Bikini-Top nur 7 Euro 90 - Europas schmutzige Wäsche

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Europas schmutzige Wäsche

                  Bikini-Top nur 7 Euro 90
     Viele Unternehmen im reichen Norden haben in den letzten Jahren Verhaltensregeln veröffentlicht, die zumeist auch für ihre Zu-
     lieferbetriebe gelten sollen. Trotz dieses Booms von Kodizes im Norden wissen Arbeiterinnen im Süden zumeist wenig über sie,
     erst recht nicht, wie sie genutzt werden können, um die eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die österreichische Nicht-Re-
     gierungs-Organisation „Frauensolidarität“ hat sich vor Ort ein Bild von der Lage der Frauen und Kinder gemacht, die Textilien
     herstellen, die wir hier kaufen.

                                                      Von Judith Brandner

               W      as habt ihr uns anzubieten? Was habt
     ihr uns mitgebracht? Was könnt ihr für uns tun?“ fra-
                                                                       rechte einhalten: zum Beispiel Versammlungs- und
                                                                       Gewerkschaftsfreiheit, Verbot von Kinder- und
     gen die Frauen und schauen uns an. Wir zucken mit                 Zwangsarbeit, Verbot von Diskriminierung, gerechte
     den Achseln. Wir können nichts tun. Einige von uns                Löhne und Arbeitszeiten, Maßnahmen für in-
     kramen ein paar Geldscheine hervor. Das Gewissen                  nerbetriebliche Sicherheit und Gesundheit.
     will beruhigt sein.
        Es ist ein Treffen mit indischen Heimarbeiterinnen
     aus der Textilindustrie in einem Arbeiterviertel von
     Mumbai. Die Begegnung findet im Wohnhaus einer
                                                                                  D   ie indischen Heimarbeiterinnen begin-
                                                                       nen also von ihrer Lebens- und Arbeitssituation zu er-
     zahnlosen Alten in rosafarbenem Sari statt. Auf dem               zählen. Noch vor kurzem gab es hier im Viertel einige
     Boden des einzigen Zimmers werden rasch dünne                     Textilbetriebe, mittlerweile haben sich die Firmen an-
     Strohmatten aufgebreitet, der Raum füllt und füllt sich.          derswo angesiedelt, die Beschäftigung ist daraufhin
     Neugierige drängen sich bis auf die Straße. Die Frauen            stark zurückgegangen. Viele der Frauen haben früher in
     in ihren bunten Saris lassen sich am Boden nieder, wir            der Textilindustrie gearbeitet; jetzt müssen sie froh
     tun es ihnen nach.                                                sein, in Heimarbeit zuarbeiten zu können. Die meisten
        Wir sind eine Gruppe österreichischer Frauen, orga-            sind verheiratet. Ihre Männer sind entweder arbeitslos
     nisiert von der „Frauensolidarität“, einer Nicht-Regie-           oder in Rente oder sie haben schlecht bezahlte Jobs.
     rungsorganisation; unter uns sind Vertreterinnen aus                 „Sie alle kommen kaum über die Runden“, erzählt
     der Politik und dem NGO-Bereich, allesamt kritische               unsere Begleiterin, die Autorin und Aktivistin Rohini
     Konsumentinnen, die nach Indien gereist sind, um                  Hensman, gebürtig aus Sri Lanka. Sie hat zahlreiche
     sich an Ort und Stelle ein Bild von den Lebens- und Ar-           Studien über die Situation der Textilarbeiterinnen ver-
     beitsbedingungen indischer Frauen zu machen, deren                fasst und beschäftigt sich seit Jahren mit den Auswir-
     Produkte wir in Europa kaufen. Wir wollen der Frage               kungen der Verhaltenskodizes auf die Arbeiterinnen.
     nachgehen, wie hier die Codes of Conduct umgesetzt                Derzeit arbeitet sie für die belgische NGO Oxfam.
     werden. Seit Beginn der 90er Jahre verpflichten sich im-             „Diese Frauen müssen wirklich ums Überleben
     mer mehr multinational tätige Textil- und Modekon-                kämpfen. Sie leben hier in einem Slum ohne fließen-
     zerne, Sportartikelfirmen, Elektronikhersteller oder              des Wasser. Es gibt nur einmal am Tag Wasser am
     Teppichimporteure freiwillig, Verhaltenskodizes, be-              Brunnen draußen. Das heißt, dass die Frau zu Hause
     stimmte Regeln, einzuhalten. Auf diese Art wollen sie             sein muss, um Wasser zu holen. Das macht es sehr
     der Kritik von KonsumentInnen über schlechte Ar-                  schwierig für sie, Beschäftigung außer Haus zu fin-
     beitsbedingungen an den in die südlichen Länder ver-              den.“ Normalerweise gebe es zwei, drei Stunden lang,
     legten Werkbänken den Wind aus den Segeln nehmen.                 zwischen drei und sechs Uhr Nachmittags Wasser.
     Corporate Social Responsiblity lautet das Schlagwort. Und         Wer in dieser Zeit kein Wasser holt, geht leer aus.
     das klingt ja gleich viel weniger hausbacken als „soziale            Die Heimarbeiterinnen stehen auf der untersten
     Verantwortung“. Manche dieser Unternehmen haben                   Stufe des Produktionsprozesses. In der Regel wissen
     den Verhaltenskodex der Kampagne für Saubere Klei-                sie nicht einmal, für welche Firma sie arbeiten, gibt es
     dung unterzeichnet, der Clean-Clothes-Campaign, de-               doch keinen direkten Kontakt. Ein Zwischenhändler
     ren AktivistInnen sich seit mehr als zehn Jahren dafür            vermittelt den Job, versorgt die Frauen mit dem
     einsetzen, dass die Zulieferer grundlegende Arbeits-              Rohmaterial, bezahlt sie. Sie versorgen, das heißt:

