Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens
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Prof. Dr. Felix Dasser / Michael Frey Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens Mit der Revision des LugÜ stellen sich übergangsrechtliche Probleme, welche für einen Be- klagten in der Praxis teilweise unerwartete Folgen nach sich ziehen können. Bei gewissen Konstellationen sieht das revidierte LugÜ eine wesentlich erleichterte Anerkennung und Voll- streckung von Entscheidungen aus bereits seit längerem laufenden Verfahren vor. Das dem LugÜ zugrunde liegende Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Justizsysteme kann dabei ge- rade bei Entscheidungen aus den neuen EU-Staaten schwierige Situationen bewirken, bei denen die Schweizer Vollstreckungsgerichte gefordert sein werden. Rechtsgebiet(e): Beiträge; Europäisches Privatrecht; Zivilprozessrecht Zitiervorschlag: Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano- Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 ISSN 1424-7410, www.jusletter.ch, Weblaw AG, info@weblaw.ch, T +41 31 380 57 77
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 Inhaltsübersicht EuGH vom 7. Februar 20062 über die bis dahin umstrittene I. Die Revision des LugÜ Abschlusskompetenz der EU wurde die EU einziger LugÜ- II. Übergangsrechtliche Regelung in Art. 63 revLugÜ Vertragspartner gegenüber den Nicht-EU-Staaten Schweiz, 1. Direkte Zuständigkeit Norwegen und Island sowie gegenüber Dänemark, das dies- 2. Anerkennung und Vollstreckung bezüglich im EU-Recht eine Sonderstellung einnimmt.3 Da- 2.1. Urteilszeitpunkt vor Inkrafttreten des revLugÜ 2.2. Urteilszeitpunkt nach Inkrafttreten des revLugÜ mit werden automatisch auch sämtliche künftigen Mitglieds- 2.3. Das Jahr 2010 im Besonderen staaten der EU an das Übereinkommen gebunden. Die hier III. Intertemporale Anerkennungserleichterung diskutierten übergangsrechtlichen Stolpersteine werden sich 1. Fehlerhafte Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks bei solchen neuen EU-Staaten wiederum stellen. 1.1. Erfordernis der ordnungsgemässen Zustellung nach Art. 27 Nr. 2 aLugÜ 1.2. Hinreichende Kenntnis nach Art. 34 Nr. 2 revLugÜ [Rz 3] Einzige Vertragspartei des aLugÜ, für welche das re- 1.3. Übergangsrechtliche Folgen der erleichterten Anerkennungsfähigkeit vidierte Übereinkommen bisher noch nicht in Kraft getreten 2. Nachträgliche indirekte Zuständigkeit neuer LugÜ-Staaten ist, ist Island. Mittlerweile hat Island das revLugÜ ratifiziert IV. Gerichtsstandsvereinbarungen und wird am 1. Mai 2011 in Kraft treten. Bis dahin bleibt für 1. Ungültigkeit bisher gültiger Gerichtsstandsvereinbarungen die Schweiz im Verhältnis zu Island noch immer das aLugÜ 2. Gültigkeit bisher ungültiger Gerichtsstandsvereinbarungen massgebend. In der Folge wird bei der Beurteilung über- V. Schlussfolgerung gangsrechtlicher Fragen diese intertemporale Besonderheit in der Beziehung zu Island ausser Acht gelassen. I. Die Revision des LugÜ [Rz 1] Am 1. Januar 2011 ist nicht nur die Schweizerische Zi- II. Übergangsrechtliche Regelung in vilprozessordnung in Kraft getreten; auch das internationale Verfahrensrecht erfuhr mit dem Inkrafttreten des revidierten Art. 63 revLugÜ Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in 1. Direkte Zuständigkeit Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (Lugano- [Rz 4] Art. 63 Abs. 1 revLugÜ hält den Grundsatz der Nicht- Übereinkommen, revLugÜ; SR 0.275.12) gleichzeitig eine Rückwirkung fest.4 Die Zuständigkeitsregeln des revLugÜ wesentliche Änderung. Damit stellen sich übergangsrechtli- sind nur auf solche Klagen anzuwenden, die nach dessen che Fragen, welche die Schweizer Gerichte in den nächsten Inkrafttreten im Ursprungsstaat erhoben worden sind. Uner- Monaten und Jahren noch wiederholt beschäftigen werden heblich ist insoweit der Zeitpunkt der Verfahrenserledigung.5 – zum einen weil viele unter dem alten Recht eingeleitete Bereits an einem nach aLugÜ örtlich zuständigen Gericht an- Verfahren erst unter neuem Recht in das Stadium der Aner- gehobene Klagen werden weitergeführt, diesbezüglich greift kennung und Vollstreckung gelangen werden, zum andern also eine perpetuatio fori. weil das «alte» Lugano-Übereinkommen vom 16. Septem- ber 1988 (aLugÜ; SR 0.275.11) in gewissen Konstellationen [Rz 5] Zur Beurteilung der Frage, wann eine Klage als er- vorerst noch weiter gilt. Dieser Beitrag untersucht einige hoben i.S.v. Art. 63 revLugÜ gilt, stehen grundsätzlich zwei praktisch relevante Aspekte solcher übergangsrechtlicher Möglichkeiten zur Verfügung: Der Begriff «erhoben» kann Fälle, die nicht unbedingt offensichtlich sind und die teilwei- einerseits vertragsautonom ausgelegt werden, andererseits se durchaus auch zu negativen Überraschungen führen kön- kann auf die lex fori abgestellt werden. Letzteres wird mit nen. Insbesondere bewirkt das revLugÜ in zahlreichen Fäl- einer Übereinkommens-Lücke begründet, die nach natio- len eine rückwirkende Anerkennungserleichterung, die nicht nalem Recht (lex fori) zu füllen sei.6 Dazu besteht aber kein allen Beteiligten bewusst sein dürfte. zwingender Anlass; vielmehr hat sich der Rückgriff auf nati- onales Recht für die analoge Frage des Eintritts der Rechts- [Rz 2] Eine für die Praxis gewichtige Änderung im revLugÜ hängigkeit unter Art. 21 aLugÜ als äusserst unbefriedigend beschlägt den erweiterten räumlichen Anwendungsbereich. Erfasst wird insbesondere das gesamte Territorium der EU, also auch die elf Staaten (ohne Polen, das bereits Mitglied- staat des aLugÜ war), welche im Rahmen der Osterweite- Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern. 4 Vertrags- staaten des revLugÜ: Dänemark, Island (Inkrafttreten am 1. Mai 2011), rung seit 2004 resp. 2007 (Bulgarien und Rumänien) zur EU Norwegen, Schweiz. stiessen. Der Geltungsbereich des Lugano-Raums umfasst 2 Gutachten 1/03 des EuGH vom 7. Februar 2006, Slg. I 2006, 1145 ff. mit den im Rahmen der EU-Osterweiterung beigetretenen 3 Vgl. Botschaft zum revLugÜ, BBl 2009,1784 f. Staaten nun 30 Länder.1 Aufgrund eines Gutachtens des 4 So auch schon das aLugÜ, vgl. dazu S chwander , I vo, Zeitlich gestaffelte Anwendbarkeit des Lugano-Übereinkommens, AJP 1992, 1145 ff., 1145. 