ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können

 
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ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
HERAUSFORDERUNG

JAHRESHEFT WELTERNÄHRUNG 2021

   ÜBERSCHATTET
   Wie Corona den Kampf gegen
   Hunger hemmt – und
   was wir dagegen tun können
ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Liebe Leser*innen,
                     pünktlich zu Erntedank halten Sie das erste
                     Jahresheft „Herausforderung Hunger“ in
                     den Händen. Es bildet den Auftakt für
                     eine Reihe, in der sich MISEREOR gemäß
                     seinem Gründungsauftrag dieser Heraus-
                     forderung auch in Form einer Publikation
                     bewusst stellt und konstruktive Lösungen
                     anbietet. Dabei wollen die Jahreshefte den
                     Weg bis 2030 zur Erreichung des SDG 2
                     „Eine Welt ohne Hunger“ begleiten. Herzlich               INHALT
                     bedanke ich mich beim Redaktionsteam,
das das Heft entwickelt hat, bestehend aus Nina Brodbeck,
Markus Wolter und Corinna Würzberger. Aus ihren Federn                         3
stammen auch die Artikel des Jahresheftes – mit maß­geblicher
Unterstützung durch die jeweiligen Fachkolleg*innen.                           „Erntedank ist politisch“
Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre!                                 Geleitwort
Ihre Beate Schneiderwind,
Abteilungsleiterin Kommunikation von MISEREOR                                  6
                                                                               Das macht Hunger
                                                                               Die Hauptursachen für
                                                                               Nahrungsmangel

                                                                               8
IMPRESSUM                                                                      Das MISEREOR-Superfood
Herausgeber                                                                    2021
Bischöfliches Hilfswerk
MISEREOR e. V.
Mozartstraße 9
                                                                               Eine Reissorte trotzt der
52064 Aachen
presse@misereor.de
                                                                               Klimakrise
Stand
Oktober 2021
                                                                               10
V. i. S. d. P.
Beate Schneiderwind
                                                                               Überschattet
Redaktion                                                                      Wie Corona den Kampf
Dr. Nina Brodbeck (MISEREOR)
Markus Wolter (MISEREOR)
                                                                               gegen Hunger hemmt
Corinna Würzberger (MISEREOR)
Sabrina Strecker (neues handeln AG)

Gestaltung
                                                                               14
neues handeln AG
                                                                               MISEREOR-Empfehlungen
Druck
Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG
                                                                               Für eine Welt ohne Hunger
Bildnachweis
Fotos: Claudia Fahlbusch (U2); Klaus Mellenthin (S. 3); Florian Kopp (S. 5
& U4); MASIPAG/MISEREOR (S. 8, 9); Privat/MISEREOR (S. 11, 12);
Illustrationen: tulpahn (S. 6), archivector (S. 7), Viktorija Reuta (S. 14),
aurielaki (S. 14)/Shutterstock.com
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Geleitwort

„ERNTEDANK IST
POLITISCH“
   Als MISEREOR 1958 als „Werk gegen Hunger und        Binnengeflüchtete sind auf Nothilfe angewiesen.
   Krankheit in der Welt und deren Ursachen“           Hunger breitet sich aus. In Äthiopien, wo der
   gegründet wurde, geschah dies aus dem tiefen        Konflikt der Regierung mit lokalen Streitkräf-
   Wunsch heraus, sich mit Mitgefühl und Ent-          ten die Grenzregion Tigray in eine tiefe Krise
   schlossenheit an die Seite der Armen in den         stürzte, sind Millionen Menschen auf der
   damals sogenannten Dritte-Welt-Ländern zu stel-     Flucht – Hunger und Entbehrung ihre ständigen
   len und denjenigen eine Stimme zu geben, die        Begleiter. In Madagaskar herrschen apoka-
   kaum gehört wurden. Eine politische Stimme,         lyptische Zustände. Die Menschen essen in
   die, nach Deutschland hinein, Ungerechtigkeiten     ihrer Verzweiflung
   und Not benennt und zu Veränderung aufruft.         Heuschrecken,
   Ebenso spielte Dankbarkeit eine wichtige Rolle.     Kakerlaken und
   Dankbarkeit für die Unterstützung, die Deutsch-     kochen Leder
   land nach der Nazi-Herrschaft von vielen Seiten     weich, so sie denn
   erhielt, wo es doch selbst Kriegstreiber gewesen    Wasser haben. In
   war. Die Erfahrung von Hunger und Entbehrung        einigen Regionen
   in den Nachkriegsjahren saß noch tief. Man          des Inselstaats
   wollte etwas zurückgeben. „Was wir bisher über      vor der Ostküste
   unsere eigene Not vergessen haben, tritt jetzt in   Afrikas hat es seit
   die Mitte unseres Bewusstseins: In den meisten      drei Jahren nicht
   Ländern der Erde herrscht Hunger.“ Der Kölner       mehr geregnet, die
   Kardinal Frings, der mit den Anstoß zur Grün-       Felder versanden.
   dung von MISEREOR gab, sprach diese eindring-       Wie diesen enormen
   lichen Worte. Sie hallen bis heute nach und         Herausforderungen
   haben noch immer Gültigkeit.                        begegnen? Wie das
                                                       Ziel „Eine Welt
   Wenn wir uns heute, mehr als 60 Jahre später,       ohne Hunger“ erreichen?
   mit einem Jahresheft zum Thema Hunger zu Wort
                                                       Wir möchten in diesem Jahresheft
   melden, dann nehmen wir bewusst Bezug auf
   diese Wurzeln von MISEREOR: Den Hunger welt-        Schlaglichter setzen, Vorschläge
   weit zu beenden, ist das zweite der 17 Ziele für    machen und Lösungswege
   nachhaltige Entwicklung (SDGs), die die Weltge-
   meinschaft bis 2030 erreichen will. Momentan
                                                       skizzieren (Empfehlungen, S. 14).
   sieht es nicht so aus, als kämen wir diesem Ziel    Dafür haben wir bewusst das Erntedankfest als
   näher. Im Gegenteil. Die Zahl der Menschen, die     Erscheinungsdatum gewählt. In der Tradition
   weltweit Hunger leiden, steigt kontinuierlich an,   der Kirche werden bei uns am ersten Sonntag im
   die UN-Ernährungsorganisationen „Food and           Oktober Dankgottesdienste gefeiert. Die Altäre
   Agriculture Organization“ (FAO) und „World Food     sind festlich geschmückt mit Ährenkränzen und
   Programme“ (WFP) warnen vor sich ausweiten-         Feldfrüchten. Das Erntedankfest hat eine lange
   den Hungerkrisen in mehr als 20 Ländern.            Tradition und geht weit in die vorchristliche Zeit
   Dieses Geleitwort steht unter dem Eindruck          zurück. Gefeiert wird Mutter Erde, die in Fülle
   der Situation in Afghanistan, Äthiopien und         für alle gibt. Es sind Momente, in denen wir uns
   Madagaskar, um nur drei Länder zu nennen.           bewusst werden, wie sehr wir angewiesen sind
   Seit der Machtübernahme durch die Taliban ver-      auf die Natur, unsere Mitwelt und auf das, was
   schlechtert sich die Lage in Afghanistan. Mehr      sie uns schenkt. Die Erde ernährt uns. Dafür sind
   als die Hälfte der Bevölkerung lebt schon jetzt     wir dankbar. Nahrung gibt uns Kraft zum Leben,
   unterhalb der Armutsgrenze, rund vier Millionen     zum Handeln und Wirken in dieser Welt. Mit dem

