Bildungspolitik und Familienförderung als komplementäre Elemente von Präventionsstrategien - Uni-Due

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Bildungspolitik und Familienförderung als komplementäre Elemente von Präventionsstrategien - Uni-Due
2021 | 01

            Bildungspolitik und
            Familienförderung als
            komplementäre Elemente von
            Präventionsstrategien
            Stellungnahme zur Anhörung der Ausschüsse
            für Schule und Bildung und für Familie, Kinder
            und Jugend im Landtag Nordrhein-Westfalen
            vom 07.09.2021

            Sybille Stöbe-Blossey

              Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ),
              Universität Duisburg-Essen
Bildungspolitik und Familienförderung als komplementäre Elemente von Präventionsstrategien - Uni-Due
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

Inhaltsverzeichnis
Zusammen aufwachsen in Nordrhein-Westfalen: Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben................. 3

1    Die Familien- und Bildungsoffensive als Strategie vorbeugender Sozialpolitik .............................. 3

2    Präventionsparadoxien: Hemmnisse für die Umsetzung vorbeugender Sozialpolitik .................... 5
     2.1 Zeit-Paradox .............................................................................................................................. 5
     2.2 Ebenen-Paradox ........................................................................................................................ 6
     2.3 Regional-Paradox ...................................................................................................................... 6
     2.4 Wanderungs-Paradox ................................................................................................................ 6
     2.5 Haushalts-Paradox..................................................................................................................... 6

3    Konsequenzen für die Konzipierung einer Familien- und Bildungsoffensive .................................. 7
     3.1 Wissenschaftsbasierte Programmgestaltung und Evaluation anhand von Outputs................. 7
     3.2 Unterstützung kommunaler Initiativen und Abbau regionaler Disparitäten ............................ 7
     3.3 Beitragsentlastungen vor allem für Familien mit geringem Erwerbseinkommen .................... 8
     3.4 Anknüpfung von Förderkonzepten an die Regelinstitutionen Kindertageseinrichtung
           und Schule ............................................................................................................................. 8

4    Anforderungen an die Gestaltung der verschiedenen Elemente der Familien- und
     Bildungsoffensive ............................................................................................................................ 9    2
     4.1 Familienzentren im Primarbereich ............................................................................................ 9
     4.2 Bildungsberatung und -begleitung .......................................................................................... 10
     4.3 Familienbüros .......................................................................................................................... 10
     4.4 Ausbau- und Qualitätsoffensive .............................................................................................. 10
     4.5 Personaloffensive .................................................................................................................... 11
     4.6 „Ungleiches ungleich behandeln“ ........................................................................................... 12
     4.7 Kinderschutzgesetz.................................................................................................................. 12
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

Zusammen aufwachsen in Nordrhein-                                      1    Die Familien- und Bildungsoffensive
Westfalen: Aufbruch in ein selbstbestimm-                                   als Strategie vorbeugender Sozialpoli-
tes Leben.                                                                  tik

Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der SPD im                       Hervorzuheben ist zunächst der der Familien- und
Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen                                 Bildungsoffensive zugrundeliegende Ansatz, Fami-
                                                                       lien- und Bildungspolitik als komplementäre Hand-
Zusammen aufwachsen in Nordrhein-Westfalen:
                                                                       lungsfelder zu betrachten und miteinander zu ver-
Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben.
                                                                       knüpfen. Bildung stellt eine wichtige Voraussetzung
Nordrhein-Westfalen braucht eine Familien- und Bil-                    für die persönliche Entwicklung von Kindern und Ju-
dungsoffensive!                                                        gendlichen, für die Entfaltung der Persönlichkeit und
Drucksache 17/13777                                                    für ein eigenverantwortliches Leben dar. Gut entwi-
                                                                       ckelte persönliche und soziale Kompetenzen wiede-
Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung                        rum erleichtern eine effektive Nutzung von Bil-
und                                                                    dungsangeboten und verbessern damit die individu-
                                                                       ellen Bedingungen für die Lernentwicklung und Aus-
des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend am                      schöpfung von Bildungschancen. Wenn Eltern und
7. September 2021                                                      andere Personensorgeberechtigte in ihrer Lebenssi-
Mit dem Antrag „Zusammen aufwachsen in Nord-                           tuation gestärkt werden, können sie selbst ihre Kin-
rhein-Westfalen“ wird eine Familien- und Bildungs-                     der in deren Entwicklung besser begleiten und un-
offensive gefordert, die zu einem gelingenden Auf-                     terstützen. Die Begleitung und Unterstützung von
wachsen von Kindern und Jugendlichen in Nord-                          Familien verbessern somit die Voraussetzungen für
rhein-Westfalen beitragen und allen Individuen Bil-                    Kinder und Jugendliche, an Bildung teilzuhaben
dungs-, Entwicklungs- und Teilhabechancen eröff-                       und Bildungschancen zu ergreifen. Bildungsinstitu-
nen soll – gute Startchancen und „zweite Chancen“                      tionen (Schulen und Kindertageseinrichtungen)           3
im Falle von besonderen Herausforderungen und                          wiederum sind Orte, an denen Kinder, Jugendliche
Unterstützungsbedarfen.                                                und Familien niederschwellig erreicht werden kön-
                                                                       nen, um ihnen Präventionsangebote zugänglich zu
Im Folgenden wird zunächst auf die Einordnung der
                                                                       machen, die mit Hilfe von Kooperationspartnern
Familien- und Bildungsoffensive in Strategien vor-
                                                                       (bspw. aus Familienbildung und -beratung und dem
beugender Sozialpolitik eingegangen (1). Anschlie-
                                                                       Gesundheitswesen) konzipiert und realisiert werden
ßend werden Präventionsparadoxien thematisiert,
                                                                       können. Die Stärkung von Familien und die Förde-
die nicht selten dazu beitragen, dass eine vorbeu-
                                                                       rung von Bildung(schancen) sind somit zwei inei-
gende Sozialpolitik nicht durchsetzbar ist oder in der
                                                                       nandergreifende, komplementäre Elemente von
Umsetzung an den selbst gesetzten Zielen scheitert
                                                                       Präventionspolitik (Abbildung 1).
(2). Aus dieser Darstellung werden Anforderungen
für die Ausgestaltung der Familien- und Bildungsof-                    Mit der Verknüpfung von Familien- und Bildungs-
fensive abgeleitet (3), die dann für die im Antrag dar-                politik ordnet sich der Antrag ein in eine Strategie
gestellten sieben Elemente der Offensive konkreti-                     vorbeugender Sozialpolitik1, mit der Exklusionsrisi-
siert werden (4).                                                      ken präventiv bearbeitet werden sollen. Eine solche
                                                                       Strategie stellt eine Ergänzung des deutschen Sys-
                                                                       tems der sozialen Sicherung dar: Traditionell basiert
                                                                       dieses System wesentlich auf Ansprüchen, die über
                                                                       Beiträge aus Erwerbsarbeit erworben werden müs-
                                                                       sen. Damit sind diejenigen Personen abgesichert, die

