BEUTE EINE ANTHOLOGIE ZU KUNSTRAUB UND KULTURERBE - ISABELLE DOLEZALEK BÉNÉDICTE S AVOY ROBERT SKWIRBLIES

Die Seite wird erstellt Melanie Arnold
 
WEITER LESEN
Beute
Eine Anthologie zu
    Kunstraub
  und Kulturerbe

       Herausgegeben von

   Isabelle Dolezalek
     Bénédicte Savoy
    Robert Skwirblies
       unter Mitarbeit von

      Luca Frepoli
48   Halberstädter Bischofschronik (um 1209)                                                                                                                                             49

     Wie Heiligenreliquien aus Byzanz nach
     Halberstadt kamen                                                                                So wurde seine Exzellenz, der Bischof, froh gestimmt und schwer mit ihnen be-
                                                                                                  laden, mit großer Freude und Jubel auf direktem Weg zur Kirche des Heiligen Ste-
     Am 16. August 1205, so die Halberstädter Bischofschronik, kehrte                             phanus geleitet. Als er dort eintrat, sangen die Kleriker zum Lob seiner im Namen
     Bischof Konrad von Krosigk reich beladen mit Heiligenreliquien und                           Gottes vollbrachten Taten mit feierlichen Stimmen das Responsorium Iustum deduxit
                                                                                                  Dominus [Den Gerechten führte der Herr].
     weiteren Kostbarkeiten an seinen Bischofssitz in Halberstadt
                                                                                                      Anschließend, in einer Predigt an das Volk, erklärte er die Namen, die Art und
     zurück. Er war am Vierten Kreuzzug beteiligt gewesen, der zwar die
                                                                                                  die Zahl der Patrone, die es ihnen zu erhalten vergönnt war. Das sind die Reliquien,
     Eroberung Jerusalems zum Ziel hatte, jedoch 1204 mit der Plünderung
                                                                                                  die er mitbrachte: das Blut unseres Herrn, Jesus Christus, [Teile] des Holzes des
     Konstantinopels endete. Bereits in zeitgenössischen Quellen wurde                            Herrn, vom Grab des Herrn, von der Dornenkrone des Herrn, von seinem Leichen-
     Kritik geäußert: Christen, die eine christliche Stadt plündern, Kirchen                      tuch und vom Schweißtuch, von seinem purpurnen Gewand, dem Schwamm und
     schänden, Reliquien rauben. Der expressiven Anklage des byzantini­                           dem Schilfrohr, von den Sandalen desselben, Haar der gesegneten Jungfrau Maria
     schen Chronisten Niketas Choniates steht mit dieser Schilderung                              und [Stücke] ihrer Gewänder, [ein Stück] des Schädels Johannes des Täufers, [Teile]
     des feierlichen Einzugs von Bischof Konrad in Halberstadt eine euphe­                        seiner Haare und Gewänder und einen Finger, das Schienbein des Heiligen Petrus
                                                                                                  und [Teile] seines Haars und seiner Gewänder, Haut des Apostels Paulus, Reliquien
     mistische Nicht-Erzählung von Erwerbsumständen gegenüber.
                                                                                                  des Andreas, der Arm des Apostels Simon, der vollständige Kopf von Jakobus, dem
                                                                                                  Bruder des Herrn, die Schulter des Apostels Philippus, der Arm des Apostels Bar-
                                                                                                  nabas, Reliquien aller Apostel, [ein Teil] des Schädels des Erzmärtyrers Stephanus,
                                                                                                  zusammen mit seinem Ellbogen, der Arm des Papstes Clemens, Reliquien der Hei-
            Halberstädter Bischofschronik (um 1209)                                               ligen Laurentius, Cosmas und Damianus, Johannes und Paulus, Georg, Prokopius,
                                                                                                  Theodorus, Demetrius, Abels, des Gerechten, Processus und Martinianus, Pantaleon,
           Als er sich […] der Stadt näherte, ließ er [Bischof Konrad von Krosigk] sich den       Hermolaus, Hermogoras, ein Finger des Heiligen Nikolaus, Reliquien von Johan-
           Schatz, der so wertvoll wie heilversprechend war – denn es waren Heiligenreliquien,    nes Chrysostomus, Johannes dem Almosengeber, Gregor von Nazianz und Basilius,
           die er mitgebracht hatte –, auf einer angemessen geschmückten Bahre vorantragen.       [Stücke] des Schädels der Maria Magdalena, eine Hand und ein Arm der Jungfrau
           Folglich kam die ganze Stadt, sowohl der Klerus als auch die Laien, die Prälaten und   Euphemia von Chalkedon, Reliquien von Lucia, Margareta, Katharina, Barbara und
           Kleriker des ganzen Bistums und ebenso Adlige und eine unzählige Schar von einfa-      viele andere Reliquien von heiligen Märtyrern, Bekennenden und Jungfrauen, deren
           chen Leuten aus den benachbarten Provinzen. Und ihm schon von der Stadt her weit       Aufzählung zu lang wäre.
           entgegenkommend, empfingen sie ihn mit Jubelrufen und solcher Feierlichkeit, wie           Seine Exzellenz der Bischof erklärte den Tag der Ankunft der Reliquien, den
           sie in ihrer Art und Großartigkeit noch niemand zuvor gesehen hatte.                   sechzehnten Tag vor den Kalenden des September, zum jährlichen Feiertag für das
               Zu Recht riefen sie dem Bischof, der zurückkehrte, wie aus einem Mund einen        gesamte Bistum. An diesem Tag sollten die Ordensleute des Klosters einen Platz
           Segen im Namen Gottes zu. Denn dieser Mann führte Unterpfande der Heiligen bei         in der Hauptkirche einnehmen, wie er durch eine ehrenvolle Ausnahme für sie be-
           sich, durch die unzweifelhaft Frieden und Erlösung ins Vaterland gebracht wurden       stimmte. Im Kloster errichtete, weihte und dotierte er einen neuen Altar zu Ehren
           […]. Die Zeit der Mängel, die das Land schon eine Weile geplagt hatten, wurde nun      der genannten Heiligen, damit ihnen immerwährende Andacht zuteilwürde.
           zu einer Zeit des beständigen Überflusses. Aus diesem Grund wurde zu Recht die             Ebenjener Konrad stiftete der Kirche des Heiligen Stephanus außerdem Schmuck
           Ankunft solcher Schutzpatrone bejubelt, durch welche mit Gottes Hilfe Hungers-         aus Gold, Silber, Edelsteinen und purpurnen Stoffen, und er stattete den Hochaltar
           nöte, Krankheit, Tod, Revolten und Kriege überall zum Schweigen gebracht wurden.       aus mit einem prächtigen Purpurstoff, einer Arbeit, die mit Goldfäden durchwirkt
50   Halberstädter Bischofschronik (um 1209)                                                                                                                                                                51

