................................... 34
            marktbeherrschenden Stellung: SIEC-Test hat keine eigenständige Bedeutung . . ........................................... 14
            Gun Jumping im Fokus der Wettbewerbsbehörden .. ................................................................................................ 15
                                                                                                                                                                                                                       4. Rechtsetzung ...................................................................................................................................................................... 35
                                                                                                                                                                                                                             Vertriebskartellrecht – die Neufassung der Vertikal-GVO ...................................................................................... 36
      4. Kartellschadensersatz .. ................................................................................................................................................... 16
                                                                                                                                                                                                                             Online-Plattformen im Fokus – DMA und DSA auf der Zielgeraden .................................................................... 37
            Zulässige Schadenspauschale bewirkt Beweislastumkehr bei Kartellschadensersatzklagen .. ................... 17
                                                                                                                                                                                                                             Ampel-Koalition und Kartellrecht – Was plant die neue Bundesregierung? ..................................................... 38
            EuGH stärkt die Rechte von Kartellgeschädigten bei Schadensersatzklagen ................................................... 18

                                                                                                                                                                                                                       5. Beihilferecht ....................................................................................................................................................................... 39
      5. Sektoruntersuchungen .................................................................................................................................................... 19
                                                                                                                                                                                                                             Zunehmende Bedeutung des Europäischen Beihilferechts .. .................................................................................. 40
            Sektoruntersuchung IoT - Siri, Alexa, Google Assistant im Fadenkreuz ............................................................. 20
            Vorläufige Erkenntnisse der Sektoruntersuchung zur Ladesäuleninfrastruktur –
            Bundeskartellamt fordert mehr Wettbewerb ............................................................................................................. 21                                                  6. Foreign Direct Investment Control ............................................................................................................................... 41
                                                                                                                                                                                                                             Dealbreaker Investitionskontrolle – neue Fallgruppen der Außenwirtschaftsverordnung . . ........................... 42
      6. Beihilferecht ....................................................................................................................................................................... 22
            Unternehmen aus Drittstaaten, beware: EU will ausländische Subventionen stärker überprüfen . . ............ 23                                                                                             Ihre Ansprechpartner ............................................................................................................................................................. 44

                                                                                                                                                                                                               4   5
Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
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                                         Rückblick:
                                         Wesentliche
                                         Entwicklungen
                                         aus 2021

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                                                                                                                            Kommission verhängt Geldbußen gegen VW
      Lang erwartete Entscheidungen auf europäischer                                                                        und BMW wegen Absprachen über technische
      und nationaler Ebene                                                                                                  Entwicklungen

      Dr. Sascha M. Giller,
      Maître en droit
      Associate

            Langjährige Verfahren von besonderem Interesse         Auf europäischer Ebene sorgte vor allem eine
      für die Rechtspraxis zur Anwendung des Kartellverbots   von der Kommission verhängte Geldbuße gegen                   Peter Stauber, LL.M.
      haben 2021 ihren Abschluss gefunden.                    Pkw-Hersteller für Aufsehen. Denn zum ersten Mal              Partner
                                                              überhaupt hat die Kommission einen Verstoß gegen
            Der BGH hat in Sachen booking.com insbeson-       das Kartellverbot durch eine Beschränkung der tech-
      dere klargestellt, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV auch auf   nischen Entwicklung (Abgasreinigungstechnologien)                  Mit Beschluss vom 8. Juli 2021 stellte die Euro-         Die Zusammenarbeit zwischen den Pkw-Her-
      enge Bestpreisklauseln anwendbar ist. In der Vor-       festgestellt.                                                 päische Kommission fest, dass die BMW AG, Unter-        stellern beschränkte sich nicht auf die vorgenannten
      instanz war das OLG Düsseldorf noch davon ausge-                                                                      nehmen der Volkswagen Gruppe (Volkswagen, Audi,         Themen. Im Hinblick auf die weiteren Bereiche der
      gangen, dass enge Bestpreisklauseln als notwendige                                                                    Porsche) sowie die Daimler AG ihr Marktverhalten in     Zusammenarbeit stellte die Kommission jedoch fest,
      Nebenabreden zu den Vermittlungsverträgen mit den                                                                     Bezug auf die in Pkw mit Dieselmotoren eingesetzte      dass diese den Wettbewerb nicht beschränkten. Teile
      Hotelunternehmen nicht vom Kartellverbot erfasst                                                                      Systeme zur Abgasreinigung abgestimmt haben. Mit        der Kooperation wurden sogar als wettbewerbsför-
      sind.                                                                                                                 dieser Koordinierung verstießen die Unternehmen         dernd angesehen, wie beispielsweise die Standardi-
                                                                                                                            gegen das europäische Kartellverbot (Art. 101 Abs. 1    sierung der AdBlue-Einfüllstutzen, die Ausarbeitung
                                                                                                                            AEUV). Deshalb verhängte die Kommission eine Geld-      eines Lastenheftes mit Mindest-Qualitätsanforde-
                                                                                                                            buße von 502,4 Mio. Euro gegen die Volkswagen Grup-     rungen für Systemteile oder die Erörterung von Qua-
                                                                                                                            pe und von 372,8 Mio. Euro gegen BMW. Da Daimler        litätsstandards für AdBlue und einer angemessenen
                                                                                                                            das erste Unternehmen war, das die Absprachen           Infrastruktur für die AdBlue-Versorgung.
                                                                                                                            gegenüber der Kommission aufdeckte, wurde ihr als
                                                                                                                            Kronzeugin eine Geldbuße erlassen.
                                                                                                                                                                                          Dieser Fall zeigt erneut, dass bei der Koopera-
                                                                                                                                 Nach den Feststellungen der Kommission koor-       tion zwischen Wettbewerbern Vorsicht geboten ist.
                                                                                                                            dinierten die Pkw-Hersteller zwischen 25. Juni 2009     Wenn jedoch der Wettbewerb nicht beeinträchtigt
                                                                                                                            und 1. Oktober 2014 die Größen ihrer AdBlue-Tanks       oder vielmehr sogar gefördert wird, steht das Kar-
                                                                                                                            sowie die Reichweiten zwischen zwei Nachfüllungen.      tellverbot einer Kooperation nicht entgegen. In An-
                                                                                                                            Ferner tauschten sie sich über angenommene durch-       betracht des Bußgeldrisikos empfiehlt es sich drin-
                                                                                                                            schnittliche AdBlue-Verbrauchswerte aus. Hierdurch      gend, jedes Kooperationsvorhaben vorab eingehend
                                                                                                                            wurde der Wettbewerb über diese Produkteigen-           auf seine kartellrechtliche Zulässigkeit zu prüfen.
                                                                                                                            schaften und somit zugleich bei der technischen
                                                                                                                            Entwicklung auf dem Gebiet der Abgasreinigung für
                                                                                                                            neue Diesel-Pkw beschränkt.