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Meist müssen sich die Frauen die Bündel mit den               Frauen hätten kaum eine Möglichkeit, sich zu organi-
Textilien selbst abholen, zu Hause machen sie dann            sieren – dieses Treffen hier ist schon eine kleine Sensa-
die Endfertigung des Kleidungsstücks. Sie zeigen              tion. Verlangten die Frauen vom Zwischenhändler
uns die kleinen Spezialscheren, mit denen sie über-           mehr Geld, erzählt Rohini Hensman, so erhielten sie
stehende Fäden abschneiden. Das ist ihre Arbeit und           die Antwort: Wenn sie nicht um diesen Preis arbeiten
dafür bekommen sie pro Stück ein Drittel Rupie, ei-           wollten, auch gut. Dann eben nicht. Schließlich gebe es
nen lächerlich niedrigen Betrag. Anders ausgedrückt:          genügend andere Frauen, die den Job gerne machen
300 Stück bringen knapp 2 Euro ein. 300 Stück kann            würden. Die Reservearmee auf der Straße. Vor einigen
eine Heimarbeiterin an einem Tag schaffen. Freilich           Jahren hätten die Heimarbeiterinnen einmal versucht,
nur, wenn die Auftragslage gut ist. Ansonsten gibt es         eine Kooperative zu gründen, doch die Initiative schei-
entsprechend weniger oder gar kein Geld. Ein verfüg-          terte an mangelnden Mitteln und vor allem am fehlen-
bares Einkommen von 2 US Dollar, also weniger als 2           den Know-how, um eine Kooperative zu führen.
Euro, gilt nach Definition der Weltbank als Indikator            Das ist auch eine klare Forderung an die Clean-Clo-
für Armut.                                                    thes-Campaign in Europa – solange nicht die gesamte
  Diese Unregelmäßigkeit und Unkalkulierbarkeit               Zuliefererkette bis hin zu den HeimarbeiterInnen er-
der Arbeit sei eines ihrer größten Probleme, erzählen         fasst wird, kann von fairen Arbeitsbedingungen nicht
die Frauen. Manchmal, wenn ein Auftrag rasch erle-            die Rede sein.
digt werden müsse, hätten sie Tag und Nacht zu tun,
dann wieder gebe es tagelang keine Arbeit. Verträge,
Auftrags- oder Arbeitsbestätigungen bekommen die
Frauen nicht, sie haben daher auch nichts in der Hand,
                                                                         S  top and go. Stop and go. Wieder einmal
                                                              dauert es rund eineinhalb Stunden im hoffnungslos
was sie berechtigen würde, Sozialleistungen, Arbeits-         verstopften Mumbai, um eine relativ kurze Distanz
losengeld oder gar einmal Rente zu beziehen.                  zurückzulegen. Brütende Hitze, Staub, Dreck, Abgase.
                                                              Mumbai mit seinen abertausenden Motorradrikschas

