Bundeswehr raus aus Afghanistan! - Ein Reader der AG Afghanistan-Demonstration von linksjugend 'solid und Linke.SDS

Die Seite wird erstellt Lui-Horst Rohde
 
WEITER LESEN
Bundeswehr raus aus Afghanistan! - Ein Reader der AG Afghanistan-Demonstration von linksjugend 'solid und Linke.SDS
Bundeswehr raus aus Afghanistan!
Ein Reader der AG Afghanistan-Demonstration
von linksjugend ['solid] und Linke.SDS

Inhalt:
   1) Bundeswehr raus aus Afghanistan – Pressemitteilung der Partei DIE LINKE – S. 2
   2) Nur ein Abzug wäre hilfreich – Interview mit Matin Baraki – S. 3
   3) Die USA haben den Fundamentalismus nach Afghanistan zurückgebracht – Malalai Dschoja
      – S. 5
   4) «… erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, den
      Einsatz von Tornado-Waffensystemen in Afghanistan in irgendeiner Form zu unterstützen
      …» - Oberstleutnant Jürgen Rose – S. 11
   5) Militarisierung mit Lichtgeschwindigkeit – Tobias Pflüger – S. 13
   6) Abzug am Sankt Nimmerleins Tag – Frank Eßers – S. 15
   7) Karten - S. 24

                                               1
Bundeswehr raus aus Afghanistan! - Ein Reader der AG Afghanistan-Demonstration von linksjugend 'solid und Linke.SDS
http://die-linke.de/politik/international/detail/zurueck/bundeswehr-raus-aus-
afghanistan/artikel/bundeswehr-raus-aus-afghanistan/

Bundeswehr raus aus Afghanistan
DIE LINKE ruft zur Beteiligung an der Demonstration gegen den Afghanistan-Einsatz auf. Dazu
erklärt Christine Buchholz, Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand:
DIE LINKE unterstützt die von der Friedensbewegung organisierte Demonstration gegen die
Verlängerung des Mandates für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan und ruft ihre Mitglieder und
Sympathisanten auf, am 15. September in Berlin zu demonstrieren.

Die Situation in Afghanistan ist katastrophal. Bei dem Krieg geht es nicht um Demokratie und
Menschenrechte, sondern um die wirtschaftlichen Interessen der westlichen Industrieländer – auch
Deutschlands. Seit 2002 wurden in Afghanistan 85 Mrd. Dollar für Militärmaßnahmen, aber nur 7,5
Mrd. Dollar für den zivilen Wiederaufbau eingesetzt. Da wundert es nicht, wenn die ausländischen
Truppen von der Afghanischen Bevölkerung als Besatzer angesehen werden.

Durch den Tornado-Einsatz wurde die deutsche Kriegsbeteiligung ausgeweitet.

Dabei wird deutlich: Eine Unterscheidung zwischen dem vermeintlichen Wiederaufbau-Einsatz
ISAF und der US-geführten Operation Enduring Freedom ist Augenauswischerei. Beide Einsätze
sind miteinander verquickt. Durch den Tornado-Einsatz beteiligt sich die Bundeswehr direkt am
Krieg.

Die Bundesregierung ist mit verantwortlich für die vielen zivilen Toten, die in den letzten Wochen
durch die Bombardierungen zu beklagen sind. Anstatt den Abzug der Bundeswehr zu planen,
erwägen Peter Struck und Frank Walter Steinmeier sogar die Entsendung weiterer Soldaten. Damit
ziehen sie Deutschland noch weiter in den Kriegssumpf hinein.

Die Bundestagsabgeordneten können eine Beendigung der deutschen Kriegsbeteiligung
herbeiführen. Im September wird über die Verlängerung des ISAF-Mandates, inklusive der
Tornados, abgestimmt, im Oktober wird über die Verlängerung der Operation Enduring Freedom
abgestimmt.

Wir sagen Nein zur Verlängerung und zur Ausweitung dieser Mandate.

                                                  2
Bundeswehr raus aus Afghanistan! - Ein Reader der AG Afghanistan-Demonstration von linksjugend 'solid und Linke.SDS
http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=114882&IDC=2

Nur ein Abzug wäre hilfreich
Matin Baraki über Alternativen zum Krieg

• Was sind die Gründe für den Kriegseinsatz in Afghanistan? Wird die Sicherheit der
Bundesrepublik wirklich am Hindukusch verteidigt, oder sind geopolitische und ökonomische
Hintergründe entscheidend?

Man sollte die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesrepublik Deutschland von 1992, die
Europäische Sicherheitsstrategie oder das kürzlich erschienene Weißbuch der Bundeswehr lesen.
Dort ist unmissverständlich formuliert: Wenn die Interessen der Bundesrepublik Deutschland es
verlangen, wird die Bundeswehr in jedem beliebigen Teil der Welt operieren. Afghanistan ist dabei
gleichsam ein Türöffner für künftige Großmachtambitionen. Das Land ist von großer
geostrategischer Bedeutung. Die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens, der Kaukasus,
Mittel- und Südasien sowie China sind von Afghanistan aus zu erreichen. Die Sicherung
geopolitischer Interessen der NATO-Staaten ist entscheidend. Taliban, Al-Qaida oder mögliche
humanitäre Hilfe sind weniger relevant für den Einsatz.

• Afghanistan war historisch ein Spielball der Großmächte. Sie unterstreichen in Ihren Arbeiten
mehrfach die ausländische Besatzung als das zentrale Problem des Landes, bezeichnen Afghanistan
sogar als ein NATO-Protektorat. Ist eine positive wirtschaftliche und politische Entwicklung für Sie
unter gegenwärtigen Voraussetzungen überhaupt möglich?

Nein. 99 Prozent aller Produkte, die auf dem afghanischen Markt angeboten werden, sind Importe.
Die nationale Wirtschaft Afghanistans ist nach mehr als 30 Jahren Krieg komplett zerstört und hat
unter den heute existenten, kolonial-ähnlichen Voraussetzungen keine Chance, sich zu regenerieren.
Der einzige Produktionszweig, der in Afghanistan floriert, ist der Drogenanbau. Afghanistan ist
durch jahrzehntelange Kriegspolitik zu einem Drogen-Mafia-Staat verkommen. Unter diesen
wirtschaftlichen Verhältnissen und mit der Marionettenregierung in Kabul hat dieses Land keine
Perspektive.

• In der Friedensbewegung vertritt man die Meinung, dass karitative und humanitäre Hilfe nur unter
Ausschluss des Militärischen geleistet werden kann. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?

Seit das Militär karitative und humanitäre Hilfsorganisationen begleitet, sind diese gefährdet. Die
Afghanen sehen sie nicht als Helfer, sondern als Handlanger ausländischer Militärs. Gerade das
Militär gefährdet die Hilfe der Organisationen vor Ort. Bevor NATO und ISAF im Land operierten,
haben die Nichtregierungsorganisationen ihre Arbeit ungestört geleistet. Erst durch ausländische
Militäroperationen ist die humanitäre Hilfe in Gefahr.

• Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnt die Beteiligung Deutschlands am Krieg ab.
Trotzdem hält die herrschende Politik am Einsatz fest. Ist der Vorwurf einer antidemokratischen

                                                 3
Politik der Bundesregierung berechtigt?

Absolut. Wenn die Mehrheit eines Volkes ihre eigene Regierung und deren Politik nicht akzeptiert,
ist diese nicht legitimiert. Was die Bundesregierung macht, steht in diametralem Widerspruch zu
den Interessen der Menschen in Deutschland.