      1. KARTELLVERBOT
                                                                                                                    8   9
Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                       COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

      Bundesgerichtshof erklärt auch enge
      Bestpreisklauseln für unzulässig

                                                                                                                                Dr. Jochen Christoph Hegener, LL.M.
                                                                                                                                Associate

                                                                                                                                    Seit geraumer Zeit stehen die Geschäftsmodelle            Im Jahr 2021 fand mit der Bestätigung der
      Dr. Fabian Badtke, LL.M.   Dr. Sascha M. Giller,       Dr. Lorenz W. Jarass        Prof. Dr. Karsten Metzlaff             der großen Unternehmen der Tech-Branche im Zu-           Kommissionsentscheidung in der Sache „Google
      Partner                    Maître en droit             Senior Associate            Partner                                sammenhang mit dem kartellrechtlichen Verbot des         Shopping“ durch das Gericht der Europäischen Uni-
                                 Associate                                                                                      Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung           on außerdem einer der wichtigsten Präzedenzfälle
                                                                                                                                im Fokus der Kartellbehörden und der Gesetzgeber.        für die Regulierung von Plattformgeschäftsmodellen
           Auch die enge Bestpreisklausel der Hotel-         Praxistipp: Unternehmen sollten vereinbarte Best-                  Auch das Jahr 2021 war insoweit keine Ausnahme.          ein (vorläufiges) Ende. Abgesehen von der (über-)
      buchungsplattform booking.com verstößt gegen das       preisklauseln, insbesondere im Rahmen von Platt-                                                                            langen Dauer des Verfahrens zeigt dieses Urteil des
      Kartellverbot (BGH, Beschluss vom 18. Mai 2021 –       formen, auf ihre rechtliche Zulässigkeit hin überprü-                   So versuchte etwa der deutsche Gesetzgeber im       Gerichts der Europäischen Union ("EuG"), dass die
      KVR 54/20).                                            fen. Bestpreisklauseln können bei Marktanteilen von                Zuge der 10. GWB-Novelle mit spezifischen Regelun-       bestehenden kartellrechtlichen Normen Teil einer
                                                             unter 30 % voraussichtlich auch nach Inkrafttreten                 gen die besonderen Herausforderungen zu adressie-        umfassenderen Regulierung von Plattform-Märkten
           Nach der engen Bestpreisklauel durften Hotels     der neuen Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung                  ren, die sich aufgrund der Marktmacht dieser Unter-      sein sollten.
      ihre Zimmer auf der eigenen Webseite nicht zu nied-    am 1. Juni 2022 vom Kartellverbot freigestellt sein.               nehmen durch ihre Tätigkeit als Plattformen stellen.
      rigeren Preisen oder besseren Konditionen anbieten     Eine Ausnahme ist derzeit jedoch für weite Best-
      als auf der Plattform von booking.com. Hingegen        preisklauseln vorgesehen, die es auf einer Plattform                    Darüber hinaus sind auch eine Reihe weiterer,
      konnten die Hotelzimmer auf anderen Online-Re-         vertreibenden Anbietern untersagen, die maßgebli-                  derzeit noch laufender Gesetzgebungsvorhaben in
      servierungsportalen (Verbot der weiten Bestpreis-      chen Waren oder Dienstleistungen auf anderen Platt-                diesem Zusammenhang prägend für die öffentliche
      klausel) oder, vorausgesetzt es erfolgte dafür keine   formen günstiger anzubieten.                                       Wahrnehmung des Kartellrechts. Dies gilt zuvörderst
      Werbung oder Veröffentlichung online, auch „offline“                                                                      für das europäische Gesetzgebungsverfahren für den
      günstiger angeboten werden.                                                                                               Digital Markets Act, das sich ebenfalls gerade auf die
                                                                                                                                als „Gatekeeper“ bezeichneten Plattformen und de-
           Der BGH verwarf diese enge Bestpreisklausel:                                                                         ren besondere Stellung bezieht. Selbst in den USA,
      Sie beschränke die gebundenen Hotels spürbar im                                                                           wo viele der Tech-Unternehmen ihren Sitz haben und
      Preiswettbewerb sowohl mit booking.com selbst (in-                                                                        wo sie in der Vergangenheit eher zurückhaltend re-
      trabrand) als auch mit anderen Hotels (interbrand).                                                                       guliert wurden, gibt es mittlerweile eine Vielzahl von
      Ein etwaiges Trittbrettfahrerproblem, wonach Hotel-                                                                       Bestrebungen, die Marktmacht eben jener Unter-
      gäste zwar das Hotel über booking.com finden, aber                                                                        nehmen zu begrenzen und ungewollte Auswirkungen
      aufgrund günstigerer Preise auf der hoteleigenen                                                                          der „Tech Economy“ auf wirtschaftlicher, aber auch
      Webseite buchen, führe zu keiner anderen Beurtei-                                                                         gesellschaftlicher Ebene zu verhindern.
      lung: Effizienzvorteile der engen Bestpreisklausel
      für den Wettbewerb seien nicht erkennbar, weil die
      mit der engen Bestpreisklausel verbundene Be-
      schränkung des Preiswettbewerbs zu schwer wiege.
      Außerdem sei ein dauerhafter und wirtschaftlich er-
      folgreicher Plattformbetrieb auch ohne Vereinbarung
      enger Bestpreisklauseln möglich, weil booking.com
      seit der Aussetzung der engen Bestpreisklauel 2016
      kontinuierlich gewachsen sei. Aufgrund der hohen
      Marktanteile von booking.com komme auch keine

                                                                                                                                                                         2. MISSBRAUCHSVERBOT
      Freistellung nach der Vertikal-Gruppenfreistellungs-
      verordnung in Betracht.

                                                                                                                      10   11
Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                         COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

      Google unterliegt im Streit um Google Shopping                                                                               Weitreichende Entwicklungen in der deutschen
                                                                                                                                   und europäischen Fusionskontrolle

                                                                                                                                   Dr. Sascha M. Giller,       Dr. Jens Peter Schmidt
                                                                                                                                   Maître en droit             Partner
                                                                                                                                   Associate

                                                                                                                                        In Deutschland hob der Gesetzgeber die Umsätze            Bis zur gerichtlichen Klärung verbleibt für
      Sarah Blazek, E.MA         Dr. Jochen Christoph Hegener,   Prof. Dr. Karsten Metzlaff                                        der am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen,          zahlreiche Transaktionen ein hohes Maß an Unsi-
      Associated Partner         LL.M.                           Partner                                                           ab denen eine Anmeldepflicht besteht, signifikant an.    cherheit und Komplexität, das die M&A-Praxis ab-
                                 Associate                                                                                         Dies führte zu einem erfreulichen Rückgang der beim      bilden muss. Gleiches gilt für die von Luxemburg
                                                                                                                                   Bundeskartellamt angemeldeten Transaktionen um           erstinstanzlich bestätigten Ausführungen zum Voll-
           Erwähnenswert war im Rahmen des Miss-                      Diese – häufig als „self-preferencing“ oder                  ca. 30 %.                                                zugsverbot bezüglich bestimmter Kaufvertragsklau-
      brauchsverbots im vergangenen Jahr in erster Linie         Selbstbevorzugung bezeichnete – Praxis von Google                                                                          seln und Integrationsmaßnahmen.
      die Entscheidung des EuG zum Preisvergleichsdienst         hielten die Kommission und nun auch das EuG für                         Auf EU-Ebene sendete Brüssel dagegen gegen-
      Google Shopping. Hierin bestätigte das EuG eine von        einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stel-                  teilige Signale und riskiert die einheitliche und vor-        In materieller Hinsicht stellte der BGH erst-
      der Europäischen Kommission im Jahr 2017 verhäng-          lung. Das Urteil stellt – trotz der Möglichkeit eines             hersehbare Anwendung eines etablierten Zustän-           mals die Untersagungsvoraussetzungen gemäß
      te Geldbuße von 2,41 Mrd. Euro.                            Rechtsmittels durch Google – einen wichtigen Sieg für             digkeits- und Verweisungsmechanismus zwischen            § 36 Abs. 1 GWB wegen Verstärkung einer markt-
                                                                 die Kommission dar und dürfte auch als Bestärkung                 Mitgliedsstaaten und Kommission. Während früher          beherrschenden Stellung klar und etablierte dabei
           Die Entscheidung des EuG bestätigte die Euro-         von Bemühungen zahlreicher Wettbewerbsbehörden                    Mitgliedsstaaten nur solche Transaktionen an die         einen strengen Maßstab für die deutsche Fusions-
      päische Kommission („Kommission“) in ihrer Ansicht,        und Gesetzgeber zur zunehmenden Regulierung der                   Kommission verweisen konnten, die national hätten        kontrolle.
      dass Google seine marktbeherrschende Stellung auf          Geschäftspraktiken der großen Digitalunternehmen                  angemeldet werden müssen, soll nach einem Leitfa-
      dem Markt für allgemeine Suchdienste missbraucht           zu werten sein.                                                   den der Kommission eine Verweisung nunmehr auch
      habe, um unzulässigerweise seinen Preisvergleichs-                                                                           ohne nationale Anmeldepflicht möglich sein.
      dienst Google Shopping gegenüber dem Wettbewerb
      zu bevorzugen. Konkret habe Google jedenfalls ab                                                                                   Das Vorhaben Illlumina/Grail (M.10188) illus-
      2008 seine Marktmacht auf dem Markt für allge-                                                                               triert die Aktualität dieser Praxis. Das in keinem
      meine Internetsuchdienste im EWR genutzt, um bei                                                                             Mitgliedsstaat anmeldepflichtige Vorhaben wurde
      produktbezogenen Suchen mit dem Suchdienst von                                                                               von Frankreich an die Kommission verwiesen. Es
      Google die zu Google Shopping gehörenden Ergeb-                                                                              folgten ein vertieftes Prüfverfahren durch die Kom-
      nisse in bevorzugter Position auf der Ergebnisseite                                                                          mission und verfahrensrechtliche Streitigkeiten, mit
      anzuzeigen. Diese erschienen entweder weit oben                                                                              denen auch das Gericht der Europäischen Union
      in der Ergebnisliste oder in hervorgehobenen Käst-                                                                           (Rs. T-227/21) befasst ist. Im Vorhaben Facebook/
      chen rechts neben den Suchergebnissen. Gleichzei-                                                                            Kustomer (M.10262) machte das Bundeskartellamt
      tig habe Google seine Algorithmen so gestaltet, dass                                                                         seine Ablehnung der Kommissionspraxis deutlich.
      die relevantesten, auf andere Preisvergleichsdienste
      verweisenden Ergebnisse bestenfalls auf Seite 4 der
      Resultate angezeigt wurden. Der Verkehr auf der
      Google-Shopping-Seite habe sich durch diese Praxis
      in manchen Ländern um den Faktor 45 erhöht, wäh-
      rend der Verkehr auf den Seiten von Wettbewerbern
      um bis zu 92 % eingebrochen sei.