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ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Geleitwort

             Erntedankfest feiern wir auch die Zyklen und          Herausforderungen durch den Klimawandel
             Rhythmen der Natur. „Alles hat seine Zeit“ weiß       widerstandsfähig ist.
             die christlich-jüdische Tradition (Kohelet 3, 1–8).
                                                                   Die Pandemie führt uns die Wichtigkeit einer
             Doch diese natürlichen und notwendigen Rhyth­         bäuerlichen Landwirtschaft vor Augen. Dabei
             men werden mehr und mehr ignoriert: die               geht es nicht um eine Rückkehr in vorindustri-
             Eigenschaft der Erde, in Fülle zu geben, ausge-       elle Zeiten. Es geht um Effizienz und Wirtschaft-
             reizt und die planetaren Grenzen überschritten.       lichkeit. Um gute Ernten. Die können wir auch
             Die Erde ist krank, ausgelaugt, das Leben aus         ohne Kunstdünger und chemisch-synthetische
             der Balance. Mit schwerwiegenden Folgen für           Pestizide erzielen. Das derzeitige Ernährungs-
             Mensch und Natur: Degradation von Böden,              system ist instabil. Viele Anbauprodukte kom-
             Wüstenbildung, großflächige Landnutzungs-             men gar nicht auf den Tisch, sondern werden
             änderungen und Abholzungen, Konflikte um              für andere Zwecke verwendet. Würden wir alle
             landwirtschaftliche Nutzflächen und allen voran –     Kosten einer „Hochleistungslandwirtschaft“
             die Klimakrise. Menschen können nicht mehr            einrechnen – Kosten für Klima, Umwelt, Ge-
             vom Ertrag ihrer Felder leben. Ursachen, aus          sundheit –, dann wäre schnell klar, dass wir
             denen Hunger entsteht.                                uns eine solche Landwirtschaft nicht mehr
                                                                   leisten können. Es bedarf politischer Rahmen-
             Wollen wir sie beseitigen, bietet es sich an, mit     bedingungen, um ein anderes Ernährungs­
             Dankbarkeit zu beginnen. Dankbarkeit ist wirk-        system zu schaffen. Unsere Projektpartner, die
             mächtig. Sie weitet den Blick und kann dringend       Landwirtschaftsprojekte gestalten, arbeiten
             nötige Haltungsänderungen anstoßen. Einen             bereits an alternativen Lösungen. So zum Bei-
             neuen Blick auf das, was die Natur uns schenkt.       spiel mittlerweile 50.000 Bäuerinnen und
             Auf ihre und unsere eigenen Grenzen. Wer              Bauern in den Phi­lippinen, die sich zum Netz-
             zerstört das, wofür er dankbar ist und mit dem er     werk MASIPAG zusammengeschlossen haben.
             sich verbunden weiß?                                  Über Jahrzehnte gesammeltes Wissen und
                                                                   Saatgut stehen dort allen zur Verfügung, die
             Wir sehen, dass die Corona-Pan-
                                                                   Mitglieder tauschen und teilen Reissorten
             demie Missstände und Ungerech-                        untereinander. So kann jede*r die für die
             tigkeiten im Ernährungsbereich                        eigenen Bedürfnisse passenden Sorten nach-
                                                                   züchten oder neu kombinieren.
             verstärkt (Überschattet, S. 10).
             Der Hunger in den Städten Asiens wächst, Fehl­        In diesen Tagen ist viel von immer neuen so­
             ernährung nimmt zu. Eine Untersuchung durch           genannten Superfoods die Rede. Sie sollen
             MISEREOR in Subsahara-Afrika zeigt eine er­           enorm positive Wirkungen auf die Gesundheit
             heb­liche Verschlechterung der Ernährungs- und        haben, Energie bringen, schön machen.
             Lebenssituation der ländlichen Bevölkerung.
                                                                   Ein wahres Superfood ist für
             Im Schatten der Pandemie schreitet in Latein-
             amerika, Afrika und Asien der Landraub voran.         uns der Reis des philippinischen
             Was wir brauchen, ist eine Änderung in un­serer       Bauern Pepito Babasa (Das
             Denkweise. Das bloße Produzieren von Nah-
             rungsmitteln reiche nicht, sagt Papst Franzis-
                                                                   MISEREOR-Superfood 2021, S. 8).
             kus. Es gelte, die gegenwärtige Krise zu nutzen,      Denn er hält Trockenheit stand, trotzt Unwettern
             um ein anderes Ernährungssystem zu gestalten,         und sichert die Ernährung von Babasa und
             das an unsere planetaren Grenzen angepasst,           seiner Familie. Beispiele wie dieses zeigen
             gemeinwohlorientiert und angesichts der               Lösungen auf und machen Hoffnung. Deswegen

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ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Geleitwort

wollen wir Ihnen von nun an jährlich ein weite-   viele Möglichkeiten liegen, um vielfältige Ernäh­
res MISEREOR-Superfood vorstellen!                rung zu sichern und Hunger und Armut zu
                                                  beenden. Gesunde und ausreichende Nahrung
Auch in Deutschland wissen wir, dass es so        ist ein Menschenrecht. Es sollte zum Leitbild
wie bisher nicht weitergehen kann. Immer          für eine stringente Politik werden. Behutsam
mehr Menschen denken um, hinterfragen ihre        bringen wir eine Transformation der Ernährungs-
Konsummuster, kaufen regional, bio und fair       systeme auf den Weg.
ein, bauen selbst an, essen in Gemeinschaft.
Zeigen Dankbarkeit für das, was da ist. Wenn      In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein
wir unseren Blick weiten, erkennen wir: Es geht   gemeinschaftliches Erntedankfest und eine
nicht darum, die Brotkrümel, die vom Tisch        inspirierende Lektüre!
einiger weniger fallen, unter den Armen zu
verteilen, sondern dafür zu sorgen, dass es für   Ihr
jede*n einen Platz am Tisch gibt. Die Heraus-
forderung besteht darin, in einer Kultur der      Pirmin Spiegel
Begegnung einander entgegenzugehen und zu         Hauptgeschäftsführer
entdecken, dass in unseren eigenen Händen         von MISEREOR

                                                            Dank an Mutter Erde: MISEREOR-Projektpartner in Kolumbien gestalten
                                                            ein buntes Mandala aus allem, was die Natur hervorbringt.