1 15 Vertragsstaaten des aLugÜ: Belgien, Deutschland, Finnland, Frank- 5 D omej , in: Dasser /O berhammer , Kommentar zum Lugano-Übereinkommen reich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Öster- (LugÜ), Bern 2008, Art. 54 N 2. reich, Polen, Portugal, Schweden, Spanien, Vereinigtes Königreich. 11 6 S taudinger , in: R auscher , Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, neu hinzugetretene Staaten: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, München 2011, Art. 66 N 2. 2
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 erwiesen.7 Bei einer autonomen Auslegung stellt sich die Fra- Sicht dürfte dabei die Einleitung eines Schlichtungsverfah- ge, ob auf Art. 30 revLugÜ zurückzugreifen ist, oder ob eine rens nach Art. 197 ff. ZPO genügen.11 eigenständige Regelung gefunden werden muss. Art. 30 rev- [Rz 8] In der Schweiz ist der massgebende Zeitpunkt für die LugÜ wurde im Zuge der Revision neu eingefügt und regelt Bestimmung der Zuständigkeitsregeln der 1. Januar 2011, den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit autonom, indem er auf d.h. die Beurteilung der Zuständigkeit sämtlicher Klagen, die einen möglichst frühen Zeitpunkt abstellt.8 nach diesem Datum im Sinne der obigen Ausführungen beim [Rz 6] Gegen ein Abstellen auf Art. 30 revLugÜ spricht der Gericht erhoben worden sind und die in den Anwendungs- an sich klare Wortlaut der Bestimmung, der den Geltungs- bereich des revLugÜ fallen, richtet sich nach dem revLugÜ. bereich nur für «die Zwecke dieses Abschnitts» vorsieht, worunter Art. 63 revLugÜ nicht fällt. Ausserdem könnte die 2. Anerkennung und Vollstreckung leicht anders lautende Begriffsbezeichnung (Art. 30 revLu- gÜ spricht von «angerufen», Art. 63 revLugÜ von «erhoben» 2.1. Urteilszeitpunkt vor Inkrafttreten des revLugÜ bzw. «aufgenommen») gegen einen Rückgriff auf Art. 30 rev- LugÜ sprechen. Bei näherer Betrachtung scheint es jedoch [Rz 9] Betreffend die Anerkennung stellt sich die Rechtslage trotzdem sinnvoll zu sein darauf abzustellen. Zum einen ist etwas komplizierter dar. Damit ein Entscheid überhaupt nach es gesetzessystematisch naheliegend, Art. 30 LugÜ nicht dem revLugÜ anerkannt und vollstreckt werden kann, muss einfach auszublenden – insbesondere ist nicht einleuchtend, der Entscheid im Ursprungsstaat (Urteilsstaat) nach Inkraft- weshalb die Anwendbarkeit von Art. 30 revLugÜ auf den 9. treten des revLugÜ ergangen sein. Andernfalls richtet sich Abschnitt eingeschränkt werden soll –, zum anderen spricht ein Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren wie vor der Art. 30 revLugÜ z.B. in der englischen Fassung einheitlich Revision nach Art. 26 ff. aLugÜ bei aLugÜ-Vertragsstaaten von «instituted», was die Problematik des unterschiedlichen resp. nach Art. 25 ff. IPRG bei einem Urteil aus einem Nicht- Wortlauts zumindest relativiert.9 Unterschiedliche Wörter für vertragsstaat des aLugÜ. Dies ergibt sich aus Art. 63 revLu- denselben Begriff werden im LugÜ auch anderswo verwen- gÜ e contrario. det. Berühmt geworden ist insbesondere der (bloss) sprach- [Rz 10] Wann eine Entscheidung12 als «erlassen» gilt, be- liche Unterschied zwischen «rechtshängig» und «anhängig» stimmt sich nach der lex fori des Urteilsstaats.13 Irrelevant ist im Titel vor bzw. im Text von Art. 21 aLugÜ, der zu einem dabei der Zeitpunkt der formellen Rechtskraft. Massgebend EuGH-Verfahren führte.10 Nach Sinn und Zweck von Art. 30 dürfte in der Regel die Verkündung bzw. Zustellung des Ur- revLugÜ sollte sich somit der Eintritt der Rechtshängigkeit im teils sein.14 ganzen LugÜ konsequent nach dieser Bestimmung richten. [Rz 7] Art. 30 revLugÜ stellt einerseits auf den Zeitpunkt 2.2. Urteilszeitpunkt nach Inkrafttreten des revLugÜ ab, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein [Rz 11] Ist ein Entscheid nach Inkrafttreten des revLugÜ im gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht worden Ursprungsstaat ergangen, kommt Art. 63 revLugÜ zum Zuge. ist, sofern der Kläger die zur Fortführung des Verfahrens Dabei ist zwischen verschiedenen Fallgruppen zu differen- obliegenden Massnahmen trifft (Nr. 1). Andererseits ist der zieren. In Art. 63 Abs. 1 revLugÜ wird zunächst der eigent- Zeitpunkt des Erhalts der für die Zustellung verantwortlichen lich selbstverständliche Grundsatz festgehalten, dass Ent- Stelle massgebend, wenn das Schriftstück dem Beklagten scheide im Vollstreckungsstaat nach den Art. 32 ff. revLugÜ vor Einreichung beim Gericht zuzustellen ist (Nr. 2). Mit dieser anerkannt oder vollstreckt werden, sofern das revLugÜ bei Regelung soll ein möglichst früher Zeitpunkt für den Eintritt Klageeinleitung sowohl im Ursprungs- wie auch im Vollstre- der Rechtshängigkeit gewährleistet werden. Aus Schweizer ckungsstaat bereits in Kraft getreten war.15 Die Vollstreckung 11 Vgl. obiter dictum in Urteil des Bundesgerichts 4A_143/2007 vom 6. Juli 7 Vgl. Dasser , in: Dasser /O berhammer , a.a.O., Art. 21 N 42 ff. mit Verweisung 2007 E. 3.5; dazu Dasser , F elix , Die Rechtshängigkeit gemäss ZPO und re- auf EuGH v. 17. Januar 1980, Rs. 129/83, Zelger/Salinitri. vidiertem Lugano-Übereinkommen, in: K ren K ostkiewicz /M arkus /Rodriguez , 8 G eimer /S chütze , Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., München Internationaler Zivilprozess 2011, Bern 2010, 95 ff., 107 ff. (dort insb. 2010, Art. 30 N 8. auch zu den möglichen Fragezeichen aus ausländischer Sicht). 