                                                                                                                                                                                   3. FUSIONSKONTROLLE
                                                                                                                         12   13
Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                   COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

      Untersagung eines Zusammenschlusses
      nach § 36 Abs. 1 GWB bei Verstärkung einer                                                                             Gun Jumping im Fokus der Wettbewerbsbehörden
      marktbeherrschenden Stellung: SIEC-Test hat
      keine eigenständige Bedeutung

                                                                                                                             Sarah Blazek, E.MA          Dr. Sascha M. Giller,       Dr. Jens Peter Schmidt
                                                                                                                             Associated Partner          Maître en droit             Partner
                                                                                                                                                         Associate
      Dr. Kathrin Westermann
      Partner
                                                                                                                                  Weltweit drohen Unternehmen hohe Bußgel-                Um nicht Gefahr zu laufen, dass vor Vollzug Ge-
           In einem Beschluss vom 12. Januar 2021 (KVR            Beachtlich ist diese Entscheidung deswegen,                der, wenn fusionskontrollrechtlich anmeldepflichtige    schäftsvorgänge dem Einfluss des Käufers unterlie-
      34/20 – CTS Eventim/Four Artists) hat der BGH erst-    weil der deutsche Gesetzgeber den Wortlaut der                  Transaktionen nicht notifiziert und/oder vor Freigabe   gen, die nicht für den Werterhalt des Zielunterneh-
      mals nach der Einführung des sog. SIEC-Tests in das    Untersagungsvoraussetzungen dem europäischen                    vollzogen werden.                                       mens für erforderlich erachtet werden, ist bei der
      deutsche Recht im Juli 2015 darüber entschieden, ob    Recht angepasst hatte. Jedenfalls die Europäische                                                                       Formulierung entsprechender SPA-Klauseln größte
      das Kriterium der erheblichen Wettbewerbsbehinde-      Kommission lässt in der Regel eine nicht spürbare                    Dies hat das Gericht der Europäischen Union        Vorsicht geboten. Denn schon die bloße Möglichkeit
      rung eine eigenständige Prüfung erfordert, wenn der    Verstärkung für eine Untersagung nicht ausreichen.              („EuG“) für vertraglich vereinbarte Pre-Closing Cov-    des kontrollierenden Einflusses ab Signing reicht
      Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stel-          Der BGH hält dem entgegen, der Gesetzgeber habe                 enants (Werterhaltungsklauseln) und bestimmte           aus. Unabhängig davon kann ein Informationsaus-
      lung verstärkt. Der BGH hat dies verneint.             durch die Gesetzesänderung ausdrücklich nicht die               Verhaltensweisen der Parteien zwischen Signing und      tausch zwischen Käufer und Verkäufer einen Verstoß
                                                             nationale Entscheidungspraxis ändern und auch die               Closing aufgezeigt und damit das bislang höchste        darstellen, wodurch weitere Risiken für die Integra-
            Danach behindert jeder Zusammenschluss den       Eingriffsbefugnisse der deutschen Fusionskontrol-               Bußgeld der Europäischen Kommission wegen „Gun          tionsplanung berücksichtigt werden müssen.
      Wettbewerb erheblich und ist zu untersagen, durch      le nicht begrenzen, sondern erweitern wollen. Der               Jumpings“ (über 120 Mio. Euro) im Wesentlichen be-
      den eine bestehende Marktbeherrschung verstärkt        SIEC-Test sollte nämlich Fallkonstellationen erfas-             stätigt (Urteil in der Rs. T-425/18 – Altice Europe/
      oder begründet wird. Der BGH hält zudem an der         sen, die mit den Begriffen der Entstehung oder Ver-             Kommission). Ein und dasselbe Verhalten kann dabei
      bisherigen Praxis fest, nach der eine marktbeherr-     stärkung einer marktbeherrschenden Stellung nicht               sowohl wegen Verstoßes gegen die Anmeldepflicht
      schende Position auch verstärkt werden kann, wenn      ohne Weiteres gelöst werden können (komplexe Oli-               als auch gegen das Vollzugsverbot geahndet werden.
      die Verstärkung weder spürbar noch gar erheblich       gopolsachverhalte und nicht koordiniertes bzw. uni-
      ist. Vielmehr reiche es aus, wenn der noch bestehen-   laterales Verhalten).                                                Das EuG hat die in Verkaufsverträgen geregel-
      de oder potenzielle Wettbewerb nur geringfügig (z.B.                                                                   ten fließenden Grenzen zwischen erlaubtem Wert-
      durch einen – vertikalen – „Marktanteilszuwachs“                                                                       erhalt und unzulässiger Möglichkeit eines kontrol-
      von nur 1 %) beeinträchtigt werde. Dies gelte jeden-                                                                   lierenden Einflusses präzisiert. Drei Kategorien von
      falls dann, wenn (z.B. aufgrund von Netzwerkeffek-                                                                     in der Transaktionspraxis immer wieder diskutierten
      ten) ungünstige Bedingungen für nachstoßenden                                                                          Einflussrechten erachtete das EuG als zu weit ge-
      Wettbewerb herrschen.                                                                                                  fasst, da sie innerhalb des normalen Geschäftsgangs
                                                                                                                             („ordinary course of business“) lagen und für den
                                                                                                                             Schutz legitimer Werterhaltungsinteressen nicht er-
                                                                                                                             forderlich waren:
                                                                                                                             > Ernennung und Abberufung von Führungskräften
                                                                                                                             > Gestaltung der Preispolitik und der Geschäftsbe-
                                                                                                                               dingungen
                                                                                                                             > Möglichkeit, verschiedene Verträge abzuschließen,
                                                                                                                               zu beenden oder zu modifizieren, wobei verhältnis-
                                                                                                                               mäßig niedrige monetäre Schwellenwerte vorgese-
                                                                                                                               hen waren

