ERINNERUNGEN Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
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Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Januar 2020 Ausgabe 82 Schwerpunkt: ERINNERUNGEN
Liebe Leserinnen und Leser, das Wort Erinnerung stammt verschiedenen Quellen zufolge aus dem Althochdeutschen, hier von „Innario“, dem Inneren. Es bedeutet: Jemanden oder etwas verinnerlichen, gewahr werden lassen. Für Trauernde ist Erinnerung wichtig, sie möchten tatsächlich die Verstorbenen verinnerlichen, sie in sich weiterleben lassen, wahr oder lebendig halten. Das gelingt ihnen, wie unsere Autorinnen und Autoren beschreiben, indem sie immer wieder über sie sprechen, Dinge aufheben, Symbole schaffen, Bilder oder Stimme bewahren. „Dinge der materialen Kultur“ nennt Thomas Klie die sichtbaren Erinnerungen, wie Kleidungsstücke oder Haarsträhnen, und rät, die Sprache der Dinge ernster zu nehmen als bislang. Symbole werden auf sehr unterschiedliche Weise geschaffen. Ein Beispiel beschreibt Martina Zimmer mit dem Erinnerungs- baum, durch den Trauernde ihre Verbundenheit mit dem Verstorbenen herstellen können. Fotos von stillgestorbenen Kindern, deren Abbilder so wichtig und wertvoll sind, weil der Moment des gegen- seitigen Erlebens so kurz war, sind nach Oliver Wendlandt das einzig Greifbare nach einem solchen Erlebnis. In unserem Interview mit Judith Grümmer wird deutlich, dass auch die Stimme ein wichtiges Element der Erinnerung ist, zumal die Stimme nicht reproduzierbar und etwas sei, das man als erstes vergisst. Ihr Beitrag macht zudem deutlich, dass nicht nur die Hörenden, sondern auch die Sprechenden durch eine Tonaufnahme Trost erfahren können. Erinnerungen sind wichtig und geben Halt. Wie unsere Beiträge deutlich machen, braucht es jedoch für tröstliches Erinnern zuweilen eine hilfreiche Hand. Nachdem die hospizliche Begleitung auch der Angehörigen inzwischen selbstverständlicher Bestandteil gesellschaftlicher Verpflichtung am Lebens- ende geworden ist, sollte vielleicht darüber nachgedacht werden, ob dies nicht auch für die Zeit nach dem Tod gelten könnte. Ihre Dr. Gerlinde Dingerkus INFORMATION SCHWERPUNKT ERINNERUNGEN 4 Menschen in den letzten Phasen 15 Relikte – Überbleibsel – Reliquien ihres Lebens Hoffnung schenken Die Bedeutung dessen, was bleibt Eine pflegerische Aufgabe Thomas Klie Margit Haas, Ines Kopp 17 Erinnerungsbaum 7 Gesundheitliche Versorgungs- Martina Zimmer planung im regionalen Netzwerk 20 Dein Sternenkind Ein Projekt für Nordrhein- Eine Fotografeninitiative Westfalen Oliver Wendlandt Catrin Beu Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 23 Familienhörbuch – Ein Projekt 9 Glück kommt vom Weinen für schwerkranke junge Eltern Marlies Winkelheide Interview mit Judith Grümmer 26 Veranstaltungen 27 Impressum
4 MENSCHEN IN DEN LETZTEN PHASEN IHRES LEBENS HOFFNUNG SCHENKEN – EINE PFLEGERISCHE AUFGABE MARGIT HAAS, INES KOPP H offnung gibt Lebenskraft und hilft, Heraus- schaft. Dabei stehen meist Maßnahmen zur Bewäl- forderungen und schwierige Zeiten zu tigung von körperlichen Einschränkungen und meistern. Trotz gesundheitlicher Ein- Krankheiten im Vordergrund. Aber nicht nur alters- schränkungen empfinden hoffnungsfrohe bedingte Gebrechen erfordern eine besondere Menschen häufig ein hohes Maß an Lebensqualität. Unterstützung der Menschen. Auch chronische Im Forschungsprojekt „HoPe – Das Konzept der Beschwerden und schwerste Erkrankungen mit Hoffnung in der Pflege alter Menschen“ steht lebensverkürzender Auswirkung müssen berück- Hoffnungsförderung als pflegerische Aufgabe im sichtigt werden. Ändert man den Blickwinkel, weg Mittelpunkt. An der Universität Trier widmet sich von einer alters- und krankheitsbedingten Sicht- ein junges Team aus Pflegewissenschaftlerinnen weise hin zu einer ganzheitlicheren, zu Saluto- und Studierenden unter der Leitung von Professo- genese und Lebensqualität, stellt sich die Frage, rin Dr. Margit Haas diesem Thema und macht die wie es betroffenen Menschen gelingt, trotz des Hoffnung zum Untersuchungsgegenstand. Verlustes körperlicher Funktionen, von guten Lebensbedingungen sprechen zu können. Hoffnung Der demografische Wandel geht mit Herausforde- als Energiespender wird in diesem Zusammenhang rungen an Gesellschaft, Politik und Gesundheits- häufig genannt. „Hoffnung ist eine elementare systeme einher. Ein hochbrisantes Thema ist die menschliche Erfahrung – eine Kraftquelle und wert- Versorgung unserer immer älter werdenden Gesell- volle Ressource in allen Pflege- und Krankheitssi- tuationen.“ (Abt-Zegelin, 2009), so berichtet die Pflegewissenschaftlerin Abt-Zegelin aus ihrem Erfahrungs- schatz. Sie betont die Bedeutung einer hoffnungsfördernden Versor- gung alter und schwerstkranker Menschen, die sie als originär pfle- gerische Aufgabe sieht. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu kön- nen, müssen sich Pflegende mit den Hoffnungsobjekten sowie den Hoffnungsquellen der zu begleiten- den Menschen auseinandersetzen. Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 Das Forschungsprojekt „HoPe“ Die Untersuchung, die über zwei Jahre (2017-2019) in Rheinland- Pfalz durchgeführt wurde, verfolgte das Ziel, Hoffnungskonzepte von pflegebedürftigen Menschen ab 65 Dialog Jahren, die in Einrichtungen der
Hoffnungsspaziergang Aufbruch zur Fuchsjagd Langzeitpflege oder zuhause leben, zu erforschen. im Bereich Palliative Care. In der Palliativversor- 307 Seniorinnen und Senioren in ambulanten und gung und in der Hospizarbeit steht die Erhaltung stationären Pflegesettings der Regionen Trier und sowie Förderung der Lebensqualität im Vorder- Eifel wurden zu ihren Hoffnungskonzepten befragt. grund, sodass der Aspekt der Hoffnung hierbei Dadurch sollte die Ausprägung von Hoffnung sowie elementar ist. hoffnungsfördernde und hoffnungshemmende Faktoren erkennbar werden. Des Weiteren wurde Die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung gefragt, wie sich die Wohnform und pflegerische • Hoffnung ist unabhängig von Alter und gesund- Situation auf das Hoffnungskonzept der alten Men- heitlichem Status beziehungsweise Versor- schen auswirkt. gungsbedarf und bleibt auch am Lebensende präsent. Die Ergebnisse, die seit Juni 2019 vorliegen, bilden • Elementare Hoffnungsquellen sind positive nun die Grundlage zur Entwicklung eines Schu- Beziehungen zu Familienangehörigen und lungskonzeptes zur Förderung der Hoffnung. anderen Menschen, Spiritualität sowie positive Professionell Pflegende sollen so befähigt werden, und aufbauende Erinnerungen. die Ausprägung von Hoffnung zu erkennen und • Hoffnung muss aus der Sicht der betroffenen gemeinsam mit alten Menschen und deren