_
1 Vgl. Klammer, Ute / Brettschneider, Antonio (Hrsg.), 2021: Vorbeu-

gende Sozialpolitik. Ergebnisse und Impulse. Frankfurt/M.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

    Abbildung 1: Bildungspolitik und Familienförderung als komplementäre Handlungsfelder

Quelle: Eigene Darstellung

„aus dem Spiel fallen“ – etwa durch Arbeitslosigkeit                       tive bewirkt vorbeugende Sozialpolitik einen ge-                              4
und Erwerbsminderung –, während junge Men-                                 samtgesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen
schen, die „nicht ins Spiel kommen“ 2, auch keinen                         Nutzen.
Zugang zum erwerbszentrierten System sozialer Si-
                                                                           Im Antrag „Zusammen aufwachsen in Nordrhein-
cherung finden. Angesichts steigender Qualifikati-
                                                                           Westfalen“ wird die Bedeutung von Prävention her-
onsanforderungen in der Wissensgesellschaft und
                                                                           vorgehoben, aber gleichzeitig darauf hingewiesen,
der hohen Bedeutung einer abgeschlossenen Be-
                                                                           dass selbst die beste vorbeugende Sozialpolitik nicht
rufsausbildung gerade auf dem deutschen Arbeits-
                                                                           alle Probleme im Vorfeld vermeiden kann. Dazu fin-
markt muss ein zentrales Ziel präventiver Politik da-
                                                                           det sich im Antrag das Bild eines „Sprungbretts“, das
rin bestehen, durch eine früh einsetzende, auf der
                                                                           jedem Kind Chancen eröffnen soll, „seinen Talenten
Begleitung und Unterstützung von Familien basie-
                                                                           entsprechend gefördert zu werden und ein selbstbe-
rende individuelle Förderung allen jungen Men-
                                                                           stimmtes Leben zu führen“, und eines „Sprung-
schen eine Ausbildung mit anerkanntem Abschluss
                                                                           tuchs“ (Antrag S. 3), das Kinder (wie das Rettungs-
zu ermöglichen. 3 In diesem Sinne generiert vorbeu-
                                                                           Sprungtuch der Feuerwehr) notfalls auffangen und
gende Sozialpolitik auf der Mikroebene einen indivi-
                                                                           ihnen (wie das Sprungtuch eines Trampolins) immer
duellen Nutzen für Kinder und Jugendliche. Auf der
                                                                           wieder neue Sprünge ermöglichen soll. Mit diesen
Makroebene erhöht sie das Angebot an qualifizier-
                                                                           Bildern ist die Verknüpfung von Primär-, Sekundär-
ten Arbeitskräften und leistet damit einen Beitrag
                                                                           und Tertiärprävention4 angesprochen:
zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, was zu
einem höheren Aufkommen an Steuern und Sozial-                             • Primärprävention hat einen universellen An-
versicherungsbeiträgen führt. Aus dieser Perspek-                            spruch und beinhaltet allgemeine Angebote zur
                                                                             Vermeidung von Problemen, bspw. Beratung und
_
2 Vgl. Rüb, Friedbert W., 2010: Neue Unsicherheiten, neue soziale Risi-    3 Vgl. Stöbe-Blossey, Sybille, 2018: Neue soziale Risiken. In: Unikate: Ri-

ken und die Herausforderungen moderner Wohlfahrtsstaaten. Eine             sikoforschung. Interdisziplinäre Perspektiven und neue Paradigmen H.
Problemskizze über Gefahren und Risiken im Bereich des Sozialen zu Be-     52, S. 104–113.
ginn des 21. Jahrhunderts. In: Münkler, Herfried / Bohlender, Matthias /   4 Vgl. Wohlgemuth, Katja, 2009: Prävention in der Kinder- und Jugend-