            war, und mit zwei prächtigen Standarten. Er stattete auch den Chorraum und den                 pendio visa sunt non esse inserenda«),3 entledigt sich der unbekannte Autor elegant
            Chorumgang elegant mit seidenen Behängen aus. […]                                              der Aufgabe, weitere Details zu schildern. Die Verwüstung, die Plünderungen und
                                                                                                           nicht zuletzt auch Konrads Erwerb der Heiligenreliquien finden keine Erwähnung.           -> Chonia-
            »Gesta episcoporum Halberstadiensium« [=GEH]. Nach: Georg Heinrich Pertz (Hg.),                                                                                                          tes (1206)
            Chronica aevi Suevici, Monumenta Germaniae Historica inde ab anno Christi quingentesimo            Ganze vierzig Zeilen des Texts, die der Gattung des Reliquientranslationsbe-
            usque ad annum millesimum et quingentesimum, Bd. 23, Stuttgart u. a. 1874, S. 120 f. Aus dem   richts zuzuordnen sind, schildern jedoch den feierlichen Einzug Konrad von Kro-
            Lateinischen von Isabelle Dolezalek, unter Berücksichtigung von: Andrea (Hg.), Contemporary    sigks in seinen Bischofssitz Halberstadt – der sich an antiken Formen des Triumph-
            Sources, S. 260–263.
                                                                                                           zugs messen kann.A Das letzte Stück seines Heimweges legte Bischof Konrad in
            Die anonym zusammengestellten Gesta episcoporum Halberstadiensium – auch Halber­               Begleitung des Herzogs von Sachsen und weiterer Adelsleute zurück, sodass seine
            städter Bischofschronik genannt – dokumentieren Leben und Taten der Bischöfe zu Halber­        Rückkehr in die Stadt von einer ansehnlichen Prozession begleitet war. Seinen mit-
            stadt von 780 bis 1209. Der letzte Teil der Gesta ist Konrad von Krosigk gewidmet, der von
            1201 bis 1208 Bischof von Halberstadt war. Der Text wurde wahrscheinlich um 1209 in seinem     gebrachten Schatz, die Heiligenreliquien, ließ er angemessen geschmückt auf einer
            Auftrag bzw. unter seiner Aufsicht verfasst (Andrea, »The Anonymous Chronicler«, S. 450).      Tragbahre der versammelten Bevölkerung präsentieren (»super feretrum impositas
                                                                                                           ac decenter ornatas«).4 Die von Gesängen und Segensrufen begleitete Prozession
                                                                                                           endete an der dem Heiligen Stephanus geweihten Bischofskirche, mit einer Predigt
           Die Eroberung Konstantinopels führte dazu, dass Anfang des 13. Jahrhunderts eine                Konrad von Krosigks, in der die einzelnen Reliquien gezeigt und erläutert wurden.
           große Anzahl von Reliquien christlicher Heiliger, aber auch von Kunstwerken aus                 Der Text der Chronik zählt die Reliquien auf und bietet somit einen Anhaltspunkt
           Byzanz in den Westen und Norden Europas eingeführt wurde. Bischof Konrad von                    für die Bestimmung der Provenienzen von heute noch erhaltenen Stücken des Hal-
           Krosigk brachte eine beachtliche Menge davon nach Halberstadt.                                  berstädter Domschatzes.5
               Konrad von Krosigk hatte sich im Jahr 1202 der Kreuzzugsbewegung angeschlos-                    Schon in seiner Ankunftspredigt, so die Chronik, schafft Konrad von Krosigk
           sen. Dabei verfolgte er nicht nur das Ziel, das Heilige Land zu »befreien«, sondern             die Grundlagen für eine sofortige lokale Aneignung der mitgebrachten Reliquien:
           auch ein ganz persönliches Anliegen: Konrad war exkommuniziert worden. Öffent-                  Er erklärt, dass die Reliquien jedes Jahr am Tag seiner Rückkehr – dem 16. August –
           lich »das Kreuz zu nehmen«, war eine Bußübung, die dem Betroffenen einen Weg er-                im Rahmen eines Fests verehrt werden sollen.6 Der Besuch der an diesem Tag zur
           öffnete, sich vom Makel der Exkommunikation zu befreien. Es ist diese persönliche               Schau gestellten Reliquien sollte mit einem Ablass verbunden sein, der Stiftung ei-
           Agenda, die im Bericht von Konrads Teilnahme am Kreuzzug im Vordergrund steht.                  nes solchen Festtages lag folglich auch der Gedanke zugrunde, Halberstadt als ein
           Der apologetische Charakter des um 1209 – wahrscheinlich unter Mitwirkung Kon-                  Zentrum für Wallfahrten zu etablieren.7 In einem zweiten Schritt stiftete Konrad
           rad von Krosigks – verfassten Teils der Bischofschronik ist offensichtlich, er mag              von Krosigk einen Altar als Ort der Verehrung der neu importierten Heiligen.8 Er
           jedoch jenseits der persönlichen Umstände des Bischofs auch auf die bereits damals              bereicherte den Domschatz um kostbare Purpur-, Seiden- und Goldstoffe sowie
           geäußerten Kritiken am Einfall des Kreuzheeres in Konstantinopel abgezielt haben.               Werke aus Gold, Silber und Edelsteinen.9 In der Bischofschronik nicht erwähnt, da
           Als eine der wichtigsten Gegenstimmen ist beispielsweise Papst Innozenz III. zu                 wohl nach der Niederschrift dieses Texts erfolgt, ist die Anfertigung von neuen Re-
           nennen, der den Überfall auf Konstantinopel ausdrücklich verboten hatte.1                       liquiaren zur Präsentation der Reliquien.10 So wurde beispielsweise um 1225 die
               Von den circa 300 Zeilen, die über Konrad von Krosigks Fahrt und seine Ver-                 Kreuzreliquie aus Konstantinopel, die bei Konrads Rückkehr noch in eine Silbertafel
           söhnung mit Papst Innozenz III. berichten, sind lediglich zehn Konstantinopel ge-               eingelassen war, neu umrahmt.11
           widmet.2 Die Einnahme der Stadt und die daraus resultierenden Herrscherwechsel                      »Adduxit«,12 »apportavit«,13 »de Grecia attulerat«14 – verschiedene lateinische Sy-
           werden ausschließlich unter politischen Gesichtspunkten thematisiert. Mit der An-               nonyme für »er brachte«. Nur schwer könnte der Text zur Frage der Provenienz der
           merkung, dass eine eigene Abhandlung erforderlich wäre, um die Ereignisse in Kon-               zahlreichen Reliquien und Objekte aus Byzanz neutraler gefasst sein. Darin unter-
           stantinopel wiederzugeben (»quoniam specialem requirunt tractatum, in hoc con-                  scheidet er sich deutlich von anderen mittelalterlichen Berichten, in denen explizit
52   Halberstädter Bischofschronik (um 1209)                                                                                                                                                           53

           von Reliquienraub die Rede ist.15 Und das wahrscheinlich vor dem Hintergrund der      1 Innozenz III, Reg. 7:206, zit. n. Andrea, Contemporary Sources, S. 146.      2 GEH, S. 118,
           zeitgenössischen Kritiken am Überfall auf Konstantinopel nicht ohne Grund. Eine       Z. 36–45.    3 GEH, S. 118, Z. 45.      4 GEH, S. 120, Z. 23.  5 Meller / Lipták (Hg.), Der Heilige
                                                                                                 Schatz.    6 GEH, S. 121, Z. 4–5.      7 Richter, »Reliquienschatz und Pilgerstrom«, S. 114.
           1208 ausgestellte Urkunde, eine weitere Quelle, welche die Schenkung Konrad von       8 GEH, S. 121, Z. 6–8.    9 GEH, S. 121, Z. 15–19.    10 Toussaint, »Die Sichtbarkeit des Ge­
           Krosigks an den Halberstädter Dom dokumentiert, kommt deutlicher auf die Um-          beins«.    11 Richter, »Reliquienschatz und Pilgerstrom«, S. 117.     12 GEH, S. 120, Z. 23 u. 42.
           stände des Erwerbs dieser Stücke zu sprechen:                                         13 GEH, S. 120, Z. 28.    14 GEH, S. 121, Z. 15.   15 Geary, Furta Sacra.     16 Schmidt,
                                                                                                 Urkundenbuch der Stadt Halberstadt, S. 401, Z. 10–15. Das Original in Göttingen, Georg-­
               »So führte uns das Schicksal bis nach Griechenland und hier gelangten wir zum     August-Universität, Diplomatischer Apparat, Nr. 639 (Übersetzung: Isabelle Dolezalek).
           Kaiser […], aus Freundschaft und Gunst [des griechischen Kaisers] und weiterer        17 Johannes Paul II., »Schreiben an den ökumenischen Patriarchen«.
           Würdenträger, nämlich Bischöfe und Äbte, haben wir den von uns mehr als Gold
                                                                                                 Alfred J. Andrea (Hg.), Contemporary Sources for the Fourth Crusade, The Medieval
           und Edelsteine geliebten Schatz, also Heiligenreliquien und Ornat in großen Men-          Mediterranean, Bd. 29, Leiden 2008.
           gen erhalten«.16                                                                      Alfred J. Andrea, »The Anonymous Chronicler of Halberstadt’s Account of the Fourth
              Aus »Freundschaft und Gunst« des griechischen Kaisers und weiterer Würden-             Crusade. Popular Religiosity in the Early Thirteenth Century«, in: Historical Reflections /
                                                                                                     Réflexions Historiques 22 (1996), H. 2, S. 447–455, 457–477.
           träger seien die von ihm mehr als Gold und Edelstein geschätzten Heiligenreliquien    Patrick Geary, Furta Sacra. Thefts of Relics in the Central Middle Ages, Princeton 1990.
           und liturgischen Objekte in den Besitz des Halberstädter Bischofs gelangt. Die For-   Johannes Paul II., »Schreiben an den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Bartholo­
           mulierung ist jedoch keineswegs genau: aus Freundschaft und Gunst »meruimus               maios I. anlässlich der Übergabe der Reliquien der Hll. Gregor von Nazianz und Johannes
                                                                                                     Chrysostomus«, 29. 11. 2004, {vatican.va / content / john-paul-ii / de / letters / 2004 /
           obtinere« – wortwörtlich: haben wir es verdient, den Schatz zu bekommen. Als              documents / hf_jp-ii_let_20041127_consegna-reliquie.html}, letzter Zugriff 7. 1. 2021.
           ein Geschenk? Das Wort »donum« – Gabe – oder Synonyme, die in einem solchen           »Gesta Episcoporum Halberstadensium« (GEH), in: Georg Heinrich Pertz (Hg.), Chronica aevi
           Fall zu erwarten wären, werden nicht verwendet. Erhielt Konrad von Krosigk den            Suevici, Monumenta Germaniae Historica inde ab anno Christi quingentesimo usque ad
                                                                                                     annum millesimum et quingentesimum, Bd. 23, Stuttgart u. a. 1874, S. 73–123.
           Schatz lediglich durch die Vermittlung des Kaisers, oder mit seiner Genehmigung?      Petra Janke, Ein heilbringender Schatz. Die Reliquienverehrung am Halberstädter Dom im
           Und welcher Kaiser ist gemeint? Die politische Situation Konstantinopels war in-          Mittelalter. Geschichte, Kult und Kunst, München 2006.
           stabil, der byzantinische Thron wurde in rascher Folge neu besetzt. Zum Zeitpunkt     Harald Meller, Juraj Lipták (Hg.), Der Heilige Schatz im Dom zu Halberstadt, Regensburg
                                                                                                     2008.
           von Bischof Konrads Abreise hatte ihn ein lateinischer Fürst aus den Reihen der       Régine Pernoud (Hg.), Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, München 1977.
           Kreuzfahrer inne, Graf Balduin von Flandern.                                          Jörg Richter, »Reliquienschatz und Pilgerstrom. Spuren der Verehrung des Apostels Iacobus
               Beutegut oder Schenkung? Sind die Ursprünge der Halberstädter Heiligenreli-           maior am Halberstädter Dom«, in: Enno Bünz, Klaus Herbers (Hg.), Der Jakobuskult in
                                                                                                     Sachsen, Tübingen 2007, S. 113–123.
           quien nach über achthundert Jahren lokaler Aneignung und Verehrung noch rele-         Gia Toussaint, »Die Sichtbarkeit des Gebeins im Reliquiar – Eine Folge der Plünderung
           vant? Wäre ein Raub nicht längst verjährt und vergessen? Das Byzantinische Reich          Konstantinopels«, in: Bruno Reudenbach, Gia Toussaint (Hg.), Reliquiare im Mittelalter,
           existiert schon lange nicht mehr, wer wären also die rechtmäßigen Erben im hypo-          Berlin 2005, S. 89–106.
                                                                                                 Gustav Schmidt (Hg.), Urkundenbuch der Stadt Halberstadt, Bd. 1, Halle / S. 1878, S. 400–403.
           thetischen Fall einer Restitution? – Einige dieser Fragen wurden 2004 durch eine
           Geste Papst Johannes Pauls II. beantwortet, der achthundert Jahre nach der Plün-      Bildatlas zu kunstraub und kulturerbe
           derung Konstantinopels die Reliquien zweier Kirchenväter an den Ökumenischen
           Patriarchen von Konstantinopel – jetzt in Istanbul – zurückgab. »Eine gesegnete       		A  Bild 19, 20
           Gelegenheit« sei dies, so der damalige Papst, »unser verwundetes Gedächtnis zu        		Schwergewichtige Symbolik,
           reinigen und unseren Weg zur Versöhnung zu festigen«.17                                 Caesar triumphiert in der Renaissance