Ange- Menschen erfasst werden. hörigen Maßnahmen zur Hoffnungsförderung zu • Pflegende können durch ihre oft enge und ver- finden und umzusetzen und dadurch auch Lebens- trauensvolle Beziehung zu alten Menschen und qualität positiv zu beeinflussen. Neben den primären deren Angehörigen Hoffnung einschätzen. Da- Adressaten der Untersuchung, Menschen über 65 durch können sie den individuellen Hoffnungs- Jahre, lassen sich die Erkenntnisse ebenfalls auf prozess durch Interventionen unterstützen. pflegebedürftige Menschen in den letzten Lebens- phasen übertragen. Denn auch in Bereichen der Pflegestudierende als Hoffnungsschenker Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 palliativen Versorgung und Begleitung spielt das Ein „Projekt im Projekt“ war die Einbindung von Konzept der Hoffnung eine ebenso wichtige, wenn Studierenden des Bachelor-Studiengangs Klinische nicht sogar noch bedeutendere Rolle. „Schwierige Pflege der Universität Trier. So wurde Forschung für Situationen können nur ausgehalten werden in der sie praktisch erfahrbar, wenn sie z. B. alte Hoffnung, dass sie sich ins Positive verwandeln. Menschen interviewten und diese Gespräche Krankheit, Leiden und Sterben sind davon nicht wissenschaftlich auswerteten. Aufbauend auf der ausgenommen.“ (Kränzle, 2017), so beschreibt es Erkenntnis, dass positive und aufbauende Erinne- die akademisch qualifizierte Hospizmitarbeiterin rungen und Zeit für Begegnungen hoffnungsför-
6 dernd erlebt werden, entstand das studentische „Es ist eine Kunst, trotz verschiedenster einschrän- Projekt „Hoffnungsspaziergang“1. Ein Dialog von kender Leiden stets das Positive zu sehen. Wenn Alt und Jung, inspiriert von hoffnungsfrohen Foto- es Pflegekräften gelingen kann, den zu betreuen- grafien, erstellt und ausgewählt von Studierenden, den Menschen durch Hoffnungsförderung ein Stück angeregte Gespräche und eine entspannte Zeit – weit Lebensqualität zu schenken, ist das ein nicht weniger erwarteten die Studierenden, als sie bedeutsamer Fortschritt auf beiden Seiten der die Wanderausstellung „Hoffnungsspaziergang“ in Pflege. Das Schöne ist zudem, dass das vorhandene Einrichtungen der Langzeitpflege einrichteten. Die und geförderte Hoffnungskonzept eine Beständig- Resonanz war beeindruckend: Erinnerungen an keit zeigt, die sich kraftvoll bis in die letzten Lebens- glückliche Zeiten beim Betrachten von Landschafts- phasen auswirken kann.“ (Ines Kopp, Mitglied des bildern, interessierte Nachfragen und vor allem das Forschungsteams) Wissen um das kostbare Geschenk der gemeinsa- men Zeit. Ein solcher Hoffnungsspaziergang könnte in angepasster Form auch in einem Hospiz Platz Prof. Dr. Margit Haas finden, um den positiven Gedanken nochmals Pflegewissenschaftlerin Raum und Bedeutung zu schenken. an der Universität Trier, Fachbereich I, Fach Pflegewissenschaft Hoffnungsförderung als pflegerische Aufgabe haasm@uni-trier.de Das Wissen über die Bedeutung und die Wirkkraft von Hoffnung sowie Kenntnisse über individuelle Hoffnungskonzepte, d. h. darüber, was pflegebe- dürftigen Menschen an ihren Lebensorten Hoffnung © M. Haas gibt, dienen als Grundlage zur hoffnungsfördern- den Versorgung und Begleitung von Menschen in allen Lebensphasen. Das Schulungsangebot, das Ines Kopp, B.Sc. aktuell an der Universität Trier gemeinsam mit Studierende im professionell Pflegenden der jeweiligen Praxisorte Masterstudiengang entwickelt wird, berücksichtigt Rahmenbedingun- Interprofessionelle gen und hausinterne Besonderheiten. Es werden Gesundheitsversorgung sowohl Pflegende vor Ort als auch Angehörige an der Universität Trier s1inkopp@uni-trier.de dabei unterstützt, Hoffnung bei den ihnen anver- trauen Menschen zu erkennen und durch indivi- duell ausgewählte Interventionen zu bewahren und © I. Kopp zu fördern. Die so geschulten Pflegenden können als Multiplikatoren in ihren Teams fungieren und ihr Wissen z. B. an neue Kolleginnen und Kollegen oder Auszubildende weitergeben. Literatur Das Forschungsteam sieht in der Implementierung Abt-Zegelin, A. (2009). Hoffnung: Energiequelle in schwierigen des Schulungskonzeptes einen wichtigen Beitrag Zeiten. Die Schwester Der Pfleger, 48 (3): S.290-294. zur nachhaltigen Förderung von Hoffnung und Kränzle, S. (2017). Hoffnung. In: A. Riedel & A.-C. Linde, Ethische Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 Reflexion in der Pflege (1): S.99-110. Berlin: Springer. Lebensqualität alter und auch sterbender Menschen und deren Angehörigen. 1 Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Zegelin, die die- ses Konzept 2017 entwickelte und bereits in verschiedenen Einrichtungen umsetzte.
7 GESUNDHEITLICHE VERSORGUNGS- PLANUNG IM REGIONALEN NETZWERK – EIN PROJEKT FÜR NORDRHEIN-WESTFALEN CATRIN BEU an lebt nur einmal. Und ein stilvoller tungen der Alten- und Eingliederungshilfe über M Abgang gehört dazu. – so heißt es im Film „Das Beste kommt zum Schluss“. Die beiden schwerstkranken Patienten Edward Cole und Carter Chambers, gespielt von Jack Nicholson und Morgan Freeman, machen sich mögliche zukünftige medizinische, pflegerische und seelsorgerische Behandlungen informiert und ihnen Hilfen und Angebote für künftige Lebenssituationen aufgezeigt werden. nach dem Aus ihrer Krebstherapien auf den Weg, Mit der Gesundheitlichen Versorgungsplanung für um ihre sogenannte „Löffel-Liste“ einzulösen. Eine die letzte Lebensphase (§ 132g SGB V), kurz: GVP, Liste mit Dingen, die sie noch tun und erleben wollen, soll gewährleistet werden, dass die medizinische bevor sie den Löffel abgeben. und pflegerische Versorgung und Begleitung möglichst an den individuellen Wünschen und Trotz Krankheit strotzen die beiden vor Tatendrang, Bedürfnissen der betroffenen Person ausgerichtet, um die verbleibende Zeit nach ihren eigenen umgesetzt werden kann. Wünschen zu gestalten. Doch wie lässt sich sicher- stellen, dass der eigene Wille umgesetzt wird, wenn Die Wünsche und Willensbekundungen können man als Betroffener selber nicht mehr in der Lage sich auf unterschiedliche Situationen beziehen, in ist, um etwa auf die medizinische und pflegerische denen eine Person nicht einwilligungsfähig ist und Versorgung Einfluss zu nehmen? somit nicht mehr gefragt werden kann, zum Beispiel akut im Notfall oder dauerhaft durch Warum überhaupt Gesundheitliche Erkrankungen. In solchen Fällen müssen außenste- Versorgungsplanung? hende Personen über die Behandlung auf der Immer mehr Menschen treffen heute mittels einer Grundlage eines mutmaßlichen oder bestenfalls Patientenverfügung frühzeitig Entscheidungen vorausverfügten Willens entscheiden und entspre- über mögliche, insbesondere medizinische und chend handeln. pflegerische Maßnahmen für