                                                                                                                   14   15
Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                            COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

                                                                                                                                    Zulässige Schadenspauschale bewirkt Beweis-
                                                                                                                                    lastumkehr bei Kartellschadensersatzklagen

      Johanna Krauskopf, LL.M.      Dr. Henner Schläfke
      Associate                     Partner

           Nachdem der BGH in mehreren Entscheidungen                   Allerdings kann ein Schaden der Höhe nach aus
      zuletzt eine umfassendere tatrichterliche Gesamtwür-        pauschalisierten Schadensersatzklauseln folgen. Der               Dr. Fabian Badtke, LL.M.    Immo Schuler, LL.M.
      digung in Kartellschadensersatzprozessen angemahnt          BGH erklärte solche Klauseln für zulässig                         Partner                     Senior Associate
      hatte, ist eine intensive Debatte um die Art der Schaden-   (KZR 63/18 – Schienenkartell VI). Bei einer Pauscha-
      schätzung entstanden.                                       lisierung von bis zu 15 % der Abrechnungssumme
                                                                  liege keine unangemessene Benachteiligung im Sinne                      Die Bezifferung eines Schadens im Rahmen von       2.   Dem Vertragspartner muss der Nachweis eines
            Das LG Dortmund (Az. 8 O 115/14 (Kart)) und           von § 307 BGB vor.                                                Kartellschadensersatzklagen stellt den Kläger häu-            niedrigeren Schadens gestattet sein. Die Anfor-
      das OLG Celle (Az. 13 U 120/16 (Kart)) unternahmen                                                                            fig vor Schwierigkeiten. Im Schienenkartell-VI-Urteil         derungen an den Nachweis eines niedrigeren
      erste Versuche in der freien Schätzung des Scha-                  Zunehmend befasst sich die Rechtsprechung                   stärkte der BGH im Februar 2021 die Rechte von Kar-           Schadens entsprechen den Anforderungen, die
      dens, im Wesentlichen basierend auf einer Gesamt-           mit den in den §§ 33g, 89b GWB verankerten Heraus-                tellgeschädigten und erklärte pauschalisierte Kartell-        an den Geschädigten zum Nachweis eines Scha-
      schau von Sachverhaltsaspekten unter Verzicht auf           gabe- und Auskunftsansprüchen. Dass diese für alle                schadensersatzklauseln in AGB für zulässig.                   dens gestellt werden, sofern keine Schadens-
      ökonometrische Berechnungen. Dies bleibt jedoch             nach dem 26. Dezember 2016 eingeleiteten Rechts-                                                                                pauschale existiert.
      die Ausnahme: Die Mehrzahl der Gerichte beauf-              streite unabhängig vom Zeitpunkt der Entstehung                        Der BGH stellte allerdings zwei wesentliche
      tragt Gerichtsgutachter mit der Erstellung ökono-           des Anspruchs Anwendung finden, hat der Gesetzge-                  Voraussetzungen für die Wirksamkeit solcher Klau-       Praxistipp: Unternehmen sollten bestehende Ein-
      metrischer Gutachten. Erste Gutachten haben dabei           ber mit der 10. GWB-Novelle klargestellt.                         seln auf:                                                kaufsverträge prüfen und ggf. um eine pauschale
      teils, z.B. im Zuckerkartell, Schäden festgestellt,                                                                           1. Die Höhe der Schadenspauschale darf „den              Kartellschadensersatzklausel ergänzen bzw. bei
      teils aber auch Privatgutachten von Klägern als un-              Auf europäischer Ebene prägte der Europäische                     nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu er-         neuen Verträgen eine solche aufnehmen. Eine wirk-
      tauglich verworfen.                                         Gerichtshof ("EuGH") das Kartellschadensersatz-                        wartenden Schaden“ nicht übersteigen. Damit         same Klausel führt zu einer Umkehr der Darlegungs-
                                                                  recht insbesondere durch sein Urteil in der Rechts-                    eine in AGB verankerte Schadenspauschaule           und Beweislast. Der Vertragspartner muss dann dar-
           Auch der BGH hat in seinem zweiten Urteil zum          sache Sumal (C-882/19) zur Haftung von Tochter-                        den Vertragspartner nicht unangemessen be-          legen und ggf. beweisen, dass der Schaden geringer
      Lkw-Fall (KZR 19/20) betont, dass Privatgutachten           gesellschaften für Kartellverstöße ihrer Mütter und                    nachteiligt, muss sie so gestaltet sein, dass       ist als der in der Klausel festgelegte pauschalisierte
      als relevantes Indiz im Rahmen der Gesamtwürdi-             im Volvo-Urteil (Rs. C-30/20) zu Fragen der örtlichen                  eine „Unter- und eine Überkompensation des          Betrag. Gelingt ihm dies nicht, muss er sich am pau-
      gung nach § 287 ZPO zu berücksichtigen sind. Erneut         Zuständigkeit.                                                         Schadens gleichermaßen wahrscheinlich“ ist.         schalisierten Betrag festhalten lassen.
      betonte der Kartellsenat auch, dass aus der tatsäch-                                                                               Die Schadenspauschale muss sich daher an
      lichen Vermutung einer kartellbedingten Preiserhö-                                                                                 der branchentypischen Schadenshöhe bemes-
      hung keine Beweislastumkehr folge.                                                                                                 sen. Fehlt es aber an empirischen Erkenntnis-
                                                                                                                                         sen für eine branchentypische Schadenshö-
                                                                                                                                         he, genügt eine Bezugnahme auf ökonomisch
                                                                                                                                         fundierte allgemeine Aussagen kartellbeding-
                                                                                                                                         ter Preisaufschläge. Auf Grundlage aktueller
                                                                                                                                         Metastudien (z.B. der Oxera-Studie) sieht der
                                                                                                                                         BGH kartellrechtliche Schadenspauschalen
                                                                                                                                         in Höhe von 5 % bis 15 % als angemessen an.

      4. KARTELLSCHADENSERSATZ
                                                                                                                          16   17
Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2022
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      EuGH stärkt die Rechte von Kartellgeschädigten
      bei Schadensersatzklagen

                                                                                                                                 Immo Schuler, LL.M.
                                                                                                                                 Senior Associate