• Für Grüne und SPD ist höchstens die Operation Enduring Freedon (OEF) fragwürdig; ISAF ist bei
beiden nach wie vor unumstritten. Ist eine Trennung beider Missionen zulässig?

Es existiert faktisch nur eine einzige Mission. ISAF und OEF sind praktisch miteinander
verschmolzen. Beide führen einen Krieg. OEF-Truppen bombardieren flächendeckend das Land
und verwüsten es. Die afghanische Bevölkerung empfindet Soldaten beider Operationen als
Besatzung. Die alleinige Mission in Afghanistan ist der Anti-Terrorkrieg. Dort hat die
Bundesrepublik keine Befehlsgewalt und nur die Aufgabe, Interessen der USA umzusetzen.

• Die humanitäre Lage im Land ist katastrophal, Experten sprechen von einer »Irakisierung«
Afghanistans. Würde sich nach Abzug der internationalen Kampftruppen die Situation nicht noch
verkomplizieren? Stünde dann nicht eine erneute Machtübernahme fundamentalistischen Taliban
bevor?

Ein Abzug der Bundeswehr würde die Situation in Afghanistan in keiner Weise verschlechtern. Sie
könnte das Land sofort verlassen. Vor dem vollständige Abzug der internationalen
Besatzungstruppen müssen entsprechend politische Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Mittels demokratischer Wahlen auf einer Loyadjirga sind eine Kommission für eine neue
Verfassung und neue Parteien- und Wahlgesetze zu bestimmen. Eine provisorische Regierung muss
gewählt werden. Wenn diese politischen Schritte getan sind, müssen sich die Militäreinheiten der
NATO aus Afghanistan zurückziehen. Ist die Sicherheitslage wider Erwarten angespannt, kann das
Land von den nichtpaktgebundenen Staaten oder von der Konferenz islamischer Staaten kurzzeitig
Militärschutz erbitten. Fest steht: Soll in Afghanistan eine Perspektive für den Frieden bestehen,
müssen die internationalen Besatzer ihre Interessen in Afghanistan aufgeben und abziehen.

• Seit der Intervention 1992 in Somalia ist die Bundesrepublik international an immer mehr
Kriegseinsätzen beteiligt. Afghanistan ist dabei der vorläufige Höhepunkt. Wo ist demnächst
militärisches Engagement zu erwarten?

Das kann in jedem beliebigen Teil der Welt sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die
Bundesrepublik sich mehr als bisher in Irak engagiert. Nicht auszuschließen ist, dass die USA unter
deutscher Beteiligung einen Krieg gegen Iran führen. Syrien, Libanon, Sudan oder andere
afrikanische Staaten finden in den verteidigungspolitischen Richtlinien des
Verteidigungsministeriums indirekt ebenfalls Berücksichtigung. Die Transformation der
Bundeswehr ist so konzipiert, dass deutsche Streitkräfte im Verbund von NATO oder EU überall in
der Welt innerhalb kürzester Zeit eingesetzt werden können.

Fragen: Christian Klemm

                                                 4
http://zmag.de/artikel/die-usa-haben-den-fundamentalismus-nach-afghanistan-zuruckgebracht

Die USA haben den Fundamentalismus nach
Afghanistan zurückgebracht
von Malalai Dschoja

13.04.2007 — ZNet
Der folgende Text ist eine Aufzeichnung der Rede von Malalai Dschoja, Mitglied des afghanischen
Parlaments, gehalten an der Universität Los Angeles am 10. April:
Im Namen von Demokratie und Frieden!
Liebe Freundinnen und Freunde, zunächst möchte ich Ihnen meine tiefe Verbundenheit und meinen
Dank dafür aussprechen, dass Sie mir Gelegenheit geben, hier zu reden und meine Ansichten zu
äußern, und dass ich Sie über die fortdauernde Tragödie in meinem weinenden Afghanistan
unterrichten darf.
Während die Demokratiebefürworter und Antifundamentalisten in Afghanistan an den Rand
gedrängt, unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden, haben Sie mir die Hand gereicht, mir
als einer schwachen Stimme meines leidenden Volkes, um über die Krise in Afghanistan und die
fürchterlichen Lebensverhältnisse seines Volks zu sprechen. Damit helfen Sie, die Aufmerksamkeit
auf die Vorgänge in meinem zerstörten Land zu richten.
Verehrte Freunde, über fünf Jahre sind jetzt seit dem von den USA angeführten Angriff auf
Afghanistan vergangen. Viele von Ihnen kennen möglicherweise nicht die gegenwärtigen Zustände
in meinem Land und erwarten von mir, dass ich all die positiven Entwicklungen der letzten Jahre
seit dem Einmarsch der USA aufliste. Leider muss ich Ihnen sagen, dass Afghanistan immer noch in
den Ketten fundamentalistischer Kriegsherren liegt und wie ein bewusstloser Körper seinen letzten
Atemzug tut.
Die US-Regierung hat das ultrareaktionäre und brutale Regime der Taliban beseitigt. Statt sich aber
auf das afghanische Volk zu stützen, hat sie uns vom Regen in die Traufe gestürzt und ihre Freunde
unter den schmutzigsten und berüchtigtsten Kriminellen der „Nordallianz“ gesucht, in der sich
geschworene Feinde von Demokratie und Menschenrechten versammelt haben, und die nicht
weniger übelgesinnt, böse und grausam sind wie die Taliban.
Die westlichen Medien sprechen von Demokratie und der Befreiung Afghanistans, stattdessen sind
die USA und ihre Verbündeten damit beschäftigt, unser verwundetes Land in ein Land der
Kriegsherren, der Verbrecher und der Drogenbarone zu verwandeln.
Jetzt sind die Führer der Nordallianz die entscheidenden Machtinhaber, und unser Volk ist eine
Geisel in den Händen dieser rücksichtslosen Killerbande. Viele von ihnen sind verantwortlich für
das Abschlachten von zehntausenden unschuldiger Menschen in den vergangenen zwei Jahrzehnten,
und doch sind sie an der Macht und nehmen wichtige Regierungsämter ein.
Lassen Sie mich einige der wichtigsten Machtinhaber Afghanistans aufzählen:
    •   Karim Chalili, stellvertretender Präsident, ist Chef einer proiranischen Partei namens
        Wahdat, verantwortlich für die Tötung von tausenden unschuldigen Menschen, und wird von
        Human Rights Watch als Kriegsverbrecher bezeichnet.
    •   Ismael Chan, ein weiterer Killer-Warlord und Lakai des iranischen Regimes, ist Minister für
        Wasser und Energie.