         O     xfam, eine der Trägerorganisationen der
Clean-Clothes-Campaign, habe Heimarbeiterinnen Un-
                                                              ist eine Verkehrshölle. Innerhalb kürzester Zeit werden
                                                              Gesicht und Hände schwarz, schwarzer Staub setzt sich
                                                              in der Nase und in den Bronchien fest. Erst kürzlich
terricht gegeben und sie über die Verhaltenskodizes in-       wurden einige Autobahnen auf Stelzen gebaut, die den
formiert, erzählt Rohini Hensman. Schlussfolgerung:           Verkehr entlasten sollen. Das vorhandene Bahnnetz
Es sei unbedingt notwendig, die lange, undurchsichti-         reicht bei weitem nicht für die Stadt mit ihren – offiziell
ge Kette von Zulieferern und Zwischenhändlern of-             – 17 Millionen Einwohnern aus. Eine U-Bahn Linie ist
fenzulegen. Auf Grund dieses Systems nämlich sei es           angeblich geplant. Bei jedem unfreiwilligen Halt tau-
überaus schwierig, Kodizes auch nur zu verfassen. Die         chen Horden von Bettlern auf, meist zerlumpte Kin-

  In der Textilfabrik von Eastman Exports in Tirrupur, wo unter anderem auch für deutsche Warenhäuser gefertigt wird.
                                              (Foto: epd-bild / agenda, 1998)