Meurer, Sabine (Hrsg.): Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwi-      hilfe. Annäherung an eine Zauberformel. Wiesbaden, S. 26 f.
schen Wagnis und Vorsorge. Bielefeld, S. 221–249, S. 228.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

  Information mit aufklärender und sensibilisieren-                   zen zu erwarten ist – Prävention lohnt sich individu-
  der Funktion, und verfolgt das Ziel, „positive Le-                  ell und für die Gesellschaft. Voraussetzung ist aller-
  bensbedingungen für junge Menschen und ihre                         dings, dass die Förderung als Präventionskette an-
  Familien sowie eine kinder- und familienfreundli-                   gelegt ist – ein einzelnes Sprungbrett wird oft nicht
  che Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (so die                    ausreichen, um von der frühen Förderung bis ins Be-
  einleitende Formulierung im Kinder- und Jugend-                     rufsleben zu „springen“. Insbesondere für Kinder
                                                                      und Jugendliche mit schwierigen Startbedingungen
  hilfegesetz; § 1 Abs. 3 Nr. 5 SGB VIII). Hier geht es
                                                                      bedarf es mehrerer Sprungbretter und auch
  also um „Sprungbretter“, die für alle – unabhän-
                                                                      Sprungtücher in unterschiedlichen Lebensphasen,
  gig von ihrer Herkunft – die Chancen verbessern,                    insbesondere an Übergängen in der Bildungsbio-
  „ins Spiel zu kommen“.                                              grafie. Der Aufwand für Präventionspolitik ist also
• Sekundärprävention richtet sich an Zielgruppen                      nicht zu unterschätzen.
  mit erhöhten Risiken und umfasst die Begleitung
                                                                      Nicht nur deshalb würde die Erwartung kurzfristiger
  und Unterstützung in Risikosituationen, ggf. ver-
                                                                      Haushaltsentlastungen als Ergebnis von Prävention
  bunden mit (zunächst niederschwelligen, bei Be-                     in die Irre führen: Die intendierten gesamtgesell-
  darf auch spezifischen) Hilfen im Einzelfall – also                 schaftlichen und volkswirtschaftlichen Effekte tre-
  Hilfen für diejenigen, die möglicherweise nicht                     ten nicht kurzfristig ein – und machen sich nicht un-
  ohne Weiteres in der Lage sind, auf ein „Sprung-                    bedingt im Haushalt derjenigen staatlichen Ebene
  brett“ zu steigen und zu springen.                                  bemerkbar, die die Kosten für Prävention zu tragen
• Tertiärprävention betrifft Maßnahmen zur Ver-                       hat. Darüber hinaus zeigen die Langzeitstudien, dass
  meidung von Folgeproblemen, die dann notwen-                        es junge Menschen gibt, die trotz der Sprungbretter
  dig sind, wenn es trotz präventiver Angebote o-                     und Sprungtücher nicht „ins Spiel kommen“ oder
  der aufgrund von besonderen Ereignissen zu                          später dennoch „aus dem Spiel fallen“ – wie die
  Problemen in der Bildungslaufbahn oder der per-                     Corona-Impfung wirkt auch die beste Förderung
                                                                      nicht zu 100 Prozent. Wir haben es hier mit „Präven-       5
  sönlichen Entwicklung kommt (wie aktuell im
                                                                      tionsparadoxien“ auf mehreren Ebenen zu tun, die
  Kontext der Corona-Pandemie). Hier ist dann das
                                                                      bei der Gestaltung einer Familien- und Bildungsof-
  „Sprungtuch“ erforderlich, das verhindert, dass                     fensive, aber nicht zuletzt auch bei ihrer Evaluation
  Kinder und Jugendliche „aus dem Spiel fallen“,                      und politischen Bewertung zu beachten sind:
  bevor sie wirklich hineingekommen sind, das sie
  auffängt und das sie dabei unterstützt, erneut zu
                                                                      2.1   Zeit-Paradox
  springen.
                                                                      Allgemein besteht Einigkeit darüber, dass Förderung
                                                                      umso effektiver ist, je früher sie einsetzt, weil die
2     Präventionsparadoxien: Hemmnisse                                frühkindliche Entwicklung Kinder prägt und weil
      für die Umsetzung vorbeugender Sozi-                            durch frühe Primärprävention der Entstehung von
      alpolitik                                                       Problemen vorgebeugt bzw. ihre Verfestigung ver-
                                                                      mieden werden kann. Ob aber ein Kind, das aktuell
Schon seit vielen Jahren liegen Langzeitstudien (vor                  an früher Bildung teilhat und dessen Familie beglei-
allem aus den USA) vor, die hohe volkswirtschaftli-                   tet und unterstützt wird, tatsächlich einen Berufsab-
che Effekte einer frühen, am Bild des Sprungbretts                    schluss erreicht, wird sich erst viele Jahre später zei-
orientierten Förderung belegen. 5 Bei der Konzipie-                   gen. Während dieser Zeit können viele Ereignisse
rung einer Familien- und Bildungsoffensive ist somit                  eintreten, die die Entwicklung des Kindes weiter för-
zu berücksichtigen, dass sowohl ein individueller                     dern – oder aber beeinträchtigen. Gerade für früh
Nutzen für die geförderten Kinder, Jugendlichen und                   einsetzende Primärprävention lassen sich somit Out-
Familien als auch ein gesamtgesellschaftlicher Nut-                   comes, also eindeutig einer bestimmten Förderung