                                                                                                                             5
ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Die Hauptursachen für Nahrungsmangel

                                                   DAS MACHT

        KRIEG                                                      KLIMAKRISE

„Immer wieder werden jahrzehntelange                       „Das Klima hat sich so verändert, dass
Entwicklungszusammenarbeit und                             über mehrere Jahre gar kein Regen
die erreichten Erfolge – vor allem bei                     mehr gefallen ist. Es gibt kein Wasser,
der Verbesserung der Ernährungslage –                      es herrscht vollständige Trockenheit.
durch Krieg zerstört. Die Menschen                         Jüngst haben auch noch Sandstürme
geraten in tiefste Not, weil sie alles                     die Felder komplett bedeckt. Wie sollen
verlieren. Nicht selten ist es gar eine                    wir so Lebensmittel anbauen?“
Kriegsstrategie, Bevölkerungsgruppen                       Omar Andriambahoaka, Ordensbruder und MISEREOR-
                                                           Partner, Madagaskar
bewusst ‚auszuhungern‘. Das ist
menschenverachtend und ein Verstoß                         Dürren, Starkregen und Stürme nehmen zu, Ernten fallen
gegen die Genfer Konvention.“                              immer häufiger aus. Expert*innen erwarten in einigen
                                                           Regionen einen Ernterückgang von mindestens 30 Prozent
Dorothée Zimmermann, MISEREOR-Expertin für
                                                           bis 2050.
Äthiopien

Ende 2020 litten 88 Millionen Menschen Hunger aufgrund
von Gewaltkonflikten. Das sind 20 Prozent mehr als 2019.

HUNGER IST WEIBLICH                                        HUNGER IST LÄNDLICH
10 % mehr Frauen als Männer bekamen 2020 aus               80 %       der Hungernden weltweit leben auf dem Land
verschiedenen Gründen nicht genug zu essen. 2019 lag       und sind selbst Lebensmittelproduzent*innen wie Bäue-
der Unterschied noch bei 6 Prozent.                        rinnen und Bauern, Erntehelfer*innen, Nomad*innen oder
                                                           Indigene.

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ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Die Hauptursachen für Nahrungsmangel

HUNGER
                                                                           Jede*r Zehnte weltweit hungert, das entspricht rund
                                                                           811 Millionen Menschen. Dabei sind ausreichend Nahrungs-
                                                                           mittel für alle vorhanden. Wer den Hunger eindämmen will,
                                                                           muss an den vielfältigen Ursachen arbeiten: Denn Hunger
                                                                           ist keine Naturgewalt, sondern von Menschen verursacht.

           ARMUT                                                                                LANDRAUB

„Rund 96 Prozent der Menschen in                                                    „Durch großflächige Landnahmen
Venezuela gelten als arm. Ein Grund:                                                verlieren immer mehr kleinbäuer­liche
die anhaltende politische und wirt-                                                 Familienbetriebe ihr Land. Viele müssen
schaftliche Krise. Wegen der Versor-                                                sich deshalb in der Anbausaison als
gungskrise und der Hyperinflation ist es                                            Tagelöhner*innen verdingen und
kaum möglich, Lebensmittel zu kaufen,                                               rutschen in tiefe Armut, leben häufig
die Trinkwasserversorgung ist zusam-                                                von der Hand in den Mund. Ohne
mengebrochen. Es fehlen Gas und Strom                                               gesicherten Zugang zu Land verlieren
zum Kochen und ohne Benzin kann                                                     die Menschen ihre Existenzgrundlage
die kleine Ernte nicht zu den Märkten                                               und Zukunftsperspektive.“
gebracht werden. Ich weiß nicht, ob wir                                             Dr. Sabine Dorlöchter-Sulser, MISEREOR-Expertin für
                                                                                    ländliche Entwicklung in Afrika
gerade überleben oder schon Stück für
Stück sterben.“                                                                     Für über 40 Prozent der Weltbevölkerung ist Landbesitz
Norayma Angel, Expertin für Menschenrechte und                                      der Schlüssel für eine ausgewogene Ernährung und sichere
MISEREOR-Projektpartnerin, Venezuela                                                Existenz. Immer mehr fruchtbares Land wird aber von inter­
                                                                                    nationalen Konzernen oder lokalen Eliten aufgekauft – für
Drei Milliarden Menschen können sich keine ausgewogene                              Landwirtschaft im großen Stil und auf riesigen Flächen,
Ernährung leisten. Expert*innen schätzen, dass die Welt-                            häufig mit hohem Pestizideinsatz, und für den Export. Nur
marktpreise für Nahrungsmittel bis 2050 noch um 10 bis                              wenig bleibt für die lokale Bevölkerung übrig.
30 Prozent steigen – und das Problem verstärken werden.

 Quellen: SOFI-Bericht 2021; UN Press Release: Already Up 20 Per Cent […], 11.03.2021; MedECC: Climate and Environmental Change in the Mediterranean Basin
 […], 2020; Lampe & Willenbockel et al.: Why do global long-term scenarios for agriculture differ?, Agricultural Economics, 2014; MISEREOR: What are the effects of
 large-scale land acquisitions in Africa […], 2021; BMZ: Für eine ausreichende und bessere Ernährung – eine Welt ohne Hunger ist möglich, 2019.

                                                                                                                                                                      7
ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Das MISEREOR-Superfood 2021