                                                 5
•   Izzatullah Wasifi, Afghanistans Antikorruptionschef, ist ein verurteilter Drogenhändler, der
        rund vier Jahre in den USA im Staatsgefängnis von Nevada gesessen hat.
    •   General Mohammed Daoud, Afghanistans stellvertretender Innenminister, zuständig für die
        Drogenbekämpfungspolitik, ist ehemaliger Kriegsherr und bekannter Drogenhändler.
    •   Raschid Dostum, Stabschef der afghanischen Armee, ist ein kaltblütiger Mörder und
        Warlord und wird von Human Rights Watch als Kriegsverbrecher bezeichnet.
    •   Qasim Fahim, ehemaliger Verteidigungsminister und heute Senator und Berater von Herrn
        Karsai, ist der mächtigste Kriegsherr der Nordallianz und wird beschuldigt,
        Kriegsverbrechen begangen zu haben.
Auf dieser Liste stehen hunderte von Männern, einschließlich Sajjaf, Ulomi, Golabsoi, Rabbani,
Kanuni, Mohakik, Mullah Rocketi usw. Sie sollten alle aus ihren Ämtern entfernt und vor ein
Kriegsverbrechertribunal gestellt werden. Im Grunde sind alle Hauptinstitutionen in Afghanistan
mit Kriegsherren und Drogenbaronen besetzt. Wie können wir über Demokratie reden, wenn unsere
Legislative, Judikative und Exekutive von dem Virus des Fundamentalismus und der Drogenmafia
befallen sind?
Viele freiheitsliebende Einzelpersonen und Gruppierungen in Afghanistan haben schon vor langer
Zeit gewarnt, dass es gefährlich wird für Afghanistan, wenn die US-Regierung die kriminelle
Nordallianz wieder an die Macht bringt. Heute gehen fast alle Regierungen und Weltorganisationen
davon aus, dass Afghanistan ein „failed state“, ein gescheiterter Staat ist, der auf eine Katastrophe
zustrebt.
Die Afghanen haben die jetzige Situation mehr als satt, und mit jedem Tag wenden sie sich mehr
gegen die Regierung, die ausländischen Truppen und die Kriegsherren. Und die Taliban nutzen das
aus, um ihren Einfluss zu erhöhen und noch mehr Terrorakte zu begehen. Länder wie Pakistan, Iran,
Russland usw. mischen ebenfalls in Afghanistan mit, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen.
In einem kürzlich veröffentlichten Bericht des US-amerikanischen Center for Strategic and
International Studies heißt es: „Die Afghanen sind frustriert über ihre wirtschaftliche Lage … Sie
leiden unter unsteter Beschäftigung und wirtschaftlicher Unsicherheit, und wenden sich unerlaubter
und illegaler Aktivität zu wie Korruption und Opiumproduktion … die Taliban sind zu einer
alternativen Beschäftigungsquelle geworden und rekrutieren die Arbeitslosen als Fußsoldaten für
ihren Aufstand.“
Wenn in solch einer Situation eine Killerbande an der Macht ist, kann es natürlich kein leichtes
Leben für unser unglückliches Volk geben. Ich möchte Ihnen gerne die Lebensrealität in meinem
blutenden Afghanistan beschreiben - nur die Spitze des Eisbergs:
Siebenhundert Kinder und 50 bis 70 Frauen sterben täglich auf Grund mangelnder
Gesundheitsversorgung. Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist immer noch sehr hoch - 1.600 bis
1.900 von 100.000 Frauen sterben bei der Entbindung. Die Lebenserwartung liegt unter 45 Jahren.
Die Zahl der Selbstmorde unter afghanischen Frauen war nie so hoch wie heute. Vor einem Monat
hat sich die achtzehnjährige Samija mit einem Strick erhängt, weil sie an einen sechzig Jahre alten
Mann verkauft werden sollte. Eine andere Frau namens Bibi Gul hat sich in einem Stall
eingeschlossen und verbrannt. Ihre Familie fand von ihr nur noch ihre Knochen.
Die Studie der Regierungsbehörde Afghanistan Independent Human Rights Commission weist eine
deutliche Zunahme von berichteten Fällen auf: Danach gab es in der Provinz Farah vor zwei Jahren
15 Fälle von Selbstverbrennungen von Frauen. Diese Zahl ist allein in den ersten sechs Monaten
des Jahres 2006 auf 36 hochgeschossen. In der Provinz Kandahar wurden vor zwei Jahren 74 Fälle
verzeichnet, dagegen 77 Fälle in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres. Die wirklichen
Zahlen sind noch viel höher.
Nach einer Studie von UNIFEM betrachten 65 Prozent der 50.000 Witwen in Kabul den Suizid als

                                                  6
einzige Möglichkeit, ihrem Elend zu entkommen. UNIFEM schätzt, dass mindestens eine von drei
afghanischen Frauen geschlagen, zu Sex gezwungen oder auf andere Weise misshandelt wurde.
Gruppenvergewaltigungen junger Mädchen und Frauen durch Warlords der Nordallianz finden nach
wie vor gerade in den Nordprovinzen Afghanistans statt. Es ist immer wieder zu Massenprotesten
dagegen gekommen, aber niemand schert sich um den Schmerz und die Tränen der Menschen. Nur
wenige Vergewaltigungsfälle landen in den Medien. Ein schockierender Fall war der der elfjährigen
Sanobar, der einzigen Tochter einer unglücklichen Witwe, die entführt, vergewaltigt und dann von
einem Warlord gegen einen Hund getauscht wurde. In einem Land, wo Würde keinen Preis hat,
kann der bösartige Vergewaltiger eines armen Mädchens immer noch den Landrat spielen.
Die Taliban betreiben weiterhin ihren Faschismus in den östlichen Gegenden Afghanistans, wo die
Regierung keine Kontrolle hat. Sie veranstalten öffentliche Hinrichtungen und Entführungen. Als
vor einigen Tagen ein italienischer Journalist und sein afghanischer Dolmetscher und Fahrer
entführt wurden, schloss die afghanische Regierung einen Handel ab: Sie entließ fünf Talibanführer
aus dem Gefängnis und bekam dafür den italienischen Journalisten frei. Aber niemand kümmerte
sich um das Schicksal der zwei unschuldigen Afghanen, beide wurden von den Taliban geköpft.
Ein Bericht von Human Rights Watch über Kriegsverbrecher in Afghanistan und das Hängen
Saddam Husseins hat vielen afghanischen Verbrechern Angst gemacht, und jetzt versuchen sie, jede
Strafverfolgung zu unterbinden. Vergangenen Monat haben die Parlamentskriegsherren im Namen
der „nationalen Versöhnung“ ein Gesetz verabschiedet, wonach gegen niemand wegen
Kriegsverbrechen in den vergangenen 25 Jahren Klage erhoben und niemand strafrechtlich verfolgt
werden darf.
Ein paar Parlamentarier haben zusammen mit mir die Stimme dagegen erhoben, aber mit ihren 80
Prozent an Parlamentssitzen konnten die fundamentalistischen Kriegsherren das Gesetz ohne
weiteres durchbringen. Mit diesem Gesetz ist faktisch allen Verbrechern Amnestie gewährt worden.
Für die afghanischen Menschen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten so gelitten haben, ist
dieses Gesetz ein Schlag ins Gesicht. Nach einer Untersuchung der unabhängigen afghanischen
Human Rights Commission sind über 80 Prozent der Afghanen für eine Strafverfolgung derjenigen,
die für die vergangenen Verbrechen und Grausamkeiten verantwortlich sind, und sie halten das für
die einzige Möglichkeit, wenn Afghanistan eine bessere Zukunft erleben soll.
Selbst Herr Karsai hat dieses abscheuliche Gesetz unterzeichnet, das als Witz und Schmähung all
der Millionen Afghanen gesehen wird, die gelitten und ihre Angehörigen verloren haben, und die
auf den Tag der Gerechtigkeit warten. Nun haben sich die Killer ihre eigenen Verbrechen vergeben
und leben ohne Furcht weiter. Solche Gesetze billigen ganz offiziell weitere Brutalitäten und
Verletzungen der Menschenrechte gegenüber unserem schutzlosen Volk.
Die Geschichte des Wiederaufbaus Afghanistans ist schmerzlich: Nach fünf Jahren können Sie kein
einziges ernsthaftes Wiederaufbauprojekt sehen. Milliarden Dollars an Hilfsgeldern wurden von den
Kriegsherren geplündert, von korrupten NGOs, den UN und den Regierungsbeamten. Afghanistan
steht auf dem UN-Human-Development-Index mit 177 Ländern immer noch auf Platz 175, und die
Arbeitslosenrate liegt über 40 Prozent.
Die sogenannte Redefreiheit in Afghanistan ist ein weiterer Witz auf Kosten unseres Volkes. Lassen
Sie mich meine eigenen jüngsten Erfahrungen schildern: Anfang Februar dieses Jahres, während der
Verabschiedung dieses scheußlichen Amnestiegesetzes für Kriegsverbrecher im Parlament, führte
ein lokaler Fernsehsender ein Interview mit mir; außerdem mit ein paar anderen Leuten
einschließlich Sajjaf, der ein gesuchter Kriegsverbrecher und Parlamentsmitglied ist.
Der Fernsehsender bewarb das Programm etliche Male mit Auszügen aus meinem Interview.
Danach rief Sajjaf höchstpersönlich den Sender an und drohte, wenn Dschojas Interview gezeigt
werde, könnte das gefährliche Folgen für den Intendanten haben. Also griffen sie zur Zensur und