                                                                                                                                       Sektoruntersuchungen dienen der Europäischen             In der Praxis spielen Sektoruntersuchungen
      Johanna Krauskopf, LL.M.     Sebastian Wrobel, LL.M.                                                                       Kommission und dem Bundeskartellamt dazu, die             nach anfänglicher Zurückhaltung seitens der Wett-
      Associate                    Associate                                                                                     Strukturen und Wettbewerbsbedingungen in einem            bewerbsbehörden mittlerweile eine erhebliche Rol-
                                                                                                                                 Wirtschaftszweig zu untersuchen und zu analysieren.       le. So führten die Europäische Kommission und das
                                                                                                                                 Voraussetzung für die Durchführung einer Sektorun-        Bundeskartellamt Sektoruntersuchungen u.a. be-
           Der EuGH hat 2021 in zwei wegweisenden Urtei-              Zum anderen hat der EuGH mit dem Urteil in der             tersuchung ist lediglich, dass „starre Preise oder an-    reits in den Bereichen „E-Commerce“, „Roaming“,
      len erneut die Relevanz des sog. „Private Enforce-        Rechtssache Sumal (C-882/19) die kartellrechtliche               dere Umstände“ vermuten lassen, dass der Wettbe-          „Zement und Transportbeton“, „Kraftstoffe“ oder
      ment“ für die wirksame Durchsetzung des europäi-          Schadensersatzhaftung im Konzern erheblich aus-                  werb möglicherweise eingeschränkt oder verfälscht         auch „Milch“ durch (Übersichten der bisherigen
      schen Kartellrechts betont.                               geweitet, indem unter bestimmten Voraussetzungen                 ist. Die Untersuchung richtet sich folglich nicht gegen   Sektoruntersuchungen der Europäischen Kommis-
                                                                neben der bekannten Haftung einer Mutter- für ihre               ein einzelnes Unternehmen, sondern dient der Über-        sion und des Bundeskartellamtes finden Sie hier und
            Zum einen lieferte der EuGH Orientierungshilfe      Tochtergesellschaft auch eine umgekehrte Haftung                 prüfung der gesamten Wettbewerbsstrukturen eines          hier).
      bei der Klärung von Zuständigkeitsfragen in Kartell-      möglich ist. Nach dem Konzept der wirtschaftlichen               Wirtschaftssektors. Die Ermittlungsbefugnisse der
      schadensersatzverfahren, indem das Gericht fest-          Einheit kann demnach eine Tochtergesellschaft für                Wettbewerbsbehörden, insbesondere Auskunftsersu-               Gegenwärtig führen die Europäische Kommis-
      stellte, dass Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012   ein wettbewerbswidriges Verhalten ihrer Mutter-                  chen, sind entsprechend breit angelegt.                   sion und das Bundeskartellamt Sektoruntersuchun-
      („EuGVVO“) nicht nur die internationale, sondern          gesellschaft haften, wenn (i) die Unternehmen auf-                                                                         gen zum „Internet der Dinge“ (Internet of Things)
      auch die örtliche Zuständigkeit regelt (Urteil in der     grund wirtschaftlicher, organisatorischer und recht-                  Abhängig von den Ergebnissen können die Wett-        bzw. zur „Bereitstellung und Vermarktung öffentlich
      Rs. C-30/20 – Volvo). Der EuGH konretisierte dabei,       licher Bindungen miteinander verbunden sind und                  bewerbsbehörden im Anschluss an die Sektorunter-          zugänglicher Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeu-
      dass der Erfolgsort im Sinne von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO      (ii) zwischen dem Kartellrechtsverstoß der Mutter-               suchung zum Beispiel konkrete Ermittlungen gegen          ge“ durch. Zwischenberichte hierzu wurden im Juli
      der Ort ist, an dem der Geschädigte die von den           gesellschaft und der Tätigkeit der Tochtergesell-                einzelne Unternehmen einleiten oder Empfehlungen          bzw. Oktober 2021 veröffentlicht.
      Kartellabsprachen betroffenen Gegenstände unmit-          schaft ein konkreter Zusammenhang besteht – zum                  für die Politik abgeben. Bereits die Durchführung
      telbar oder mittelbar erworben hat. Dies setzt den        Beispiel über eine Tätigkeit im selben Produktmarkt.             einer Sektoruntersuchung kann Unternehmen des
      Erwerb nur in einem einzigen Gerichtsbezirk voraus,       Ob sich aus dem Gesamthaftungskonzept des EuGH                   betroffenen Sektors dazu veranlassen, ihr Verhalten
      andernfalls richtet sich die Zuständigkeit nach dem       auch eine Haftung von Schwestergesellschaften                    zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen.
      Sitz des Klägers. Den Mitgliedsstaaten ist es jedoch      herleiten lässt, wird abzuwarten sein.
      weiterhin unbenommen, die Zuständigkeit vor einem
      spezialisierten Gericht zu bündeln.

                                                                                                                                                             5. SEKTORUNTERSUCHUNGEN
                                                                                                                       18   19
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                       COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

                                                                                                                                 Vorläufige Erkenntnisse der Sektoruntersuchung
      Sektoruntersuchung IoT – Siri, Alexa, Google                                                                               zur Ladesäuleninfrastruktur – Bundeskartellamt
      Assistant im Fadenkreuz                                                                                                    fordert mehr Wettbewerb

      Sarah Blazek, E.MA          Markus Brösamle                                                                                Immo Schuler, LL.M.         Peter Stauber, LL.M.
      Associated Partner          Senior Associate                                                                               Senior Associate            Partner

           Die Sektoruntersuchung zum Internet der Dinge             Siri, Alexa, Google Assistant im Blick: All-                      Das Bundeskartellamt führt gegenwärtig eine            Als wichtiges Mittel für die Entwicklung funk-
      (Internet of Things – „IoT“) für Verbraucher in der EU   round(er)-Sprachassistenten kristallisierten sich als             Sektoruntersuchung zur Wettbewerbslage bei der          tionierender Marktstrukturen benennt das Bundes-
      ist Teil der Digitalstrategie der Europäischen Kom-      wesentliche Akteure heraus. Als Benutzerschnitt-                  Ladesäuleninfrastruktur durch und hat hierzu am         kartellamt die öffentliche Ausschreibung geeigneter
      mission („Kommission“). Sie fügt sich in eine Reihe      stelle, über die Verbraucher mit verschiedenen in-                12. Oktober 2021 einen Zwischenbericht veröffentlicht   Flächen. Andernfalls drohe die Entstehung regio-
      weiterer Digitalmaßnahmen ein, da sich sowohl die        telligenten Geräten und IoT-Diensten interagierten,               (vgl. hier).                                            nal marktmächtiger Betreiber, wodurch das Risiko
      Kommission als auch die nationalen Wettbewerbs-          käme ihnen eine Gatekeeperfunktion zu. Wettbe-                                                                            marktabschottender Behinderungsstrategien steigt.
      behörden zunehmend im Digitalbereich aufstellen,         werbliche Bedenken beträfen etwa die einseitige                   Ziel der Untersuchung ist es, bereits in der aktuel-    Gegenwärtig ist das Bundeskartellamt aber der Auf-
      um den Wettbewerb erforderlichenfalls wirksam(er)        Kontrolle der Anbieter über Interoperabilitäts- und               len Marktphase des Infrastrukturaufbaus mögliche        fassung, dass die bestehenden kartellrechtlichen
      schützen zu können.                                      Integrationsprozesse, Ausschließlichkeits- und                    Wettbewerbsprobleme zu identifizieren. Hierzu prüft     Eingriffsmöglichkeiten ausreichen, um auf miss-
                                                               Kopplungspraktiken sowie Vorteile beim Zugang zu                  das Bundeskartellamt die Wettbewerbslage auf drei       bräuchliche Verhaltensweisen angemessen reagie-
           Im Juli 2021 hat die Kommission einen Zwi-          Daten. Zugleich weise der Markt hohe Marktzutritts-               Wertschöpfungsstufen:                                   ren zu können. Regulatorische Eingriffe seien daher
      schenbericht über die ersten Ergebnisse der laufen-      schranken auf, da Sprachassistenten in der Entwick-               1. Angebot geeigneter Flächen für öffentlich zu-        nicht erforderlich.
      den Sektoruntersuchung zum IoT veröffentlicht. Ziel      lung sehr teuer seien.                                                 gängliche Ladesäulen,
      der Kommission ist es, ein genaueres Verständnis                                                                           2. Betrieb öffentlich zugänglicher Ladesäulen und            Endgültige Ermittlungsergebnisse wird das
      der Branche, der Trends, der Wettbewerbssituation             Der Abschlussbericht wird in der ersten Jahres-              3. Vertrieb von Ladestrom bzw. das Angebot von          Bundeskartellamt nach vollständiger Auswertung
      und potenzieller Wettbewerbsprobleme zu erlan-           hälfte 2022 erwartet. Die Erkenntnisse der Unter-                      Mobilitätsdienstleistungen.                        der gewonnenen Daten veröffentlichen.
      gen. Dazu hat sie Informationen von über 200 (inter-     suchung können etwa zu konkreten Ermittlungsver-
      nationalen) Unternehmen aller Größen im Bereich          fahren gegen bestimmte Unternehmen führen oder                         Den bisherigen Erkenntnissen zufolge befinden
      IoT gesammelt. Untersucht wurden insbesondere            im Rahmen gesetzlicher Vorhaben Berücksichtigung                  sich die Produkt- und Dienstleistungsmärkte noch in
      die Segmente Sprachassistenten, intelligente Haus-       finden. Es bleibt spannend.                                       der Entwicklung. Gleiches gilt folglich für die Stel-
      haltsgeräte (wie Kühlschränke, Waschmaschinen),                                                                            lung der Marktteilnehmer. Dies wird bei der Prüfung
      tragbare Geräte (z.B. Fitness-Tracker) und IoT-Dien-                                                                       von Marktmacht zu berücksichtigen sein. Das Bun-
      ste für Verbraucher (z.B. Carsharing-Dienste oder                                                                          deskartellamt betont ferner, dass die staatliche För-
      Dienste für kreative Inhalte wie Spotify).                                                                                 derung eines schnellen und flächendeckenden Auf-
                                                                                                                                 baus der Infrastruktur diskriminierungsfrei erfolgen
                                                                                                                                 muss. Kritisch werden Pläne beurteilt, wonach der
                                                                                                                                 Staat das Betriebsrisiko für Ladesäulen ganz oder
                                                                                                                                 teilweise übernehmen und die Preisgestaltungsfrei-
                                                                                                                                 heit der Anbieter beschränken könnte.