                                                                                                                            79
der, Greise oder Behinderte. Dunkle Hände strecken          schinen. Die Ventilatoren schaffen kaum Abkühlung.
     sich ins Wageninnere, greifen gierig nach jeder Münze,      Schneiderarbeit sei in Mumbai Männerarbeit, wird uns
     jedem Geldschein. Dunkle Augen verfolgen jede               erklärt. Frauen seien für Leena lediglich als Heimarbei-
     Handbewegung, und lassen erst ab, wenn sie ganz si-         terinnen tätig, indem sie die Endfertigung machten
     cher sind, dass die Geldquelle versiegt ist und das Fahr-   und für 0,30 Rupien pro Kleidungsstück überhängen-
     zeug anfährt. Meist laufen die Bettler noch eine Weile      de Fäden abschnitten. Auch von Leena erhalten die
     neben dem Auto her, bis der Fahrer sie dann – in der        Heimarbeiterinnen keine Arbeitsbestätigung oder gar
     Regel sanft, aber bestimmt – zurückdrängt.                  einen Vertrag.
        Endlich sind wir am Ziel angelangt – bei Leena Gar-         Wir versuchen uns mit den Schneidern zu unterhal-
     ments in einem Vorort im Osten der Stadt. Die Besich-       ten. Keiner der Männer spricht Englisch. Die meisten
     tigung eines „positiven Beispiels“ steht auf dem Pro-       sind aus dem Bundesstaat Bihar im Nordosten zuge-
     gramm. Die rund 25 Mitarbeiter des kleinen Zuliefer-        wandert, weil sie sich hier bessere Arbeitsmöglichkei-
     betriebs nähen vor allem Hemden, T-Shirts und Pyja-         ten erhofft haben.
     mas. Das bekannteste Label, für das hier gefertigt wird,
     ist Fruit of the Loom. Leena arbeitet für den indischen
     Produzenten Agrocel, der wiederum Oxfam in Belgien
     und Abnehmer in Italien und Großbritannien mit Pro-
                                                                            E    s sei hier im Betrieb in letzter Zeit einiges
                                                                 besser geworden, sagt ein 22jähriger Mann, ein Migrant
     dukten aus organischer Baumwolle beliefert. Angeb-          aus Bihar. Demnächst solle es eine Sozialversicherung
     lich läuft bei Agrocel und seinen Zulieferbetrieben alles   geben, habe er gehört. Er verdient 2500 Rupien pro Mo-
     gemäß dem Code of Conduct, wie ihn die Clean-Clothes-       nat, umgerechnet also weniger als 2 Euro pro Tag. Sei-
     Kampagne vertritt.                                          ner Rechte als Arbeiter ist er sich durchaus bewusst, mit
        Um sich dafür zu qualifizieren, musste Leena einiges     der Clean-Clothes-Kampagne kann er nichts anfangen.
     verändern, erzählt Mohan. Mohan ist der Neffe des Be-       Ja, ja, da sollten wir ein Training machen, beeilt sich
     sitzers, er macht für diesen das Marketing und ist auch     Chanda hinzuzufügen, aber dazu sei bis jetzt noch kei-
     die Kontaktperson zu Agrocel. Bisher seien die Arbei-       ne Zeit gewesen. Mittlerweile sei der Verhaltenskodex
     ter nach Stück bezahlt worden. Nun aber habe man –          der Clean-Clothes-Kampagne in Hindi verfasst worden.
     entsprechend dem Code of Conduct – auf einen fixen          Gewerkschaftliche Organisation gebe es hier nicht, be-
     Monatslohn umgestellt. Die Arbeiter könnten jetzt           antwortet der junge Mann weitere Fragen, aber die Ar-
     auch Tage frei nehmen, bezahlt. Bei Krankheit zum           beiter seien der Meinung, das sei noch nie notwendig
     Beispiel. Außerdem werde es demnächst Ausweise für          gewesen. Wenn es Probleme gebe, könne man diese
     die Arbeiter geben, auf denen der Name des Arbeitge-        mit dem Besitzer besprechen. Er glaube, meint er dann
     bers und das Eintrittsdatum des Arbeiters vermerkt          noch besorgt, dass es in diesem Betrieb zu wenig Arbeit
     sein sollen, erzählt Chanda Korgaokar, Mitarbeiterin        gebe, und sie alle hier hofften, dass bald mehr Aufträge
     von Oxfam, die uns zu Leena begleitet hat. Die Um-          hereinkämen.
     stellung des Betriebs wird mit Hilfe der belgischen            Die Umstellung auf faire Arbeitsbedingungen ist
     NGO durchgeführt. Zunächst einmal mussten eine              selbst hier also offenbar nicht so leicht. Bis zuletzt
     Erste-Hilfe-Box angeschafft werden, sowie ein Feuer-        bleibt unklar, ob nun tatsächlich Monatslöhne oder
     löscher und – erstmals – werden nun Aufzeichnungen          nach wie vor Stücklöhne bezahlt werden. „Die Leute
     über Lohn, Arbeitszeit, Überstunden und Eintrittsda-        wollen keinen fixen Lohn!“, erklärt Mohan, der Neffe
     tum jedes einzelnen Arbeiters gemacht. Am wichtig-          des Besitzers im Brustton der Überzeugung: „Und ich
     sten aber seien die Ausweise, meint Chanda: „Wenn die       sage Ihnen auch warum – anders, als in einer großen Fa-
     Arbeiter für ihre Rechte kämpfen müssen, müssen sie         brik mit 200 Arbeitern gibt es in einem so kleinen Be-
     schließlich wissen, wer ihr Arbeitgeber ist und einen       trieb wie dem unseren keine Auftragskontinuität. Die
     Beweis für das Arbeitsverhältnis haben.“                    Arbeiter haben die Kapazitäten, bis zu 5.000 Rupien
        Einstweilen werde noch neun Stunden täglich gear-        pro Monat zu verdienen. Nun binden sie sich aber an
     beitet, sagt Chanda, da die Umstellung nicht von heute      unsere Firma. Wenn ein Arbeiter an einer Produktions-
     auf morgen stattfinden könne. Die Arbeiter hier ver-        stätte arbeitet, wo er pro Stück bezahlt wird, kann er
     dienten zwischen 2.000 und 3.000 Rupien monatlich.          mehr als doppelt so viel verdienen wie mit seinem Mo-
     Das sind umgerechnet zwischen 35 und 53 Euro.Davon          natslohn hier.“ Die Möglichkeiten von Leena seien
     könne man auch in Indien nicht leben, gibt Chanda zu.       aber beschränkt, weil die Auftragslage nicht so gut sei.
     In Mumbai werden für einen vierköpfigen Haushalt            Trotzdem müsse die Firma die Arbeiter monatlich aus-
     mindestens 80 Euro monatlich gerechnet. Künftig             bezahlen. Für den Arbeiter sei das der Pluspunkt und
     aber sollen die Löhne bei Leena über dem Mindestlohn        wahrscheinlich der einzige Grund, weshalb er hier sit-
     liegen; bezahlter Urlaub und Krankengeld sollen ein-        ze. Nirgendwo sonst bekomme der Arbeiter Geld,
     geführt werden.                                             wenn er nichts tue!“
        Das indische Mindestlohngesetz legt die Mindest-            Alle Köpfe sind über das Registerbuch gebeugt, in
     löhne in der Textilindustrie je nach Tätigkeit in fünf      mehreren Sprachen wird gerechnet und diskutiert. Fi-
     Kategorien fest. Es gibt regionale Unterschiede, in         xum oder nicht Fixum, Stücklohn oder Monatslohn,
     Mumbai sind die Mindestlöhne am höchsten.                   monatliches Fixum mit der Möglichkeit, darüber hin-
        Über eine wackelige, schmale Holzleiter gelangt man      aus für einen Stücklohn zu arbeiten ... und: Wie viel
     in den oberen Stock. In einem niedrigen, stickigen          müssen die Arbeiter für das Fixum arbeiten? Den Frau-
     Raum sitzen zehn Männer hintereinander an Nähma-            en aus dem Westen ist vieles hier unklar. Endlich stellt