                                                7
schlossen mich aus dem Programm aus. Und das ist nicht das erste Mal, dass ich in den Medien
zensiert wurde. Viele Journalisten sind zu verängstigt, um meine Kommentar zu senden.
Im letzten Jahr haben die Vereinten Nationen erklärt, Afghanistan könne unter der US-Besatzung zu
einem echten „Narco-State“, einem Drogenstaat werden. Heute bezweifelt niemand, dass es zu
einem Mafiastaat geworden ist angesichts der Tatsache, dass hier 92 Prozent des weltweiten
Opiums produziert werden. Hochrangige Beamte wie Minister und stellvertretende Minister haben
Verbindungen zur Drogenmafia. Und all das geschieht direkt unter der Nase tausender von
ausländischen Truppen.
In Afghanistan existiert ein Mafiasystem. Der von den USA unterstützte Präsident Karsai und seine
verwestlichten Intellektuellen machen gemeinsame Sache mit den Fundamentalisten jeder
Schattierung, um dieses Mafiasystem unserem Volk aufzuzwingen. Das ist der Hauptgrund für die
heutigen Probleme, für den Stillstand in Afghanistan. Diejenigen, die Gerechtigkeit fordern, werden
mit dem Tode bedroht.
Meine Stimme wird immer unterdrückt, selbst im Parlament, und einmal wurde ich physisch von
einem gegenüber den Kriegsherren und Drogenbaronen loyalen Parlamentsmitglied angegriffen, nur
weil ich die Wahrheit gesagt hatte. Einer rief sogar: „Hure, holt sie euch und vergewaltigt sie!“
Obwohl ich Gewehre hasse, muss ich ständig unter dem Schutz bewaffneter Aufpasser leben, wenn
ich überlebe will.
Präsident Hamid Karsai beruft die verbrecherischen Warlords in hohe Ämter, statt sich auf das Volk
zu stützen und diese Kriminellen vor Gericht zu stellen. Auf Grund seiner Politik, die das
Verbrechen fördert, hassen die Menschen in Afghanistan ihn als jemanden, der mitverantwortlich ist
für die derzeitige Katastrophe. Selbst die CIA hat in ihrem kürzlich veröffentlichten Bericht
zugegeben, dass er die Unterstützung der Menschen verloren und keine Kontrolle außerhalb Kabuls
hat.
Die afghanische Regierung ist die korrupteste und unpopulärste der Welt. In einer Umfrage von
Integrity Watch Afghanistan vom März 2007 zeigte sich, dass über 60 Prozent der Afghanen
denken, dass die derzeitige Regierung korrupter ist als all die Vorgängerregierungen der letzten zwei
Jahrzehnte.
Wegen dieser tragischen Lage ist die Rückkehr nach Afghanistan nach wie vor nicht sehr attraktiv
für die vier Millionen afghanischen Flüchtlinge im Iran und in Pakistan, und viele versuchen immer
noch aus dem Land zu fliehen.
Liebe Freunde, im Jahr 2001 verkündete die US-Regierung, sie habe von den Fehlern der
Vergangenheit gelernt und werde die afghanischen Fundamentalisten nicht mehr unterstützen. Die
qualvolle Wahrheit ist jedoch, dass die USA denselben Fehler wiederholen. Sie unterstützen die
Fundamentalisten großzügiger denn je.
Abgesehen von der Unterstützung für die Bande der Nordallianz gibt es verdeckte Bestrebungen,
Vertreter der Taliban und Gulbuddin Hekmatjar in die Regierung zu holen. Gulbuddin Hekmatjar
steht auf der US-Liste der meistgesuchten Terroristen, und doch durfte seine Partei 34 Mitglieder in
das afghanische Parlament schicken, das durch eine undemokratische und zudem betrügerische
Wahl zustande gekommen ist. Ich habe etliche Male erklärt, dass die US-Regierung kein Problem
hat, mit proamerikanischen Terroristen zusammenzuarbeiten, und nur etwas gegen
antiamerikanische Terroristen hat. Das ist der Grund dafür, dass unser Volk sich über den „Krieg
gegen Terror“ lustig macht.
Ich stimme absolut mit Kathy Gannon überein, einer Expertin in Afghanistanfragen, dass „die USA
kein Interesse an einem Frieden in Afghanistan haben. Menschen, die tausende getötet haben, die
die Schrimherrschaft über das Drogengeschäft übernommen haben, sind mit der Führung des
Landes betraut worden.“