                                                                                                                       20   21
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                    COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

                                           Unternehmen aus Drittstaaten, beware:
                                           EU will ausländische Subventionen stärker
                                           überprüfen

                                           Sarah Blazek, E.MA           Dr. Jens Peter Schmidt       Giovanna Ventura
                                           Associated Partner           Partner                      Legal Advisor

                                                In der EU werden die Zeiten für ausländische In-           Dieser Vorschlag wird derzeit im Europäischen
                                           vestoren härter. Da Investitionen ausländischer Un-       Parlament und im Rat diskutiert. Der Ausschuss für
                                           ternehmen, einschließlich staatlicher Unternehmen,        internationalen Handel (INTA) ist dabei federführend
                                           in der EU in den letzten Jahren rapide zugenommen         im Parlament. Im Oktober fand dort eine erste De-
                                           haben, sind die politischen Entscheidungsträger in        batte über den Text statt. Der Berichterstatter, Herr
                                           der EU skeptisch geworden, dass die bestehenden           Hansen (EVP-Fraktion), betonte zusammen mit an-
                                           Instrumente für staatliche Beihilfen, Kartell-/Fusions-   deren Mitgliedern des Parlaments die Notwendig-
                                           kontrolle, Beschaffung und die handelspolitischen         keit, sich auf die Anmeldeschwellen zu konzentrie-
                                           Schutzinstrumente ausreichen, um die (empfunde-           ren. Diese sollten im Vergleich zum Vorschlag der
                                           nen) Verzerrungen durch Subventionen von Nicht-EU-        Kommission weiter abgesenkt werden. Sobald das
                                           Ländern zu bekämpfen.                                     Europäische Parlament und der Rat ihre eigenen
                                                                                                     Positionen festgelegt haben, werden die interins-
                                                 Die Kommission hat daher im Mai 2021 einen          titutionellen Verhandlungen über den endgültigen
                                           Verordnungsvorschlag veröffentlicht, der sie mit          Text beginnen. Zur Verabschiedung muss die vorge-
                                           drei neuen Regulierungsinstrumenten ausstattet:           schlagene Verordnung sowohl vom Rat als auch vom
                                           (i) ein meldebasiertes Untersuchungsinstrument für        Europäischen Parlament gebilligt werden. Es wird
                                           bestimmte Transaktionen; (ii) ein meldebasiertes          erwartet, dass sie bis Ende 2022 formell angenom-
                                           Untersuchungsinstrument für Angebote bei großen           men wird und ab Mitte 2023 in Kraft tritt.
                                           öffentlichen Aufträgen und (iii) ein allgemeines Un-
                                           tersuchungsinstrument.

      6. BEIHILFERECHT
                                 22   23
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                            COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

                                           Ausblick:
                                           Was 2022 zu
                                           erwarten ist

                                 24   25
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                                        COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

                                                                                                                                         Verschärfung von Ermittlungsmaßnahmen gegen
                                                                                                                                         beschuldigte Unternehmen

      Dr. Alexander Birnstiel, LL.M.   Dr. Jochen Christoph Hegener,   Dr. Raphael Reims, LL.M.
      Partner                          LL.M.                           Associate
                                       Associate

            Das Kartellverbot ist einer der Eckpfeiler des                   Insbesondere in Deutschland hat die 10. GWB-
      deutschen wie auch des europäischen Kartellrechts.               Novelle von Anfang 2021 weitreichende, wenn auch                  Dr. Alexander Birnstiel, LL.M.   Dr. Jochen Christoph Hegener,   Dr. Raphael Reims, LL.M.
      Es ist zu erwarten, dass es auch im Jahr 2022 wie-               öffentlich weniger beachtete Neuerungen mit sich                  Partner                          LL.M.                           Associate
      der eine zentrale Rolle bei der Tätigkeit der Wettbe-            gebracht, deren Relevanz in vollem Umfang erst im                                                  Associate

      werbsbehörden einnehmen wird. Zwar standen in der                Rahmen von ersten unter den neuen Regelungen
      öffentlichen Diskussion der jüngeren Vergangenheit               durchgeführten und abgeschlossenen Bußgeldver-                          Zunächst ist mit einer Intensivierung von Ermitt-               Von umfangreichen Ermittlungsmaßnahmen
      vielfach Themen im Zusammenhang mit digitalen                    fahren hervortreten werden. Hiermit dürfte im Jahr                lungsmaßnahmen zu rechnen, die infolge der Covid-                betroffene oder jedenfalls bedrohte Unternehmen
      Geschäftsmodellen und dem Missbrauch von Markt-                  2022 nunmehr durchaus schon zu rechnen sein. Dies                 19-Pandemie zum Teil einen spürbaren Rückgang                    sollten daher im Einzelfall sehr genau erwägen, ob
      macht durch die immer kritischer betrachteten „Gate-             gilt insbesondere für die Verschärfung von Ermitt-                erfuhren. Das gilt insbesondere für Durchsuchungen               sie – statt die erwähnten Ermittlungsmaßnahmen
      keeper“ im Vordergrund. Gleichwohl entwickeln sich               lungsbefugnissen der deutschen Kartellbehörden,                   von Geschäftsräumen von Unternehmen, die im Ver-                 schlicht zu erdulden – als Kronzeuge oder jedenfalls
      auch Anwendung und Durchsetzung des Kartellver-                  die verschiedene neue und überarbeitete Mittel zur                dacht stehen, gegen das Kartellverbot zu verstoßen               proaktiv und verstärkt kooperierend auftreten soll-
      bots konstant weiter.                                            Aufdeckung und Verfolgung von Kartellen an die Hand               (sogenannte „Dawn Raids“). Das Bundeskartellamt                  ten. Das Kronzeugenprogramm des Bundeskartell-
                                                                       bekommen haben. Darüber hinaus dürften auch ers-                  führte ausweislich seines Jahresberichts im Jahr                 amts erfuhr im Rahmen der 10. GWB-Novelle durch
                                                                       te Bußgeldentscheidungen ergehen, in denen etwa                   2020 außergewöhnlich wenige, nämlich konkret le-                 die erstmalige Verankerung im Gesetz eine Auf-
                                                                       die neue „Compliance-Defense“ eine Rolle spielen                  diglich zwei Dawn Raids durch. Es ist jedenfalls nach            wertung. Darauf aufsetzend überarbeitete das Bun-
                                                                       kann. Schließlich ist auch damit zu rechnen, dass das             einem Abklingen der Pandemie damit zu rechnen,                   deskartellamt im August 2021 seine Leitlinien zum
                                                                       Jahr 2022 mehr Klarheit zu der Frage schafft, inwie-              dass das Bundeskartellamt wie auch die Europäische               Kronzeugenprogramm. Auch unter diesen Regelun-
                                                                       weit Nachhaltigkeitsaspekte bei der Anwendung des                 Kommission das Mittel der Dawn Raids wieder ver-                 gen gilt aber nach wie vor, dass ein Kronzeugenan-
                                                                       Kartellverbots zu berücksichtigen sind.                           mehrt zur Anwendung bringen werden. Aus beiden                   trag insbesondere dann näher in Betracht gezogen
                                                                                                                                         Behörden sind entsprechende Absichtsbekundungen                  werden sollte, wenn sich der Verdacht der Kartellbe-
                                                                                                                                         zu vernehmen.                                                    hörden aus Unternehmenssicht nicht von der Hand
                                                                                                                                                                                                          weisen lässt und sich die Verteidigung gegen die
                                                                                                                                              Jedenfalls die Ermittlungen des Bundeskartell-              Vorwürfe als eher schwierig darstellt.
                                                                                                                                         amts werden zudem aufgrund einiger im Zuge der
                                                                                                                                         10. GWB-Novelle Anfang 2021 erweiterter Ermitt-
                                                                                                                                         lungsbefugnisse für Unternehmen eingriffsintensi-
                                                                                                                                         ver werden. So gibt es bei Dawn Raids der deutschen
                                                                                                                                         Kartellbehörden nunmehr etwa, wie schon zuvor im
                                                                                                                                         EU-Recht, eine bußgeldbewehrte Mitwirkungspflicht
                                                                                                                                         für Mitarbeiter des Unternehmens. Daneben wer-
                                                                                                                                         den Unternehmen nun erstmals u.U. umfangreiche
                                                                                                                                         schriftliche Auskunftsverlangen von deutschen Kar-
                                                                                                                                         tellbehörden zum fraglichen Sachverhalt beantwor-
                                                                                                                                         ten müssen.