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sich heraus, dass die Arbeiter für das monatliche Fix-       mentale Pflichten, gefolgt von einigen anderen Punk-
einkommen 25 Stück pro Tag nähen müssen. Was ge-             ten: Respekt für die Aktionäre, Respekt für die Kun-
schieht, fragen die Frauen, was geschieht eigentlich,        den, Koexistenz mit der Gesellschaft, Erhalt und
wenn sie diese Vorgabe nicht einhalten? Etwa, weil sie       Schutz der Umwelt, ethisches Verhalten der Angestell-
Kopfschmerzen haben? Wenn einer dieses Ziel einmal           ten, unsere Verantwortung, die ethischen Prinzipien
nicht schaffe, so die Antwort der Firmenleute, dann          einzuhalten.
werde ihm eine andere Arbeit zugeteilt. Und: Kopf-             Irgendwo findet sich auch die Verpflichtung, die
schmerzen könnten einmal toleriert werden, aber ge-          nationalen Gesetze einzuhalten. Zur Unternehmens-
wiss nicht jeden Tag.                                        politik gehört auch, dass keine Tonaufnahmen er-
   Abermals sind die Köpfe über das Registerbuch ge-         laubt sind. Weder im Produktionsbereich, noch im
beugt. Die Löhne zeigen einen Soll-Lohn für 30 Tage          Sitzungssaal, wo die Firmenmanager vorweg eine PR-
von beispielsweise 3.000 Rupien. Da jedoch die               Darstellung geben. Kritische Fragen sind merkbar
Sonntage nach indischem Gesetz freie Tage sind,              unerwünscht und werden schon im Ansatz abge-
wird jedem Arbeiter der Lohn für vier Tage pro Mo-           würgt. Besonders sensibel reagieren die Herren auf
nat abgezogen. Ergibt in diesem Rechenbeispiel               die Frage nach gewerkschaftlicher Organisation.
2.600 Rupien oder 100 Rupien pro Tag, wieder einmal          Samsung ist gewerkschaftsfrei, auch das ist ein Teil
weniger als 2 Euro. Der Besitzer ist ziemlich erstaunt,      der Unternehmenspolitik. Es entsteht der Eindruck,
als ihn Chanda darauf aufmerksam macht, dass das             dass wir unter Verhaltenskodizes etwas anderes ver-
nicht dem Verhaltenskodex der Clean-Clothes-Kampa-           stehen als die Samsung-Leute.
gne entspreche und auch gegen das indische Arbeits-            Drei Leute vom Management begleiten uns auf ei-
gesetz verstoße. In der gesamten indischen Textilin-         ner Besichtung durch die Produktionshalle, in der
dustrie würde niemand für den freien Sonntag be-             pro Tag 4.000 Fernseher montiert werden. Wir rut-
zahlt, schüttelt der Besitzer den Kopf.                      schen auf hellgrünen Schuhschonern durch die blitz-
                                                             blanke Halle. Vor jedem Arbeitsplatz hängt ein klei-