9 Gl.M. zur parallelen Regelung von Art. 66 EuGVVO: G eimer /S chütze , a.a.O., 12 Für den Begriff der Entscheidung ist auf die Legaldefinition in Art. 32 rev- Art. 66 N 2; M agnus /M ankowski -M ankowski, Brussels I Regulation, Art. 66 LugÜ abzustellen. N 6; K ropholler / von H ein , Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., Frank- 13 K ropholler / von H ein , Europäisches a.a.O., Art. 66 N 4; S taudinger , in: R au - furt a.M. 2011, Art. 66 N 2 mit Hinweisen auf weitere Fundstellen. scher , a.a.O., Art. 66 N 10. 10 EuGH v. 17. Januar 1980, Rs. 129/83, Zelger/Salinitri, dazu Dasser , in Das - 14 Bspw. in der Schweiz nach der jeweiligen damals anwendbaren kantonalen ser /O berhammer , a.a.O., Art. 21 N 43 ff. Das deutsche Prozessrecht unter- ZPO oder in Deutschland § 310 Abs. 2, 3 D-ZPO. scheidet anders als das LugÜ zwischen Anhängigkeit und Rechtshängig- 15 Im Gegensatz zu Art. 66 Abs. 1 EuGVVO und Art. 63 Abs. 2 revLugÜ lässt keit. Ferner verwendete Art. 22 aLugÜ ebenfalls den Ausdruck «erhoben» die Formulierung in Art. 63 Abs. 1 revLugÜ keine Zweifel offen, ob das rev- für rechtshängig machen (der umformulierte Art. 28 revLugÜ spricht nun LugÜ ebenfalls im Vollstreckungsstaat in Kraft getreten sein musste, vgl. von «anhängig»). dazu B ecker , M ichael /M üller , K arla , Intertemporale Urteilsanerkennung 3
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 eines ausländischen Entscheids in der Schweiz richtet sich nach dem Titel III des revLugÜ anerkannt und vollstreckt somit gemäss Art. 63 Abs. 1 revLugÜ jedenfalls nach den werden. Wird dieses Urteil im Ursprungsstaat aber weiterge- Bestimmungen des revLug, wenn das zugrunde liegende zogen und ergeht nach dem 1. Januar 2011 ein zweitinstanz- Verfahren nach dem 1. Januar 2011 erhoben worden ist. liches Urteil, so kann dieses aufgrund von Art. 63 revLugÜ nach den erleichterten Vorschriften des revLugÜ anerkannt [Rz 12] Ist ein Entscheid zwar nach Inkrafttreten des revLugÜ und vollstreckt werden. Unterliegt also z.B. ein Schuldner gefällt, das zugrundeliegende Verfahren jedoch vor diesem mit Wohnsitz in der Schweiz in einem erstinstanzlichen Ent- Zeitpunkt erhoben worden, kann das revLugÜ und sein Ti- scheid, der aufgrund der bisherigen Rechtslage nicht aner- tel III darüber hinaus allenfalls über Art. 63 Abs. 2 revLugÜ kennungsfähig war, so könnte ein Weiterzug an eine obere zur Anwendung gelangen. Diese Bestimmung birgt eine ge- Instanz eine entscheidende Verschlechterung seiner Rechts- wisse Brisanz in sich: Sie statuiert eine Rückwirkung der li- position bewirken. beraleren Anerkennungs- und Vollstreckungsbestimmungen des revLugÜ auf früher eingeleitete Verfahren in zwei prak- tisch äusserst wichtigen Fallgruppen. Zunächst werden Ent- 2.3. Das Jahr 2010 im Besonderen scheide in Verfahren, die vor Inkrafttreten des revLugÜ erho- [Rz 15] Art. 63 Abs. 2 revLugÜ spricht nur von «vor Inkrafttre- ben, aber nach diesem Zeitpunkt entschieden worden sind, ten dieses Übereinkommens» bzw. «nach diesem Zeitpunkt», ebenfalls nach neuem, liberaleren Recht anerkannt, sofern präzisiert aber anders als Abs. 1 nicht, ob dies für Ursprungs- das aLugÜ sowohl im Ursprungsstaat als auch im Vollstre- wie für Vollstreckungsstaat gilt. Bei der EuGVVO schadet ckungsstaat bei Klageerhebung bereits in Kraft war (lit. a). In diese unpräzise Formulierung angesichts des einheitlichen diesen Fällen erlaubt das revLugÜ also grundsätzlich keine Inkrafttretenszeitpunkts nicht direkt; durch die zwischenzeit- Überprüfung der indirekten internationalen Zuständigkeit, da lichen Osterweiterungen stellen sich aber auch beim paral- von der Gleichwertigkeit der unter dem aLugÜ ergangenen lelen Art. 66 EuGVVO ähnliche Fragen.19 Das revLugÜ trat Entscheidungen ausgegangen wird.16 hingegen für die EU sowie Dänemark und Norwegen am 1. Januar 2010, für die Schweiz aber erst am 1. Januar 2011 (Is- [Rz 13] Art. 63 Abs. 2 lit. b revLugÜ erfasst alle übrigen Ver- land am 1. Mai 2011) in Kraft. Dieser Umstand erfordert eine fahren, d.h. bei welchen das aLugÜ bei Klageerhebung ent- Auslegung der Übergangsvorschrift von Art. 63 Abs. 2 rev- weder im Ursprungs- oder im Vollstreckungsstaat (oder in LugÜ, da aus dem Wortlaut nicht klar hervorgeht, ob im Er- beiden) noch nicht oder gar nie in Kraft gewesen ist. Diese lasszeitpunkt des Entscheids auf das Inkrafttreten sowohl im wichtige Bestimmung unterstellt solche Verfahren ebenfalls Ursprungs- wie auch im Anerkennungsstaat abzustellen ist, den Anerkennungs- und Vollstreckungsvorschriften des rev- oder ob das revLugÜ bloss im Ursprungsstaat in Kraft sein LugÜ, wenn das Gericht aufgrund von Vorschriften zuständig muss. Letztere Alternative hätte zur Folge, dass Urteile eines war, die mit Art. 2–31 des revLugÜ oder mit einem anderen ausländischen Staates in der Schweiz nach den erleichter- Staatsvertrag, der im Zeitpunkt der Klageerhebung zwischen ten Anerkennungsvorschriften des revLugÜ zu anerkennen den beteiligten Staaten Gültigkeit hatte,17 übereinstimmen. und vollstrecken sind, obwohl mit dem betreffenden Staat im Anders als bei lit. a kann das Vollstreckungsgericht bei lit. b Erlasszeitpunkt des Entscheids noch kein Staatsvertrag be- immerhin die indirekte internationale Zuständigkeit generell standen hat bzw. das revLugÜ noch nicht in Kraft gewesen überprüfen, muss dies jedoch nach den Zuständigkeitsvor- ist. Gegen ein alleiniges Abstellen auf das Inkrafttreten im Ur- schriften des revLugÜ (oder, ausnahmsweise, nach einem sprungsstaat spricht auch die Berücksichtigung von Art. 63 zwischen Ursprungs- und Vollstreckungsstaat bei Klageer- Abs. 1 revLugÜ, der für die Anerkennung und Vollstreckung hebung massgebendem Staatsvertrag) tun, also nicht nach später erhobener Klagen das Inkrafttreten des revLugÜ in dem nationalen Recht wie