      1. KARTELLVERBOT
                                                                                                                               26   27
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                                COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

      Weiter zunehmende Bedeutung von                                                                                                   Nachhaltigkeit und Kartellrecht
      Compliance-Programmen

      Dr. Alexander Birnstiel, LL.M.   Dr. Jochen Christoph Hegener,   Dr. Raphael Reims, LL.M.                                         Markus Brösamle              Dr. Lucas Gasser             Dr. Lorenz W. Jarass
      Partner                          LL.M.                           Associate                                                        Senior Associate             Senior Associate             Senior Associate
                                       Associate

            Des Weiteren sollten Unternehmen aber auch                      Compliance-Programme sind darüber hinaus                         ESG-Kriterien (für Environmental, Social, Gover-          Häufig wird eine Wettbewerbsbeschränkung
      präventive Maßnahmen im Blick behalten. Hierzu                   bei einem Antrag auf vorzeitige Löschung einer Ein-              nance) und Nachhaltigkeitsinitiativen sind in den letz-   aber gegeben sein, sodass es auf die Frage der Ein-
      gehören insbesondere kartellrechtliche Compliance-               tragung aus dem Wettbewerbsregister darzulegen.                  ten Jahren in allen Branchen in den Fokus gerückt.        zelfreistellung vom Kartellverbot ankommt. Dazu ist
      Programme, die in Zukunft weiter an Bedeutung ge-                In dieses Register werden unter anderem Kartell-                 Nachhaltigkeitsaspekte werden damit auch zu Wett-         vor allem erforderlich, dass die Kooperation Effizi-
      winnen dürften. Seit der 10. GWB-Novelle ist das                 bußgelder eingetragen. Öffentliche Auftraggeber                  bewerbsparametern. Gleichzeitig versuchen Unter-          enzgewinne hervorbringt, an der die Verbraucher an-
      Bundeskartellamt nämlich angehalten, bei der Buß-                müssen das Register bei größeren Vergabeverfahren                nehmen vermehrt, Kooperationen miteinander einzu-         gemessen beteiligt werden. Ob und inwieweit Nach-
      geldzumessung angemessene und wirksame Vorkeh-                   abfragen und sodann nach Maßgabe vergaberechtli-                 gehen, um Nachhaltigkeitsziele mit vereinten Kräften      haltigkeitsaspekte überhaupt als Effizienzgewinne
      rungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Kartell-                cher Vorschriften entscheiden, ob ein Unternehmen                zu erreichen. Inwiefern das Kartellrecht solchen Ko-      anerkannt werden, ist derzeit aber noch ungeklärt
      rechtsverstößen zu berücksichtigen. Hiernach können              etwa von einem Vergabeverfahren ausgeschlossen                   operationen im Weg steht oder welchen Beitrag es zu       und bedarf deshalb einer eingehenden Prüfung im
      Compliance-Programme also nicht nur Verstöße ver-                werden sollte.                                                   einer „Green Economy“ leisten kann, sind bisher noch      Einzelfall.
      hindern, sondern im Falle eines Verstoßes auch zur                                                                                nicht allgemein geklärte Fragen.
      Minderung des Bußgeldes führen. Diese sogenannte                      Für die Zukunft bleibt somit festzuhalten, dass                                                                            2022 bringt insofern hoffentlich mehr Klarheit:
      „Compliance-Defense“ kann sogar für Sachverhalte                 die Folgen fehlender oder mangelhafter Compliance-                     Koordiniertes Verhalten von Unternehmen –           Die Europäische Kommission hat bereits angekün-
      vor ihrer Normierung Anwendung finden.                           Programme für betroffene Unternehmen teuer wer-                  insbesondere von Wettbewerbern – ist anhand des           digt, bei der aktuellen Überarbeitung ihrer zahl-
                                                                       den können. Ein sorgfältig entwickeltes und den                  Kartellverbots zu prüfen. Auch koordiniertes Ver-         reichen Leitlinien auch auf Nachhaltigkeitsaspekte
            Das Bundeskartellamt hat unter anderem auf                 individuellen Bedürfnissen des Unternehmens an-                  halten im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte kann        einzugehen. Ebenso sieht der „Ampel-Koalitionsver-
      diese neuen Regelungen mit überarbeiteten Leit-                  gepasstes, aktuelles Programm ist deshalb jedem                  damit prinzipiell einen Kartellrechtsverstoß begrün-      trag“ vor, u.a. die Themen Nachhaltigkeit sowie so-
      linien zur Bußgeldzumessung reagiert. Nach diesen                Unternehmen umso mehr zu empfehlen.                              den. Weder der Green Deal noch andere Regelungen          ziale Gerechtigkeit unter wettbewerblichen Gesichts-
      Leitlinien hängen die konkreten Anforderungen eines                                                                               sehen einen „Freifahrtschein“ vor. Ob eine Koope-         punkten aufzugreifen. Daneben sollten Unternehmen
      berücksichtigungsfähigen Compliance-Programms                                                                                     ration zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen den       im Zweifelsfall direkt auf die Kartellbehörden zuge-
      insbesondere von der Art, Größe und Organisation                                                                                  Wettbewerb tatsächlich beschränkt, muss daher in          hen, um die kartellrechtliche Zulässigkeit von Nach-
      eines Unternehmens ab. Es gilt also hiernach vor                                                                                  jedem Einzelfall eingehend geprüft werden. Möglich        haltigkeitskooperationen im Einzelfall gemeinsam zu
      allem, dass Unternehmen ein auf das konkrete Un-                                                                                  ist, dass einzelne dahingehende Vereinbarungen bei        klären. Insofern wäre es begrüßenswert, wenn die
      ternehmen und dessen kartellrechtliche Risiken ab-                                                                                einer notwendigen Gesamtbetrachtung (langfristig)         Kartellbehörden das Ergebnis solcher Konsultatio-
      gestimmtes Compliance-Programm entwickeln müs-                                                                                    auch positive Wirkung auf den Wettbewerb zeigen           nen zukünftig veröffentlichen würden.
      sen. Der Streit mit dem Bundeskartellamt über das,                                                                                und schon daher zulässig sind.
      was ein Compliance-Programm angemessen und
      wirksam macht, ist dabei sicherlich vorprogrammiert.