Eine Reissorte trotzt der Klimakrise

DAS MISEREOR-
SUPERFOOD GEGEN
HUNGER 2021
                   In den Philippinen ermöglicht ein Netzwerk         zu Ernteverlusten. Für die Landwirt*innen ist
                   Bäuerinnen und Bauern, eigenständig Reis           das eine Katastrophe: Wer nichts erntet, kann
                   zu züchten und anzubauen. Alte Reissorten          nichts verkaufen und hat im schlimmsten Fall
                   werden gesammelt, getauscht und neue               nichts zu essen. Auch Pepito Babasa litt unter
                   Reislinien gezüchtet, die optimal an die           dieser Unsicherheit.
                   lokalen Bedingungen angepasst sind. Das
                   sichert den Bauernfamilien ein gutes Aus-            Unabhängigkeit durch
                   kommen, macht sie unabhängig von Groß-               eigene Züchtung
                                      konzernen – und hilft
                                      ihnen dabei, sich für die       Zudem bedeutete der Reisanbau für Babasa ein
                                      Klimakrise zu wappnen.          enormes finanzielles Risiko: Saatgut kaufte er
                                                                      jedes Jahr neu und teuer von internationalen
                                                                      Konzernen – oftmals in Verbindung mit speziell
                                        Zufrieden schaut Pepito       abgestimmten, giftigen Pestiziden und Dün-
                                        Babasa über sein sattgrünes   gemitteln, die hohe Erträge versprachen. Viele
                                        Reisfeld. Sein bester Reis,   Kleinbäuerinnen und -bauern können sich diese
                                        PBB 401, wird ihm auch in     Saatgutpakete nur leisten, wenn sie sich ver-
                                        diesem Jahr wieder eine       schulden. Fällt die Ernte aus, fehlt das Geld, um
                                        gute Ernte bringen. Das war   den Kredit zurückzuzahlen.
                                        nicht immer so. Reisan-
                                        bau in seinem Heimatort       Das änderte sich, als Pepito Babasa von MASIPAG
                                        Bato in den Philippinen ist   hörte. Das landesweite Netzwerk, zu dem sich
                                        riskant: Seit Generationen    Bäuerinnen und Bauern, Wissenschaftler*innen
                                        nutzen die Bäuerinnen         und Nichtregierungsorganisationen zusammen-
                                        und Bauern dafür unter        geschlossen haben, fördert ökologische Land-
                                        anderem den fruchtbaren       wirtschaft. Im Mittelpunkt stehen der Schutz und
                                        Boden des im Sommer aus-      Erhalt von Saatgut. Bei MASIPAG lernte Babasa,
                   getrockneten Sees. Sobald es stärker regnet,       Reis zu züchten – mit samenfestem Saatgut. Das
                   sammelt sich das Regenwasser im See, überflu-      bedeutet, dass es nachbaubar ist und aus der
                   tet die Felder und zerstört den Reis.              Pflanze wieder neues Saatgut gewonnen werden
                                                                      kann. So können Landwirt*innen wie Babasa
                   Das Risiko war lange Zeit kalkulierbar, doch nun   eigenständig immer wieder Reis aussäen und
                   spüren die Menschen die Folgen der Klimakrise      ernten – ohne jedes Jahr neues Saatgut kaufen
                   deutlich. Die Regenzeiten verschieben sich.        zu müssen. Das sichert nicht nur die Ernährung
                   Es kommt immer häufiger zu unberechenbarem         ihrer Familien und der Dorfgemeinschaft, sondern
                   Starkregen, Überschwemmungen, Wirbelstür-          macht sie auch unabhängig, weil die jährlichen
                   men, Dürren und Erdrutschen – und damit            Investitionen wegfallen. So haben die Bäuerinnen

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ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Das MISEREOR-Superfood 2021

und Bauern am Ende des Tages oft mehr finanzi-           in den jeweiligen Regionen angepasst sind.
elle Mittel, können sich zusätzliche Lebensmittel        Genauso wie die von Babasa gezüchtete und
für eine ausgewogene Ernährung leisten oder              2003 erstmals gekreuzte Reissorte PBB 401. Der
eine gute Ausbildung für ihre Kinder bezahlen.           Name kennzeichnet ihn wie bei MASIPAG üblich
                                                         als Züchter: Pepito B. Babasa. PBB 401 zeichnet
  Gemeinsam gegen die                                    sich durch einen guten Geschmack aus und ist
  Klima­krise                                            trockenheitstolerant. Dürre kann diesem Reis also
                                                         nicht so schnell etwas anhaben, genauso wenig
Dem MISEREOR-Projektpartner MASIPAG gehören              die in der Region üblichen Taifune. Die Halme
heute in den Philippinen mehr als 50.000 Land-           trotzen dem Wind und sollte es sie doch einmal
wirt*innen an. Das über Jahrzehnte gesammelte            umhauen: PBB 401 liefert selbst dann noch gute
Wissen und Saatgut steht allen zur Verfügung,            Erträge, wenn die Rispe mit den Reiskörnern in
man hilft sich gegenseitig bei Aussaat und Ernte.        Schieflage geraten ist. Manch andere Reissorte
Alte Reissorten werden erhalten, weiterent-              wäre dann schnell nicht mehr zu gebrauchen, die
wickelt, untereinander getauscht und weiter-             Ernte verloren. Heute ernährt Pepito Babasa nicht
gegeben. So können alle die zu den eigenen               nur sich selbst und seine Familie zuverlässig und
Bedürfnissen passenden Sorten nachzüchten                ausgewogen, seine Tochter deckt zudem einen
oder neu kombinieren. Zudem entstehen überall            Teil ihres Reisbedarfs für ihr Restaurant von der
im Land Saatgutbanken. Auf diese können die              Überschussproduktion ihres Vaters. Grund genug,
Kleinbäuerinnen und -bauern zurückgreifen,               zufrieden und zuversichtlich in die Zukunft zu
wenn Schädlinge oder Unwetter ihre Ernten                schauen: PBB 401 ist für Pepito Babasa und viele
vernichtet haben. Auf Basis der traditionellen           andere Landwirt*innen der Schlüssel, um sich
Sorten entstanden so mittlerweile 2.000 neue             aktiv gegen die Folgen der Klimakrise zu wappnen,
Reislinien, die optimal an die Bodenbeschaf-             unabhängig von internationalen Konzernen zu
fenheiten und veränderten Klimabedingungen               bleiben – und ihren Lebensstandard zu sichern.

       DAS KANN DAS MISEREOR-SUPERFOOD
       GEGEN HUNGER 2021
       NAME: Reis PBB 401

     HERKUNFT: Bato, Philippinen, gezüchtet von Reisb
     Pepito Babasa vom Bauern-Netzwerk MASIPAG
                                                     auer
                                                                                     E    R!
     onellem regionalen weißen und rotem Reis.
                                                aus traditi-
                                                                                 SUP
    SUPERKRÄFTE GEGEN HUNGER:
    •     Trotzt dem Klimawandel: PBB 401 lässt sich wede
                                                              r
          von Dürre noch von Taifunen einschüchtern und
          schenkt selbst nach Unwettern noch eine gute
                                                           Ernte.
    •     Bringt vielfältigen Gewinn: Als samenfeste Reiss
                                                            or-
          te kann aus PBB 401 immer wieder neues Saatg
                                                           ut
          gewonnen werden. So muss nicht jedes Jahr Saatg
                                                              ut
          gekauft werden, teure Investitionen fallen weg.
                                                          Klein-
          bäuerinnen und -bauern gewinnen so Unabhängi
                                                            gkeit
         von internationalen Konzernen, die Kontrolle über
                                                             ihr
         eigenes Saatgut und oft mehr finanzielle Spiel
                                                        räume.
   •     Schafft Wissen: Innerhalb des Netzwerks MASI
                                                          PAG
         werden Saatgut und Erfahrungen geteilt. Alle
                                                        profitie-
         ren davon und können ihre Fähigkeiten erwei
                                                       tern.