dem IPRG. Dies ist insofern prak- beiden Staaten verlangt. Gesetzessystematisch betrachtet tisch relevant, als das revLugÜ für die indirekte Zuständigkeit regelt Art. 63 revLugÜ in Abs. 1 die Übergangsregelung für insbesondere gegenüber Schweizer Beklagten viel grosszü- nach Inkrafttreten des revLugÜ eingeleitete Verfahren. giger ist als das IPRG.18 [Rz 16] Somit ist davon auszugehen, dass Abs. 2 die bis [Rz 14] Bei einem Instanzenzug kann tückischerweise die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des revLugÜ sowohl im Ur- massgebliche Rechtsgrundlage ändern: So kann ein vor sprungs- wie im Vollstreckungsstaat eingeleiteten Verfahren dem 1. Januar 2011 ergangenes erstinstanzliches Urteil nicht betrifft, also für das Verhältnis zur Schweiz nur solche Ver- fahren, die vor dem 1. Januar 2011 eingeleitet, aber erst nach und Art. 66 EuGVO, IPRax 2006, 432 ff., 433; K ropholler / von H ein , a.a.O., diesem Zeitpunkt entschieden worden sind.20 Art. 66 N 2a. 16 Vgl. P ocar , Fausto, Erläuternder Bericht zum revidierten LugÜ, ABl Nr. C 319/01 vom 23. Dezember 2009, Rz. 176. 19 Vgl. dazu insbesondere das hängige Vorlageverfahren EuGH Rs. C-514/10 17 Wie beispielsweise der Vertrag über die Anerkennung und Vollstreckung Wolf Naturprodukte/SEWAR bezüglich Auslegung von Art. 66 Abs. 1 EuG- gerichtlicher Entscheidungen zwischen der Schweiz und Tschechien so- VVO sowie weiterführend K ropholler / von H ein , a.a.O., Art. 66 N 2a ff.; S tau - wie der Slowakei (ehemalige Tschechoslowakei; SR 0.276.197.411). dinger , in: R auscher , a.a.O., Art. 66 N 16. 18 Vgl. insb. Art. 26 i.V.m. Art. 149 Abs. 2 IPRG. 20 Im Verhältnis zu Island entsprechend Verfahren, die nach dem 1. Mai 2011 4
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 III. Intertemporale Anerkennungserleich- statthaft, sofern der Bestimmungsstaat keinen Widerspruch dagegen erklärt (Art. 10 lit. a HZÜ). Die Schweiz hat einen terung ebensolchen Vorbehalt gegen sämtliche Zustellungsarten [Rz 17] Das revLugÜ macht einen wesentlichen Schritt in nach Art. 8-10 HZÜ – und damit gegen eine Zustellung per Richtung automatische und sofortige Anerkennung und Voll- Post – angebracht; eine Ausnahme besteht lediglich im Ver- streckung ausländischer Urteile. Für Schweizer Schuldner, hältnis zu Österreich, wo die Zustellung per Post zulässig die in einem Verfahren vor einem Gericht eines LugÜ-Staat ist, sofern nicht Zustellung in besonderer Form, namentlich unterlegen sind, wird es, praktisch betrachtet, eng. Zwei an den Empfänger persönlich, verlangt wird.26 Insbesondere Problemkreise seien herausgegriffen. Zum einen sind die Gerichte und Parteien in Nachbarstaaten übersehen dies oft Anerkennungsverweigerungsgründe enger gefasst worden. und stellen Gerichtsurkunden in die Schweiz per Post oder Zum andern ist der räumliche Anwendungsbereich erweitert sogar bloss per Fax zu. worden. [Rz 21] Dass eine Zustellung hoheitlicher Schriftstücke per Post oder auf anderem informellen Wege an einen Schweizer 1. Fehlerhafte Zustellung des verfahrensein- Beklagten grundsätzlich unzulässig ist, entspricht einhelliger leitenden Schriftstücks Lehre und Rechtsprechung.27 Das Gleiche galt auch im um- gekehrten Fall bei der Zustellung an ausländische Parteien.28 [Rz 18] Entscheidungen anderer Vertragsstaaten müssen Gemäss Art. 271 StGB macht sich sogar strafbar, wer für gemäss Art. 26 Abs. 1 aLugÜ im Inland grundsätzlich ohne eine ausländische Partei oder eine andere Organisation auf weiteres anerkannt werden.21 Vorbehalten blieben allerdings schweizerischem Gebiet ohne Bewilligung Handlungen vor- die Anerkennungsverweigerungsgründe in Art. 27 f. aLugÜ, nimmt, die einer Behörde oder einem Beamten zukommen; welche von Amtes wegen zu prüfen waren.22 Ein in der Pra- dies erfasst auch postalische Zustellungen aus dem Aus- xis wichtiger Verweigerungsgrund war das Fehler einer ord- land.29 Ausländische Gerichtsdokumente i.S.d. HZÜ sind auf nungsgemässen Zustellung nach Art. 27 Nr. 2 LugÜ. Dieser dem Rechtshilfeweg, also via Schweizer Gerichte, zuzustel- Verweigerungsgrund ist nun grundlegend revidiert worden. len. Direkte postalische Zustellung wird deshalb von Art. 271 StGB erfasst und pönalisiert beispielsweise einen Gläubiger, 1.1. Erfordernis der ordnungsgemässen Zustellung welcher dem Schuldner ein ausländisches Dokument über- nach Art. 27 Nr. 2 aLugÜ gibt, entsprechend.30 [Rz 19] Art. 27 Nr. 2 aLugÜ verlangte eine ordnungsgemässe [Rz 22] Die Folge einer nicht ordnungsgemässen Zustellung und rechtzeitige Zustellung, wobei das aLugÜ selbst keine war somit die Nichtvollstreckung eines späteren Urteils. Hat- eigenen Anforderungen an die Ordnungsmässigkeit stellte, te der Beklagte im Ausland, insbesondere im Urteilsstaat, sondern auf die lex fori des Urteilsstaats abstellte.23 Mass- kein Vermögen, so konnte er sich trotz Kenntnis vom aus- gebend war somit das vor dem Gericht des Urteilsstaats ländischen Verfahren beruhigt zurücklehnen.31 In einem anwendbare Recht einschliesslich der einschlägigen völker- späteren Anerkennungsverfahren vor einem Schweizer Ge- rechtlichen Verträge.24 richt konnte er einwenden, er sei nicht richtig geladen wor- [Rz 20] War der Urteilsstaat – wie alle Vertragsstaaten des den, womit dem Urteil die Anerkennung verweigert werden aLugÜ mit Ausnahme von Österreich25 – eine Vertragspartei musste. Folge dieser strengen Anerkennungsvorschrift war, des Haager Zustellungs-Übereinkommens von 1965 (HZÜ; dass die im Urteilsstaat geltenden Zustellungsvorschriften, SR 0.274.131), so beurteilte sich die Ordnungsmässigkeit einschliesslich jener des HZÜ, peinlich genau eingehalten i.S.v. Art. 27 Nr. 2 aLugÜ für Zustellungen ins Ausland nach werden mussten.32 diesem noch heute gültigen Staatsvertrag. Probleme bietet dabei regelmässig die direkte postalische Zustellung: Das Abkommen sieht zwar an sich vor, dass Urkunden den im 26 Vgl. Art. 1 Abs. 3 des Staatsvertrags mit Österreich (Fn. 25). Ausland befindlichen Beteiligten unmittelbar durch die Post 27 BGE 135 III 623 E. 2.2; Urteil des Bundesgerichts 5A_544/2007 vom 4. zugestellt werden können; diese Zustellungsart ist jedoch nur Februar 2008 E. 3.2.1; Volken , Paul , Die internationale Rechtshilfe in Zi- vilsachen, Zürich 1996, S. 40 Rz. 33 mit Hinweis auf den Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Österreich zur Ergänzung des HZÜ; ausführlich entschieden worden sind. Zur ähnlichen Frage unter Art. 66 EuGVVO, B ischof, Thomas P ius , Die Zustellung im internationalen Rechtsverkehr in S taudinger , in: R auscher , a.a.O., Art. 66 N 18b. Zivil- und Handelssachen, Diss. St. Gallen 1997, S. 176 ff. 21 Walther , in: Dasser /O berhammer , a.a.O., Art. 27 N 1. 