                                                                                                                              28   29
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2022                                                                                                                                                                                       COMPETITION OUTLOOK 2022_NOERR

      Missbrauchsverbot im digitalen Zeitalter                                                                                   Europäische Richter befassen sich weiter
                                                                                                                                 mit Google

      Dr. Fabian Badtke, LL.M.     Dr. Sascha M. Giller,         Dr. Lorenz W. Jarass       Johanna Krauskopf, LL.M.
      Partner                      Maître en droit               Senior Associate           Associate
                                   Associate

           Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler       vier großen US-amerikanischen digitalen Techno-
      Ebene wird das Thema Missbrauchsverbot auch in             logieunternehmen (Google, Apple, Facebook [Meta],               Dr. Till Steinvorth
      diesem Jahr im Fokus des Kartellrechts stehen.             Amazon) eingeleitet. Es bleibt mit Spannung abzu-               Partner
                                                                 warten, wie stark die Behörde bei etwaigen Verstö-
           Hintergrund dessen sind in Deutschland die            ßen durchgreifen wird.
      mit der 10. GWB-Novelle eingeführten bedeutenden                                                                                Nachdem die Europäische Kommission gegen               Da Android unter einer Open-Source-Lizenz
      Neuerungen zur Modernisierung des Kartellrechts                 Als Rechtsmittel gegen §-19a-Verfügungen                   Google und die Muttergesellschaft Alphabet in den      steht, kann es grundsätzlich von jedem Unternehmen
      im digitalen Zeitalter. Als zentrale Vorschrift fungiert   steht der direkte Weg zum BGH zur Verfügung. Diese              Jahren 2017, 2018 und 2019 je eine Geldbuße in Mil-    frei genutzt werden. Nach den Feststellungen der
      der Eingriffstatbestand des § 19a GWB, der dem Bun-        Rechtswegverkürzung wird mit der notwendigen Ver-               liardenhöhe verhängt hatte, hatten Google und Al-      Kommission hatte Google allerdings verschiedene
      deskartellamt ein effektiveres Eingreifen, insbeson-       fahrensbeschleunigung, die bei digitalen Geschäfts-             phabet gegen die jeweiligen Beschlüsse vor dem EuG     Maßnahmen ergriffen, damit auf allen Android-Gerä-
      dere gegen große Digitalkonzerne, erlaubt.                 modellen geboten ist, begründet.                                geklagt. Auch 2022 werden sich die europäischen        ten die Anwendungen (Apps) Google-Suche und der
                                                                                                                                 Richter wieder mit diesen Klagen beschäftigen:         Google-eigene Browser (Chrome) vorinstalliert wer-
           Die neue Missbrauchsbekämpfungsvorschrift                  Auf europäischer Ebene wird neben den laufen-                                                                     den. So konnten z.B. die Hersteller der Geräte den
      sieht ein zweistufiges Verfahren vor: Zunächst muss        den Missbrauchsverfahren gegen Google und Apple                                                                        App-Store von Google (Play Store) nur bei gleichzei-
      das Bundeskartellamt prüfen, ob das betreffende            mit Spannung zu beobachten sein, ob der Digital                 Google Shopping                                        tiger Vorinstallation der genannten Apps lizenzieren.
      Unternehmen eine „überragende marktübergreifen-            Markets Act, dessen Inkraftreten im Laufe des Jah-                                                                     Außerdem leistete Google an einige große Hersteller
      de Bedeutung für den Wettbewerb“ hat, um dann im           res 2022 erwartet wird, eine ähnliche Dynamik wie                    Die Geldbuße aus dem Jahr 2017 (in Höhe von       und an einige Mobilfunknetzbetreiber Zahlungen,
      zweiten Schritt bestimmte missbräuchliche Verhal-          die Einführung des § 19a GWB mit sich bringen wird.             2,42 Mrd. Euro) betraf den Preisvergleichsdienst       wenn diese ausschließlich die App Google-Suche
      tensweisen verbieten zu können.                                                                                            Google Shopping. Google wurde vorgeworfen, es be-      auf ihren Geräten vorinstallierten. Zugleich unter-
                                                                                                                                 vorzuge seinen Dienst im Vergleich zu konkurrieren-    nahm Google Maßnahmen, um die Entwicklung al-
          Das Bundeskartellamt hat bereits in den ersten                                                                         den Preisvergleichsdiensten bei der Darstellung der    ternativer Android-Versionen (sog. Android-Forks) zu
      sechs Monaten nach Inkrafttreten der Novelle von                                                                           Suchergebnisse in der allgemeinen Google-Suche         verhindern.
      dem neuen Missbrauchsinstrument Gebrauch ge-                                                                               (insbesondere durch eine privilegierte Positionie-
      macht und Verfahren auf der ersten Stufe gegen alle                                                                        rung und Präsentation). Mit Urteil vom 10. November         Mit diesen Maßnahmen sollte nach Ansicht der
                                                                                                                                 2021 (Rechtssache T-612/17) hat das EuG die Geld-      Kommission sichergestellt werden, dass der Internet-
                                                                                                                                 buße der Kommission bestätigt. Google kann das         Traffic auf den Android-Geräten über die Google-
                                                                                                                                 Urteil des EuG vor dem Europäischen Gerichtshof        Suchmaschine läuft, mit der Google den Großteil
                                                                                                                                 ("EuGH") anfechten. Falls dies geschieht – was ange-   seiner Einnahmen erzielt. Dies verstoße jedoch wie-
                                                                                                                                 sichts der Bedeutung der Sache für das Geschäfts-      derum gegen das Verbot in Artikel 102 AEUV. Denn
                                                                                                                                 modell von Google kaum überraschen würde –, wird       erstens beherrsche Google drei der hier betroffenen
                                                                                                                                 sich ab 2022 auch der EuGH damit beschäftigen, wie     Märkte: den Markt für allgemeine Internet-Such-
                                                                                                                                 die Praxis der Selbstbevorzugung kartellrechtlich zu   dienste, den Markt für lizenzpflichtige Betriebssys-
                                                                                                                                 bewerten ist.                                          teme für intelligente Mobilgeräte (Smartphones und
                                                                                                                                                                                        Tablets) und den Markt für Android-App-Stores. Und
                                                                                                                                                                                        zweitens werde Google nicht der Verantwortung ge-
                                                                                                                                 Google Android                                         recht, die es als marktbeherrschendes Unternehmen
                                                                                                                                                                                        für den Wettbewerb trage. Konkret sah die Kommis-
                                                                                                                                       Gegenstand der Geldbuße von 2018 (in Höhe von    sion hier drei verschiedene Formen des Behinde-

      2. MISSBRAUCHSVERBOT
                                                                                                                                 4,34 Mrd. Euro) war das Android-Betriebssystem für     rungsmissbrauchs verwirklicht:
                                                                                                                                 intelligente Mobilgeräte (Smartphones und Tablets),    1. unzulässige Kopplung des Google Play Store

                                                                                                                       30   31
                                                                                                                                 das unter der Führung von Google entwickelt wird.           mit den Apps Google-Suche und Google
                                                                                                                                                                                             Chrome,
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