           B    leibt also nochmals die Frage an Chan-
da, ob Leena wirklich eines der positivsten Beispiele
                                                             nes Täfelchen mit der Aufschrift: My area. Name und
                                                             Foto geben Auskunft darüber, wer hier am Fließband
                                                             steht, die Output-Vorgabe bewertet die Ergebnisse
sei, das sie kenne, was die Umsetzung indischen Ar-          auf einer Skala von 10 bis 100 als very bad, bad oder ex-
beitsrechts und der Codes of Conduct betreffe. „Bis zu ei-   cellent. An manchen Arbeitsplätzen hängt ein rotes
nem gewissen Grad ja“, lautet die schon recht vorsichti-     Luftballonherz – Happy Birthday. Vor allem die Frau-
ge Antwort, es sei zumindest einmal ein Anfang ge-           en sind sehr jung. Das Durchschnittsalter liegt bei 20
macht worden und nun hoffe sie, dass dieser Prozess          Jahren. Die meisten Frauen kündigten nach der Hei-
auch länger aufrechterhalten werden könne. Denn die          rat, so, wie es in Indien üblich sei, und kämen daher
Konkurrenz in der Branche sei dermaßen groß, dass            auf eine Verweildauer im Betrieb von etwa zwei Jah-
die Zulieferer meinten, sie müssten zu einem Billigst-       ren, erklärt das Management. Selbstverständlich gebe
preis liefern, um einen Auftrag zu bekommen. Dieser          es bei Samsung keine Kinderarbeit.
Konkurrenzdruck verhindere die Einführung fairer Ar-
beitsbedingungen.
   Draußen dann, als das Aufnahmegerät längst abge-
schaltet ist, meint Chanda, sie wisse wohl, dass hier
                                                                       D      ie Arbeit ist monoton – immergleiche
                                                             einzelne Handgriffe. Alle sieben Sekunden ist ein Fern-
noch unter dem Mindestlohn bezahlt werde. Bei ihrem          seherteil fertig. Alle zwei Stunden haben die Arbeite-
nächsten Besuch werde sie darauf drängen, dass das           rinnen 10 Minuten Pause, die im Pausenraum bei Tee
geändert werde. Chanda lebt in Brüssel und kommt             und zentral gesteuerter Entspannungsmusik zu ver-
zirka einmal pro Jahr nach Indien. Wer macht in der          bringen ist, dazu gibt’s Fotos von Firmenpicknicks und
Zwischenzeit die Kontrollbesuche? Agrocel sowie lo-          die Samsung News. Der Arbeitstag hat acht Stunden, je-
kale Partnerorganisationen von Oxfam, meint Chanda.          der erste und dritte Samstag ist frei, ebenso die Sonnta-
Und wie wird die Einhaltung der indischen Arbeitsge-         ge und die zwölf nationalen indischen Feiertage. Ein
setze überwacht? Kaum, meint Chanda, denn das Sy-            Foto an der Wand zeigt den Helden der Null-Abwesen-
stem sei äußerst mangelhaft, die Inspektionen würden         heit – einen, der in den vergangenen fünf Jahren nicht
nicht so durchgeführt, wie sie sollten. Und dazu kom-        einen Tag gefehlt hat.
me noch die Korruption.                                         Was geschieht, wenn am Fließband ein Fehler pas-
                                                             siert? Nur wenn der Fehler mit Absicht gemacht wor-