28 Vgl. BGE 131 III 448 E. 2.2. 22 K ropholler / von H ein , a.a.O., vor Art. 33 N 6. 29 Vgl. Wegleitung des Bundesamtes für Justiz, Die internationale Rechtshil- 23 EuGH v. 3. Juli 1990, Rs. 305/88, Lancray/Peters, N 29. fe in Zivilsachen, 3.Aufl. (Stand Juli 2005), S. 13. 24 Vgl. Walther , in: Dasser /O berhammer , a.a.O., Art. 27 N. 47. 30 Vgl. BSK StGB-H opf, Art. 271 N 15, insb. auch das Beispiel in N 14. 25 Im Verhältnis zu Österreich gilt deshalb der Vertrag vom 26. August 1968 31 So auch das Verhalten der Beklagten in dem unter Fn. 23 genannten Ent- zur Ergänzung des Haager Übereinkommens vom 1. März 1954 betreffend scheid des EuGH. Zivilprozessrecht (SR 0.274.181.631). 32 L eible , in: R auscher , a.a.O., Art. 34 N 23. 5
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 1.2. Hinreichende Kenntnis nach Art. 34 Nr. 2 revLugÜ wohl nicht genügen. Ein eingeschriebener Brief («service of process») auf Englisch an den Englisch sprechenden und [Rz 23] Mit der Revision des LugÜ sollte diese Regelung eine mit englischen Gerichtsverfahren vertrauten Geschäftsführer gewisse Lockerung erfahren, um gemäss Botschaft eine eines Schweizer Grossunternehmens, der aus Vergleichs- perzipierte «Missbrauchsmöglichkeit» zu verhindern.33 Worin verhandlungen bereits im Detail Kenntnis über das drohende genau dieser Missbrauch liegen soll bzw. wie prävalent an- Verfahren hat, wohl schon. Zwischen solchen Extremen eine gebliche Missbräuche unter dem aLugÜ gewesen sein sol- Grenze zu ziehen ist nicht einfach. len, bleibt das Geheimnis der Verfasser der Botschaft. So- lange es formelle Vorschriften über die Zustellung gibt (und [Rz 26] Ein Ansatz ist eine gewisse Solemnität der Mitteilung diese werden ja gerade nicht abgeschafft oder erleichtert), zu fordern, die sich durch die Zustellungsform, den Inhalt und deren Einhaltung sogar noch strafrechtlich geschützt wird, durch den Absender der Mitteilung ergeben kann.37 Der Emp- kann die Berufung darauf grundsätzlich keinen Rechtsmiss- fänger muss nach Vertrauensschutz-Kriterien in der Lage brauch darstellen. Es geht denn auch nicht um Bekämpfung sein, die Bedeutung der Zusendung zu erkennen. Ein blosser von Missbräuchen in der Schweiz, sondern schlicht um we- Telefonanruf wird nicht genügen. Ein Brief oder auch ein Fax nig freiwillige Übernahme von EU-Recht. kann, muss aber nicht. Ein eingeschriebener Brief eines Ge- richts in einer dem Empfänger verständlichen Sprache wird [Rz 24] Art. 34 Nr. 2 revLugÜ verlangt neu nicht mehr eine so in der Regel genügen, der rumänische Fax an den des ordnungsgemässe Zustellung, sondern ermöglicht die Ver- Rumänischen unkundigen Altersheiminsassen nicht. Dieser weigerung der Anerkennung bloss noch, wenn das verfah- Ansatz ist verständlich, hat allerdings den Nachteil, dass eine renseinleitende Schriftstück «nicht so rechtzeitig und in ei- Einzelfallprüfung erforderlich ist und damit die Rechtssicher- ner Weise zugestellt worden ist, dass er [der Beklagte] sich heit leidet. verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die [Rz 27] Ein anderer Ansatz wird z.T. in Deutschland vertreten. Möglichkeit dazu hatte».34 Mithin ist massgebend, dass dem Danach muss Ordnungsgemässheit im Sinne der früheren Beklagten im Verfahrensstadium der Klagezustellung aus- Rechtslage noch insofern gewahrt bleiben, als eine ord- reichendes rechtliches Gehör gewährt wurde.35 Das HZÜ nungsgemässe Zustellung zumindest im Ansatz vorliegt.38 ist zwar nach wie vor in Kraft und die Art der Zustellung hat Mitteilung durch einfachen Brief oder Einschreiben ohne sich grundsätzlich nach dem Übereinkommen zu richten. Für Rückschein qualifiziere nicht als Zustellung i.S.v. Art. 34 Nr. 2 die Anerkennung eines ausländischen Entscheids ist jedoch revLugÜ und genüge daher a priori nicht. Dagegen seien ge- nicht mehr Ordnungsmässigkeit – und damit eine Zustellung ringe Abweichungen von den Formalitäten, wie das Fehlen nach dem HZÜ – gefordert; relevant ist nunmehr alleine die einer Übersetzung, wenn der Empfänger die Sprache des effektive Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte des Be- Dokuments versteht, oder Fehler bei Ort und Zeit der Zustel- klagten durch die mangelhafte Zustellung.36 lung lässlich.39 Solche minderen Fehler würden die genügen- de Verteidigungsmöglichkeit i.S.v. Art. 34 Nr. .2 revLugÜ nicht [Rz 25] Fraglich ist nun allerdings, was dies in der Praxis be- verhindern. Diese Auslegung führt zwar in manchen Fällen deutet. Bisher bestand ein klares formales Kriterium: Entwe- zu einer einfachen Rechtsanwendung. Es ist aber fraglich, der war das verfahrenseinleitende Schriftstück dem Schwei- ob sie Sinn und Zweck von Art. 34 Nr. 2 LugÜ entspricht. zer Beklagten auf dem Rechtshilfeweg über die Schweizer Immerhin werden sehr informelle Mitteilungen regelmässig Gerichte zugestellt worden und das Verfahren somit grund- auch am Kriterium der Solemnität scheitern, so dass die bei- sätzlich ordnungsgemäss