                                                 8
Liebe Freunde, die USA interessieren das Leiden und die verheerenden Lebensbedingungen unseres
Volks nicht; es liegt in den strategischen und wirtschaftlichen Interessen der USA, unser Volk so
lange wie möglich all der Gefahr auszusetzen. Deshalb betrachtet unser Volk die USA nicht als
„Befreier“ unseres Landes. Die USA sind in Afghanistan im Namen von Menschenrecht und
Demokratie einmarschiert, heute jedoch sind wir von diesen Werten genauso weit entfernt wie vor
fünf Jahren. Stattdessen hat sich die Zahl der seit 2001 im „Krieg gegen den Terror“ getöteten
unschuldigen Zivilisten verfünffacht im Vergleich zu der Zahl derjenigen, die in der Tragödie vom
11. September umkamen.
Ich hoffe, Sie haben durch den kleinen Geschmack, den ich Ihnen von den Problemen meines
Landes gegeben habe, verstehen können, dass mein Land immer noch Gefangener blutiger und
terroristischer Fundamentalisten ist. Die Lage in Afghanistan und die Lebensbedingungen der vom
Unglück geschlagenen Frauen werden sich niemals bessern, solange die Warlords nicht entwaffnet
und die US-freundlichen wie die US-feindlichen Terroristen von der politischen Bühne Afghanistan
verbannt werden.
Es ist klar und längst bewiesen, dass keine Nation einer anderen Nation die Befreiung spenden
kann. Befreiung ist kein Geld, das gespendet werden kann; sie muss von den Menschen des Landes
selbst erreicht werden. Was in Afghanistan und im Irak geschieht, bestätigt das. Menschen anderer
Länder können uns lediglich eine helfende Hand reichen und uns unterstützen.
Ich denke, dass die Menschen der USA eine wirklich wichtige Rolle spielen können, indem sie auf
ihre politischen Entscheidungsträger Druck ausüben, ihre falsche Politik in Afghanistan zu beenden
und den Wunsch unseres Volks zu respektieren. Ich sollte noch hinzufügen, dass das US-
amerikanische Volk im Gegensatz zu seiner Regierung großartig ist, mitfühlend und
friedensliebend, weshalb die demokratisch gesinnten Menschen in Afghanistan auf Ihre
Unterstützung und Solidarität setzen können.
Die Menschen in den USA müssen den armen Menschen in Afghanistan und den demokratisch
gesinnten Individuen und Gruppierungen helfen, die im Moment noch geschlagen sind und unter
großem Druck stehen. Das ist die einzig richtige Politik, die dem afghanischen Volk helfen kann
und eine bessere Zukunft für uns eröffnet. Anders als die US-Regierung müssen die wahren
Freunde des afghanischen Volks auf die Stimmen unserer Männer und Frauen hören, die
Gerechtigkeit fordern; sie müssen verstehen, dass die Existenz jeglicher Art von
fundamentalistischen Gruppen als politische und militärische Kräfte der Hauptgrund für all die
Probleme in Afghanistan sind. Sie müssen wissen, dass der Schlüssel für all die Katastrophen, die
wir heute erleben, darin lag, der Nordallianz zur Macht zu verhelfen.
Ich bin mir der Härten, der Herausforderungen und der Gefahr, von antidemokratischen Kräften
umgebracht zu werden, bewusst. Aber ich vertraue meinem Volk und genieße seine volle
Unterstützung und Ermutigung. Die Feinde meines Volks haben Waffen, politische Macht und die
Unterstützung der USA-Regierung, mich zu unterdrücken. Aber sie können meine Stimme niemals
zum Schweigen bringen und die Wahrheit verbergen. Ich bin stolz darauf, ein Licht der Hoffnung
für meine Landsleute zu sein und genieße ihre starke Unterstützung bei meiner Mission für
Demokratie und Freiheit.
Auch Ihre Solidarität und Unterstützung hier geben mir mehr Kraft und stärken meine
Entschlossenheit, gegen die Feinde der Demokratie und Menschlichkeit in meinem zerstörten
Afghanistan zu kämpfen. Sie können mir durch moralische Unterstützung und ihre großzügigen
Spenden helfen, damit ich weitermachen kann mit meiner Arbeit für die verzweifelten und
sorgenvollen Frauen in Afghanistan.
Die Fundamentalisten zählen die Tage, mich umzubringen. Aber ich glaube an den edlen Spruch des
friedensliebenden iranischen Schriftstellers Samad Behrangi:

                                                 9
„Der Tod kann mich jetzt sehr leicht holen, doch solange ich leben kann, darf ich mich nicht von
selbst in seine Arme stürzen. Sollte ich ihm jedoch eines Tages begegnen, was ganz bestimmt der
Fall sein wird, dann ist es nicht wichtig. Wichtig allein ist, welchen Wert mein Leben oder mein Tod
für das Leben hat …“
Danke.
Orginalartikel: The US has Returned Fundamentalism to Afghanistan
Übersetzt von: Rosemarie Nünning

                                                10
http://www.zeit-fragen.ch/ausgaben/2007/nr11-vom-1932007/erklaere-ich-hiermit-dass-ich-es-
nicht-mit-meinem-gewissen-vereinbaren-kann-den-einsatz-von-tornado-waffensystemen-in-
afghanistan-in-irgendeiner-form-zu-unterstuetzen/

«… erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem
Gewissen vereinbaren kann, den Einsatz von Tornado-
Waffensystemen in Afghanistan in irgendeiner Form zu
unterstützen …»
Dokument: Auszüge aus der dienstlichen Erklärung von Oberstleutnat Dipl.-Päd. Jürgen
Rose, München, WBK IV G 3 Eins/Üb, vom 15. März 2007

Herrn
Oberst i. G. Bernhard Frank
Chef des Stabes WBK IV – Süddeutschland
[…]
Sehr geehrter Herr Oberst!
Im Hinblick auf die von der Bundesregierung getroffene Entscheidung, Waffensysteme Tornado der
Bundesluftwaffe zum Einsatz nach Afghanistan zu entsenden […], den daraufhin am 9. März 2007
erfolgten Zustimmungsbeschluss des Deutschen Bundestages sowie die mittlerweile ergangene
Befehlsgebung des Streitkräfte-Unterstützungskommandos zur Umsetzung dieser Entscheidung
erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, den Einsatz von
Tornado-Waffensystemen in Afghanistan in irgendeiner Form zu unterstützen, da meiner
Auffassung nach nicht auszuschliessen ist, dass ich hierdurch kraft aktiven eigenen Handelns zu
einem Bundeswehreinsatz beitrage, gegen den gravierende verfassungsrechtliche, völkerrechtliche,
strafrechtliche sowie völkerstrafrechtliche Bedenken bestehen. Zugleich beantrage ich hiermit, auch
von allen weiteren Aufträgen, die im Zusammenhang mit der «Operation Enduring Freedom» im
allgemeinen und mit der Entsendung der Waffensysteme Tornado nach Afghanistan im besonderen
stehen, entbunden zu werden.
Im einzelnen begründe ich diese Erklärung sowie meinen Antrag wie folgt:
In den Leitsätzen zum Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 (Bezug 1) führt das
Bundesverwaltungsgericht unter anderem aus:
«2. Die durch § 11 Abs. 1 S. 1 und 2 Soldatengesetz SG begründete zentrale Verpflichtung jedes
Bundeswehrsoldaten, erteilte Befehle «gewissenhaft» (nach besten Kräften vollständig und
unverzüglich) auszuführen, fordert keinen bedingungslosen, sondern einen mitdenkenden und
insbesondere die Folgen der Befehlsausführung – gerade im Hinblick auf die Schranken des
geltenden Rechts und die ethischen «Grenzmarken» des eigenen Gewissens – bedenkenden
Gehorsam.
3. Aus dem Grundgesetz und dem Soldatengesetz ergeben sich rechtliche Grenzen des Gehorsams
[…]. Ein Soldat braucht einen ihm erteilten Befehl jedenfalls dann als unzumutbar nicht zu
befolgen, wenn er sich insoweit auf den Schutz des Grundrechts der Freiheit des Gewissens (Art. 4
Abs. 1 GG) berufen kann. […]»
II. Unter Bezugnahme auf das vorstehend zitierte Urteil des 2. Wehrdienstsenates sowie den von
mir geleisteten Diensteid habe ich in meiner Dienstlichen Erklärung vom 1. Mai 2006 (Bezug 2)
prophylaktisch klargestellt, dass «ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, Befehle
auszuführen, die gegen das Völkerrecht oder das deutsche Recht verstossen» und dass ich daher
«insbesondere internationale Einsätze der Bundeswehr auch im Rahmen von multinationalen