          D    el hi. Seit acht Jahren lässt der südkorea-
nische Elektronikkonzern Samsung hier im Vorort
                                                             den sei, werde gleich bestraft, erklärt der Begleiter vom
                                                             Management. Als erzieherische Maßnahme werde je-
                                                             denfalls vor dem Arbeitsplatz ein Bild mit einer korrek-
Noida produzieren, vor allem Farbfernseher, Wasch-           ten Modellvorgabe aufgehängt. Sollte derselbe Fehler
maschinen, Mikrowellenöfen und Mobiltelefone. Hier           noch einige Male passieren, werde der Arbeiter oder die
arbeiten 1.300 Menschen, davon 400 Arbeiter und Ar-          Arbeiterin zunächst an eine andere Station versetzt.
beiterinnen, etwas mehr als die Hälfte davon sind Män-       Der nächste Schritt wäre die Kündigung. Und dann
ner. Samsung veröffentlicht auf seiner Homepage im           gibt es noch eine ganz spezielle Sanktionsmethode:
Internet einen Code of Ethics. An oberster Stelle der        auf einem für alle gut sichtbar aufgestellten Monitor
ethischen Prinzipien stehen etwas nebulose funda-            schweben unter den Fotos der Arbeiter entweder Ro-

                                                                                                                         81
sen – gedacht als Lob – oder aber Strichmännchen, die           dem Fabrikbesitzer über Löhne sprechen, Mutter-
     sich an den Kopf greifen und die Botschaft vermitteln:          schutz, Sozialversicherung, dann macht er sieben
     Ich muss beim Arbeiten mehr nachdenken. Eine Art                Schritte zurück!“
     virtueller Pranger.                                                75 Prozent der ArbeiterInnen in der Textilindustrie
                                                                     in der Region Coimbatore sind Tagelöhner. Sie werden