                                                                        Isabelle Dolezalek
168   Castlereagh (1815): Note an die alliierten Minister                                                                                                                                                169

                                                                                                              Die Parthenon-Skulpturen als Staatsinvestition
             1 Zitiert nach Savoy, Kunstraub, S. 244.   2 Martens, Nouveau Recueil de Traités, S. 612 f.
             3 »Definite Treaty between Great Britain and France«, Sp. 301–305.      4 [Mazier du             Die Zeugenaussagen bei der Debatte über den Ankauf der »Elgin
             Heaume,] Observations d'un français.      5 Perrot, »La restitution des œuvres d'art«.
             6 Osterhammel, »Globalisierung und Kolonisation«, S. 182.      7 Osterhammel, »Globalisie­       Marbles« im britischen Unterhaus im Jahr 1816 sollten die Rechtmäßig­
             rung und Kolonisation«, S. 188.   8 Etwa: Vrdoljak, International Law.    9 Pécout,              keit ihrer Erwerbsumstände in Griechenland ebenso klären wie ihren
             »Vivant Denon«, S. 502 f. (Übersetzung: Bénédicte Savoy).
                                                                                                              Wert als öffentliche Investition. Der hochrangige Politiker und Antiken­
             »Definitive Treaty between Great Britain and France, signed at Paris the 20th November 1815,     kenner Lord Aberdeen wurde als Augenzeuge der Demontage vor­
                 and other Conventions and Documents«, in: The Parliamentary Debates from the Year
                 1803 to the Present Time [Hansard’s Parliamentary Debates], Bd. 32 (1. 2. – 6. 3. 1816),     geladen und versuchte, diese beiden Kernfragen zu klären – nicht ohne
                 London 1816, Sp. 246–310 (House of Commons, Friday, February 2).                             sich in Widersprüche zu verwickeln.
             [Hypolite Mazier du Heaume,] Observations d'un français sur l'enlèvement des chefs
                 d'œuvre du Muséum de Paris, en réponse à la lettre du duc de Wellington au Lord
                 Castle­reagh, Paris 1815.
             Georg Friedrich von Mertens (Hg.), Nouveau Recueil de Traités […] des Puissances et états
                 de l’Europe, Bd. 2, Göttingen 1818.
             Jürgen Osterhammel, »Globalisierung und Kolonisation«, in: David Blankenstein u. a.,
                 Wilhelm und Alexander von Humboldt (Ausst.-Kat. Berlin, Deutsches Historisches                     George Hamilton-Gordon: Zeugenbefragung zur Sammlung von
                 Museum, 21. 11. 2019 –19. 4. 2020), Darmstadt 2019, S. 182–190.                                    Marmorskulpturen Lord Elgins (1816)
             Gilles Pécout, »Vivant Denon, l'impossible négociateur de 1814-1815«, in: Daniela Gallo (Hg.),
                 Les vies de Dominique-Vivant Denon, Bd. 2, Paris 2001, S. 497–515.
             Xavier Perrot, »La restitution des œuvres d'art en 1815 vue par la doctrine internationa­              8. März 1816. Henry Bankes als Vorsitzender. Der Earl of Aberdeen, mit Erlaubnis
                 liste du XIXe siècle. La victoire du moralisme sur le légalisme«, in: Brigitte Basdevant-­         des Oberhauses erschienen, wurde befragt.
                 Gaudemet, Nathalie Goedert (Hg.), Les univers du droit. Mélanges en hommage à
                 Claude Bontems, Paris 2013, S. 345–359.                                                            In welchem Jahr befand sich Eure Lordschaft in Athen? – Im Jahr 1803.
             Bénédicte Savoy, Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäi­                      Waren irgendwelche Teile der Marmorskulpturen, die sich jetzt in der Sammlung
                 schen Folgen. Mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée
                 Napoléon, Wien u. a. 2011.                                                                         Elgin befinden, zu dieser Zeit schon entfernt? – Ja, ein beträchtlicher Anteil.
             Ana Filipa Vrdoljak, International Law, Museums and the Return of Cultural Objects,                        Dauerte der Entfernungsprozess noch an? – Ja.
                 Cambridge 2006.                                                                                        Schien dies eine Reaktion unter den Magistraten oder den Einwohnern von
             Bildatlas zu kunstraub und kulturerbe                                                                  Athen hervorzurufen? – Nicht viel, soweit ich sehen konnte.
                                                                                                                        In welchem Zustand war der westliche Giebel zu diesem Zeitpunkt? – Ich glaube,
                                                                                                                    diese beiden Figuren (die zweite und dritte von links in der Zeichnung Nointels)
                             a Bild 73                                                                              waren noch vorhanden, sonst nichts.
                             Trophäentränen                                                                             Befand sich der Kopf auf der zweiten Figur? – Als ich in Athen ankam, war er
                                                                                                                    dort und wurde zerstört, während ich dort war; ich vermute, in der Hoffnung, ihn
                                                                                                                    an irgendeinen Reisenden zu verkaufen, war er abgeschlagen worden und zerbrach,
                             B Bild 75                                                                              als er auf das Pflaster fiel.
                             Apollos Abreise oder: Leb wohl, Paris!                                                     Hatte Eure Lordschaft Gelegenheit, den Kopf zu sehen, bevor er abgeschlagen
                                                                                                                    wurde? – Ich sah ihn oft, bevor er abgeschlagen wurde.
                                                                                                                        Wies er Eurer Lordschaft nach irgendeine Ähnlichkeit mit einem bestimmten
                                                                                                                    Kopf aus, den Ihr aus der Antike gesehen hattet? – Man nannte ihn die Statue des
170   Hamilton-Gordon (1816): Zeugenbefragung zur Sammlung von Marmorskulpturen Lord Elgins                                                                                                171