eingeleitet, oder eben nicht. Neu den Ansichten oft zum gleichen Ergebnis führen werden. gilt anstelle dieses qualitativen ein quantitatives Kriterium. Es ist offensichtlich, dass nicht jede Zustellung genügen kann. [Rz 28] Auch in Betracht zu ziehen wäre die Möglichkeit, dass Ein überraschender Fax aus Rumänien auf Rumänisch an die Verletzung der Zustellungsvorschrift nicht unter Art. 34 einen Insassen eines Altersheims ohne Fremdsprachen- Nr. 2 revLugÜ subsumiert wird, sondern gegen den verfah- kenntnisse und Bezug zu Rumänien wird Art. 34 Nr. 2 LugÜ rensrechtlichen Ordre public in Nr. 1 verstossen könnte.40 So hielt das Bundesgericht mit Hinweis auf Volken unter dem 33 Botschaft revLugÜ, BBl 2009, 1806. aLugÜ fest, dass die Beachtung der anwendbaren Bestim- 34 Gegen den zweiten Satzteil, das Erfordernis der Einlegung eines Rechts- mungen über die Rechtshilfe einem internationalen Mindest- behelfs, hat die Schweiz einen Vorbehalt erhoben, nicht aber gegen den standard entspricht.41 Dies als Verweis auf eine Überprüfung ersten (diesb. ungenau S chwander , I vo, Zustellung des verfahrenseinlei- tenden Schriftstücks per Post an die in der Schweiz wohnhafte beklagte Partei verstösst gegen den Ordre public (Art. 27 Ziff. 2 LugÜ). Unheilbar- keit des Mangels, AJP 2010, 110 ff., 114 in fine). 37 Rodriguez , Rodrigo, a.a.O., S. 30. 35 Vgl. Roth , H erbert, Zur verbleibenden Bedeutung der ordnungsgemässen 38 L eible , in: R auscher , a.a.O., Art. 34 N 31 ff.; S chlosser , Art. 34–36 N 17. Zustellung bei Art. 34 Nr. 2 EuGVVO, IPRax 2008, 501 ff. 39 L eible , in: R auscher , a.a.O., Art. 34 N 33a. 36 Rodriguez , Rodrigo, Die fehlerhafte Zustellung im revidierten Lugano-Über- 40 Für einen ähnlichen Fall siehe Walther , in: Dasser /O berhammer , a.a.O., einkommen, insbesondere der schweizerische Vorbehalt, in: K ren K ostkie - Art. 27 N 47 a.E. wicz /M arkus /R odriguez , a.a.O., S. 20. 41 BGE 135 III 623 E. 2.2 a.E. 6
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 unter Ordre public-Vorschriften zu verstehen, dürfte jedoch Urteile nach dessen Wegfall zu vollstrecken seien, selbst zu weit führen. Hält die Einleitung eines Verfahrens einer wenn sie vorher gefällt worden seien.43 Prüfung unter dem Gesichtspunkt des einschlägigen Art. 34 [Rz 32] Der Vorbehalt wurde damit zur Farce, schlimmer noch Nr. 2 revLugÜ stand, kann die Anerkennung wohl höchs- zur tückischen Falle für alle diejenigen Schweizer Beklagten, tens ausnahmsweise über den Umweg von Nr. 1 verhindert die gutgläubig darauf verzichtet hatten, sich zum Beispiel auf werden. ein oft prohibitiv teures englisches Verfahren einzulassen, und wenige Jahre später aufgrund eines einseitigen Säum- 1.3. Übergangsrechtliche Folgen der erleichterten nisurteils zur Kasse gebeten werden konnten. Das Bundes- Anerkennungsfähigkeit gericht hätte auch anders entscheiden können,44 betrachtete [Rz 29] Ist ein Verfahren vor Inkrafttreten des revLugÜ durch es aber offensichtlich nicht für angemessen, Schweizer Be- ein fehlerhaft zugestelltes Schriftstück eingeleitet worden klagte zu schützen, die sich gutgläubig auf einen zumindest und ist der Entscheid erst nach dessen Inkrafttreten ergan- missverständlichen Schweizer Vorbehalt und die Bundesver- gen, so ist die Anerkennungsfähigkeit nach neuem Recht zu fassung verlassen hatten. Ob das Bundesgericht bei Art. 34 beurteilen (Art. 63 Abs. 2 revLugÜ). Eine ehemals fehlerhafte Nr. 2 revLugÜ Schweizer Beklagten mehr entgegenkommt, Zustellung, beispielsweise durch Verletzung des HZÜ, kann wird sich weisen müssen. deshalb bei einem nach dem 1. Januar 2011 ergangenen Entscheid grundsätzlich nicht mehr moniert werden, sofern 2. Nachträgliche indirekte Zuständigkeit eine genügende Verteidigungsmöglichkeit nachgewiesen ist, und das Urteil wird vom Anerkennungsgericht anerkannt und neuer LugÜ-Staaten vollstreckt. [Rz 33] Zusätzliche Gefahren bietet der erweiterte räumliche [Rz 30] Folge davon ist, dass ein Beklagter, der sich im Ver- Anwendungsbereich des revLugÜ. Durch die Ost-Erweite- trauen auf die spätere Verweigerung der Anerkennung ge- rung der EU sind zusätzlich zu Polen, das bereits Vertrags- stützt auf Art. 27 Nr. 2 aLugÜ nicht weiter um das Verfahren staat des aLugÜ gewesen ist, zahlreiche weitere Staaten gekümmert hat, sich nun mit einem vollstreckbaren Ent- dazugestossen, deren Justizsysteme zum Teil noch im Auf- scheid konfrontiert sieht. Dies wiegt insbesondere deshalb bau begriffen sind.45 Wurde ein Schweizer Beklagter in ei- in der Praxis schwer, als es sich dabei um ein Säumnisur- nem solchen Staat eingeklagt, so konnte er nicht in jedem teil handelt, das in der Regel grundsätzlich gestützt auf die Fall auf eine unabhängige, hochqualifizierte Rechtsprechung einseitigen Vorbringen des Klägers ergangen und deshalb vertrauen. Umgekehrt konnte er darauf vertrauen, dass ein nicht notwendigerweise in der Sache angemessen ist. Auch Urteil gegen ihn in der Schweiz gegebenenfalls mangels indi- bei Säumnisurteilen besteht aber keine Möglichkeit der in- rekter Zuständigkeit nach IPRG nicht vollstreckbar war. haltlichen Überprüfung im Rahmen der Anerkennung und [Rz 34] Dem ist nicht mehr so. Wurde das Verfahren noch Vollstreckung.42 unter nationalem Zuständigkeitsrecht eingeleitet und der Ent- [Rz 31] Diese Rechtslage kann somit zu bösen Überraschun- scheid erging in der Folge nach Inkrafttreten des revLugÜ, gen führen. Im Rahmen des LugÜ hat dies (leider) gewisse so erfolgt eine Anerkennungsprüfung aufgrund von Art. 63 Tradition. Bereits bei Einführung des aLugÜ gab es Über- Abs. 2 lit. b revLugÜ nach den Vorschriften des Titels II des gangsbestimmungen, die zu unerwarteten Härtefällen führ- revLugÜ.46 Die Überprüfung beschränkt sich dabei auf die ten, dort sogar aufgrund einer nicht zwingenden Rechtsaus- Frage der internationalen