                N     euerlicher Schauplatzwechsel in den
     Süden Indiens. Hier in Tirrupur bei Coimbatore im
                                                                     von überhaupt keinen Verhaltenskodizes erfasst. Aloy-
                                                                     sius, der Leiter der regionalen NGO SAVE, die hier im
                                                                     Bundesstaat Tamil Nadu die Clean-Clothes-Kampagne
     Bundesstaat Tamil Nadu ist eine der wichtigsten Re-             organisiert, meint denn auch, Verhaltenskodizes seien
     gionen für die indische Textilindustrie. Werksbesichti-         lediglich auf dem Papier gut. Und das gelte für alle Ko-
     gung bei Kandan Knits, wo rund 250 Arbeiterinnen                dizes – egal ob jene der Clean-Clothes-Kampagne oder
     und Arbeiter für europäische Modegeschäfte wie H&M              firmeninterne. Sie alle basierten auf den Standards der
     fertigen.                                                       Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Solange es
        Die einzelnen Arbeitsschritte sind in Sektoren ein-          aber keine ordentlichen Kontrollen gebe, sehe die Pra-
     geteilt – vom Zuschneiden der riesigen Stoffballen, bis         xis ganz anders aus. In Ländern wie Sri Lanka, Indien,
     zum Zusammennähen der einzelnen Teile, aufgeteilt               Indonesien seien die Kontrollmechanismen viel zu
     auf einzelne Nähte. Auch das Annähen der Labels ist             schwach! Außerdem gebe es bereits recht gute Gesetze
     ein eigener Arbeitsschritt. Die Arbeiterin an dieser Sta-       – allerdings würden sie jedoch meist nicht angewendet.
     tion macht den ganzen Tag über nichts Anderes. An an-           Meistens verwendeten die Unternehmen die Codes für
     derer Stelle wird mit einem Magnet kontrolliert, ob im          ihre PR-Zwecke. Zusätzlich komme es zu einer
     fast fertigen T-Shirt noch Nadeln stecken. Gearbeitet           Schwächung der Gewerkschaften.
     wird in eineinhalb Schichten von acht bis acht. Die
     Sonntage sind frei. Der Löwenanteil der Produktion
     geht nach Frankreich.
        Branchenüblich werden die Arbeiter und Arbeiterin-
                                                                                 A  loysius hat recht. Das indische Arbeits-
                                                                     recht enthält das Verbot der Kinderarbeit, das Verbot
     nen nach gelernter oder ungelernter Tätigkeit bezahlt.          der Zwangsarbeit sowie grundlegende Gewerkschafts-
     Das Nähen an der Maschine ist eine gelernte Tätigkeit           rechte. Die Verhaltenskodizes gingen in keinem Punkt
     und bringt umgerechnet 2 Euro 30 pro Arbeitstag; ein            darüber hinaus, meint Aloysius und führt als Beispiel
     ungelernter Arbeiter verdient 1 Euro 40.                        an, dass der Code of Conduct der Clean-Clothes-Kampa-
        Die Fabrikhalle ist hell, sauber, gut durchlüftet und        gne für Überstunden einen Zuschlag von 150 Prozent
     macht einen durchaus guten Eindruck. Lasst euch                 vorsehe, das indische Arbeitsrecht jedoch 200 Prozent.
     nicht täuschen, meint Prithiviraj später, der Leiter der        Es würde daher genügen, auf die Einhaltung des indi-
     örtlichen NGO CARE, die sich für eine Verbesserung              schen Arbeitsrechts zu pochen.Und da beginnt sich die
     der Arbeitsbedingungen und der katastrophalen Um-               Geschichte im Kreis zu drehen.
     weltsituation in der Region einsetzt. Unter dem Deck-             Was können wir tun? Mehr kaufen, weniger kaufen,
     mantel von „sozialer Verantwortung“ errichteten die             boykottieren? Die Frage bleibt auch am Ende der Rei-
     Firmenmanager große Gebäude, meint er. Sie verwen-              se offen. Auf der Suche nach den Codes of Conduct wur-
     deten 30 Prozent ihrer Einkünfte auf die Verbesserung           den unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt:
     der Infrastruktureinrichtungen. Manchmal sogar noch             Manche T-Shirts sind ziemlich schmutzig, andere et-
     mehr – 50, 60 Prozent. Aber in die soziale Absicherung          was weniger. Wirklich saubere Kleidung haben wir
     der Arbeiter werde nichts investiert: „Wenn wir mit             nicht gefunden.

                                 In Tirripur, „Indiens Hauptstadt der T-Shirts und der Unterwäsche“.
                                                 (Foto: epd-bild / agenda, Januar 2004)

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