            Hadrian; aber der Kopf war zu dem Zeitpunkt so verstümmelt und zersetzt, dass ich       für sehr wertvoll, nicht nur wegen der Vorzüglichkeit der Arbeiten, sondern weil sie
            es für unmöglich gehalten hätte, irgendeine Ähnlichkeit mit dem Kopf festzustellen.     Teil des berühmtesten Tempels in Griechenland waren und zweifellos Beispiele der
                Schien sich die Ausführung des Kopfes oder der Figur vom allgemeinen Charak-        Kunst des Landes zum Zeitpunkt ihrer höchsten Vollkommenheit darstellen. Die
            ter der Ausführungen am westlichen Giebel zu unterscheiden? – Nicht im Mindesten.       andere Gruppe umfasst eine große Sammlung von Inschriften aus verschiedenen
                Wie klassifiziert Eure Lordschaft die besten der Marmorskulpturen, die Lord El-     Teilen Griechenlands, die vom Standpunkt ihres großen Alters und sprachlicher Be-
            gin mit nach Hause gebracht hat? – An erster Stelle. Damit meine ich, wohlgemerkt,      sonderheiten höchst interessant sind, sie sind historische Dokumente zum Fortgang
            nur einen sehr hohen Grad an Vortrefflichkeit und nicht im engeren Sinn einen           und Wandel der griechischen Sprache, die man meines Erachtens nur schwer an-
            Vergleich mit den vollkommensten Werken der Kunst auf dem Kontinent oder sogar          dernorts finden kann; für Privatpersonen wäre das sicherlich von vergleichsweise
            in diesem Land.                                                                         geringem Wert, aber von einem nationalen Gesichtspunkt halte ich ihre Bedeutung
                Erachtet Ihr sie für so alt, wie sie üblicherweise beschrieben werden? – Fraglos.   für beträchtlich, besonders wenn man seine Aufmerksamkeit auf das Studium der
                Hält Eure Lordschaft die Metopen für gleich alt? – Ich sehe keinen Grund, daran     griechischen Sprache richtet. Darüber hinaus gibt es andere Objekte von mehr oder
            zu zweifeln; ich würde tatsächlich sagen, sie sind gleich alt, denn die Steine, aus     weniger großem Wert; und ich möchte besonders auf die Architekturfragmente ver-
            denen sie herausgearbeitet wurden, sind in das Gebäude eingelassen, und das muss        weisen, die Bestandteil einiger der vollkommensten Bauwerke Griechenlands sind.
            geschehen sein, bevor das Dach aufgesetzt wurde.                                        Insgesamt bin ich daher sicher, dass die vormalige Regierung Frankreichs bereit-
                Ist Eure Lordschaft der Ansicht, dass diese Werke noch lange erhalten geblieben     willig eine größere Summe gegeben hätte; und ich bin überhaupt nicht sicher, ob
            wären, wenn man sie an ihrem alten Platz belassen hätte? – Ich denke, sie waren in      einige der europäischen Regierungen nicht geneigt wären, ebenfalls mehr zu bieten,
            großer Gefahr und wachsenden Gefahren ausgesetzt durch die zahlreichen Reisen-          ungeachtet ihrer gegenwärtigen Finanzsituation.
            den, die in den letzten Jahren das Land besuchten.                                          Hat Eure Lordschaft einen Grund zu der Annahme, dass die vormalige franzö-
                Nahmen die Reisenden gewöhnlich Fragmente dieser Kunstwerke mit? – Manche           sische Regierung in Betracht zog, eine Summe anzubieten? – Mir ist kein konkretes
            Reisende taten das, aber die Einheimischen stellten sich vor, dass alle Reisenden       Angebot bekannt, aber ich halte es für wahrscheinlich, auf der Grundlage allgemei-
            diesen Wunsch hegten, und sie zerstörten sie daher entsprechend.                        ner Eindrücke und vernommener Meinungsäußerungen von Personen in Paris.
                Zerstörten sie sie, um sie an die Reisenden zu verkaufen? – Davon gehe ich aus.        Weiß Eure Lordschaft zufällig, ob es in Europa Fürsten gibt, die jetzt sammeln
                […] Hat Eure Lordschaft Marmorskulpturen mit nach Hause gebracht? – Ein paar        und wahrscheinlich eine solche Sammlung erwerben würden, böte man sie ihnen
            Inschriften; ein paar Fragmente; nicht von diesen.                                      an? – Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass der König von Bayern das tun würde,
                Aus anderen Teilen Griechenlands? – Ja.                                             aber ich weiß es nicht; und sehr wahrscheinlich der Kaiser von Russland; der König
                Holte Eure Lordschaft eine besondere Genehmigung ein, um Abgüsse oder               von Preußen hat tatsächlich eine große Sammlung Bilder gekauft; aber das sind nur
            Zeichnungen anfertigen zu lassen, aus irgendeinem Teil Athens? – Nein.                  Vermutungen.
                […]                                                                                     Eure Lordschaft hat keinen Zweifel an der Bedeutung, die es für dieses Land bei
                Hat Eure Lordschaft eine Vorstellung von dem Geldwert einer solchen Samm-           der Gründung einer nationalen Schule der Kunst hätte, ebenso wie aus den anderen
            lung? – Das ist sicher eine Frage, die sich nur schwer zufriedenstellend beantworten    von Euch genannten Gründen, wenn die Sammlung erworben würde? – Ich halte
            lässt; zweifellos habe ich mir selbst eine Meinung gebildet bezüglich ihres Wertes,     durchaus sehr viel von dieser Sammlung, sowohl im Hinblick auf die Kunst und als
            und wenn das Komitee wünscht, kann ich sie vortragen und die Gründe, die dazu           interessante Gegenstände aus der Antike.
            führten. Die Sammlung ist sehr umfangreich und kann meiner Meinung nach in                  Hätte nach Meinung Eurer Lordschaft ein privater Reisender die Gelegenheit
            zwei Gruppen geteilt werden: erstens die Skulpturen aus verschiedenen Teilen Grie-      gehabt, die Demontage dieser Marmorskulpturen zu bewerkstelligen; oder sind Eure
            chenlands, aber insbesondere vom Tempel des Parthenon in Athen. Diese erachte ich       Lordschaft der Ansicht, es bedürfe der Autorität und des Einflusses öffentlicher Um-
172   Hamilton-Gordon (1816): Zeugenbefragung zur Sammlung von Marmorskulpturen Lord Elgins                                                                                                           173