den Fall, in gewissen Situationen den eigenen Willen nicht mehr bekun- So ermöglicht der §132g SGB V im Rahmen einer den zu können. professionellen Gesprächsbegleitung, dass Men- schen ihren Willen und ihre Wünsche entwickeln Für Menschen, die in stationären Einrichtungen der und auf freiwilliger Basis dokumentieren können. Altenpflege und Eingliederungshilfe leben, ist die Die dokumentierten Wünsche können jedoch nur Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte erfüllt werden, wenn die verschiedenen Akteure der Lebensphase besonders wichtig. Denn oft möchten Gesundheitsversorgung über den Willen der betrof- Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 die Bewohnerinnen und Bewohner dort bis an ihr fenen Person informiert werden und die Dokumente Lebensende bleiben. Um sicherzustellen, dass aussagekräftig sind. ihren Wünschen und Bedürfnissen möglichst entsprochen werden kann, ist es wichtig, diese Gute Umsetzung der Gesundheitlichen Versor- individuell zu ermitteln und zu dokumentieren. gungsplanung durch regionale Vernetzung Die Beratung und Dokumentation der Wünsche der Deshalb sieht seit 2015 der Gesetzgeber vor, dass Bewohnerinnen und Bewohner reicht alleine nicht Bewohnerinnen und Bewohner stationärer Einrich- aus, um eine gute Umsetzung des Bewohnerwillens
8 Vier Modellregionen wurden he- rausgesucht, um herauszufinden, welche Umsetzungsschritte zur @ Adobe Stock Implementierung von GVP hilfreich sind und um Kriterien für die regionale Umsetzung von GVP zu identifizieren. Aus dem Landesteil zu gewährleisten. Denn GVP kann nicht allein von Rheinland sind das die Region Bonn/Rhein-Sieg den stationären Pflegeeinrichtungen umgesetzt und die Städteregion Aachen mit dem Schwerpunkt werden, da an der gesundheitlichen Versorgung auf der Eifel und aus dem Landesteil Westfalen- der Bewohnerinnen und Bewohner ganz unter- Lippe eine städtische Region und eine ländliche schiedliche Akteure beteiligt sind, etwa Hausärzte Region. Darüber hinaus werden weitere Aktivitäten und -ärztinnen, Ärzte und Ärztinnen anderer Fach- und Modelle zur Umsetzung von GVP in NRW hinzu- ausrichtungen, Therapeuten und Therapeutinnen, gezogen. Notärzte und -ärztinnen, Notfallsanitäterinnen und - sanitäter, haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende In diesen vier Regionen sollen im Jahr 2020 Runde aus dem Bereich der Hospizarbeit und Palliativver- Tische stattfinden. In moderierten Arbeitsgruppen sorgung und viele mehr. ermitteln Akteure aus allen an der GVP beteiligten Bereichen gemeinsam die spezifischen Bedarfe der Auch wenn sich der Aufenthaltsort des Bewohners jeweiligen Region. Zusammen soll am Aufbau von bzw. der Bewohnerin ändert, beispielsweise durch gemeinsamen Strukturen, Leitlinien und Lösungs- die Aufnahme in ein Krankenhaus, sollte die ansätzen gearbeitet werden. Ein wichtiges Thema Umsetzung des Patientenwillens gewährleistet sein. in allen Regionen sind GVP-Dokumente wie Deshalb braucht eine gute Umsetzung von GVP beispielsweise Krisen- und Notfallbögen. gemeinsame, sektorenübergreifende Versorgungs- prozesse und eine gesicherte Informationsweiter- In überregionalen Treffen mit den beteiligten leitung. Akteuren aus den vier Projektregionen und Exper- ten und Expertinnen aus ganz Nordrhein-Westfalen Regionale Vernetzung aktiv gestalten – sollen die Erfahrungen der Runden Tische auf Ein Projekt für Nordrhein-Westfalen Landesebene diskutiert und evaluiert werden. Um genauer zu untersuchen, was nötig ist, um eine sektorenübergreifende Implementierung von GVP Ziele und Aussichten im regionalen Netzwerk umzusetzen, führt ALPHA Am Ende des Projekts steht die Erarbeitung von NRW bis einschließlich 2021 das Projekt „Umset- Empfehlungen, die Pflegeeinrichtungen und regio- zung der Gesundheitlichen Versorgungsplanung für nale Netzwerke in NRW bei der Realisierung von die letzte Lebensphase (GVP) nach § 132 g SGB V GVP unterstützen sollen. im regionalen Netzwerk“ durch. Die aktive Zusammenarbeit in bestehenden oder neu gebildeten Netzwerken soll regionale Möglich- Das Projekt keiten zur Implementierung von GVP in den – Projektzeitraum: Juli 2019 - Juli 2021 Projektregionen über die Projektlaufzeit hinweg in Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 – Auftraggeber: Ministerium für Arbeit, Gang bringen und etablieren, damit der Wille und Gesundheit und Soziales des Landes NRW die Wünsche von Menschen in ihrer letzten Lebens- – Projektträger: Ansprechstellen im Land phase zukünftig mit einer größeren Selbstverständ- NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit lichkeit und Sicherheit umgesetzt werden können. und Angehörigenbegleitung (ALPHA NRW) – Projektkoordination: ALPHA Rheinland Projektstart in der Region Bonn/Rhein-Sieg Projektleitung: Catrin Beu In der Region Bonn/Rhein-Sieg wird das Projekt – Weitere Informationen: www.alpha-nrw. de gemeinsam mit dem Hospiz- und Palliativnetzwerk
9 Bonn/Rhein-Sieg umgesetzt. Die Bundesstadt Professor Dr. Lukas Radbruch, Lehrstuhl für Pallia- Bonn und der Rhein-Sieg-Kreis unterstützen das tivmedizin der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Uni- Projekt ideell. versität und 1. Vorsitzender des Netzwerks Hospiz- und Palliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg freute So fand bereits Ende November im Ratssaal der sich über die rege Teilnahme: „Dass so viele Stadt Bonn die Auftaktveranstaltung für die Akteure aus den verschiedenen Bereichen der Modellregion statt. Rund 70 Personen verschiedener Gesundheitsversorgung heute erschienen sind und an der Gesundheitsversorgung beteiligter Akteure sich so engagiert an den moderierten Diskussionen aus der Region waren der Einladung gefolgt, um beteiligt haben, zeigt uns, wie wichtig das Thema sich über das Projekt und eine mögliche regionale in unserer Region ist und dass wir mit dem Projekt Vernetzung in den Runden Tischen ab 2020 zu zur Umsetzung von GVP im regionalen Netzwerk in informieren. Bonn/Rhein-Sieg auf dem richtigen Weg sind.“ Catrin Beu Leiterin des Projekts „GVP regional“ für ALPHA NRW Projektmanagerin und Redakteurin GVP-Gesprächsbegleiterin Ehrenamtliche Hospizbegleiterin beu@alpha-nrw.de GLÜCK KOMMT VOM WEINEN MARLIES WINKELHEIDE I ch bin Noah, bin 10 Jahre alt und komme aus Außerdem helfe ich, wenn eine Maschine von Aachen. Ich habe zwei Brüder, die beide im Nathan piepst, dass ich es ausmache. Ich bringe Rollstuhl sitzen und nicht selbstständig laufen auch manchmal Sachen zu Mama und Papa. Wenn können. Außerdem können Jonas und Nathan, sie bei Jonas und Nathan bleiben müssen. so heißen nämlich meine Brüder, nicht sprechen. Manche Leute glauben, dass ich fast immer helfe, Was andere Menschen sich oft nicht vorstellen kön- Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 dabei helfe ich nur ein bisschen. Andere denken, nen, ist für Kinder wie Noah Alltag. Es ist ihre dass ich und meine Eltern gar nicht Zeit zum Reisen Lebensrealität. Es ist ihr Leben, ihre Zeit als Kinder, haben. Dabei haben wir viel Zeit zum Reisen, denn sie werden nie eine andere haben. Und deshalb wenn wir in den Urlaub fahren wollen, bringen wir sollten wir uns alle bemühen, sie so zu verstehen, Jonas und Nathan sozusagen in ein Hotel für behin- wie sie verstanden werden möchten. derte Menschen, wo sie gepflegt werden. Manche „Wir wollen nicht bemitleidet werden. Wir wün- Leute glauben auch, dass in unserer Familie viel schen uns, dass wir gefragt werden, dass Interesse Traurigkeit ist, aber wir sind eine glückliche Familie. gezeigt wird.“ (Aus dem Memorandum des