Zuständigkeit.47 legung des Bundesgerichts betreffend Art. 1a des Protokolls [Rz 35] Wurde also einer Person mit Wohnsitz in der Schweiz Nr. 1 zum aLugÜ: Da Art. 59 aBV noch eine strikte Gerichts- vor Inkrafttreten des revLugÜ z.B. eine Schädigung durch standsgarantie des Beklagten («actor sequitur forum rei») unerlaubte Handlung vorgeworfen, musste sich diese über vorsah, hatte sich die Schweiz im besagten Protokoll einen Vorbehalt zum Gerichtsstand des Erfüllungsorts ausbedun- 43 Für die genauen Entscheidgründe siehe BGE 126 III 540 E. 2a bb. gen, der mit der Revision der Bundesverfassung unwirksam 44 So beispielsweise M arkus , A lexander , Der schweizerische Vorbehalt nach werden sollte, spätestens jedoch ipso iure am 31. Dezem- Protokoll Nr. 1 Lugano-Übereinkommen: Vollstreckungsaufschub oder ber 1999. Ein Entscheid aus Deutschland, der kurz vor dem Vollstreckungshindernis?, ZBJV 135 (1999), 57 ff., 74.; zum selben Ent- Wegfall des Vorbehalts gefällt wurde, sollte nach diesem scheid H andschin , L ukas /Werner , M artin , Rückwirkende Vollstreckbar- Zeitpunkt in der Schweiz anerkannt werden, wobei sich der keit deutscher Zivilurteile in der Schweiz, in Jusletter 21. Oktober 2002, Schweizer Beklagte auf den Vorbehalt berief, welcher nach Rz. 17 ff. 45 Bezüglich Bulgarien ist dies sogar insofern offiziell, als die EU Bulgarien seiner Ansicht ein Vollstreckungshindernis darstellte. Das mehrfach wegen des ungenügenden Justizsystems verwarnt und sogar Bundesgericht beurteilte die Sachlage anders: Der Vorbehalt sanktioniert hatte (vgl. Forschungsberichte der EU-Kommission zu Bulga- gewähre lediglich einen Vollstreckungsaufschub, weshalb rien und Rumänien, insb. COM(2008)495 vom 23. Juli 2008). 46 Im Falle Tschechiens und der Slowakei alternativ auch nach dem Staats- vertrag, vgl. Fn. 17. 42 Vgl. Art. 36 revLugÜ, sog. Verbot der «révision au fond». 47 S taudinger , in: R auscher , a.a.O., Art. 66 N 12. 7
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 ein Verfahren bspw. in Bulgarien oft nicht sorgen. Ein Ent- entschieden, dass sich eine Partei nicht auf eine ursprünglich scheid eines bulgarischen Gerichts, das seine Zuständigkeit wirksame Gerichtsstandsvereinbarung berufen kann, wenn auf den Handlungs- oder Erfolgsort stützt, könnte gegen eine diese den Anforderungen des aLugÜ nicht genügt.49 Auf- Person mit Wohnsitz in der Schweiz nicht vollstreckt werden grund dieser zwar mit der EU-Rechtsprechung konformen, (Art. 26 lit. a i.V.m. Art. 149 Abs. 2 lit. f IPRG e contrario). im Ergebnis aber nicht unproblematischen Rechtsprechung50 Ergeht der Entscheid allerdings erst nach Inkrafttreten des ergeben sich gerade mit Blick auf die Osterweiterung sowie revLugÜ, hat das Vollstreckungsgericht in der Schweiz die die aufgrund der jüngsten Entwicklungen im Bereich des pri- indirekte Zuständigkeit nicht mehr nach dem IPRG zu prüfen, vate banking faktisch erleichterte Einklagung von Schweizer sondern nach den Vorschriften des revLugÜ (Art. 63 Abs. 2 Banken im Ausland aber neue Dimensionen. lit. b revLugÜ). In diesem Falle wäre die Zuständigkeit des [Rz 39] Das Problem betrifft den im Vergleich zu Art. 13 aLu- bulgarischen Gerichts durch Art. 5 Abs. 3 revLugÜ gegeben gÜ erweiterten Anwendungsbereich von Art. 15 revLugÜ. Die und der Entscheid wäre in der Schweiz zu anerkennen. Ähn- Beschränkung in Art. 13 Ziff. 3 aLugÜ, welche für Dienstleis- lich wäre die Rechtslage für einen vertraglichen Anspruch, tungsverträge und Lieferverträge beweglicher Sachen sta- einen Arbeitsvertrag oder für einen Anspruch aus ungerecht- tuiert war, ist vollständig weggefallen. Massgebend ist nach fertigter Bereicherung zu beurteilen (vgl. Art. 149 Abs. 2 lit. a Art. 15 Nr. 1 lit. c revLugÜ nur noch, ob der Anbieter im Wohn- bzw. lit. c bzw. lit. e IPRG). sitzstaat des Verbrauchers «eine berufliche oder gewerbli- [Rz 36] Da Verfahren in vielen Ländern ohnehin Jahre dau- che Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege ern, und mit taktischem Prozessieren und allenfalls einem auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschliesslich oder zwei Rechtsmitteln das Verfahren nochmals um einige dieses Staates, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich Jahre verlängert werden kann, kann ein Verfahren, das vor dieser Tätigkeit fällt». Eine Folge davon ist, dass zahlreiche etlichen Jahren in einem osteuropäischen Land mit damals Verträge schweizerischer Unternehmen mit Kunden eines noch nicht voll entwickelter Gerichtsbarkeit eingeleitet wor- LugÜ-Vertragsstaats neu als Konsumentenverträge qualifi- den war, heute zu einem vollstreckbaren Urteil führen, das ziert werden (oder nach Ermessen des angerufenen Gerichts inhaltlich nicht mehr überprüft werden darf. Auch hier drohen zumindest qualifiziert werden können) und vereinbarte Ge- also unangenehme Überraschungen für Schweizer Beklag- richtsstandsklauseln neu den Einschränkungen von Art. 17 te. Es bleibt zwar der Vorbehalt des Ordre public von Art. 34 revLugÜ unterstehen. Diese untersagen die Vereinbarung Nr. 1 revLugÜ. Die Schweizer Rechtsprechung ist aber, an eines für den Konsumenten nachteiligen Gerichtsstandes sich zu Recht, sehr zurückhaltend mit der Anwendung dieses zum Voraus. Ehemals gültige Gerichtsstandsvereinbarungen Zweihänders. Sich als Beklagter auf den Ordre public verlas- können sich somit wider Erwarten der Parteien im Nachhi- sen zu müssen, ist keine angenehme Situation. Die Begrün- nein als unwirksam herausstellen. Zahlreiche Schweizer dungs- und Beweislast ist faktisch enorm. Unternehmen müssen sich deshalb auf vermehrte Prozesse irgendwo im Lugano-Raum mit oft beträchtlichen Kosten und Unwägbarkeiten einstellen. Dies ist namentlich im Bereich IV. Gerichtsstandsvereinbarungen des private banking in der Praxis bereits ein Thema. [Rz 37] Auch bei