            stände? – Ich glaube nicht, dass eine Privatperson die Demontage dieser Überreste             […]
            hätte bewerkstelligen können, die Lord Elgin beschaffte. Ich werde eine Tatsache aus          Eure Lordschaft hat auf die Umstände angespielt, dass der Kopf der als Hadrian
            meiner eigenen Erfahrung berichten: Als ich in Konstantinopel war, ging ich zufällig      bezeichneten Figur während der Zeit, als sich Eure Lordschaft in Athen aufhielten,
            dorthin, um einer Frage nachzugehen, die zu der Zeit viel diskutiert wurde, hinsicht-     abgebrochen wurde; ist Eure Lordschaft in der Lage, eine Meinung zu äußern, wie
            lich der Glaubwürdigkeit von Homers Bericht über die Belagerung von Troja; und            das Komitee entweder den Dienst, der der Kunst durch die Entfernung der anderen
            ich dachte, man könnte das auf einfache Weise veranschaulichen, indem man einige          Fragmente erwiesen wurde, oder den Undienst einschätzen könnte? – Ich denke, die
            der Grabhügel öffnete, die in diesem Land verblieben sind und die verschiedenen           Marmorskulpturen in Athen waren weniger durch eine Zerstörung durch die Türken
            Helden zugewiesen werden. Ich erlangte dementsprechend in Konstantinopel die              in Gefahr als durch die Häufigkeit der Reisenden in diesem Land, sowie von den
            Erlaubnis, solche Hügelgräber nach Belieben zu öffnen; und reiste zusammen mit            anhaltenden Versuchen der französischen Regierung, sie in ihren Besitz zu bringen;
            dem damaligen Kapudan Pascha, der mir behilflich war, soweit es in seiner Macht           und daher meine ich, dass sie innerhalb relativ kurzer Zeit wahrscheinlich aus Athen
            stand, in die Ebene von Troja, aber die Einheimischen legten uns solche Hindernisse       entfernt worden wären; und in dieser Hinsicht hat es mich immer sehr gefreut, sie
            in den Weg, dass ich nichts erreichen konnte. Daher denke ich, sehr beträchtlicher        hier zu sehen.
            Einfluss muss für die Umsetzung nötig gewesen sein, nicht nur in der Regierung,              Waren Eurer Lordschaft die Schritte bekannt, die der Graf von Choiseul zu ihrem
            sondern auch im Lande.                                                                    Abtransport eingeleitet hat? – Ich habe oft davon gehört.
                Glaubt Eure Lordschaft, dass ein beträchtlicher Unterschied in der Schwierigkeit         Tatsächlich war nicht eine einzige der Figuren auf beiden Giebeln vollkommen? –
            besteht, ob man Überreste von einem bestehenden Bauwerk entfernt oder Dinge               Nein, ich glaube nicht; sie hatten zum einen sehr unter den Türken gelitten; aber
            unterirdisch ausgräbt und entfernt? – Sehr wahrscheinlich; aber es ist schwer zu          diese Gewaltanwendung hatte vollkommen aufgehört, die Türken haben sie niemals
            sagen, was die türkische Regierung unternehmen würde; sie scheint gänzlich von            beschädigt, sie haben gar nicht an sie gedacht.
            Willkür geleitet; zum einen Zeitpunkt mag keine Schwierigkeit vorliegen, zu einem             Hatte Lord Elgin die beiden Häuser unter dem östlichen Gipfel gekauft, als Eure
            andern sehr viele.                                                                        Lordschaft dort war? – Das hatte er; der Tempel wurde in der Folge freigelegt.
                Eurer Lordschaft ist keine Erlaubnis bekannt, die Einzelreisenden gegeben wur-            Es war in diesen Häusern, und in den Ausgrabungen darunter, wo er einen be-
            de, die von derselben Art wäre wie die von Lord Elgin? – Nein, das ist nicht der Fall,    trächtlichen Teil der Marmorskulpturen fand? – Ich glaube ja.
            aber ich möchte klarstellen, dass ich nicht sage, sie würde verweigert; ich erhielt
                                                                                                      Report from the Select Committee of the House of Commons on the Earl of Elgin’s Collec­
            ohne Schwierigkeiten eine Erlaubnis von der Regierung.                                    tion of Sculptured Marbles etc., London 1816, S. 117–125. Aus dem Englischen von Susanne
                Es handelte sich dabei um eine Ausgrabungserlaubnis? – Ja.                            Meyer-Abich.
                Tatsächlich erhielt Eure Lordschaft jegliche Hilfe von der türkischen Regierung,
                                                                                                      Der schottische Hochadlige George Hamilton-Gordon, vierter Earl of Aberdeen (1784–1860),
            die Ihr wünschtet? – Das ist richtig.                                                     gehörte zum engen Zirkel der britischen Oberschicht. Lord Byron war sein Cousin, Lady
                Kann Eure Lordschaft beurteilen, ob Lord Elgin nicht bei diesen Unternehmun-          Hamilton seine Schwägerin. Früh hatte er mit Premierminister William Pitt einen der
            gen große Ausgaben angefallen sind? – Sehr große, das stimmt.                             wichtigsten englischen Politiker als Förderer. Ebenso früh konnte er sein Interesse für das
                                                                                                      Antikenstudium und Kunstsammeln ausleben: Auf seiner Grand Tour 1802–04 besuchte
                Nicht nur im Hinblick auf die Ausführung der Unternehmung, sondern auch, um           er Paris und Italien, begleitete dann den designierten Nachfolger Lord Elgins als Botschafter
            den guten Willen der Behörden vor Ort zu sichern? – Mir scheint wahrscheinlich,           in Konstantinopel ebendorthin. Zurück in London wurde Aberdeen ab 1805 schnell Teil
            dass das notwendig gewesen wäre, nach Erhalt einer solchen Erlaubnis die Behör-           der höchsten Gelehrtenkreise der Oberschicht, 1811 Präsident der Society of Antiquaries,
                                                                                                      1812 Trustee des British Museum, wohin auch seine Antikensammlung gelangen sollte.
            den durch Geschenke wohlwollend zu stimmen; aber die Schwierigkeit, die Objekte           Als Diplomat von Bedeutung wirkte er ab 1828 im Außenministerium und war 1852–55 Premier­
            zu entfernen, war beträchtlich, scheint mir, als ich in Athen war, es gab in der ganzen   minister. Durch den glücklosen Krimkrieg endete seine Laufbahn im Schatten (Chamberlain,
            Stadt nur einen Karren, und der schien nicht geeignet, große Gewichte zu befördern.       s. v. Gordon, George Hamilton).
174   Hamilton-Gordon (1816): Zeugenbefragung zur Sammlung von Marmorskulpturen Lord Elgins                                                                                                                 175

            Im Jahr 1816 kam es zu einer Debatte im britischen House of Commons über den                      Erwerbungen zu privat nicht zu leistenden Vorgängen erklärt. Bezüge zu anderen
            Ankauf der sogenannten Elgin Marbles, jener marmornen Frieselemente und Skulp-                    europäischen Herrschern oder Staaten und Vergleiche mit dem Torso vom Belvedere
            turen, die Lord Elgin (1766–1841) vom Parthenon in Athen entfernenA und nach                      oder der Mediceischen Venus führen die Bedeutung der Museen des Louvre und des
            England hatte verschiffen lassen. Das Parlament setzte einen Ausschuss ein, der       -> Byron    Vatikans vor Augen. Letzterer erhielt seine Werke zurück, als der triumphale franzö-
                                                                                                  (1812),
            neben Elgin selbst weitere Beteiligte befragte: Zeugen der Translozierung, Händler,   de Gorsse   sische Kunstraub der napoleonischen Zeit rückabgewickelt wurde. Dieser symboli-
                                                                                                  (1927)
            Künstler und Sammler. Leitfrage war, ob der britische Staat die Objekte »on behalf                sche Akt britischer Machtpolitik machte gleichzeitig eine eigene Museumsgründung
            of the Public«1 kaufen sollte,B und wenn ja, zu welchem Preis. Nützten die Steine                 delikat: Während die Briten ihren Sieg über Napoleon als »triumph of excellence«9
            etwas? Waren sie richtig taxiert? Überhaupt: Waren sie echt? Es ging also um eine                 feierten und im selben Zuge die ›heroischen‹ Qualitäten der griechischen Antike für
            öffentliche Investition. Vor diesem Hintergrund stellten die Parlamentarier auch                  sich beanspruchten, mussten die geschlagenen Franzosen ihre römischen Trophäen
            Fragen nach der Rechtmäßigkeit der Erwerbung in Griechenland,2 Streitpunkt der        -> Memo­    zurückgeben. Die Aneignung fremder Werke zur eigenen Glorie verbot sich daher.         -> Castle­
                                                                                                  randum                                                                                             reagh
            bis heute nicht gelösten Debatte um die Translozierung der Skulpturfragmente.3        (2000)          In der Folge hielt sich die englische Obrigkeit an den vermeintlich schutz- und    (1816)
                Der Earl of Aberdeen war nicht nur Zeuge, sondern auch Akteur. Die Skulpturen                 herrenlosen Antiken aus Griechenland schadlos. Schon die Fragen an Aberdeen
            des Parthenon hatte er wohl selbst kaufen wollen, jedoch war ihm Elgin um wenige                  suggerieren, was dieser gern bestätigte: Die Skulpturen wären ohne die Initiati-
            Monate zuvorgekommen.4 Schon 1815 war Aberdeen Teil einer Regierungskommis-                       ve Elgins entweder zerstört oder von anderen in Besitz genommen und zerstreut
            sion, die über den Ankauf entscheiden sollte.5 Im Gegensatz zu seinem Freund und                  worden. Zweiter Teil dieser Rechtfertigungsstrategie ist die auffällig wohlwollende
            Förderer Richard Payne Knight lag Aberdeen nicht daran, Elgins Sammlung abzu-                     Rolle der türkischen Machthaber, wie sie Aberdeen zeichnet, und die juristische Le-
            werten. Geschickt brachte er vielmehr den Namen Phidias als Schöpfer der Skulptu-                 gitimität der Ausgrabungen, Abnahmen und Abtransporte. Zentral ist dabei der in
            ren ins Spiel und empfahl mit 35 000 Pfund genau die Summe als Preis, für die das                 der späteren Diskussion berühmt-berüchtigte Erlass der osmanischen Obrigkeit.10
            Parlament dann tatsächlich den Ankauf genehmigte.6                                                    Den nach England gebrachten Fragmenten wurde mehrheitlich herausragende
                Die Aussagen Aberdeens und der übrigen Befragten geben nicht nur Aufschluss                   künstlerische und erzieherische Bedeutung beigemessen, doch dieser Wert speiste
            über den harten Geldwert von Kunstwerken und Kulturobjekten und die ästhetisch-                   sich wesentlich aus ihrer symbolischen Bedeutung: Sie materialisierten eine Antike,
            normativen Ansprüche, die an sie gestellt werden – sondern auch über Erwerbs-                     die Projektionsfläche für zeitgenössische Macht- und Identitätsansprüche war. Sie
            und Sammelpraktiken: Nicht nur die äußere Unversehrtheit, Schönheit oder auf                      fungierten als Konkurrenz- und Gegenstücke zu den berühmten Werken der Mu-
            antike Referenzen in Literatur und Philosophie zurückgehende ›Originalität‹ und                   seen in Rom und Paris. Sie wurden legitime und legitimierte Trophäen eines zur
            Zuschreibungen, etwa an Phidias, bestimmen den Wert – sondern auch die Schwie-                    Weltmacht werdenden Großbritanniens nach der Niederlage Napoleons.
            rigkeit, diese Objekte zu bekommen. Viele Zeugen sprachen die teils rechtswidrige                     Dass schließlich die griechische Antike den englischen »triumph of excellence«     -> Karl
                                                                                                                                                                                                     von
            Praxis direkt und in lakonischem Ton an, ja, setzten sie implizit sogar voraus: Die               nicht bloß symbolisch untermalen sollte, sondern ihr eine handfeste volkswirt-         Neapel
                                                                                                                                                                                                     und
            Umgehung von Ausfuhrverboten und Bestechung von Beamten waren reale Bedin-                        schaftliche Wirkung zugesprochen wurde, ist in der Rede vom Museumswert im-            Sizilien
                                                                                                                                                                                                     (1755)
            gungen für den Erwerb in England.7 Die teils ausweichenden und widersprüchli-                     pliziert.11 Die Quintessenz: Eine freie Regierung erzeuge eine Kunstblüte, Geistes-
            chen Antworten Aberdeens legen nahe, dass es ungeachtet der lokalen Profiteure                    leistungen und Exzellenz auf allen Ebenen, daher könne kein Land den Parthenon-
            und Kollaborateure durchaus eine lokale Opposition gegen die zunehmend rück-          -> Turner   Skulpturen ein so ehrenvolles Asyl bieten wie England, wo sie Schutz und Wert-
                                                                                                  (1810)
            sichtslose und konkurrenzgeprägte Spoliierung der antiken Stätten gab.8 · C                       schätzung erführen.
                Diese zur Rechtfertigung angeführte Konkurrenz waren vordergründig ande-                          Diese Volte überzeugte keineswegs allgemein. Unausgesprochen kam das dem
            re europäische Reisende und Sammler. Im Grunde ging es aber um Macht- und                         Gedanken von der wiedererlangten Freiheit der Kunstwerke nahe, womit in Paris
            Symbolpolitik, wie Aberdeen selbst deutlich macht, wenn er die Ausgrabungen und                   nach der Revolution der reale Raub uminterpretiert wurde.12 Das gilt auch für den
176   Hamilton-Gordon (1816): Zeugenbefragung zur Sammlung von Marmorskulpturen Lord Elgins                                                                                                                                 177