10 Geschwisterrates der Janusz-Korczak-Geschwister- wieder stellen.“ Eine lebenslang andauernde Frage, bücherei, 2013) mit der sie sich immer wieder beschäftigen. Wo finden Geschwister Räume für ihre Gefühle, Geschwister von Kindern mit Behinderungen und ohne dass diese beurteilt werden? Wer versteht in lebensverkürzenden Erkrankungen sind einfühl- ihrem Umfeld wie Schule oder Kita, warum ein sam, kennen viele Lebenssituationen, die andere Geschwisterkind sich freut, wenn es in den Ferien nicht kennenlernen werden. Sie haben Schwestern ins Kinderhospiz geht. Wer fragt da mit Interesse oder Brüder, deren Lebenssituation eine heraus- nach? Wer versteht einen Jugendlichen, der über fordernde ist, die alle in der Familie betrifft. Wenn seinen Bruder schreibt: sie von ihren Geschwistern sprechen, verwenden manche komplexe medizinische Diagnosen, möch- „Mein Bruder Christian hat keine Fähigkeiten, die ten Nachfragen verhindern oder sich als Experten wir sofort wahrnehmen könnten. Viele würden des- beweisen. Andere nennen auch keine Defizite, sie wegen sagen, dass er nichts kann. (Na ja, wahr- beschreiben die Geschwister mit Worten wie: scheinlich würden die meisten das aus Höflichkeit „Meine Schwester braucht viele Hände, um leben nie sagen!) Aber das stimmt so nicht ganz. Er hat zu können.“ (Junge, 11 Jahre) zum Beispiel, obwohl er nicht sprechen kann, die „Meine Schwester atmet mit der Haut. Wir wissen Fähigkeit, Menschen zu beruhigen. Ich habe es immer, wie es ihr geht.“ (Mädchen, 10 Jahre) noch nie erlebt, dass sich zwei Menschen in Gegen- „Mein Bruder hat kein Tempo, aber er bestimmt wart meines Bruders gestritten hätten. Wenn er im das Tempo von uns allen. Sein Gesundheitsstatus Raum ist, gehen alle respektvoll und freundlich mit- entscheidet über unser Familienleben.“ (Junge, 14 einander um. Wie andere Menschen ihn wahrneh- Jahre) men, ist schier unglaublich. Ich glaube, jeder, der meinen Bruder kennt, mag ihn. Alle sind nett zu „Ich komme in die Zwischenräume“, ergänzt er und ihm. Ein ganz klein wenig macht mich das sogar beschreibt damit die Lebensrealität vieler Geschwis- neidisch, wenn ich darüber nachdenke. Ich meine, ter. Sie wissen, dass die Lebensumstände ihrer wer würde es nicht super finden, wenn alle ihn mö- Geschwister Priorität haben. Sie sind meist gen würden? Christian schafft es, jeden Menschen verständnisvoll. Sie ziehen sich zurück, wollen ihre ein wenig netter und die ganze Welt ein Stück bes- Eltern nicht zusätzlich belasten. Sie machen ser zu machen. Er ist also, obwohl er in unseren dennoch auf sich aufmerksam. Meist wählen sie einfältigen Maßstäben, sehr wenig kann, ein sehr eine besondere Sprache oder Aktionen, die als einflussreicher Mensch. Christian schafft es auch, solche entschlüsselt werden müssen. „Da bin ich denke ich, die Menschen zum Nachdenken zu brin- einfach mal weggelaufen. Sie sollten Angst um mich gen. Und auf irgendwie eine Art, denke ich, bewun- haben.“ (Junge, 7 Jahre) dere ich ihn dafür - meinen großen Bruder. Manche werden leise, andere laut, manche schnell (Tom, 16 Jahre. Christian, 20 Jahre. Aus Winkelhei- oder langsam in allem, manchmal als Gegenreaktion de, 2017, 74) auf die Art der Fähigkeiten ihrer Geschwister. Manche verbieten sich auch, Dinge zu lernen, die ihre Ge- Geschwister sind kleine große Brüder mit vielen schwister nicht können werden oder verlernt haben. Erkenntnissen über das Leben in seinen verschie- denen Formen. Geschwister sind die älteren Geschwister wissen oft nicht, wohin sie mit ihren Schwestern, die gerne Zeit mit Geschwistern Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 Gefühlen sollen. Für manche finden sie keine Worte. verbringen und auch Aufgaben übernehmen. Eifersucht auf so viel Zeit und Zuwendung für die Geschwister lernen von ihren erkrankten Geschwis- Geschwister lassen sie nur ungern zu. „Unsere tern, was im Leben mitunter alles auszuhalten ist, Geschwister können doch nichts dafür, dass sie so und sie lernen verschiedene Erkrankungen, viele sind, wie sie sind.“ Untersuchungen, viele neue Menschen, auf die sie Da stellt sich eher die Frage: „Warum er und nicht sich einlassen müssen, Ärzte, Krankenschwestern, ich? Ich weiß, dass mir niemand auf diese Frage Pfleger kennen. Dafür haben sie großen Respekt eine Antwort geben kann, doch ich werde sie immer vor ihren Geschwistern.
©G. Achtermann Sicher gibt es in ihrem Leben Situationen, die über- Geschwister sind einzigartige Persönlichkeiten. Sie fordern – alle Beteiligten, nicht nur die Geschwister. geben nicht auf, sie machen in ihrer Art stetig auf Das ist Leben. Niemand kann sagen, was sein soll, sich aufmerksam. Sie möchten aber auch nicht nicht sein darf, zu viel ist, wo Eltern mehr achten ausschließlich als Schwestern und Brüder gesehen sollen. In unserer Begleitung von Geschwistern werden und auf diese Rolle reduziert werden. folgen wir den Gedanken von Janusz Korczak (jüdi- scher, polnischer Arzt, Schriftsteller und Pädagoge, Geschwister brauchen geschützte Räume, in denen 1878-1942): sie das Gefühl haben, alles aussprechen zu dürfen, „Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie mir ohne jemanden zu belasten: mit Geschwistern in unbekannte Eltern unter unbekannten Bedingun- ähnlichen Lebenssituationen und Menschen, die gen ein mir unbekanntes Kind erziehen können – sich für sie interessieren und sich mit ihnen auf den ich betone – können, nicht wollen und auch nicht Weg machen, nach Antworten zu suchen. Dabei sollen. müssen diese berücksichtigen. „Geschwister sind Experten in eigener Sache.“ Ihr sagt: „Der Umgang mit den Kindern ermüdet uns.“ Und an Eltern richtet sich der Wunsch von Geschwis- Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 Ihr habt recht. tern: „Seid bitte nicht eifersüchtig, wenn ich mit Ihr sagt: „Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt anderen zuerst über das spreche, was mich hinuntersteigen. Hinuntersteigen, uns herabneigen, bewegt. Das ist nur ein Umweg. Ich weiß, dass ich beugen, kleiner machen.“ zu euch kommen kann, wenn mich etwas belastet, Ihr irrt euch. Nicht das ermüdet uns. Sondern dass aber ich kann das nicht immer. Ich will euch nicht wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Em- verletzen.“ Geschwister wissen, dass es zu Hause porklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen oft lediglich Momente ungeteilter Aufmerksamkeit stellen, hinlangen. Um nicht zu verletzen.“ geben kann. Wenn sie diese bekommen, ist es für