                                                11
Verbänden der Nato oder der Europäischen Union (zum Beispiel Nato Response Force, EU Battle
Group, Eurokorps) nur dann unterstützen oder an diesen teilnehmen [werde], wenn diese durch das
Völkerrecht oder das deutsche Recht gedeckt sind.» Diese Erklärung wurde unbeanstandet zu
meiner Personalakte genommen.
[…]
– Der Einsatz der Bundeswehr-Tornados in Afghanistan bedeutet notwendigerweise die Teilnahme
Deutschlands an völkerrechtswidrigen und vom Nato-Vertrag nicht gedeckten Militäraktionen, denn
– die von den Bundeswehr-Tornados erfassten Aufklärungsergebnisse werden an das amerikanische
Oberkommando übermittelt; dabei ist trotz der in der Begründung der Beschlussvorlage genannten
Restriktion im ISAF-Operationsplan nicht gewährleistet, dass die Aufklärungsergebnisse nicht zu
anderen als den dort genannten Zwecken im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF)
verwendet werden;
– die Kriegführung der USA im Rahmen der OEF ist unter mehreren Aspekten völkerrechtswidrig,
nämlich:
• sie lässt sich nicht mehr als Selbstverteidigung rechtfertigen und ist nicht auf ein Mandat des
Sicherheitsrats gestützt;
• sie überschreitet bei der Art und Weise, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen auf die
Zivilbevölkerung, selbst die Ermächtigung der Regierung Karzai;
• sie ist im Hinblick auf die in Kauf genommenen sogenannten Kollateralschäden an der
Zivilbevölkerung mit den völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht
vereinbar;
• sie verstösst hinsichtlich der Behandlung von Gefangenen gegen fundamentale
menschenrechtliche Grundsätze.
Indem die Bundesregierung den Einsatz der Tornados in Afghanistan beschliesst, beteiligt sie sich
aktiv an einem Kriegseinsatz, der auf der Grundlage einer Militärstrategie geführt wird, die mit den
fundamentalen Grundsätzen der UN-Charta und des Art. l des Nato-Vertrages unvereinbar ist, und
verwickelt hierin die deutschen Streitkräfte.
[…]
Zudem liefe ich Gefahr, mit der aktiven Unterstützung des Einsatzes von Tornado-Waffensystemen
in Afghanistan, gegen den gravierende verfassungsrechtliche, völkerrechtliche, strafrechtliche sowie
völkerstrafrechtliche Bedenken bestehen, meinen dereinst geschworenen Diensteid zu brechen, der
von mir unter anderem verlangt, «das Recht […] des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen», nicht
aber es zu brechen und mit Füssen zu treten. Zu den zentralen Rechtsnormen des deutschen Volkes
zählen fraglos Völkerrecht und Grundgesetz. […]

                                                12
Aus: Antimilitarismus, Beilage der jW vom 04.07.2007

Militarisierung mit Lichtgeschwindigkeit
Deutschland und die EU wappnen sich für globale Kriegseinsätze. Die Linke
muß dies konsequent ablehnen. Von Tobias Pflüger

Tobias Pflüger
Mitglied der Linksfraktion (GUE/NGL) im Europaparlament
Foto: AP

* Tobias Pflüger ist Mitglied der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen
Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament
(www.tobiaspflueger.twoday.net)

Rund 7200 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr beteiligen sich derzeit an Einsätzen im
Ausland. Davon sind allein nahezu 3000 im Rahmen des NATO-Kriegseinsatzes in Afghanistan,
dazu kommen über 200 Soldaten im Rahmen des Tornado-Einsatzes. Im Kosovo stehen 2200
Soldaten »Gewehr bei Fuß«. Bosnien, Sudan, Libanon und der sogenannte Antiterroreinsatz am
Horn von Afrika sind weitere Einsatzorte der Bundeswehr. Das Grundgesetz verpflichtet die
Bundeswehr zur Beschränkung auf Territorialverteidigung; so heißt es in Artikel 87a, Absatz 1:
»Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf«, und in Absatz 2: »Außer zur Verteidigung
dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt« –
Grundsätze der Außenpolitik, die längst passé sind. Bundeswehrsoldaten werden heute weltweit
eingesetzt, um deutsche Interessen durchsetzen; die Bundeswehr ist zur Vollstreckerin deutscher
Außenpolitik geworden.
Für unsere Märkte
Schon der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) hatte Anfang der 90er Jahre die
Aushöhlung des Grundgesetzes betrieben, indem er zunehmend eine Militärpolitik vertrat, die
Interventionen im Ausland vorsah. Der Weg zur Zustimmung zu Kriegseinsätzen – und damit zur
Regierungsfähigkeit im Bund – führte 1991 bei der SPD und 1998 bei den Grünen über das Plazet
für UN-mandatierte Militäreinsätze nach Kapitel VII der UN-Charta. Stand früher bei
Militäreinsätzen die Berufung auf sogenannte humanitäre Ziele im Vordergrund, wurden sie in
jüngster Vergangenheit zunehmend auch als Durchsetzung der Nichtweiterverbreitung von
Atomwaffen oder als Kampf gegen den »Terrorismus« legitimiert. Bemerkenswert ist allerdings,
daß inzwischen auch ganz offen »deutsche Interessen« wie Rohstoffsicherung oder Marktöffnungen
als Rechtfertigungen der Beteiligung an Militäreinsätzen angeführt werden. So sprach
Militärminister Franz Josef Jung Anfang Juni 2006 im Zusammenhang mit der Entsendung
deutscher Soldaten in die Demokratische Republik Kongo davon, daß der Einsatz »auch im
Interesse einer besseren wirtschaftlichen Zukunft für uns und unsere Märkte« sei. Schließlich
handele es sich beim Kongo um eines der »rohstoffreichsten Länder« der Welt.

Vier Monate währte die offizielle militärische Absicherung des Wahlsiegs des EU-Verbündeten
Joseph Kabila im Kongo. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes Bernhard Gertz sprach zu
recht davon, daß im Kongo viele die EU-Soldaten »eher als Leibgarde für den Präsidenten sehen«.
Inzwischen hat Kabila nahezu sämtliche Ressourcen des Landes an internationale Konzerne
verscherbelt, nicht ohne sich selbst und seine Familie dabei zu bereichern. Zwischenzeitlich ging
Kabila mit Waffengewalt gegen Oppositionsführer Jean-Pierre Bemba vor, der heute im Exil in
Portugal lebt. Hunderte Oppositionelle wurden von Kabilas Sicherheitskräften massakriert, in deren
Vorzimmern EU-Militärberater saßen. Dennoch wird dieser Militäreinsatz, der von einer Mehrheit
der deutschen Bevölkerung abgelehnt wurde, mittlerweile von einigen Politikern der Linken als

                                                13
positives Beispiel (»Good Practice«) angeführt, um die Partei programmatisch für Militäreinsätze
der Bundeswehr zu öffnen.
Militarisierung der EU
Zur Militarisierung der deutschen Außenpolitik gehören auch die Bemühungen der
Bundesregierung, die Europäische Union mit einer eigenständigen, global einsatzfähigen
Streitmacht zu versehen. Die Bundesrepublik ist nicht nur mit 22 Prozent der größte Zahler für die
EU-Militäroperationen, sondern auch treibende Kraft des Militarisierungsprozesses. Seit 1998 geht
es Schlag auf Schlag. Nicht nur, daß die einzelnen Militarisierungsprojekte im EU-
Verfassungsvertrag, der jetzt unter dem Namen »Reformvertrag« den Bürgerinnen und Bürgern
erneut schmackhaft gemacht werden soll, festgeschrieben wurden. In der Tagespolitik machten die
Staats- und Regierungschefs bereits Nägel mit Köpfen. Meilensteine dieser »Militarisierung mit
Lichtgeschwindigkeit« (Javier Solana) waren 2004 die Einrichtung der EU-Rüstungsagentur und
2007 die Indienststellung der ersten von insgesamt bis zu 19 geplanten »Battle Groups«, die jeweils
1500 Soldatinnen und Soldaten umfassen und weltweit innerhalb von 15 Tagen einsetzbar sein
sollen.