_
5 Vgl. bspw. zum “Perry Preschool Project” Schweinhart, Lawrence,
2003: Benefits, Costs, and Explanation of the High/Scope Perry Pre-
school Program. High/Scope Educational Research Foundation, Tampa,
Florida.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

zuzuordnende Wirkungen, nur schwer ermitteln. Er-        aus erfolgreicher Förderung resultierenden Bil-
folge sind somit erst mit großem Zeitverzug und          dungsaufstieg attraktive Ausbildungs-, Studien- und
über aufwändige Langzeitstudien mit Kontrollgrup-        Arbeitsplätze in anderen Kommunen annehmen. In-
pendesigns erkennbar.                                    dividuellen Erfolge können also zu Fortzügen füh-
                                                         ren, während möglicherweise – bspw. aufgrund
                                                         von preisgünstigem Wohnraum oder in der Kom-
2.2   Ebenen-Paradox
                                                         mune lebenden Communities – neue benachtei-
Die Kosten für Prävention fallen zu großen Teilen        ligte Gruppen zuziehen. Die Erfolge der Förderung
auf der kommunalen Ebene an (bspw. im Feld der           werden somit in den Daten zur Entwicklung der
Kinder- und Jugendhilfe); höhere Einnahmen über          Strukturen in einer Kommune nicht unbedingt sicht-
Steuern und Sozialversicherungsbeiträge sind eher        bar. Daten zur Sozialstruktur, zu Schul- und Berufs-
bei anderen Institutionen des Sozialstaates zu er-       bildungsabschlüssen usw., wie sie etwa im kommu-
warten. Kosten für die Finanzierung von Prävention       nalen Bildungsmonitoring oder in der Sozialbericht-
einerseits und der potenzielle finanzielle Ertrag die-   erstattung erhoben werden, stellen damit zwar eine
ser Prävention andererseits sind also ungleich ver-      wichtige Grundlage für eine zu den Bedingungen in
teilt. Eine Kommune, die in Präventionspolitik in-       den einzelnen Sozialräumen passende Planung der
vestiert, leistet also zwar zweifellos einen Beitrag     Präventionspolitik dar, eignen sich jedoch nur teil-
zur Steigerung der Lebensqualität vor Ort und der        weise – und nur bei sehr genauer Prüfung der Aus-
Attraktivität des Standorts – aber auch nicht zuletzt    sagekraft der einzelnen Indikatoren – zur Messung
zur Entwicklung von Gesellschaft und Volkswirt-          von Erfolgen.
schaft weit über die eigene Kommune hinaus.
                                                         2.5   Haushalts-Paradox
2.3   Regional-Paradox
                                                         Wenn Kommunen in präventive Politik investieren,
Viele Kommunen, in denen besonders hohe Anteile          wird dies nicht selten mit der Hoffnung auf Einspa-
                                                                                                                 6
von Kindern, Jugendlichen und Familien in prekären       rungen bei Maßnahmen zur Lösung entstandener
Lebenssituationen leben, sind besonders stark von        Probleme begründet – so soll bspw. frühe Förde-
defizitären Kommunalhaushalten betroffen – nicht         rung (also Primärprävention) zur Reduzierung der
zuletzt deshalb, weil sie oft eine in besonderem         Kosten für Hilfen zur Erziehung (also für Sekun-
Maße vom Strukturwandel betroffene Branchen-             därprävention) im kommunalen Haushalt führen.
struktur aufweisen, die sowohl zu überproportiona-       Mit dieser Erwartung wird jedoch die Tatsache igno-
len Arbeitslosenquoten und zu unterproportionalen        riert, dass es sich bei vielen Angeboten der Jugend-
Gewerbesteuereinnahmen beiträgt. Oft sind die El-        hilfe – insbesondere bei Maßnahmen, die der Sekun-
ternbeiträge für Kindertageseinrichtungen oder den       därprävention zuzuordnen sind – um Angebote han-
Offenen Ganztag im Primarbereich in solchen Kom-         delt, die Kinder, Jugendliche und Familien freiwillig
munen relativ hoch (auch für Familien mit geringem       nutzen und teilweise aktiv beantragen müssen. Die
Einkommen), und Förderprogramme, die mit einem           Funktion von Primärprävention besteht nicht zu-
kommunalen Eigenanteil verbunden sind, können            letzt darin, die Hemmschwellen für die Inanspruch-
nicht oder in relativ geringem Ausmaß genutzt wer-       nahme von Angeboten der Sekundärprävention ab-
den. Wenn – wie dies in einigen Kommunen in NRW          zubauen. Wenn bspw. eine Familie mit Kindern im
der Fall ist – etwa ein Drittel der Kinder und Jugend-   Kindergartenalter im Familienzentrum die Erfahrung
lichen in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften lebt, ist der     macht, dass ein Besuch der dort angebotenen offe-
Handlungsbedarf für eine Familien- und Bildungsof-       nen Sprechstunde der Erziehungsberatung hilfreich
fensive besonders groß – und der (finanzielle)           ist, wird sie bei Schwierigkeiten im Jugendalter eher
Handlungsspielraum der Kommunen besonders ge-            bereit sein, erneut zur Erziehungsberatungsstelle zu
ring.                                                    gehen, und sich von dieser bei Bedarf eher überzeu-
                                                         gen lassen, dass eine sozialpädagogische Familien-
                                                         hilfe sinnvoll ist. Primärprävention kann also
2.4   Wanderungs-Paradox                                 Hemmschwellen für die Nutzung von Angeboten
                                                         der Sekundärprävention senken und damit durch-
Gerade bei in besonderem Maße vom wirtschaftli-          aus zunächst zu höheren Kosten führen – ein Effekt,
chen Strukturwandel betroffenen Kommunen ist es
nicht unwahrscheinlich, dass Individuen nach einem
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