                                                                                                                          9
ÜBERSCHATTET Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt - und was wir dagegen tun können
Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt

ÜBERSCHATTET
                   Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt – und was wir dagegen tun können.
                   Ein Blick in die Stadt, aufs Land, nach Asien, Afrika und Lateinamerika.

                   Schwungvoll kurvt Tey Lopez um die Ecke. Auf        müssen. Durch die Ausgangssperren brechen die
                   Fahrrädern bringen er und seine Mitstreiter*innen   ohnehin geringen Einkommensmöglichkeiten
                   frisch zubereitete Speisen zu armen Menschen        komplett weg.
                   und Obdachlosen in die engen Gassen Manilas.
                   Das Essen wurde aus frischem Gemüse zuberei-        „Es wird immer ersichtlicher, dass
                   tet, das Bauernfamilien aus dem Umland gespen-
                                                                       sich im Schatten der Pandemie
                   det und freiwillige Köch*innen dann verarbeitet
                   haben. Seit das Coronavirus auf den Philippinen     strukturelle Missstände
                   wütet, ist Tey Lopez ehrenamtlich im Einsatz:       und Ungerechtigkeiten weiter
                   Er sammelt Gemüse ein, plant, koordiniert und
                   sucht das Gespräch mit den Bewohner*innen.
                                                                       verstärken.“ – Markus Wolter
                   Er möchte nah bei den Menschen sein und sie
                   ganz konkret unterstützen. Dabei kommt ihm          Der Hunger greift um sich. Denn ein staat­liches
                   seine Erfahrung zugute: Er hat für die MISEREOR-    soziales Sicherheitsnetz gibt es für die Armen und
● Armut in den     Partner­organisation „Pesticide Action Network“     Obdachlosen nicht. „Die Armut in den Städten
Städten wächst     gearbeitet und ein breites Wissen im Bereich        hat sich durch Corona deutlich verstärkt“, erklärt
                   Landwirtschaft und Ernährung. In diesen dunklen     Dr. Almuth Schauber, bei MISEREOR zuständig
                   Tagen, an denen die Fallzahlen immer weiter in      für den Bereich städtische Entwicklung in Asien.
                   die Höhe klettern und die Angst vor dem Hunger      Denn wer keine genehmigte Unterkunft hat,
                   um sich greift, ist das Engagement von Tey Lopez    erhält keine Ausweispapiere. Und wer keinen
                   für viele überlebenswichtig geworden.               Ausweis besitzt, tut sich schwer, medizinische
                                                                       Hilfe zu erhalten, seine Kinder an einer Schule
                     Kein Ausweis, keine Arbeit,                       anzumelden, und hat jetzt in der Corona-Pandemie
                     kein Essen – Hunger in                            kein Anrecht auf Essensrationen, die teilweise
                                                                       von staatlicher oder kommunaler Seite ver-
                     der Stadt
                                                                       teilt werden. „Du existierst nicht“, beschreibt
                   „Die Nachrichten, die uns seit Monaten von          Schauber die Lebenswirklichkeit vieler armer
                   un­­seren Projektpartnern erreichen, sind beun­     Menschen in asiatischen Millionen­metropolen
                   ruhigend“, berichtet Markus Wolter, Experte         wie Manila oder Mumbai. Und wer in diesem
                   für die Bereiche Landwirtschaft und Ernährung       Bewusstsein lebt, ist weit davon entfernt, seine
                   bei MISEREOR. „Es wird immer ersichtlicher,         Bürgerrechte einzufordern.
                   dass sich im Schatten der Pandemie strukturelle
                   Missstände und Ungerechtigkeiten im Ernäh-          „Eat less, sleep less and work more“ lautet der
                   rungsbereich vielerorts weiter verstärken.“         bezeichnende Titel einer Studie aus dem Jahr
                   In Städten wie Manila etwa gibt es strenge Res-     2010 der „Bombay Urban Industrial League for
                   triktionen, um das Coronavirus einzudämmen.         Development“, die die Ernährungssituation in
                   Die vom Militär überwachten Ausgangssperren         den Armenvierteln von Mumbai analysiert. „Wir
                   treffen arme Menschen am härtesten. Die meis-       befürchten, dass sich das dort beschriebene
                   ten haben kein festes Einkommen und verdingen       Phänomen, also zu wenig Essen zur Verfügung
                   sich als Tagelöhner*innen. Sie können kaum          zu haben und für dieses unter prekären Bedin-
                   Rücklagen bilden und so bestimmt der Verdienst      gungen arbeiten zu müssen, in den Metropolen
                   des Tages darüber, wie viel die Familien essen      Asiens coronabedingt stark ausgeweitet und so-
                   können. Drei Mahlzeiten am Tag können sie           gar die breite Mittelschicht erreicht hat“, erklärt
                   sich nicht leisten. Meist reicht das Geld nur für   Schauber. Das ist ein Rückschritt im Kampf gegen
                   eine winzige Portion Reis, dazu vielleicht ein      den weltweiten Hunger.
                   paar Gramm Linsen, die sie überteuert kaufen

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Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt

                                          Ehrenamtliches
                                Engagement: Tey Lopez
                                verteilt Essensboxen an
                                    Manilas Bedürftige.