Parallel zur Militarisierung der EU wird seit 1999 die NATO auf weltweite Interventionsfähigkeit
getrimmt. Von der Bündnisverteidigung als Aufgabe hat man mit der neuen NATO-Charta 1999
endgültig Abschied genommen. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist etwa ihre Schnelle
Eingreiftruppe, die NATO Response Force (NRF), die mittlerweile 25000 Soldaten umfaßt, davon
allein 7000 Angehörige der Bundeswehr. Ihr erstes Manöver fand denn auch außerhalb des NATO-
Gebiets 2006 auf den Kapverden statt. Von den 6500 Soldaten, die eine Invasion in einem
Wüstengebiet probten, waren ein Drittel Deutsche. Insgesamt trägt Deutschland über 18 Prozent des
NATO-Militärhaushalts und ist damit nach den USA und noch vor Frankreich und Großbritannien
der zweitgrößte Beitragszahler.

Die Interventionsstreitkräfte der EU und der NATO dienen der deutschen Außenpolitik inzwischen
als ganz »normales« politisches Instrument. Deutschland ist ein Hauptakteur der zunehmenden
weltweiten Militärinterventionen. Dies gilt im übrigen auch für symbolische Militäreinsätze mit nur
wenigen Soldatinnen und Soldaten. Die Linke muß sich dieser Entwicklung stellen. Die bisherigen
Forderungen nach einem Ende der EU-Militarisierung oder einer »Überwindung der NATO«
reichen nicht aus. Angesichts von EU-Aufrüstung und weltweiten NATO-Kriegseinsätzen oder auch
Kooperationen der NATO bei Folterflügen bedarf es eines kampagnenfähigen Aktionsprogramms.
Ein erster Schritt ist mit der Kampagne »Holt die Soldaten zurück« getan, die sich auf Afghanistan
bezieht.

Um der Militarisierung der deutschen Außenpolitik wirksam entgegenzutreten, muß man ihr die
Instrumente nehmen. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr müssen beendet werden, aber diese
Forderung muß mit der nach dem Ausstieg Deutschlands aus den militärischen Strukturen von EU
und NATO, insbesondere mit Blick auf die Ausrichtung auf globale Militäreinsätze, untermauert
werden. Krieg als Mittel der Politik ist auf jeder Ebene konsequent abzulehnen, egal in welchem
Mäntelchen er daherkommt. Eine Debatte um die programmatische Verankerung dieser
friedenspolitischen Forderungen in der Partei Die Linke ist notwendig.

                                                14
http://internationalersozialismus.de/index.php?option=com_content&task=view&id=180&Itemid=3
2
Abzug am Sankt-Nimmerleins-Tag?
DIE LINKE fordert den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Wie Union, SPD und Grüne
dazu stehen, analysiert Frank Eßers. Dass es bei den Einsätzen nicht um Frieden und
Demokratie geht, sondern um geostrategische und wirtschaftliche Interessen, beschreibt der
Autor ebenfalls.

Alle Statements zu Afghanistan, die aus konservativen und liberalen Kreisen kommen und seitens
der Führung der Sozialdemokratie und der Grünen gemacht werden, haben eines gemeinsam: Sie
enthalten die Behauptung, dass erst "Sicherheit" in Afghanistan geschaffen werden müsse, bevor ein
Abzug der Truppen möglich sei.
Leider hat kürzlich auch der LINKE-Europapolitiker Andre Brie in einem Spiegel-Interview eine
ähnliche Position vertreten 1. Er sagte, dass ein Abzug noch keines der Probleme des Landes löse
und die LINKE deshalb Alternativen entwickeln und für Afghanistan Verantwortung übernehmen
müsse.
Faktisch läuft diese Position, genau wie andere so genannte Exitstrategien, darauf hinaus, dass
     • die Probleme in Afghanistan größer werden und das Blutvergießen zunehmen wird.
     • der Abzug der Besatzer auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.
Der ehemalige Verteidigungsminister Struck (SPD) sprach einige Zeit nach der Entsendung
deutscher Soldaten nach Afghanistan im Jahr 2002 davon, dass die Bundeswehr etwa 10 Jahre im
Land bleiben müsse. Im Frühjahr 2007 nannte sein Amtsnachfolger Jung (CDU) einen Zeitraum bis
zu 15 Jahren. Schon dieses Hinausschieben des Zeitpunktes für einen Abzug deutet darauf hin, dass
ein Ende der Besatzung nicht in Sicht ist, wenn es nach dem Willen der Regierenden geht. Das ist
auch kein Wunder, denn der Afghanistanfeldzug hat die Lage der Bevölkerung nicht verbessert. Die
Besatzer versuchen vergeblich, die Kontrolle zu behalten.
Was Union, führende Sozialdemokraten und Grüne nicht zur Kenntnis nehmen und Andre Brie
offenbar nicht in den Kopf will, ist die Tatsache, dass die Besatzung die Probleme in Afghanistan
mit jedem Tag verschärft – und deshalb auch der Widerstand zunimmt:

Art des Angriffs:               Im Jahr 2005:        Im Jahr 2006:
Selbstmordattentate             27                   139
Straßenbomben                   783                  1677
Direkte Angriffe               1588                  4542
(leichte Waffen, Granaten etc)
Quelle: New York Times vom 17.01.2007

Nicht die Besatzer schaffen die Voraussetzungen für Sicherheit, sondern die Lösung der Probleme
ist erst möglich, wenn die Besatzer abgezogen sind. Union und die Führungen von SPD und Grünen
stellen die Realität auf den Kopf.
Christine Buchholz, Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der Partei DIE LINKE sagt deshalb
zu Recht: "Der sofortige Abzug der ausländischen Truppen ist eine Voraussetzung für effektive
Hilfsmaßnahmen und die Entwicklung einer wirklich demokratischen Gesellschaft." 2
Sie befindet sich mit ihrer Position im Einklang mit der Friedensbewegung. In einer
Pressemitteilung vom 25. Juli stellt der Bundesausschuss Friedensratschlag fest: "Hilfe kommt nicht

                                                15
von Tornados oder aus Bomben und Raketen. Hilfe kommt allein von zivilen Maßnahmen, die
heute schon erfolgreich in Gegenden durchgeführt werden, wo sich keine Besatzungstruppen
befinden, wie beispielsweise die 'Kinderhilfe Afghanistan' immer wieder betont." 3
Die Interessen der deutschen Herrschenden
Der ehemalige Staatssekretär des Bundesverteidigungsministeriums Professor Lothar Rühl nennt
fünf Aspekte der strategischen Interessen der deutschen herrschenden Klasse 4. Das Verständnis
dieser Interessen ist nötig, um Exitstrategien beurteilen zu können:
I. Deutschland könne seine Interessen nur in einem euro-atlantischen Bündnis vertreten. Ein
Ausbruch aus der militärpolitischen Allianz Nordatlantikpakt sei "ausgeschlossen". Das
Engagement der Bundeswehr in Afghanistan sei auch "eine politische Kompensation für die
Nichtbeteiligung im Irak". Eine Einschränkung der deutschen Beteiligung am "Krieg gegen Terror"
sei "zumindest schwierig und wahrscheinlich politisch wie finanziell kostspielig." Verklausuliert
argumentiert Rühl, dass eine Niederlage der NATO in Afghanistan auch eine Niederlage für
Deutschland sei. Wie die USA haben Deutschlands Herrschende (und die anderer EU-Staaten) ein
Interesse an "der Stabilität im weiteren Mittleren Osten und Zentralasien, die eine Stabilisierung
Afghanistans voraussetzt."