der sogar erwünscht ist, um die Notwendigkeit ei-        Evaluation des einzelnen Programms ist vor diesem
ner mit noch höheren Kosten verbundenen Terti-           Hintergrund die Messung und Bewertung von Out-
ärprävention oder das vollständige „Aus-dem-             puts hinreichend und kann weiteres Wissen generie-
Spiel-Fallen“ zu vermeiden. Einsparungen im Haus-        ren, um die Qualität der eingesetzten Instrumente
halt für Maßnahmen der Sekundärprävention                kontinuierlich verbessern und die Ausrichtung zu-
(bspw. im Feld der Hilfen zur Erziehung) können so-      künftiger Maßnahmen zielorientiert anpassen zu
mit nicht als Indikator für den Erfolg von Maßnah-       können.
men definiert und gewertet werden; Einsparungen
                                                          Für die Messung und politische Bewertung von
im Bereich der Tertiärprävention sind erst mittel- bis
                                                           Erfolgen einer Familien- und Bildungsoffensive
langfristig zu erwarten – womit sich der Kreis zum
eingangs angesprochenen Zeit-Paradox schließt (vgl.        sollten nicht Outcomes (also intendierte Wir-
2.1).                                                      kungen), sondern Outputs (also Produkte und
                                                           Leistungen) definiert und anhand der folgenden
                                                           Fragestellungen bewertet werden: Welche ziel-
3     Konsequenzen für die Konzipierung ei-                orientierten Angebote werden entwickelt und
      ner Familien- und Bildungsoffensive                  umgesetzt? Inwieweit entsprechen die Konzepte
                                                           wissenschaftlich fundierten fachlichen Qualitäts-
Aus den dargestellten Präventionsparadoxien erge-          kriterien? Wie werden sie von den Kindern, Ju-
ben sich Konsequenzen für die Planung, Ausgestal-          gendlichen und Familien angenommen? Wie
tung und Evaluation einer Familien- und Bildungsof-        werden sie von den beteiligten Fachkräften vor
fensive, die im Folgenden kurz skizziert werden, um        dem Hintergrund ihrer Professionalität bewer-
auf dieser Basis Empfehlungen zu formulieren.              tet?