12 dass es mich nicht getroffen hat? Und auch: „Es ist unfair vom Leben, dass ich mir all diese Gedanken ma- chen muss, aber meine Schwester hat sich das bestimmt nicht ausge- sucht.“ (aus einer Geschwister- gruppe) Geschwister haben den Anspruch an sich, gute Geschwister zu sein, für die Zeit, in der sie mit ihren Geschwis- tern leben. Sie würden gerne von ihren Geschwistern selbst erfahren können, ob das so ist oder was sie anders machen könnten. Weil das oft nicht so möglich ist, stellen sie es sich vor und schreiben es für sich © L. Ebben in Briefform auf: „Liebe große Schwester, du bist meine große Schwester und sie ausreichend, zu wissen, dass sie mit ihren du denkst so viel an mich und über mich nach. Ich Anliegen gesehen werden, gleichwertig sind. freue mich wirklich immer, wenn wir etwas zusam- men hören oder sehen. Das zeige ich dir hoffentlich Geschwister stellen viele Fragen, zum Beispiel: genug. Manchmal bin ich einfach sehr müde und Was ist gerecht im Zusammenleben mit einem kann mich nicht richtig darauf einstellen. Das ist behinderten, beeinträchtigten, chronisch oder eben so und gehört zu meinem Leben. Du musst lebensverkürzt erkrankten, transplantierten auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn du Geschwisterkind? Wofür bin ich wirklich verant- mal keine Zeit für mich hast, verabredet bist, zu wortlich, und wofür fühle ich mich oft verantwort- deinen Freundinnen gehst. Du weißt ja: Zu Hause lich? Wie erleben meine Geschwister mich? Wie ist immer für mich gut gesorgt, ich bin nie alleine. kann ich das erfahren? Verrate ich meine Geschwis- ter, wenn ich nicht immer allen mitteile, dass ich Wir müssen nicht so viele Worte machen. Wir einen behinderten Bruder, eine behinderte Schwes- verstehen uns auf eine besondere Weise wie keine ter habe? Warum ist „behindert“ ein Schimpfwort? zwei anderen. Wir haben unsere eigene Sprache Warum sehen so viele Menschen in meinem als Schwestern. Klar, können wir manches nicht Geschwister nur die Katastrophe? machen, zum Beispiel uns gegen unsere Eltern verbünden. Du setzt dich für mich ein, das höre ich Geschwister müssen lernen, mit Fragen zu leben; ja. Ich würde das auch für dich tun, wenn ich das unterscheiden lernen, auf welche Fragen es eine so ausdrücken könnte, wie ich es möchte. Das Antwort geben kann; auf welche Fragen es sehr weißt du hoffentlich. Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 unterschiedliche Antworten gibt, je nach Haltung Ich bin froh, dich zu haben. Ändere nicht dein Leben und kulturellem oder religiösem Hintergrund des wegen meiner Behinderung. Gegenübers. Deine kleine Schwester“ Und Fragen, auf die es nie eine Antwort geben Geschwister begleiten Geschwister auf eine ganz kann, die dennoch immer wieder gestellt werden eigene Weise und in allen Lebenssituationen, auch dürfen und gehört werden müssen – wie die von in der Trauer nach dem Tod einer Schwester, eines Eltern auch: Warum wir? Darf ich glücklich sein, Bruders und in der Zeit danach – so, wie sie es
13 akzeptieren können und wollen. Geschwister stüt- „Ich bin die, die ich bin durch die Tatsache, dass zen einander in eigenen Trauergruppen, bleiben ich diesen Bruder hatte; ich habe sehr viel für mein mitunter auch Teil der Geschwistergruppen, der sie eigenes Leben erkannt; Leben ist nicht nur vor dem Tod eines Geschwisters angehört haben. Leistung. Leben ist lernen zu merken, dass andere einen gerne haben.“ Glück kommt vom Weinen Auf der Karte, die sich eine 16-Jährige nach dem Treffen einer Trauergruppe aussuchte, stand Marlies Winkelheide eigentlich „Glück kommt in Wellen.“ www.geschwisterkinder.de www.geschwisterbuecherei.de „Ja,“ meinte sie, „ich wollte es so lesen, denn ich habe viel geweint um meinen Bruder. Aber jetzt bin ich froh, dass ich einen Bruder hatte, dass ich © Randlkofer München Schwester sein durfte.“ Letztlich können Geschwister an den Erfahrungen wachsen, die sie gemacht haben, wenn sie sich ihren Auseinandersetzungen stellen durften und konnten. Das abschließende Zitat spricht für sich. Literatur Korczak, J. (2018). Wie man ein Kind lieben soll. 17.aktualisierte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Winkelheide, M. (2017). Mehr als Worte. Geest-Verlag, Vechta. Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 „Das Kind wird nicht erst Mensch, es ist schon einer.“ (Janusz Korczak) Alle Menschen haben eine Würde, sind gleichwertig, auch wenn sie auf unterschiedlichen Stufen der Entwicklung sind. Das Kind mit Behinderung und das Geschwisterkind stehen auf einer Stufe, sind gleich viel wert. (Umset- zung des Künstlers H.E. mit Geschwisterkindern)
Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 14 © Grete Achtermann
ERINNERUNGEN 15 RELIKTE – ÜBERBLEIBSEL – RELIQUIEN DIE BEDEUTUNG DESSEN, WAS BLEIBT THOMAS KLIE Ü berbleibsel Kunstwort „Döstädning“ ist im Schwedischen eine „Manchmal ist der Tod ganz handfest. Wortkreation aus den Wörtern für „sterben“ und Zum Beispiel, wenn es darum geht, „Sauberkeit“ (englisch: „death cleaning“). Zimmer, Wohnungen oder Häuser ver- Magnusson will Menschen helfen, sich vor ihrem storbener Personen zu räumen. Was auf den ersten Ableben auf die wenigen wichtigen Dinge zu Blick als „nur“ praktisches Vorhaben erscheinen konzentrieren, die wirklich zählen – alle anderen mag, verbindet sich im Ernstfall oft mit aufwühlen- Sachen soll man im Alter am besten planvoll selbst den Erfahrungen. Ein Arrangement von Dingen entsorgen. Sie schreibt, dass ihr das sukzessive muss aufgelöst, eine Serie von Entscheidungen Entrümpeln viel Freude bereitet und wunderbare getroffen werden. Was wird in den Müllcontainer Erinnerungen zurückgebracht hat. befördert, was unbedingt behalten, was geht zum Neffen, zur Nachbarin oder ins Brockenhaus?