Weil das Geld in den Familienkassen fehlt, ver-            die Bodenfruchtbarkeit mit der Zeit nach, es
stärkt sich neben der Mangelernährung auch                 werden immer mehr dieser Inputs notwendig
die Fehlernährung. Denn aufgrund hoher Kosten              und die Erträge sinken. So gerieten viele Fa-          ● Fehlernährung
für Kochenergie ist häufig das, was unter dem              milien bereits vor der Corona-Pandemie in die          breitet sich weiter
Topf ist, teurer als das, was im Topf ist. Beson-          Schuldenfalle. Diese gefährliche Abhängigkeit          aus
ders Kohle und Feuerholz sind in Städten teure             hat sich jetzt noch verstärkt, da viele nationale
Güter. In den Städten greifen deshalb viele zu             und internationale Lieferketten zusammenge-            ● Es braucht
Streetfood, das von zahlreichen kleinen Garkü-             brochen sind.                                          langfristige
chen angeboten wird. So können sie Menge und                                                                      Strategien
Qualität einer Mahlzeit exakt an das verfügbare            MISEREOR unterstützt in dieser Notsituation
Budget anpassen. Aber: Das Essen ist zwar                  Projektpartner beispielsweise in Indien, die
günstig, aber oft viel zu salzig und zu fettig und         Nahrungsmittelhilfe leisten und hungernde
es enthält kaum Vitamine oder Mineralstof-                 Menschen mit dem Nötigsten versorgen. Doch
fe. Fehlen diese, steigt das gesundheitliche               es braucht langfristige Strategien, die verhin-
Risiko. Es ist zu befürchten, dass sich daher als          dern, dass es überhaupt zu solchen Notsitu-
Folge der Corona-Pandemie die Anfälligkeit für             ationen kommt. „Um die Abhängigkeit von
Krankheiten weiter erhöht. Wer krank ist, kann             nur einem Anbauprodukt und von entfernten
nicht arbeiten und ist damit noch gefährdeter,             Märkten zu verringern, ist es wichtig, dass die
zu hungern. Und wer hungert, muss Langzeit-                Bauernfamilien zusätzlich Landwirtschaft für ih-
schäden fürchten. Kinder zum Beispiel leiden               ren eigenen Bedarf betreiben und ihren Anbau
infolge von Mangelernährung häufig unter                   diversifizieren. Und vielleicht ein wenig Geflü-
Entwicklungsstörungen.                                     gel oder eine Kuh halten, damit sie einen Nähr-
                                                           stoffkreislauf aufbauen können“, sagt Rupp.
   Abhängigkeit, Monokulturen,                             Erstes Ziel ist es, unabhängiger zu werden und
   Schuldenfalle – Armut auf                               die Ernährung der eigenen Familie und der Dorf-
                                                           gemeinschaft zu sichern. Je nach klimatischem
   dem Land in Asien
                                                           Umfeld ist eine Kombination aus Eigenanbau
Während Hunger in den Städten meist weniger                und Erwirtschaftung von Einkommen sinnvoll,
sichtbar ist, zeigt er sich auf dem Land deut-             um in sogenannten Ungunstjahren – und dazu
lich. Ausgerechnet Bauernfamilien und in der               zählt die Corona-Pandemie – oder im Winter
Landwirtschaft tätige Menschen sind betroffen.             Lebensmittel zukaufen zu können.
Hermann Rupp, MISEREOR-Referent für ländli-
che Entwicklung in Asien, erklärt, was dahin-                Vielfalt fehlt, Mangelernährung
tersteckt: „Viele bäuerliche Familien sind sehr              nimmt zu – Corona-Folgen
spezialisiert. Sie bauen beispielsweise nur eine
                                                             in Afrika
einzige Feldfrucht wie Kaffee oder Zuckerrohr
an. Für deren Anbau werden meist viele teure               Durch strenge Eindämmungsmaßnahmen hatten
sogenannte Inputs wie mineralische Dünger                  viele Länder Afrikas die Corona-Pandemie recht
und synthetische Pestizide eingesetzt, damit               lange erfolgreich in Schach gehalten. Der Erfolg
der Ertrag möglichst hoch ausfällt.“ Durch diese           war aber häufig teuer erkauft, wie eine Unter-
intensiv bewirtschafteten Monokulturen lässt               suchung1 durch MISEREOR in Subsahara-Afrika

1
  Bosch, Tim: COVID-19-Observatorium. Auswirkungen der COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen auf ländliche Gebiete
in Subsahara-Afrika, 2020. Zwischen Juli und November 2020 wurden für das Observatorium mehr als 200 Interviews
in fünfzehn Regionen in Burkina Faso, Nigeria, Senegal, Südafrika und Uganda sowie in vier pastoralen Zonen in
Äthiopien geführt.

                                                                                                                                   11
Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt

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                                                                          verwandeln regionales,
                                                                          frisches Gemüse in gesunde
                                                                          und leckere Mahlzeiten.

                      zeigt: Als Folge der Corona-Krise hat sich die      Menschen in ländlichen Regionen unter Wirbel­
● Ernährungslage      Ernährungs- und Lebenssituation der ländli-         stürmen, Dürren oder Fluten, die die Nah-
in Subsahara-         chen Bevölkerung im Jahr 2020 dort erheblich        rungsmittelproduktion immer mühseliger und
Afrika verschlech-    verschlechtert. Durch den Verlust vieler Einnah-    kostspieliger machen. So stieg die Zahl der
tert sich erheblich   mequellen, eingeschränkte Mobilität und die         Hungernden in Zentralamerika im vergangenen
                      Schließung der Wochenmärkte verringerte sich        Jahr von 2,2 Millionen auf fast acht Millionen
                      das Einkommensniveau in den untersuchten            an – fast ein Viertel davon ist dringend auf Nah-
                      Regionen drastisch. Außerdem sanken die Ver-        rungsmittelhilfe angewiesen. „Um die alarmie-
                      kaufspreise, während Waren- und Transportkos-       renden Zahlen zu senken, brauchen wir Ansätze
                      ten stiegen. Im Untersuchungszeitraum wurde         wie Agrarökologie oder den Agroforst­an­bau“,
                      zudem deutlich, dass statt gesünderer Lebens-       fordert Annette Roensch, MISEREOR-Referentin
                      mittel vor allem solche mit hoher Kalorienzufuhr    für Mexiko und Guatemala. Diese Methoden
                      nachgefragt wurden. Fehlernährung wird also         spiegeln die natürliche Vielfalt des lokalen
                      voraussichtlich auch hier zum Problem.              Ökosystems wider und können Dürren, Fluten
                                                                          und Wirbelstürmen besser trotzen, eine reich-
                      Um nicht von den Erträgen einzelner Produkte        haltige, regionale Ernährung sichern und das
                      abhängig zu sein und gleichzeitig langfristig die   Mikroklima der Region verbessern.
                      Bodenfruchtbarkeit aufzubauen, wenden mehr
                      und mehr Landwirt*innen in afrikanischen            Allerdings haben gerade kleinbäuerliche Familien
                      Ländern Methoden der Agrarökologie an. Misch­       und Indigene häufig keinen gesicherten Zugang
                      anbau und Vielfalt sind auch hier die Schlüssel     zu Land, auf dem sie etwas anbauen können.
                      zur Ernährungssicherung. Denn viele ländliche       Agrarunternehmen, Bergbau und große Infrastruk-
                      Gebiete in Afrika kämpfen schon lange mit Nah-      turprojekte machen ihnen Boden und Wasser
● Landraub            rungsdefiziten und Krisen. Die Menschen spüren      streitig. Der Landraub weitet sich im Schatten
weitet sich im        die negativen Folgen des Klimawandels am eige-      der Corona-Pandemie dramatisch aus: Während
Schatten der          nen Leib: Das Wetter wird immer wechselhafter,      Kleinbäuerinnen und -bauern unter den strikten
Corona-Pandemie       die Regenzeiten werden unzuverlässiger – und        Ausgangs- und Reisesperren oft weder ihre Felder
dramatisch aus        damit auch die Ernten. Ohne sie gibt es kein Ein-   bestellen noch kleine Überschüsse vermarkten
                      kommen und keine gesicherte Ernährung. „Wenn        konnten, gelang es den meisten großen wirt-
                      die Weltgemeinschaft ihre CO2-Emissionen nicht      schaftlichen Playern, sich weitgehend ungehindert
                      drosselt, werden die Menschen in vielen Regio-      weiteres Land anzueignen und Proteste zu unter-
                      nen Afrikas mit den Folgen beispielloser Klima-     binden. Einmal vertrieben, steht den Betroffenen
                      veränderungen kämpfen. In vielen Teilen wird        ein jahrelanger Prozess der Rückforderung über
                      Trinkwasser knapp werden und Erträge werden         Gerichte bevor, den die meisten nicht durchste-
                      stark sinken, in manchen Regionen werden die        hen. Und sie haben auch keine Zeit, auf ihr Land
                      Lebensgrundlagen der ländlichen Bevölkerung         zu warten: Wovon sollen sie in der Zwischenzeit
                      verloren gehen“, so Dr. Sabine Dorlöchter-Sulser,   leben? Deswegen arbeiten MISEREOR-Partner­
                      MISEREOR-Expertin für ländliche Entwicklung         organisationen in Lateinamerika mit Betroffenen
                      in Afrika.                                          zusammen. Um die, die ihr Land schützen und
                                                                          verteidigen, besser gegen Drohungen und Angriffe
                        Landraub und Extremwetter –                       zu wappnen. Und um Menschen, die ihr Land
                        alarmierende Nachrichten                          bereits verloren haben, bei Gerichtsprozessen und
                                                                          im Kontakt mit Politik, Medien und Netzwerken
                        aus Lateinamerika
                                                                          von Betroffenen zu unterstützen.
                      Auch weite Regionen Lateinamerikas sind von
                      Wetterextremen gebeutelt. Seit Jahren leiden