3.1    Wissenschaftsbasierte Programmgestal-             3.2   Unterstützung kommunaler Initiativen
       tung und Evaluation anhand von Out-                     und Abbau regionaler Disparitäten                  7
       puts
                                                         Die Forderung, „Ungleiches ungleich zu behandeln“
Angesichts der skizzierten Präventionsparadoxien         (vgl. 4.6), gilt im Sinne des Postulats gleichwertiger
sollte die Förderung von Maßnahmen einer Fami-           Lebensverhältnisse nicht nur für Individuen und Bil-
lien- und Bildungsoffensive weder mit der Erwar-         dungsinstitutionen, sondern auch für Kommunen.
tung kurzfristig zu realisierender Kosteneinsparun-      Die Finanzierung von Förderprogrammen muss da-
gen noch mit dem Anspruch mittel- oder gar kurz-         her so gestaltet werden, dass vor allem diejenigen
fristig messbarer Outcomes verbunden werden.             Kommunen partizipieren können, in denen beson-
Dies gilt für Förderprogramme des Landes (und des        ders viele Familien in prekären Lebenssituationen
Bundes) ebenso wie für die Begründung und Evalua-        leben. Kommunen mit hohen Anteilen an Familien in
tion von Maßnahmen innerhalb der Kommunen.               prekären Lebenssituationen müssen demnach ent-
                                                         sprechend hohe Anteile an Landesmitteln erhalten.
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Out-
                                                         Die Verteilung innerhalb der Sozialräume kann dabei
put und Outcome (also nach dem Einfluss einer be-
                                                         den einzelnen Kommunen überlassen werden, denn
stimmten Maßnahme auf die Entwicklung von Kin-
                                                         diese kennen die Situation vor Ort am besten und
dern und Jugendlichen) kann nicht für jedes einzelne
                                                         haben in den letzten Jahren – bspw. im Kontext der
Förderprogramm beantwortet werden. Der Auf-
                                                         Erstellung von Bildungs- und Sozialberichten – oft
wand für eine wissenschaftlich seriöse und metho-
                                                         viel in den Aufbau eines Monitorings investiert. Zu
disch abgesicherte Analyse wäre zu hoch, und ge-
                                                         beachten ist auch der administrative Aufwand für
rade bei früher Förderung dauert es zu lange, bis die
                                                         die Nutzung von Förderprogrammen: Wenn die Pla-
intendierten Outcomes (bspw. Schul- oder Ausbil-
                                                         nung, die Umsetzung und die Abrechnung erhebli-
dungsabschlüsse) eintreten (vgl. 2.1). Vielmehr sind
                                                         che Verwaltungskapazitäten binden, beeinträchtigt
bei der Planung von Programmen wissenschaftlich
                                                         dies ebenso wie finanzielle Eigenanteile die Nutzbar-
belegte Wirkungszusammenhänge zu berücksichti-
                                                         keit der Programme gerade in denjenigen Kommu-
gen (bspw. das Wissen über den positiven Einfluss
                                                         nen, in denen diese Kapazitäten besonders knapp
früher Förderung oder der Einbeziehung der Eltern
                                                         sind. Schließlich sind gerade in einigen Kommunen
auf die Entwicklung von Kindern). Bei der späteren
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

mit besonders hohem Problemdruck kreative Lö-            möglichst zielgenauen Einsatz von Mitteln vor Ort,
sungen entstanden, die – bspw. mit zeitlich befriste-    bei dem Ungleiches ungleich behandelt wird. Neben
ter Unterstützung durch Mittel von Stiftungen oder       der bereits erwähnten Finanzierung von Förderpro-
anderen Geldgebern – vor Ort eine Verstetigung be-       grammen (vgl. 3.2) betrifft dies die Gestaltung von
nötigen und für andere Kommunen als Modell die-          Elternbeiträgen für Kindertageseinrichtungen und
nen können.                                              schulische Ganztagsangebote.
     Für die zielorientierte Verteilung von Landes-     Eine allgemeine Beitragsbefreiung für diese Ange-
      mitteln auf die Kommunen sollte der Anteil der     bote ist zwar wünschenswert, Forschungsergebnisse
      Kinder und Jugendlichen in SGB-II-Bedarfsge-       zeigen jedoch, dass Elternbeiträge auf die Teilhabe-
      meinschaften zugrunde gelegt werden. Dies ist      entscheidungen für Familien mit mittlerem und ho-
      ein einfacher und geeigneter Indikator; die Ver-   hem Einkommen keinen Einfluss haben. Familien,
      teilung auf die Sozialräume kann auf dieser Ba-    die Transferleistungen beziehen, sind bundesweit
                                                         nach § 90 Abs. 4 SGB VIII von Beiträgen befreit. El-
      sis dezentral durch die einzelne Kommune er-
                                                         ternbeiträge stellen somit insbesondere für Familien
      folgen. Für die Vermeidung zusätzlicher finan-
                                                         mit geringem Erwerbseinkommen eine potenzielle
      zieller Belastungen durch die Nutzung von För-     Zugangshürde für Kindertageseinrichtungen und
      derprogrammen und für eine administrativ           schulische Ganztagsbetreuung dar (bspw., wenn die
      einfache Abwicklung sollten alle haushalts-        Kosten für eine zu den Arbeitszeiten passende Be-
      rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft wer-        treuung höher sind als das erzielbare Einkommen).
      den. Dazu ist es hilfreich, so weit wie möglich
                                                              Die Ressourcen für Beitragsentlastungen soll-
      auf Pauschalen ohne detaillierte Verwendungs-
                                                               ten sich zunächst auf sozioökonomisch be-
      nachweise zurückzugreifen. Eigenanteile der
                                                               nachteiligte Gruppen konzentrieren. Erforder-
      Kommunen sollten, soweit haushaltsrechtlich
                                                               lich ist weiterhin ein Ausgleich der Einnahme-
      möglich, vermieden werden und ggf. über vor-
                                                               ausfälle für Kommunen mit besonders hohen
      handene Stellenanteile in der Kommunalver-                                                                   8
                                                               Anteilen dieser Gruppen, um das Problem zu
      waltung realisiert werden können. Darüber hin-
                                                               lösen, dass aktuell Eltern in strukturell benach-
      aus ist es sinnvoll, wenn Förderprogramme un-
                                                               teiligten Kommunen aktuell oft relativ hohe
      terschiedlicher Ministerien bereits auf Landes-
                                                               Beiträge zahlen müssen.
      ebene gebündelt werden und nicht erst in den
      Kommunen koordiniert werden müssen. Mo-
      delle für kreative Lösungen in einzelnen Kom-      3.4    Anknüpfung von Förderkonzepten an die
      munen sollten in ihrer Verstetigung unterstützt           Regelinstitutionen Kindertageseinrich-
      und für den Transfer in andere Kommunen auf-              tung und Schule
      bereitet werden. Bei einer Landesförderung
                                                         Angesichts knapper Ressourcen geht es darum, För-
      von Verstetigung und Transfer benötigen die
                                                         derangebote zu bündeln, Synergien zu erzielen und
      Kommunen Freiraum für eine an die kommuna-
                                                         Doppelangebote zu vermeiden. Eine solche effizi-
      len Bedingungen anpassbare Umsetzung. Hilf-        ente Gestaltung lässt sich erreichen, indem Förder-
      reich ist darüber hinaus die Organisation inter-   konzepte möglichst an Regelinstitutionen (Kinder-
      kommunalen Austauschs.                             tageseinrichtungen, Schulen) angedockt werden.
                                                         Diese benötigen dafür multiprofessionelle Teams
3.3    Beitragsentlastungen vor allem für Fami-          und externe Kooperationspartner, bspw. aus der
       lien mit geringem Erwerbseinkommen                Familienbildung und -beratung und dem Gesund-
                                                         heitswesen. Eine solche Strategie bietet erstens die
Angesicht der mit Prävention verbundenen Kosten          Möglichkeit, Kinder, Jugendliche und Familien nie-
ist es wichtig, mit den eingesetzten Fördermitteln       derschwellig und dezentral zu erreichen, zweitens
größtmögliche Effekte zu erzielen. Entscheidend da-      werden auf diese Weise die Regeleinrichtungen in
für ist die bedarfsgerechte Steuerung des Einsatzes      Sozialräumen mit besonderen Herausforderungen
der Finanzmittel – vor dem Hintergrund knapper           gestärkt, drittens wird eine ganzheitliche Förderung
Ressourcen kann es nicht um Förderung nach dem           ohne institutionelle Brüche erleichtert, viertens
„Gießkannenprinzip“ gehen, sondern um einen
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