            Vorbildcharakter, den sie praktisch erfüllen sollten. Mit Werken aus Phidias’ Schule,               -> Barbier   Edouard Pommier, Winckelmann und die Betrachtung der Antike im Frankreich der Auf­
                                                                                                                (1794)           klärung und Revolution. Vortrag gehalten auf der Hauptversammlung der Winckelmann-
            begriffen als Spitze menschlicher Bildhauerkunst überhaupt, und der politischen
                                                                                                                                 Gesellschaft in Stendal, Dezember 1991, Tübingen 1992.
            Wirkungszeit Perikles’ als ideal überhöhtem Vorbild wird London materielle und                                   Report from the Select Committee of the House of Commons on the Earl of Elgin’s Collec­
            ideelle Erbin und Nachfolgerin Athens.                                                                               tion of Sculptured Marbles etc., London 1816.
                                                                           Robert Skwirblies                                 Fiona Rose-Greenland, »The Parthenon Marbles as Icons of Nationalism in Nineteenth-­
                                                                                                                                 Century Britain«, in: Nations and Nationalism 19 (2013), H. 4, S. 654–673.
                                                                                                                             Jacob Rothenberg, Descensus Ad Terram. The Acquisition and Reception of the Elgin
                                                                                                                                 Marbles, New York, London 1977.
            1 Report from the Select Committee, S. 1.        2 Report from the Select Committee, S. 3–5,                     David Rudenstine, »A Tale of Three Documents: Lord Elgin and the Missing, Historic 1801
            Befragung Elgins ebd., S. 31–50, William Hamilton, ebd. S. 54–58.      3 Dazu zuletzt u. a.                          Ottoman Document«, in: Cardozo Law Review 22 (2001), S. 1853–1883.
            Mallouchou-Tufano / Malikourti, 200 Years; Hitchens, The Parthenon Marbles.          4 St. Clair,                William St. Clair, Lord Elgin and the Marbles, Oxford ³1998.
            Lord Elgin and the Marbles, S. 137 u. 172; Chamberlain, s. v. Gordon, George Hamilton-.                          The Statutes of the United Kingdom of Great Britain and Ireland, 56 George III. 1816, London
            5 St. Clair, Lord Elgin and the Marbles, S. 219 u. 251.   6 »Elgin Marbles«, Sp. 1027–1040;                         1816 [Acts of Parliament].
            Statutes, S. 504 u. 706 (C. 99: An Act to vest the Elgin Collection of ancient Marbles and
            Sculpture in the Trustees of the British Museum for the Use of the Public, 1st July 1816).                       Bildatlas zu kunstraub und kulturerbe
            7 Report from the Select Committee: Befragung Richard Payne Knight, S. 98 f.; St. Clair, Lord
            Elgin and the Marbles, S. 251.     8 Vgl. Hobhouse, A Journey through Albania, and other
            Provinces, S. 345–348.       9 Jenkins, Archaeologists & Aesthetes, S. 15.     10 Report
            from the Select Committee, Appendix 10; Rudenstine, »A Tale of Three Documents«.                                                 a Bild 13
            11 Hitchens, The Parthenon Marbles, S. 133.        12 Pommier, Winckelmann und die Be­                                           Kunstschätzender Botschafter auf Abwegen
            trachtung der Antike im Frankreich der Aufklärung und Revolution, S. 37.

            Helen Angelomatis-Tsougarakis, The Eve of the Greek Revival: British Travellers’ Per­
                ceptions of the Early Nineteenth-century Greece, London 1990.                                                                B Bild 45
            John Brewer, The Pleasures of the Imagination. English Culture in the Eighteenth Century,                                        Brot statt Marmor
                London 1997.
            Muriel E. Chamberlain, s. v. Gordon, George Hamilton-, fourth Earl of Aberdeen, in: Oxford
                Dictionary of National Biography, 2004, Version vom 27. 05. 2010, {doi.org / 10.1093 /
                ref:odnb / 11044}, letzter Zugriff 7. 1. 2021.                                                                               C Bild 40
            »Elgin Marbles«, in: The Parliamentary Debates from the Year 1803 to the Present Time                                            Ein Manga-Star im Auftrag des British Museum
                [Hansard’s Parliamentary Debates], Bd. 34 (26. 4. – 2. 7. 1816), London 1816, Sp. 1027–1040
                (House of Commons, Friday, June 7).
            Yannis Hamilakis, The Nation and ist Ruins. Antiquity, Archaeology, and National Imagina­
                tion in Greece, Oxford 2009.
            Christopher Hitchens, The Parthenon Marbles. The Case for the Reunification, London
                2008.
            John Cam Hobhouse, A Journey through Albania, and other Provinces of Turkey in Europe
                and Asia, to Constantinople, during the Years 1809 and 1810, Bd. 1, London 1813.
            Ian Jenkins, Archaeologists & Aesthetes in the Sculpture Galleries of the British Museum
                1800–1939, London 1992.
            Fani Mallouchou-Tufano, Anna Malikourti (Hg.), 200 years the Parthenon marbles in
                the British Museum. New Contributions to the Issue, Athen 2016.
            Eckart Marchand, »John Flaxman’s Drawings After Italian Antique, Medieval and Renais­
                sance Sculpture«, in: ders. u. a. (Hg.), John Flaxman and William Young Ottley in Italy,
                London 2010, S. 25–45.
280   Gramatica u. a. (1924): Die unerwartete Odyssee der Transporte                                                                                                                        281