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Wie Corona den Kampf gegen Hunger hemmt

                                                                      Innovative Anbaumethoden
                                                                      gegen Hunger
                                                                      ● Agrarökologie als gute Alternative
                                                                        Im Kampf gegen Hunger und Mangelernährung
                                                                        setzen MISEREOR-Projektpartner auf den agrar­
                                                                        ökologischen Ansatz. Er setzt auf ökologischen
  Globale Krisen brauchen                                               Anbau, natürliche Kreisläufe, Wiederverwendung
  weltweite Solidarität                                                 von Ressourcen sowie auf die Vermarktung durch
                                                                        und die politische Teilhabe von Kleinbäuerinnen
Um Hunger und auch die Corona-Pandemie zu                               und -bauern. Dabei ist er eine Alternative zur
bewältigen, müssen Menschen aus der Verein-                             intensiven chemisch-industriellen Landwirtschaft,
zelung kommen, sich solidarisieren und gesell-                          die einen hohen Energie-, Material- und Finanz­
schaftliche Teilhabe und politische Verantwortung                       einsatz erfordert.
einfordern. „Vielleicht ist das eine der wichtigsten
Lehren, die wir aus der Corona-Pandemie und                           ● Agroforst – das Erfolgsgeheimnis des Waldes
ihren dramatischen Folgen ziehen können: die                            In Lateinamerika arbeiten MISEREOR-Projekt-
Wichtigkeit von gemeinschaftlichem Handeln“,                            partner gemeinsam mit bäuerlichen Betrieben mit
fasst Markus Wolter zusammen. Überall auf der                           dem Agroforst-System, das den Stockwerkbau des
Welt zeigen Initiativen, was sich gegen Hunger tun                      Regenwaldes simuliert: Auf verschiedenen Ebenen
lässt – und wie man etwa die Versorgungslücke                           entsteht ein lebendiges System aus einjährigen
zwischen Stadt und Land schließen kann, die es                          Kulturen, Stauden, Sträuchern und Bäumen. Auf diese
in vielen Ländern gibt. Tey Lopez in Manila macht                       Weise lassen sich das ganze Jahr über Lebensmittel
es vor. Außerdem können Gemeinschaftsküchen                             erzeugen. Das macht Familien unabhängiger,
und -gärten helfen, etwa den Ausfall von Schul-                         ökonomische Probleme oder extreme Wetter­ereignisse
speisungen aufzufangen. Doch das allein reicht                          können ihnen weniger anhaben. Denn wo in
nicht aus. Eine Kombination vieler Maßnahmen                            der herkömmlichen Landwirtschaft Schädlinge,
ist nötig. „Wichtig ist zum Beispiel die Unterstüt-                     Unkräuter und Pilze bekämpft werden, arbeiten
zung von zivilgesellschaftlichen Akteuren, der                          die Agroforstbäuerinnen und -bauern mit der Natur,
Zugang zu sozialen Sicherungssystemen und die                           suchen in der Vielfalt ihre Verbündeten – und
Stärkung derjenigen, die für eine faire Bezah-                          imitieren so das Erfolgsgeheimnis des Waldes.
lung kämpfen“, so Wolter weiter. Mit Besorgnis
ist zu beobachten, dass unter dem Vorwand
der wirtschaftlichen Wiederbelebung nach der
Corona-Pandemie in vielen Ländern die Rechte
von Arbeiter*innen zurückgeschraubt werden.
Hier geht es um die Verteidigung des Erreichten.       ● Rechte von
„Nahrung ist ein Menschenrecht“, fasst Wolter          Arbeiter*innen
zusammen. „Und das gilt nicht nur für diejenigen,      werden geschwächt
die wohlhabend sind. Corona ist ein erneuter
Weckruf, dieses Recht für alle umzusetzen.“

                                                                                                                              13
Für eine Welt ohne Hunger

      MISEREOR-EMPFEHLUNGEN

     Auf dem richtigen Weg nach 2030?                          Politik der vielen Schritte
Bis zum Jahr 2030 soll kein Mensch mehr Hunger leiden          Um das zu erreichen, muss das Menschenrecht auf Nahrung
müssen. Das ist das zweite der 17 Ziele für nachhaltige        Leitbild für eine stringente Politik der vielen Schritte auf
Entwicklung (SDGs), auf die sich die Weltgemeinschaft          allen Ebenen werden.
2015 bei der Pariser Klimakonferenz geeinigt hat. Heute,
knapp neun Jahre vor 2030, sind wir weiter denn je davon               WELTWEIT
entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Um bis zu 161 Millionen
Menschen ist die Anzahl der Hungernden im Pandemie-            Misswirtschaft und Korruption