“ – Wahrscheinlich ist damit auch schon die Haupt- Mit dieser Szenerie leiten die beiden Herausgebe- funktion individueller Habseligkeiten beschrieben: rinnen den Text ihres Katalogs zur Ausstellung Erinnerung zu ermöglichen. Zu Lebzeiten sind dies „Die letzte Ordnung. Tote hinterlassen Dinge“ ein. Erinnerungen an bestimmte Begebenheiten, und Die Ausstellung war bis Ende November 2019 im nach dem Ableben sind es Erinnerungen an den Forum Friedhof in Zürich zu besuchen. In ihr geht Verstorbenen. es um „Dinge“, die Menschen nach ihrem Tod zurückgelassen haben. Sie haben sie entweder Reliquien vererbt, verschenkt, oder sie sind einfach in der Kommt solchen Relikten, Überbleibseln oder Hab- Wohnung verblieben und wurden dann bei einer seligkeiten auch die Qualität von Reliquien zu? Haushaltsauflösung „entsorgt“. Dieser Frage gingen Theologen, Religions- und Kulturwissenschaftler auf der Tagung „Reliquien. Entsorgung – dieser typisch deutsche Euphemismus Die Dinge, die bleiben“ nach, die vom 7. bis 9. bezeichnet weniger den unschönen Vorgang des Oktober 2019 an der Universität Rostock stattfand. Aussonderns, Fortschaffens und Abtransportierens Bei einer Bestattung ist es nicht nur die Erinnerung, als vielmehr den Endeffekt des Loswerdens: Man die bleibt. Oft sind es auch Dinge der materialen muss sich keine Sorgen mehr machen über die Dinge, Kultur, die sorgsam aufbewahrt werden: Fotos, die einst ein Leben bereichert und begleitet haben. Souvenirs, Kleidungsstücke, Briefe. Vielfach wird Aus dem Blickfeld wird entfernt, was zuvor mit auch ein Teil der Kremierungsasche diskret zuhause Bedeutung aufgeladen, mit Geschichte(n) versehen in Erinnerungs- oder Miniurnen aufbewahrt. Diese und als Artefakt Bestandsschutz genoss. Da sich können wahlweise auch mit Halsketten, Haarsträh- die Halbwertzeiten solcher Artefakte, Souvenirs nen oder Erde vom Grab befüllt werden. Auch die und Lebensdinge empirisch zumeist nach der Zahl sogenannten Erinnerungsdiamanten, die eine Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 der Umzüge bemessen, bei denen man sich nicht Schweizer Firma aus einem Teil der Kremierungs- davon trennt, ist das, was bis zuletzt bei einem asche erzeugt, stellen „Reliquien“ dar. Dinge, die geblieben ist, von ganz besonderem Wert. bleiben. Die schwedische Autorin Margareta Magnusson Übersetzt man das „Zurückgelassene“ ins Lateini- umreißt in ihrem autobiographischen Ratgeber das sche, dann stößt man auf „reliquiae“. Reliquiae Phänomen des „Döstädning“, die Kunst, sein Leben bezeichnete im klassischen Latein zunächst einmal nach und nach in Ordnung zu bringen. Das morbide alles, was von menschlichen und tierischen Körpern
16 sowie deren Bestandteilen übriggeblieben war. Erst Heiligkeit nur in der Form interpersonaler Kommu- im Christentum wurde dann dieser – an sich wertfrei nikation. Heiligkeit ist ihnen eine performative beschreibende Begriff – heilsgeschichtlich aufgela- Größe, die gerade nicht leiblich-dinglich zuhanden den.1 In römisch-christlicher Tradition sind Reliquien ist. Reliquien sind also evangelisch schlicht nicht nun das von heiligen Personen Zurückgelassene. der Rede wert. Mit dieser Neudefinition erlangte im Gegenzug na- türlich nicht alles, was von „normalen“ Menschen Bei dieser religiösen Dichotomie könnte man es zurückgelassen wurde, den Status von Reliquien im gut und gern bewenden lassen, wenn nicht in engeren, kirchlichen Sinne des Wortes. Denn im pro- jüngster Zeit sepulkrale Phänomene in Erscheinung fanen Bereich sind übrig gelassene Habseligkeiten getreten wären, die auch und gerade im säkularen nur für die Erben, die Beschenkten von Bedeutung Bereich das Interpretament „Reliquie“ auf sich – oder für die Entsorger. Die Allgemeinheit zeigt sich ziehen. Wenn die niedersächsische Mapapu GbR normalerweise nur wenig interessiert an privaten aus der Kleidung von Verstorbenen Puppen als Resten – außer sie sind von besonderem Wert bzw. Seelentröster herstellt („Mama-Papa-Puppen“), die von kulturellem Belang. (Man erinnere sich nur an Schweizer Firma Algordanza aus dem Kohlenstoff das schwierige Erbe des 2014 verstorbenen Kunst- der Kremierungsasche sog. Erinnerungsdiamanten sammlers Cornelius Gurlitt.) produziert und auf Kindergräbern Kuscheltiere und Kinderspielzeug platziert werden, dann zeigt sich Im kirchlichen Kontext sind „Reliquien“ Dinge, die hier eine spätchristliche, eher: nachchristliche kultisch verehrt werden, Dinge von religiöser Qua- Renaissance von Reliquien. Diese säkularen Privat- lität, sakrale Gegenstände. Reliquien werden darum reliquien betreten die kulturelle Bühne praktisch auch in Kirchen aufbewahrt, damit sie energetisch in der Mitte zwischen katholischem Reliquien-Kult dort etwas von ihrer religiösen Präsenz abgeben und privaten Lieblingsdingen. Es spricht viel dafür, an die Gläubigen. Reliquien, an die nicht geglaubt dass uns in der Bestattungskultur Reliquien auf der wird, haben ein schweres Leben. Denn Reliquien religionskulturellen Überholspur entgegenkom- leben von den Echtheitsvermutungen derer, die sie men. Fände diese These Anhalt an der Wirklichkeit, zur Schau stellen sowie von den Devotionen derje- dann müssen die Kirchen in Seelsorge und Beglei- nigen, für die diese Schaustellung religiös von tung, bei Kasualien und Sakramentalien, vor allem Belang ist. Solange es Reliquien gibt, sind sie aber auch in der Trauerarbeit die Sprache der Dinge eingebunden in die Verheißung von Authentizität. ernster nehmen als bislang. Nur was echt zu sein glaubhaft machen kann, ist auch einer Verehrung würdig. Darum muss die Ver- heißung von Authentizität auch eigens verbürgt Prof. Dr. Thomas Klie werden – am besten natürlich von einer Institution, Theologische Fakultät Universitätsplatz 1 an deren Glaubwürdigkeit keinerlei Zweifel besteht. 18055 Rostock Und die dann entsprechende Echtheitszertifikate ausstellt. Da Reliquien ihr Herkommen nicht von sich aus preisgeben, braucht es valide, am besten hochinstanzliche Beglaubigungen glaubhafter Drit- ter. Aber auch denen muss man natürlich Glauben schenken. Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 Literatur Relikte Laube, S. (2011). Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wun- Der nicht-katholische Teil der Christenheit hat zu derkammer – Museum, 204ff, Akademie-Verlag, Berlin. Magnusson, M. (2018). Frau Magnussons Kunst, die letzten heiligen Dingen aus theologischen Gründen kein Dinge des Lebens zu ordnen. S. Fischer Verlag, Frankfurt. ausgeprägtes Verhältnis. Für Protestanten gibt es Süssmann, Ch., Staffelbach, C. (Hg.) (2019). Die letzte Ord- nung. Tote hinterlassen Dinge. Publikation anlässlich einer 1 nach William W. Worden „Beratung und Therapie in Trauer- Ausstellung vom 4.9.2018-28.11.2019 im Friedhof Forum fällen: Ein Handbuch“ und Roland Kachler „Damit aus mei- Zürich, Zürich. „Brockenhaus“ ist die typisch schweizeri- ner Trauer Liebe wird“ sche Form eines Second-hand-Ladens.