      Von Trägern und Forschungsbeiträgen
                                                                                                    Hausräumungen haben. Doch betrachten wir einige der bedeutsamsten Passagen aus
      Zum Heiligen Jahr 1925 öffnete in den Gärten des Vatikans eine                                diesen Briefen näher …
      Weltausstellung der katholischen Mission. Zuvor hatte die römisch-                                Einem Brief des Mons. Antonio Maria Capettini, Apostolischer Vikar im süd-
      katholische Kirche Tausende Objekte aus allen Missionsgebieten                                lichen Schensi [Shaanxi], vom 27. Juli 1924, entnehmen wir: »Unsere Mission, den
      weltweit nach Rom senden lassen. Zwei in der Begleitpublikation der                           Wünschen unseres geliebten Heiligen Vaters folgend, schickt elf Kisten mit Gegen-
                                                                                                    ständen für die Vatikanische Missionsausstellung; bald wird die zwölfte folgen. Seit
      Ausstellung zitierte Briefe von Missionaren aus Zentralchina und
                                                                                                    Langem warten wir darauf, dass das Wasser des Flusses ansteigt, um nach Hankou
      Ruanda lenken den Blick auf die Schwierigkeiten des Transports dieser
                                                                                                    hinabzufahren. Die anhaltende Trockenheit blockiert die Boote und stoppt den ge-
      Objekte nach Rom und damit auf sonst oft unbekannt bleibende
                                                                                                    samten Flussverkehr, sodass die Kisten Sie im nächsten September nicht erreichen
      Akteure in Kulturgutverlagerungen: Hilfsarbeiter und Träger aus den                           können, da sie mehr als vierzig Tage bis Hankou und von Hankou-Shanghai bis
      Herkunftsregionen.                                                                            Brindisi weitere vierzig Tage benötigen. Die Transportkosten sind sehr hoch.«
                                                                                                        Bis hierher geht es wenigstens nur um Geld und Geduld: Doch hier ein weiterer
                                                                                                    Brief, der aus Zentralafrika kommt. Geschrieben hat ihn Mons. Classe, Apostolischer
                                                                                                    Vikar von Ruanda, am 1. Juli 1924, und er sagt unter anderem: »Zehn Frachtstücke, ge-
             Luigi Gramatica u. a.: Die unerwartete Odyssee der Transporte (1924)                   nauer: zwei große Ballen mit kleinen Gegenständen und acht Kisten (alle mit P B H
                                                                                                    gekennzeichnet und von 1 bis 10 nummeriert) sind vor etwa zehn Tagen verschickt
             Die Besucher der Missionsausstellung, die die Objekte in den Regalen wohlgeord-        worden; aber die Mühe ist gewaltig, denn alles muss auf Menschenrücken über die
             net präsentiert, nummeriert, beschriftet und katalogisiert vorfinden, können sich      Pfade unserer sehr hohen und schrecklichen Berge bis nach Usumbra transportiert
             nur schwer eine Vorstellung von der enormen Arbeit und den menschlichen Op-            werden. Wenn es nicht darum gegangen wäre, dem Wunsch des Heiligen Vaters zu
             fern machen, die Sammlung und Versand so vieler Objekte aus den entlegensten           entsprechen, hätten wir die Unternehmung aufgegeben! Vor allem zwei Kisten sind
             und undurchdringlichsten Regionen der Welt gekostet haben. Auch das ist ein Teil       groß und sehr schwer zu handhaben: Um jede einzelne mussten sich 40 Männer
             der Organisation, der aufzudecken ist: Die wissenschaftliche Welt, die auf engstem     scharen, und dies wegen unserer schauderlichen Wege. Ich hoffe dennoch, dass sie
             Raum über das wertvollste Studienmaterial für ethnografische und sprachliche For-      in 20 bis 25 Tagen Usumbra erreichen werden können. Die Odyssee der Träger wird
             schungen sowie für die Geschichte der Religionen verfügen wird, wie auch die ka-       dann beendet sein, aber diese werden eine Tat des Glaubens und der Liebe zum Hei-
             tholische Welt, die in einem fast vollständigen Bild das Gefühl der Katholizität der   ligen Vater vollbracht haben, und ich kann Ihnen versichern, dass es sich um eine
             Kirche wahrnehmen kann, müssen in Dankbarkeit auch der demütigen, fernen und           kaum gewöhnliche Tat handelt.«
             unbekannten Mitwirkenden gedenken, die auf ihrem Rücken die schweren Kisten                Jedoch erwiesen sich die Hoffnungen von Mons. Classe recht bald als trügerisch.
             durch Berge und Wüsten trugen, welche der Wunsch des Vaters aller Gläubigen            Ein weiterer Brief vom 23. August 1924 kündigt an, dass die Odyssee der Träger alles
             verlangte. Diese Überlegungen mögen nicht übertrieben erscheinen: In den Brie-         andere als beendet war. Dieses Mal wurde der Brief verfasst von P. Bicquel, dem Ge-
             fen, die das Organisationskomitee erreichen, gibt es oft sehr deutliche Nachrichten    neralökonom des Vikariats, weil Mons. Classe wegen einer Firmungsreise nicht im
             über die Schwierigkeiten des Transports; und wenn in einigen von 70 oder gar 100       Hauptquartier war, und er sagt unter anderem: »Unter den Sendungen, die vor etwa
             Männern gesprochen wird, um die Ankunft zweier Kisten im Einschiffungshafen            sechs Wochen verschickt wurden, waren auch zwei recht große Kisten: Mir wurde
             zu gewährleisten, muss man sich vergegenwärtigen, dass jene schwarzen Träger sich      mitgeteilt, dass sie auf halbem Weg liegen geblieben wären: Sie trugen die Num-
             über viele Kilometer unwegsamer Straßen eine Anstrengung aufbürden mussten,            mern 5 und 10. Ich schickte sofort weitere 70 Mann zur Verstärkung, aber vergeblich,
             wie sie unsere Hilfsarbeiter nur auf dem kurzen Abschnitt der Treppenaufgänge bei      weil die Kisten keinen Zentimeter vorrückten. Vor acht Tagen schickte ich weitere
282   Gramatica u. a. (1924): Die unerwartete Odyssee der Transporte                                                                                                                                   283

             hundert hin. Werden diese beiden Kisten am Einschiffungspunkt am Tanganjikasee                  on beauftragten Kardinal Marinus van Rossum (1854–1932) erklärte, verfolgte die
             ankommen? Ich weiß es nicht. Wir zumindest werden unser Möglichstes getan ha-                   Ausstellung das doppelte Ziel, »die Arbeit der Missionen zu fördern und sie unter
             ben. Ihr in Europa macht Euch kaum die Mühe des Transports in unseren gebirgigen                den Katholiken bekannter und beliebter zu machen«.1 Mit vierundzwanzig tempo-
             Ländern bewusst, wo es die sogenannten Prachtstraßen nur in der Vorstellung derer               rär errichteten Pavillons, einer Ausstellungsfläche von insgesamt 17 000 Quadrat-
             gibt, die gewisse offizielle Berichte zusammengestellt haben. Was das Gewicht der               metern und über 100 000 ausgestellten Objekten und Dokumenten bediente sich
             beiden besagten Kisten betrifft, so hatten sie nichts Außergewöhnliches an sich: die            der Vatikan dafür eines der wirkungsvollsten zeitgenössischen Massenmedien, der
             eine wog 175 Kilogramm und die andere 190 Kilogramm.«                                           Großausstellung.2
                Unnötig hinzuzufügen, dass in dem Moment, in dem wir schreiben, die Kisten                       Medial begleitet wurde die Ausstellung von der Rivista illustrata della Esposizione
             noch nicht angekommen sind: Die verbleibende Zeit ist knapp.                                    Missionaria Vaticana, deren erste Ausgabe am 15. Dezember 1924 erschien, eine Wo-
                Aber sobald sie ankommen, wenn sie ankommen, wird die Odyssee wirklich                       che vor der Eröffnungsfeier. Auf 32 Seiten und mit zahlreichen Illustrationen liefert
             endgültig vollendet sein, denn die armen Missionare wollen sie dem Papst zum Ge-                die Zeitschrift ein Making-of der Ausstellung und berichtet von dem Gründungsge-
             schenk machen.                                                                                  danken des Papstes, den von ihm mit der Durchführung betrauten Kommissionen,
                »Es bleibt dabei«, so schließt der letzte Brief des Apostolischen Vikars, »dass wir          den Bauarbeiten an den Ausstellungspavillons und zuletzt dem Aufbau der Aus-
             nicht um die Rückgabe von irgendeinem der gesandten Gegenstände bitten. Armes                   stellung. Bei allen Arbeitsschritten wird auf die Schwere und das große Ausmaß
             Vikariat und arme Gegenstände aus einem armen Land Zentralafrikas; wenigstens                   der bewältigten Arbeit hingewiesen. Wie auch im hier wiedergegebenen Abschnitt
             haben wir alles Machbare getan, um Euch das zu senden, was ›chez nous‹ ist, aus                 über den Transport der Objekte erfolgt die Anerkennung der erbrachten Leistung
             Liebe zu unserer kleinen Gemeinschaft und um unsere kindliche Verehrung für den                 unter Rückgriff auf das in der zeitgenössischen missionarischen Literatur zentrale
             Heiligen Vater zu beweisen.«                                                                    Thema von der heroischen, bis zum Märtyrertod reichenden Aufopferung der Mis-
                                                                                                             sionare für die Verbreitung des Christentums. In der Ausstellung manifestierte sich
             Rivista illustrata della Esposizione Missionaria Vaticana. Pubblicazione Ufficiale, Nr. 1,
             15. 12. 1924, S. 30–31. Aus dem Italienischen von Luca Frepoli und Robert Skwirblies.           diese Erzählung im »Saal der Märtyrer«, worin Pfähle, Stricke und Messer als Mar-
                                                                                                             terwerkzeuge aneinandergereiht waren.3
             Für Papst Pius XI. (1857–1939) war die Zentralisierung der katholischen Missionen in Rom            Die aus den Missionsgebieten nach Rom transportierten Objekte sollten jedoch
             eines der wichtigsten Anliegen seines 1922 angetretenen Pontifikats. Vor diesem Hintergrund
             wurde die vatikanische Missionsausstellung ausgerichtet, für deren Außenwirkung auch das        nicht nur traditionelle missionarische Topoi illustrieren, wie sie in den zum Ende
             an ein breites Publikum gerichtete illustrierte Magazin sorgen sollte. Der hier kommentierte    des 19. Jahrhunderts gegründeten Missionsmuseen verbreitet waren.4 So besaß die
             Artikel ist nicht unterzeichnet. Verantwortlicher Herausgeber der Rivista illustrata della      Ausstellung, wie Papst Pius XI. in seiner Eröffnungsrede betonte, auch einen »wis-
             Esposizione Missionaria Vaticana war der Theologe Luigi Gramatica (1865–1935), speziali­
             siert auf Bibelforschung und ab 1914 Präfekt der Biblioteca Ambrosiana in Mailand (Fumagalli,   senschaftlichen, geografischen, ethnografischen, medizinischen und sprachwissen-
             s. v. Gramatica, Luigi; Zerbini, »L’exposition vaticane de 1925«, S. 659 f.).                   schaftlichen Teil«, welcher der Mission »die direktesten Wege und die fruchtbarsten
                                                                                                             Mittel aufzeigen« sollte.5 Die Kirche wollte sich so moderne Praktiken der wissen-
                                                                                                             schaftlichen Ethnologie zur Erforschung außereuropäischer Kulturen zu eigen ma-
             Pünktlich zum Beginn des Heiligen Jahres 1925, das viele Pilger nach Rom zog, er-               chen. Ziel dabei waren letztlich Weiterbildungsmöglichkeiten für die Missionare und
             öffnete in den vatikanischen Gärten die Esposizione Missionaria Vaticana, die va-               die Entwicklung effizienterer Vorgehensweisen zur Missionierung.6 Bemerkenswert
             tikanische Missionsausstellung, für die zuvor emsig gesammelt wurde.A Die Kirche,               explizit lenkt der Text den Blick auf den wortwörtlichen Beitrag lokaler Träger zu
             beziehungsweise die verschiedenen Missionsgesellschaften, präsentierten ihre Ak-                dieser (missions-)wissenschaftlichen Forschung – ein Zusammenhang, der in der
             tivitäten zur weltweiten Verbreitung des römisch-katholischen Glaubens. Wie Papst               Dokumentation wissenschaftlicher Arbeiten auf dem afrikanischen Kontinent oft
             Pius XI. in einem Brief vom 24. April 1923 an den mit der Ausstellungsorganisati-               im Verborgenen bleibt,7 sich aber vereinzelt auf Bildern festgehalten findet.
284   Gramatica u. a. (1924): Die unerwartete Odyssee der Transporte                                                                                                                                            285