Gerichtsstandsvereinbarungen können sich übergangsrechtliche Überraschungen ergeben. Zum einen 2. Gültigkeit bisher ungültiger Gerichts- können bisher gültige Gerichtsstandsvereinbarungen ab In- standsvereinbarungen krafttreten des revLugÜ ungültig sein, zum andern können bisher ungültige neu gültig sein. Als Grundsatz vermag dies [Rz 40] Art. 5 IPRG fordert als Voraussetzung einer Gerichts- kaum zu überraschen. Gemäss Rechtsprechung des EuGH standsvereinbarung ausdrücklich Schriftlichkeit. So genügt ist Art. 54 Abs. 1 EuGVÜ (und somit auch die Parallelbestim- z.B. eine ausschliesslich mündliche Vereinbarung – nicht mung Art. 63 Abs. 1 revLugÜ) dahingehend auszulegen, einmal wenn ein schriftliches Bestätigungsschreiben folgt – dass es für die Beurteilung der Zuständigkeitsvereinbarung den Formanforderungen von Art. 5 IPRG nicht.51 Es ist somit nicht auf die Verhältnisse im Zeitpunkt ihrer Vereinbarung, von zentraler Bedeutung, wann im internationalen Verhält- sondern auf diejenigen im Zeitpunkt der Klageanhängigkeit nis überhaupt das revLugÜ oder das IPRG zur Anwendung ankommt.48 gelangt.52 Durch die Erweiterung des räumlichen Anwen- dungsbereichs des revLugÜ kann eine Gerichtsstandsver- einbarung, die nach IPRG ungültig wäre, neu nach revLugÜ 1. Ungültigkeit bisher gültiger Gerichts- standsvereinbarungen [Rz 38] Bereits unter dem aLugÜ hat das Bundesgericht 49 BGE 124 III 436 E. 4. 50 So auch D omej , in: Dasser /O berhammer , a.a.O., Art. 54 N 5. 48 Vgl. EuGH v. 13. November 1979, Rs. 25/79, Sanicentral/Collin; ebenfalls 51 BSK IPRG-G rolimund, Art. 5 N 25 ff. darauf bezugnehmend S chwander (Fn. 4), 1145. 52 Vgl. zu dieser Abgrenzung BSK IPRG-G rolimund, Art. 5 N 8 f. 8
Felix Dasser / Michael Frey, Übergangsrechtliche Stolpersteine des revidierten Lugano-Übereinkommens, in: Jusletter 11. April 2011 beurteilt werden und damit den Anforderungen an die Form- Analog muss er mit Blick auf Gerichtsstandsklauseln mit Ver- vorschriften genügen. fahren im nicht immer freundlich gestimmten bzw. fachlich kompetenten Ausland rechnen, die es bisher nicht oder kaum [Rz 41] Auf den ersten Blick erscheint es als positiv, dass un- gegeben hätte. ter altem Recht abgeschlossene Gerichtsstandsvereinbarun- gen nachträglich gültig werden können. Dies muss aber nicht [Rz 43] Dem Schweizer Vollstreckungsgericht steht dabei immer der Fall sein. Zur Illustration folgendes Beispiel: S. mit nur beschränkter Spielraum zum Schutz berechtigter Er- Wohnsitz in der Schweiz schloss 2008 mit dem osteuropä- wartungen des Schweizer Beklagten zur Verfügung. Dieser ischen Geschäftspartner U. eine kurze schriftliche Verein- Spielraum ist überlegt zu nutzen. Sonst wird das aktuelle barung ab. Der Vertragstext enthielt keine Gerichtsstands- Übergangsrecht unnötigerweise wie der frühere Vorbehalt in vereinbarung. S. ging davon aus, dass er aus praktischen Art. 1a des Protokolls Nr. 1 aLugÜ zur «Falle, aus der es kein Gründen (Art. 149 IPRG) im Streitfall in der Schweiz beklagt Entweichen gibt».54 werden müsste und hatte deshalb nicht auf einer ihm ge- nehmen Gerichtsstands- oder Schiedsklausel beharrt. Nun, nach dem 1. Januar 2011, klagt aber der gut vernetzte U. in Prof. Dr. iur. Felix Dasser ist Partner bei Homburger in Zürich seinem Heimatstaat aufgrund einer angeblich im Handels- und Titularprofessor für Privatrecht, Internationales Privat- brauch üblichen Gerichtsstandsvereinbarung. Das dortige und Zivilprozessrecht sowie Privatrechtsvergleichung an der Gericht schliesst sich dieser Ansicht ohne grosses Aufheben Universität Zürich. Weiter betreut er die Jusletter-Redaktion an, tritt auf die Klage ein und heisst in der Sache die dem S. «Internationales Privat- und Zivilprozessrecht». völlig überrissen erscheinende Klage des U. wider Erwarten lic. iur. Michael Frey, Rechtsanwalt, ist wissenschaftlicher As- gut.53 Dieser Entscheid ist nun in der Schweiz ohne weiteres sistent bei Professor Dasser. vollstreckbar, da es S. mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht gelingen wird, eine offensichtliche Ordre public-Widrigkeit zu beweisen – und das Vollstreckungsgericht das Vorliegen einer Gerichtsstandsvereinbarung aufgrund von Art. 35 rev- LugÜ nicht überprüfen darf. Im Nachhinein erweist sich damit die damals scheinbar harmlose Lücke im schriftlichen Ver- * * * trag als fatal. V. Schlussfolgerung [Rz 42] Die dem LugÜ zugrundeliegende Fiktion der Gleich- wertigkeit der Justizsysteme in Europa ist an sich schon pro- blematisch. Beim derzeit aktuellen Übergangsrecht verstär- ken sich die Bedenken. Letztlich ist die Rechtssicherheit in fragwürdiger Weise gefährdet. Ein Schuldner, welcher sich – aus welchen Motiven auch immer – unter altem Recht darauf verlassen hat, dass ein Entscheid nicht anerkannt werden kann und deshalb nichts gegen ein Verfahren unternommen hat, muss nun mit der Anerkennung und Vollstreckung des Entscheids nach neuem Recht rechnen. Mit anderen Worten kann ein vom Beklagten gedanklich bereits «abgeschriebe- nes» Verfahren plötzlich wieder aktuell werden. Ein Beklag- ter mit Wohnsitz in der Schweiz, der sich in einem vor Jahren im Ausland gegen ihn (nicht ordnungsgemäss bzw. an einem unzuständigen Gericht) eingeleiteten Verfahren nicht einge- lassen hat und sich seither nicht mehr oder nur marginal dar- um gekümmert hat, muss also – wohl entgegen jeglicher Er- wartung – seit dem 1. Januar 2011 mit einem gegen ihn in der Schweiz schnell und leicht zu vollstreckenden Urteil rechnen. 53 Nicht nur die bulgarische Gerichtsbarkeit hat einen fraglichen Ruf, vgl. Fn. 45. Auch in anderen osteuropäischen Staaten (sowie nebenbei be- merkt auch in einigen westeuropäischen), kann man als auswärtige Partei seine Überraschungen erleben. 54 H andschin /Werner (Fn. 44), Rz. 19. 9
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