ERINNERUNGEN 17 ERINNERUNGSBAUM MARTINA ZIMMER V iele kennen den „Ordner“, der Ideen- Bürgermeister Thomas Görtz hatte tatsächlich schmiede oder so ähnlich heißt. Dort einen Platz im geplanten Bibelgarten für unsere sind oft Gedanken, Bilder und Erzählun- Trauerskulptur, die wir allerdings noch nicht weiter gen von verschiedenen Begegnungen zu beschreiben konnten. Unsere Umsetzungsidee finden, die den Verfasser auf irgendeine Art und musste sich erst noch entwickeln. Der einzige Weise inspiriert haben. So ist es auch bei mir Wunsch von ihm war, dass sie ein Jahr später im gewesen. Eine Begegnung mit Martin Blankenhagen, Mai zur Kurparkeröffnung aufgestellt sein müsse. ehrenamtlicher Hospizbegleiter und Kunstthera- Ein sehr sportlicher Gedanke für uns und ein sehr peut aus Hessen, ließ die vielen Einzelideen zu mutiger von ihm, kannte er das Ergebnis ja genauso einer großen Vorstellung verschmelzen. Seine wenig wie wir. Projektidee war, rituelle Trauerskulpturen aus Metall zu erschaffen und diese in den öffentlichen In unserer Trauerarbeit mit Kindern, Jugendlichen Raum zu stellen. und Erwachsenen entdecken wir immer wieder bei Gedanken an den Verstorbenen, dass sich ein klei- Sterben, Tod und Trauer aus der komfortablen nes Lächeln im Gesicht breitmacht. Manchmal ist Tabuzone zu holen und in die Gesellschaft zu brin- es eine liebgewonnene Gewohnheit, ein Hobby, die gen – die Gelegenheit bot sich uns 2018, als Xanten Lieblingsspeise oder ein Ausflug, der sie besonders einen Kurpark plante. Ob der Bürgermeister wohl erinnert. Trauer ist nicht nur traurig, sie hat viele ein offenes Ohr für unser Ansinnen hat, haben wir Facetten. Neben dem Begreifen des Verlustes, dem uns gefragt. In Xanten wird unser Hospizdienst sehr Entdecken und Ausleben der Gefühlsachterbahn, gefördert von Kirchengemeinden, verschiedenen der Anstrengung der Neuorientierung ist es auch Einrichtungen für Kinder und Senioren, Geschäfts- das Bewahren von Erinnerungen und Suchen einer leuten, dem Rathaus und Privatpersonen. Unser neuen Verbundenheit. Daphne (15 Jahre), Fotoapparat: Fotografieren war das Hobby meines Vaters. Wir haben auch zu zweit viel Zeit damit verbracht. Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 © Malteser
18 So wurde die Idee geboren, abweichend von den werden und mit jedem würde er einzeln arbeiten. Kunstwerken von Martin Blankenhagen, dass die Zu diesem Zeitpunkt hieß das werdende Kunst- Trauernden selbst als Experten die Skulptur mit werk: „Trauer-Mut-Hoffnungsskulptur“. Genau wie eigenen Symbolen ihrer Verbundenheit mit dem der Baum sollte sich der Name entwickeln, wie wir Verstorbenen herstellen sollten. später feststellen sollten. Zunächst haben wir die Kinder und Jugendlichen aus unseren Trauergruppen eingeladen, sich über ihr Symbol der Erinnerung klar zu werden. Die Kinder haben es auf Papier gemalt, die Jugendlichen haben sich im Linolschnitt erprobt. Ganz wichtig war für alle, dass auch der Name des Verstorbenen im Baum einen Platz finden würde. Das brachte uns etwas in Besorgnis, wenn jeder hinter seiner Erinnerung noch den Namen schnitzen wollte, wie würde dann das Ergebnis am Ende aussehen? Eine Lösung, die allen gefiel, wur- de gefunden: Unten am Stamm würde Richard alle Buchstaben des Alphabets hineinschnitzen, so dass jeder Name des Verstorbenen lesbar wäre. Zu dieser Idee kam noch eine weitere hinzu. Als Hospizdienst wollten wir dem Ganzen einen Rah- men geben, beginnend mit dem Alphabet am unteren Ende und einem Freundschaftskreis an der Baumspitze. Martin Blankenhagen war davon so begeistert, dass er den Freundschaftskreis selbst entworfen und gefertigt hat. Heute ziert die Baum- spitze eine sie umschließende Menschenkette, Hand in Hand. Sie ist ein Zeichen der Verbunden- heit mit dem Verstorbenen über den Tod hinaus. Der Stamm entwickelte sich allmählich zu einem Erinnerungsbaum, jedes Kind und jeder Jugend- liche wurde zur Werkstatt von einer ehrenamtlichen © Malteser Mitarbeiterin/einem ehrenamtlichen Mitarbeiter begleitet, mit Richards Unterstützung brauchten sie etwa eine Stunde für das Hineinschnitzen ihres Erinnerungsbaum im Kurpark Symbols. Wir entschieden uns für Holz, ein für viele schon Unsere Arbeit sprach sich herum. Es kamen trau- bekanntes Material und eins, was sich im Laufe der ende Kinder und Jugendliche zu uns, zu denen wir Zeit verändert so wie die Trauer auch. Unser zuvor noch keinen Kontakt hatten. Aber auch ehrenamtlicher Mitarbeiter Richard Kerkhoff ist Erwachsene wollten mitmachen. Da Trauer jede Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 Tischlermeister und besitzt eine große Werkstatt. Altersstufe betreffen kann, haben wir unser Projekt Er war von der Skulpturidee sehr angetan und hatte auch gerne für Erwachsene zugänglich gemacht. auch gleich Umsetzungsideen. So entschlossen wir So zieren 22 Symbole den Baum: Bücher „weil uns für einen zwei Meter langen Eichenstamm, den Mama gerne gelesen hat“, Carrera-Bahn, „weil ich er entrinden wollte. Eiche hat die Eigenschaft, dass mit meinem Vater oft und gerne mit der Bahn das äußere Holz im Gegensatz zum Kern weich ist, gespielt habe“, Schmetterling als Zeichen von sich also gut bearbeiten lässt. Um den ganzen Leichtigkeit, Schönheit, Fröhlichkeit und Freiheit, Stamm herum könnten Erinnerungen geschnitzt ein Symbol der Erinnerung an den verstorbenen
ERINNERUNGEN 19 Weil die Baumarbeit mit dem Aufstellen im Park seinen Abschluss gefunden hat, finden Kurparkbe- sucher neue Möglichkeiten, Erinnerungen dort zu bewahren. Es wurden bemalte und beschriftete Steine dazugelegt. Es fällt auf, dass Besucher sich beim Betasten der Symbole über eigene Erinnerun- gen unterhalten. Unser Wunsch ist, dass der Erinnerungsbaum Ableger in anderen Ortschaften und Städten bekommt. Wie genau der eigene Erinnerungsbaum aussehen soll, dürften und sollten die Initiatoren © Johannes Lunenburg selbst entscheiden. Es ist wohl sehr hilfreich, mög- lichst viele Helfer ins Boot zu holen. Die Realisie- rung ist zeitintensiv – aber jede Mühe wert. Unser Erinnerungsbaum kann jederzeit besucht werden im Bibelgarten des Xantener Kurparks an Besuch des NRW-Innenministers Herbert Reul der Engelbert-Humperdinck-Straße. Selbst unser Innenminister Herbert Reul hat sich für den Erinne- Sohn, Schneeflocke „Erinnerung an die junge rungsbaum Zeit genommen. Er war sehr angetan Arbeitskollegin, weil diese einzigartig ist, und sie von den Erzählungen aller Beteiligten und hätte immer eine Kette in der Form getragen hat.“, Berg auch sofort ein Erinnerungssymbol gefunden. und Tal, „weil Trauer sich so anfühlt“… Es war jedes Mal ein Erlebnis für uns, die Schnitz- Martina Zimmer Koordinatorin des arbeit zu begleiten. In der kreativen Auseinan- ambulanten Hospizdienstes dersetzung können andere Gedanken freigesetzt der Malteser am werden, Gefühle sich anders ausdrücken und neue Niederrhein, Handlungsfähigkeiten entdeckt werden. Ein Vater Kinder- und hat einen Stern für seinen kurz zuvor verstorbenen Jugendtrauerbegleiterin zweijährigen Sohn hineingearbeitet. Er sagte Mühlenstrasse 40 47589 Uedem dabei: „Komisch, je tiefer ich in die Trauer gehe, Tel.: 0 28 25 - 5 38 60 umso schwerer wird es, je tiefer ich ins Holz gehe, hospiz.niederrhein @mal- umso leichter wird es.“ teser.org Dieser Erinnerungsbaum ist weit mehr als der Aus- druck der Verbundenheit zu seinem Verstorbenen. Bei Interesse geben wir gerne unsere Erfahrungen Er symbolisiert auch Gemeinschaft unter den und nähere Informationen weiter. Trauernden selbst. Auch wenn jeder allein gearbeitet hat, so sahen doch die anderen die schon entstan- Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 denen Werke und haben darüber philosophiert. Natürlich haben wir auch alle eingeladen, als die Skulptur ihren Platz im Kurpark erhalten hatte. Dabei haben sich die Xantener auch auf andere, vielfältige Art und Weise beteiligt. Besonders in Erinnerung geblieben ist uns ein Musical, welches Grundschulkinder aufgeführt haben. Den Erlös haben sie für unser Projekt gespendet.