werden Ressourcen eingespart, die bei neuen Insti-                            Potenziale für die Förderung von Kindern im Grund-
tutionen für Räume und für die Steuerung erforder-                            schulalter und ihren Familien bietet. Familienzen-
lich wären.                                                                   tren stellen ein Konzept der Primärprävention dar,
                                                                              beinhalten niederschwellige Angebote der Sekun-
     Die Familien- und Bildungsoffensive sollte wei-
                                                                              därprävention und erleichtern bei Bedarf den Zu-
      testmöglich über Regelinstitutionen (Schule,
                                                                              gang zu Maßnahmen der Tertiärprävention.
      Kindertageseinrichtung) organisiert werden.
      Kooperationen sind zu fördern und die Neu-                              Es ist zu begrüßen, dass es für Familiengrundschul-
      gründung von Institutionen zu vermeiden.                                zentren inzwischen Förderungen sowohl aus Mit-
                                                                              teln des MKFFI als auch des MSB gibt. Für die Zu-
                                                                              kunft sollten die unterschiedlichen Fördermöglich-
4      Anforderungen an die Gestaltung der                                    keiten erstens zusammengeführt und zweitens –
                                                                              analog zu den Kindertageseinrichtungen – ausge-
       verschiedenen Elemente der Familien-
                                                                              hend von der Projektförderung auf eine dauerhafte
       und Bildungsoffensive                                                  Basis gestellt werden. Sinnvoll wäre ein landesweit
                                                                              geltender Katalog von Qualitätskriterien, der vor al-
Im Antrag „Zusammen aufwachsen in Nordrhein-                                  lem die Einbindung des Konzepts „Familienzentrum“
Westfalen“ werden sieben Kernelemente einer Fa-                               in die Schulentwicklung sichert und so dazu beiträgt,
milien- und Bildungsoffensive aufgeführt. Für diese                           dass das Familienzentrum kein additives Angebot
sieben Kernelemente werden im Folgenden einige                                bleibt, sondern mit Offenem Ganztag und Schulsozi-
Anforderungen an die Ausgestaltung formuliert.                                alarbeit verknüpft wird – im Idealfall in der Hand ei-
Diese Anforderungen erheben keinen Anspruch auf                               nes gemeinsamen Trägers. Durch eine solche In-
Vollständigkeit; die Auswahl der konkretisierenden                            tegration würden auch die Möglichkeiten von Perso-
Elemente erfolgte vor dem Hintergrund vorliegen-                              nalwirtschaft und Personalentwicklung im (bislang
der Projekterfahrungen am IAQ.                                                oft durch befristete Verträge und prekäre Arbeits-
                                                                              verhältnisse gekennzeichneten) Bereich des weite-                            9
                                                                              ren pädagogischen Personals an Schulen verbessert.
4.1      Familienzentren im Primarbereich
                                                                              Notwendig für eine solche integrierte Strategie ist
„1. Der Ausbau von mehr Grundschulen zu Familien-                             eine Reform der Regelungen zum Offenen Ganztag,
zentren, die Bildung und Förderung durch multipro-                            mit dem die strikte (auch pädagogisch problemati-
fessionelle Teams an einem Ort vereinen“ (Antrag S.                           sche) Trennung zwischen „Ganztagskindern“ und
3).                                                                           „Halbtagskindern“ aufgehoben und die Möglichkeit
                                                                              offener Angebote geschaffen würde (vgl. 4.4).
Die Adaptierung des für Kindertageseinrichtungen
2006 eingeführten und mit den KiBiz-Revisionen von                            Ähnlich wie im Bereich der Kindertageseinrichtun-
2011 und 2019 weiterentwickelten Konzepts des Fa-                             gen sollten die Familienzentren an Grundschulen
milienzentrums 6 für Grundschulen stellt ein zentra-                          stufenweise auf- und ausgebaut werden. Zum einen
les Element für die Förderung von Kindern im Grund-                           ist es wichtig, Erfahrungen mit unterschiedlichen
schulalter und ihren Familien dar. 7 Das von der Wüb-                         Formen der Umsetzung des Konzepts zu sammeln
ben Stiftung im Rahmen einer Entwicklungspartner-                             und auszuwerten9, zum anderen wäre eine schnelle
schaft geförderte Modellprojekt der Stadt Gelsenkir-                          flächendeckende Umsetzung schon allein mangels
chen 8 hat gezeigt, dass die Verknüpfung einer erwei-                         einer hinreichenden Anzahl an geeigneten pädago-
terten Familienorientierung, der Weiterentwicklung                            gischen Kräften auf dem Arbeitsmarkt nicht reali-
multiprofessioneller Kooperation innerhalb der                                sierbar. Die Ressourcen für den Aufbau von Famili-
Schule und der Öffnung zum Sozialraum erhebliche                              enzentren im Primarbereich sollten auf Schulen der