II. Deutschland wollte laut Rühl nach dem militärischen Schlag der USA nach dem Terroranschlag
auf das World Trade Center im Jahr 2001 ein "friedliches ziviles Gegenstück zur Ergänzung und
psychologischen Beschwichtigung nicht nur der afghanischen Bevölkerung und der Nachbarn,
sondern auch des islamischen Orients als Ganzem beigeben." Damit diese Methode glaubwürdig
erscheint, sei ein Erfolg in Afghanistan nötig. Diese Sorge ist berechtigt. Das offensive Vorgehen
der US-amerikanischen Neokonservativen zur Neuordnung des Nahen Ostens, Zentralasiens und
der ölreichen Region am Kaspischen Meer hat für neue Instabilitäten gesorgt und eine neue
Rüstungsspirale in Gang gesetzt. Allerdings ist es der EU nicht gelungen, für "Beschwichtigung" zu
sorgen. In Afghanistan lässt sich beobachten, dass sie sich stattdessen tiefer in den Krieg verstrickt.
Die EU hat den Neokonservativen nichts entgegen zu setzen. Die gemeinsamen Interessen an
weltweitem Zugang zu billigen Rohstoffen sind stärker als die Differenzen.

III. Deutschland habe zudem ein Interesse an einer "hervorgehobenen internationalen Rolle." Die
internationale Stellung und "der Einfluss Deutschlands machen nicht nur das frühere wirtschaftlich-
finanzielle Engagement nötig, sondern ebenso ein militärisches und ein politisches", schreibt Rühl.
Man kann es auch kürzer sagen: Es gibt nur "zwei Währungen auf der Welt: wirtschaftliche Macht
und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen." Das sagte 1993 Klaus Naumann, mittlerweile
General a.D. Naumann war zwischen 1991 und 1998 Generalinspekteur der Bundeswehr. Zwischen
1996 und 1999 war er Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, der obersten militärischen
Instanz des Bündnisses.

IV. Der vierte Aspekt ist laut Rühl die Sicherung weltweiter wirtschaftlicher Interessen. Das seien
zum Beispiel die Sicherheit des Luftverkehrs und der Seeschifffahrt, "von der Deutschland für 80
Prozent seines Außenhandels abhängt." Hinzu komme die Abhängigkeit Deutschlands von der
massiven Einfuhr von Erdöl und Erdgas, "also eine Abhängigkeit vom weiteren Mittleren Osten von
Nordafrika über den Golf zum kaspischen Becken, zunehmend auch vom schwarzen Afrika." Da
sich die Konkurrenz um die "Petro-Ressourcen" wegen der steigenden Nachfrage Chinas und
Indiens "zu Lasten Europas" verschärft, müsse Deutschland auch militärisch aktiv sein, um Einfluss
geltend machen zu können. "Um die Energieeinfuhrsicherheit und die Sicherheit des Seeverkehrs
mit Tankern wie der Überland-Leitungen durch krisengeschütteltes Gebiet zu gewährleisten, bedarf
es weiträumig mobiler und flexibler militärischer Kapazitäten", so Rühl weiter.

                                                  16
V. Besonders klassisch für das Zirkelschlussdenken der Herrschenden ist Rühls Benennung des
fünftes Aspektes. Weil die Lage in Afghanistan seit 2003 jedes Jahr schlechter werde, könne die
NATO "nicht einfach einen Schlussstrich ziehen und das Feld räumen". Das würde laut Rühl zu
einer Katastrophe führen. Erst müssten die "militanten Islamisten" zurückgeschlagen und die
Bevölkerung gewonnen werden. Doch die Erreichung dieser Ziele stellt Rühl im selben Artikel in
Frage: "Es ist auch 2007 weiter höchst unsicher und tatsächlich fragwürdig", scheibt er, "ob diese
'selbst tragende Stabilität' in absehbarer Zeit zustande kommen kann." Noch offener als Rühl kann
man eigene Hilflosigkeit nicht zur Schau stellen: Wegen der Besatzung verschlechtert sich die Lage
in Afghanistan. Aber um die Truppen abziehen zu können, müssten die Besatzer erst die Lage
bessern.
Union: "Nachdenken über Abzug ist unverantwortlich"
Welche Strategien für einen Truppenabzuges gibt es? Aus den Reihen führender Unionspolitiker
wird die Frage lapidar beantwortet: Es gäbe keine. Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des
Auswärtigen Ausschusses sagte anlässlich eines Antrages der LINKEN zum Tornado-Einsatz:
"Dieser Antrag ist unverantwortlich, auch wenn Sie hineingeschrieben haben, dass Sie eine
'verantwortliche Exitstrategie' wollen. Eine solche Strategie gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Allein das Nachdenken darüber ist unverantwortlich. Dieser Antrag ist unverantwortlich, weil er das
Signal aussendet, wir könnten Afghanistan möglicherweise im Stich lassen." 6
Sein Argument gegen den Antrag der LINKEN: "Die Fraktion Die Linke beantragt, Afghanistan
sich selbst zu überlassen. Sie beantragen, die Fehler zu wiederholen, die nach dem Abzug der
Sowjetunion aus Afghanistan gemacht worden sind. Sie beantragen, eine Situation herbeizuführen,
die in Afghanistan eher über kurz als über lang wieder zu einem Bürgerkrieg führen würde. Sie
wollen die Voraussetzungen dafür geschaffen sehen, dass Afghanistan endgültig ein Failed State
wird, ein Rückzugs-, Ruhe- und Ausbildungsraum für Terroristen, wie Afghanistan es vor dem
Einsatz war." 7 [Hervorhebung von mir, F.E.]
In der Tat kann niemand vorhersehen, was nach einem Abzug der Besatzer geschehen wird. Aber
merkwürdig blind ist Polenz gegenüber der Tatsache, dass die sowjetische Besatzung - mit
tatkräftiger Nachhilfe durch die USA - genau die Lage herbei geführt hat, die Polenz feststellt: dass
Afghanistan erst einen schrecklichen Bürgerkrieg zwischen den Warlords (den Mujaheddin-
Führern) durchgemacht und danach von den Taliban kontrolliert wurde.
Ziel der USA war es, die UdSSR zu destabilisieren, in dem sie den Mujaheddin-Widerstand
unterstützten. Damit hatten sie auch Erfolg. Die Mujaheddin wiederum lieferten sich nach dem
Abzug der sowjetischen Besatzer mehrere Jahre lang einen blutigen Bürgerkrieg, der auch zur
weitgehenden Zerstörung der Hauptstadt Kabul führte.
Um 1993 formierten sich mit Unterstützung durch Pakistan, Saudi-Arabien und die USA die
Taliban. 1996 nahmen sie Kabul ein und kontrollierten ein Jahr später drei Viertel des Landes. Als
sie den Interessen der USA zunehmend im Weg standen, lieferte der Terroranschlag auf das World
Trade Center den Anlass, die Taliban zu beseitigen und den Einfluss der USA in der Region
auszubauen.
Winfried Wolf beschreibt in einem 2002 erschienenen Buch die Hintergründe des
Afghanistanfeldzuge 8: In Zentralasien lagern die zweitgrößten Öl- und Ergasvorräte der Welt. Das
Problem für die USA: In der Region kämpfen Russland, China und Iran um Macht. Alle drei sehen
die USA als ihre Feinde. Die USA waren bestrebt, in der Region Fuß zu fassen.
Doch im Sommer 2001 konnte Russland wieder an Einfluss gewinnen. Die USA entschlossen sich
deshalb, andere Mittel zu ergreifen. Der Anschlag am 11. September ermöglichte das: Beseitigung
des instabilen und unzuverlässigen Taliban-Regimes und der Aufbau von US-Militärbasen in
Zentralasien. Ergebnis: Der Iran ist eingekreist, Chinas Zugang nach Westen abgeschnitten und das

                                                 17
Sie können auch lesen