                 Die drei zitierten Briefe stehen jeweils am Ende einer längeren Korrespondenz    ethnologischen Museums, das bis heute unter dem Namen »Anima Mundi« Teil der
             zwischen der in Rom für die Organisation zuständigen Kongregation für die Evan-      Vatikanischen Museen ist.
             gelisierung der Völker (Propaganda fide) und den Vorständen der verschiedenen Mis-       Die Ausstellung verzeichnete nach ihrer Schließung am 10. Januar 1926 über eine
             sionsinstitute. Ein auf Französisch verfasstes Dokument gab den Missionsstationen    Million Besucher und ist ausführlich dokumentiert durch Broschüren, Faltblätter
             Instruktionen zur Auswahl der Objekte, zu deren wissenschaftlicher Beschreibung      oder sogar Bücher, die von den 48 teilnehmenden Kongregationen am Ausgang der
             und zu deren Verpackung.8 Geraten wurde dabei, zerbrechliche Objekte mit Dämm-       Ausstellung verkauft wurden.13 Aus einer Publikation des Ordens der Minderen
             material in kleine Kisten zu packen und diese dann in einer größeren Kiste zusam-    Brüder Kapuziner geht hervor, dass einige der Kisten aus Ruanda Rom letztlich er-
             menzufassen, was das enorme Gewicht der im letzten Brief genannten zwei Kisten       reicht haben. Zumindest waren die Weißen Väter aus Ruanda in dem Zentralafrika
             erklärt. Absender war Mons. Léon-Paul Classe (1874–1945) von der auch als Weiße      betreffenden Pavillon vertreten, für den es »unmöglich [ist], all die Dinge aufzu-
             Väter (Pères Blancs) bekannten Gesellschaft der Missionare von Afrika, die auf dem   zählen, die hier ausgestellt werden: primitive afrikanische Arbeiten, also Kämme,
             Gebiet der heutigen Staaten Ruanda und Burundi seit 1878 missionierte.9              Schalen, Trommeln, Teppiche, Armbänder aus Koralle, Eisen und Blech, Tiere und
                 Das Transportieren von Lasten durch Menschen hatte in Ostafrika durch den Ka-    Vögel, gedruckte Bücher in diversen afrikanischen Sprachen, Fotografien mit Missi-
             rawanenhandel eine vorkoloniale Tradition mit einer differenzierten Arbeitskultur,   ons- und Familienszenen, ein großes Wildschwein […]«.14
             in der »das Maximalgewicht der Lasten, die Länge des täglichen Marsches, der Lohn        In den Briefen der beiden Missionare wird mit keinem Wort erwähnt, was sich
             sowie die Abfolge von Arbeits- und Ruhetagen« durch Gewohnheitsrecht geregelt        in den Kisten befand. Zwar stand im Artikel der Transport der Objekte im Fokus,                        -> Einstein
                                                                                                                                                                                                         (1926)
             waren. Diese alte Ordnung wurde jedoch von europäischen Expeditionsleitern           die Vernachlässigung des Inhalts deckt sich aber mit der zeitgenössischen Rezen-
             schon in den 1880er-Jahren außer Kraft gesetzt, sodass die Träger sich zusehends     sion eines »Missionswissenschaftlers«, dem zufolge die Besucher die Ausstellung
             »zur Schwerstarbeit genötigt und mit drakonischen Strafen konfrontiert sahen«.10     vor allem als »großartige Manifestation missionarischer Tätigkeit« in Erinnerung
                 Die Zitate aus den Briefen von Léon-Paul Classe und seinem Generalökonomen       behalten würden.15 Der programmatisch verkündete wissenschaftliche Anspruch
             Pater Bicquel geben auf die Frage nach den Arbeitsbedingungen und der Freiwil-       stand in der Tat nicht im Zentrum der Missionsausstellung. Auch dort erscheinen
             ligkeit der Träger keine Antwort. Die geleistete Arbeit soll dem europäischen Pub-   die Objekte »weniger als Zeugen der Kulturen, aus denen sie stammen, denn als
             likum durch den Vergleich mit den Möbelpackern zwar verständlich gemacht wer-        Zeugen der von den Missionaren verrichteten Arbeit«.16
             den, Anerkennung finden die »demütigen, fernen und unbekannten Mitwirkenden«                                                                              Luca Frepoli
             jedoch nur als anonymes Kollektiv, das die Aufträge der zwei namentlich genannten
             Missionare ausführt.B Durch diese Hierarchie und durch die unmittelbare Überfüh-
                                                                                                  1 Rivista illustrata, S. 20.  2 Zerbini, »L’exposition vaticane de 1925«, S. 654; Cakpo, »L’expo­-
             rung der Leistung der Träger in die missionarische Aufopferungsrhetorik wird der     sition missionnaire de 1925«, S. 6.     3 Zerbini, »L’exposition vaticane de 1925«, S. 659.
             Objekttransport Teil einer missionarischen Erfolgserzählung.11 Diese soll auch in    4 Zerbini, »L’exposition vaticane de 1925«, S. 655.       5 P. Giovanni, L’Esposizione Missionaria
             der Übereignung der Gegenstände an den Papst zum Ausdruck kommen, die aller-         Vaticana, S. 8 f.    6 Zerbini, »L’exposition vaticane de 1925«, S. 651; Prudhomme, »Sciences
                                                                                                  pour la mission«, S. 204.     7 Vgl. Vennen, »Träger-Arbeiten«, S. 164; Sprute, »Die Jagd nach
             dings nicht von der lokalen Bevölkerung, sondern von der in Ruanda stationierten     der größtmöglichen Trommel«, S. 142 f.        8 Esposizione Missionaria, S. 16–18.      9 Forbes,
             Mission ausgeht. Im Vorfeld der Ausstellung versichert Kardinal van Rossum in        »White Fathers«.       10 Greiner, »Permanente Krisen«, S. 182 u. 185.     11 Vgl. dagegen Vennen,
             einem Schreiben vom 29. April 1923 den Missionsinstituten, »dass die ausgestellten   »Träger-Arbeiten«, S. 159; Sprute, »Die Jagd nach der größtmöglichen Trommel«, S. 144–149.
                                                                                                  12 Esposizione Missionaria, S. 12.      13 P. Giovanni, L’Esposizione Missionaria Vaticana,
             Objekte im Eigentum der Aussteller verbleiben«.12 Wie im Beispiel der Missionare     S. 108; Rohrbacher, »Völkerkunde und Afrikanistik«, S. 590; »Chronique de l’Exposition mission­
             aus Ruanda entschlossen sich auch viele andere Missionsinstitute, die Objekte als    naire«, S. 102.    14 P. Giovanni, L’Esposizione Missionaria Vaticana, S. 82.       15 Dubois,
             Geschenke nach Rom zu senden. Die so zusammengekommenen 40 000 Objekte               »L’exposition des missions«, S. 213.     16 Zerbini, »L’exposition vaticane de 1925«, S. 650 u. 655.

             begründeten die Sammlung des ein Jahr nach der Missionsausstellung gegründeten
Sie können auch lesen