DEIN STERNENKIND © Dein Sternenkind EINE FOTOGRAFENINITIATIVE OLIVER WENDLANDT
ERINNERUNGEN 21 D ie Initiative „Dein Sternenkind“, kurz DSK, und die uns den Eltern nicht empfehlen. Das sind wurde 2013 vom Fotografen und Filme- aber meist persönliche Ressentiments. Wir versen- macher Kai Gebel ins Leben gerufen. den auf Anfrage kostenlose Informationsmappen Mittlerweile sind über 600 Fotografen für Kliniken, ein kleines Handbuch für das Personal und Fotografinnen in diesem Netzwerk verbunden und Flyer für die Eltern. Und wir sprechen auf und fotografieren flächendeckend in ganz Deutsch- Wunsch gerne in den Kliniken vor und zeigen land und Österreich sowie in den grenznahen unsere Fotos. deutschsprachigen Gegenden der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und der Schweiz sogenannte Die Resonanz bei den Sternenkindeltern Sternenkinder. Sternenkinder sind Kinder, die kurz Die Resonanz bei den Eltern ist sehr hoch: Wurden vor, während oder nach der Geburt sterben. Alle wir 2016 noch 328 Mal zu einem Einsatz gerufen, arbeiten ehrenamtlich, die Fotografen und Fotogra- so waren es in 2019 schon über 2800 Einsatzanfor- finnen tragen ihre Kosten selbst. Die Bilder sind ein derungen, die die Fotografen und Fotografinnen Geschenk an die Eltern. alle zu 100% erfüllen konnten. Der Bedarf ist da, je bekannter die Organisation wird, desto öfter Wie kam es zu diesem Projekt? werden wir gerufen. Wir gehen von rund 8000 Ster- 2010 sah Kai Gebel das Bild einer Mutter, die ein nenkindgeburten ab der 14. SSW aus und rechnen Kind auf dem Arm hielt. Irgendetwas war anders an mittelfristig mit 5000 Einsätzen pro Jahr. diesem Foto und so recherchierte er, wie es zu die- sem Bild kam und erfuhr, dass das Kind, das die Seit Mitte 2016 konnten wir allen Eltern, die um Mutter auf dem Arm hielt, ein Sternenkind war. Der Bilder baten, einen Fotografen oder eine Fotografin Fotograf war Mitglied der amerikanischen Fotogra- zur Seite stellen – kein Kind blieb unfotografiert, fenorganisation NILMDTS (now i lay me down to wenn die Eltern dies wünschten. Eine der Kliniken, sleep), die in erster Linie in den USA diese ehren- mit denen wir zusammenarbeiten, führt Buch über amtliche Arbeit macht. Kai meldete sich als Fotograf die Sternenkindgeburten. Sie empfehlen DSK kon- an und hatte dann 2013 über diese Organisation sequent ab der 14.SSW. Zwei Drittel der Eltern einen Einsatz in Deutschland. Dies hat ihn so nehmen das Angebot an. Uns erreichen täglich beeindruckt, dass er der Überzeugung war, so Nachrichten, in denen Eltern, die Bilder erhalten etwas müsse es auch in Deutschland geben. Die haben, den Wert dieser einzigartigen Erinnerungen Idee zu „Dein Sternenkind“ war geboren. beschreiben – sie sind oftmals das einzig Greifbare nach einem solch traumatischen Erlebnis. Wie reagieren die Krankenhäuser auf das Projekt? Die Reaktionen der Krankenhäuser sind unter- Alle Kinder, die wir fotografieren, sind Wunschkinder schiedlich, die Resonanz ist aber überwiegend po- und hätten in eine Familie hineingeboren werden sitiv. Die Fotografen und Fotografinnen von DSK sollen. Nicht nur für Eltern, auch für Geschwis- stören nicht den Betriebsablauf in der Klinik und terkinder sind die Bilder wichtig. Gerade wenn die sie bringen etwas mit, das die Hebammen und das Geschwister jünger sind, verstehen sie nicht, Personal nicht haben: Zeit. Fotografische Erfahrung. warum der Bauch der Mama weg ist und kein Hervorragende Technik, um auch unter widrigen Geschwisterchen ins Haus kommt. Mit den einfühl- Umständen würdevolle Fotos machen zu können, samen Fotografien kann man den Kindern sanft ohne zu blitzen. erklären, was passiert ist. Die Bilder haben für die Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 Eltern teilweise einen enormen Wert – es gibt Die meisten Krankenhäuser, in denen einmal ein Eltern, die die Originaldateien der Bilder im Bank- DSK-Fotograf/eine -Fotografin war, empfehlen uns schließfach aufbewahren. regelmäßig allen Eltern von Sternenkindern. Wir fotografieren etwa ab der 14. SSW. Aber auch z. B. Die Perspektive der Fotografen und Frühchen, die es nicht geschafft haben. Fotografinnen Es gibt natürlich auch Kliniken, die sich nicht vor- Gemessen an der Zahl fähiger Fotografen und stellen können, wozu solche Bilder gut sein sollen Fotografinnen, die es in Deutschland und Österreich
22 jeder Fotograf, jede Fotografin eigene Strategien, um mit den Emotionen und dem Erlebten umzuge- hen. Viele tun sich nach einem Einsatz etwas Gutes, gehen mit dem Partner oder der Partnerin Essen oder Ähnliches, einfach um den Kopf frei zu bekom- men. Andere telefonieren mit Kollegen und Kolle- ginnen, um sich die Geschichte von der Seele zu reden. Wieder andere schreiben das Erlebte auf. All © Dein Sternenkind das ist richtig und wichtig. Was sie nicht tun sollten: sich als Trauerbegleiter anbieten. Wenn man sich zu tief in die Schicksale der Eltern hineinziehen lässt, dann kann es schwierig werden, den Moment zu finden, wo es Zeit ist, sich zurückzuziehen. Was alle berichten: Es erdet, diese ehrenamtliche gibt, ist das Engagement eher gering. Wir sind stän- Arbeit zu machen. Man erfährt viel Dankbarkeit und dig auf der Suche nach Kollegen, die helfen wollen ist selbst dankbar, diese einzigartigen Fotos machen und so dazu beitragen, die Last auf möglichst viele zu dürfen und so den Eltern zu helfen, mit ihrer Trauer Schultern zu verteilen. Viele Kolleginnen und Kol- umzugehen. Wer einmal ein Sternenkind fotogra- legen haben Angst vor der emotionalen Belastung, fiert hat, der tut das in der Regel immer wieder. können sich nicht vorstellen, diese Situationen zu ertragen. Aus vielen Gesprächen mit unseren Foto- Wenn wir gerufen werden grafen und Fotografinnen können wir aber sagen, Dein Sternenkind besteht zurzeit aus vier Adminis- dass es nicht so „schlimm“ ist, wie man sich das tratoren, knapp 20 Koordinatorinnen und Koordi- vorstellt. Die Situation bei den Eltern ist natürlich natoren und etwas über 600 Fotografinnen und immer anders. Sie ist aber immer geprägt von gren- Fotografen. zenloser Trauer und noch viel mehr Liebe. Um das Erlebte zu verarbeiten, empfehlen wir diesen Foto- Einsatzanforderungen erfolgen zentral an unsere grafen und Fotografinnen, sich nur bei DSK zu Notfallrufnummer oder über unsere Webseite. bewerben, wenn sie ein gefestigtes soziales Umfeld haben, jemanden, mit dem sie reden können. Wir Bei einer Einsatzanforderung (telefonisch auf AB bieten aber auch innerhalb des Netzwerkes Super- oder via Webformular) ruft meist innerhalb von zwei vision an, so steht die Leiterin eines Kriseninter- Minuten eine Koordinatorin oder ein Koordinator ventionsteams, das zum Beispiel traumatisierte Ersthelfer betreut, unseren Fotografinnen und Fotografen ehrenamtlich zur Verfügung. Der Umgang dieser Kolleginnen und Kollegen mit dieser doch sehr belastenden Aufgabe ist sehr unterschiedlich. Wir betreiben eine eigene Infra- struktur, losgelöst von Google und Facebook, auf Hospiz-Dialog NRW - Januar 2020/82 eigenen Servern in Seeheim, Hagen und Pfatter. Wir haben ein Forum, in dem sich die Fotografen und Fotografinnen austauschen und Berichte über ihre Einsätze schreiben. Hier wird dann viel über © Dein Sternenkind schwierige Einsätze diskutiert, die Kolleginnen und Kollegen unterstützen sich gegenseitig, geben Tipps, Ratschläge und Hilfestellung der „alten Hasen“ ist dadurch immer verfügbar. Prinzipiell hat
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