                                                                                                     HUNGERKR
Jahr 2020 gestiegen. 650 Millionen Menschen hatten schon       müssen überall angegangen

                                                                                                                              I SE
vorher nicht ausreichend Nahrung zur Verfügung. Die Coro-      werden. Dazu braucht es
na-Pandemie hat die systematischen Ungerechtigkeiten           beispielsweise eine starke
im Ernährungsbereich offengelegt und bestehende Miss-          parlamentarische Kontrolle und freie
stände noch weiter verstärkt.                                  Medien zum Monitoring der Arbeit der Regierun-
                                                               gen. Zwingend notwendig ist es in vielen Fällen auch, die
     Recht auf Nahrung als Leitbild                            Teilhabemöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure an ge-
                                                               samtgesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu stärken.
Als Weltgemeinschaft ringen wir um die Bewältigung einer       Betroffene müssen ihre Rechte vom Staat einklagen können.
der größten und wichtigsten Aufgaben überhaupt: der
Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung. Nahrung ist                  EUROPÄISCHE UNION
Leben. Dass so viele Menschen hungern müssen, wo doch
eigentlich genug Lebensmittel für alle vorhanden sind und      Das Menschenrecht auf Nahrung muss Grund­lage der
produziert werden, ist ein Verbrechen. Um Ernährungs­          EU-Agrar- und Agrarhandelspolitik sowie der Entwick-
sicherheit zu schaffen und dabei einer Welt ohne Hunger        lungszusammenarbeit werden. Staaten müssen die
näherzukommen, brauchen wir einen ganzheitlichen               Möglichkeit haben, ihre landwirtschafts-, fischerei- und
Ansatz, klare politische Rahmenbedingungen und den po-         ernährungspolitischen Rahmensetzungen im Sinne der
litischen Willen, diese umzusetzen. Dort, wo akuter Hunger     Ernährungssouveränität selbst zu gestalten und beispiels-
herrscht, muss Nahrungsmittelhilfe geleistet werden, um        weise ihre Märkte vor gesamtgesellschaftlich schädlichen
die größte Not zu lindern. Gleichzeitig müssen wir auf nati-   Importen zu schützen.
onaler, europäischer und internationaler Ebene eine behut-
same Transformation der Ernährungssysteme auf den Weg
bringen. Entlang der gesamten Kette, von der Nahrungspro-
duktion bis auf die Teller, müssen der Zugang aller Men-
schen zu einer ausgewogenen Ernährung, die ökologische
Nachhaltigkeit sowie gerechte Beschäftigungsbedingungen
und faire Einkommen für Erzeuger*innen im Vordergrund
stehen. Und nicht allein wirtschaftliche Interessen und die
Gewinnmaximierung einiger weniger. Und zwar hier und in
den von Hunger betroffenen Ländern.

14
Für eine Welt ohne Hunger

 FÜR EINE WELT OHNE HUNGER

           DEUTSCHLAND
                                                                    In der Agrarpolitik ist ein kritischer Blick auf die eigene
   In der staatlichen Entwicklungspolitik sollte der „Food          Produktion maßgeblich: Durch den globalen Handel erzeugt
   first“-Ansatz gelten: Unterstützte Projekte im Landwirt-         die deutsche Nahrungsmittelerzeugung im Inland wie im
   schaftsbereich müssen zuerst vor Ort die Ernährung               Ausland hohe Treibhausgasemissionen und verbraucht
                            sichern, statt direkt Agroenergie       große Flächen. Besonders viele Ressourcen benötigt zum

ZERO HUNG
                                oder Futtermittel zu fördern, die   Beispiel die intensive Tierhaltung, während der Fleischkon-

                   ER
                                   häufig in den Export gehen.      sum in Deutschland die empfohlene Menge um etwa das
                                   Agrarökologie sollte als         Doppelte überschreitet. Deshalb muss auch hierzulande die
                                  Förderschwerpunkt der staat-      Transformation des Ernährungssystems schnell vorange-
                             lichen Entwicklungszusammen-           bracht werden. Dazu gehört zum Beispiel eine Förderung
   arbeit im Agrar- und Ernährungsbereich verankert werden.         von agrarökologischen Ansätzen, eine schnelle und für
   Dafür braucht es systematische Investitionen in die regi-        die Erzeuger*innen faire Reduzierung der Tierbestände und
   onale, nach agrarökologischen Prinzipien ausgerichtete           Anreize zur Reduktion der Lebensmittelverschwendung.
   Landwirtschaft. Auch die agrarökologische Beratung
   für Kleinbäuerinnen und -bauern sollte gestärkt werden.

   In der internationalen Zusammenarbeit sollten kleine,
   einheimische Betriebe gefördert werden, statt die Markt-
   macht internationaler Unternehmen weiter zu stärken. Die
   Marktbedingungen für Kleinbäuerinnen und -bauern sollten
   verbessert werden. Sie brauchen unter anderem Infrastruk-           Was wir selbst tun können
   tur, um Obst und Gemüse richtig lagern und Nacherntever-
   luste reduzieren zu können. Diese machen ein Drittel der            Weniger tierische Lebensmittel konsumieren: Denn
   Verluste aller essbaren Lebensmittel im Globalen Süden              für die intensive Fleisch-, Milch- und Eierproduktion
   aus. Die Maßnahmen sollten die Umsetzung der UN-Erklä-              in Deutschland werden große Mengen an Futtermitteln
   rung zu den Rechten von bäuerlichen Produzent*innen                 benötigt, die vielfach in agrarindustriellen Monokulturen
   und anderen Menschen im ländlichen Raum (UNDROP)                    in Südamerika produziert werden. 70 Prozent der
   anstreben, angefangen mit dem Recht auf Land (Artikel 17).          globalen Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft
                                                                       entfallen auf die Tierhaltung.

                                                                       Bio- und fair gehandelte Produkte kaufen: Fairer
                                                                       Handel ist eine Möglichkeit zur Armutsbekämpfung.
                                                                       So bekommen Erzeuger*innen einen verlässlichen
                                                                       Absatzmarkt für ihre Produkte und wenigstens einen
                                                                       Mindestpreis, vielfach aber sogar einen Preis, der
                                                                       unter Umständen doppelt so hoch sein kann wie der
                                                                       Weltmarktpreis. Bio bedeutet, dass beispielsweise
                                                                       keine chemisch-synthetischen Pestizide angewendet
                                                                       werden dürfen, die die Gesundheit gefährden und
                                                                       teuer eingekauft werden müssen.

                                                                       Wenn alle an einem Strang ziehen,
                                                                       ist Hunger überwindbar!
„Auf dem Weg nach 2030 –
wir stehen gemeinsam ein
für eine Welt ohne Hunger.“
MISEREOR

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