_
6 Vgl. zur Evaluation Stöbe-Blossey, Sybille / Hagemann, Linda / Klaudy,      8 Vgl. zur Evaluation Born, Andreas / Klaudy, Elke Katharina / Micheel,
E. Katharina / Micheel, Brigitte / Nie-ding, Iris, 2020: Familienzentren in   Brigitte / Risse, Thomas / Stöbe-Blossey, Sybille (Hrsg.), 2019: Familien-
Nordrhein-Westfalen: Eine empirische Analyse. Wiesbaden.                      zentren an Grundschulen. Abschlussbericht zur Evaluation in Gelsenkir-
7
  Vgl. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju-        chen. Duisburg: Inst. Arbeit und Qualifikation. IAQ-Forschung 2019-04.
gend) (Hrsg.), 2021: Neunter Familienbericht: Eltern sein in Deutschland      9 Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-

– Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt.              Essen plant dazu von Oktober 2021 bis September 2023 mit Förderung
Berlin. (siehe vor allem Kap. 7: Bildungsinstitutionen der Kinder und Ju-     der Wübben Stiftung ein Forschungsprojekt („Familienzentren im Prim-
gendlichen als Infrastruktur für Familien)                                    arbereich – Nachhaltigkeit, Transfer und Weiterentwicklung“).
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

Standorttypen 4 und 5 konzentriert werden, da an            berücksichtigt werden, können viele Menschen ihre
diesen Schulen der größte Bedarf besteht.                   Angelegenheiten online erledigen und sparen
                                                            dadurch Zeit und Wege. Diejenigen, die dafür (in-
                                                            haltliche oder technische) Unterstützung brauchen,
4.2   Bildungsberatung und -begleitung
                                                            können dezentrale Sprechstunden nutzen.
„2. Bildungslotsinnen und Bildungslotsen, die ein
Kind und seine Familie begleiten und beraten“ (An-          4.4   Ausbau- und Qualitätsoffensive
trag S. 3).
                                                            „4. Eine Ausbau- und Qualitätsoffensive für Kitas und
Eine erweiterte Begleitung und Beratung von Kin-
                                                            Schulen, um zum einen ausreichend Betreuungs-
dern, Jugendlichen und Familien stellt ein Angebot
                                                            plätze an Kitas und Ganztagsgrundschulen zu schaf-
der Sekundärprävention dar und ist ein Kernelement
                                                            fen und zum anderen ausreichend Zeit und Ressour-
sowohl des Modells des Familienzentrums als auch
                                                            cen für pädagogische Arbeit sicherzustellen“ (Antrag
von Konzepten der Schulsozialarbeit. Insofern soll-
                                                            S. 3).
ten hier keine zusätzlichen Strukturen geschaffen
werden, sondern die Aufgaben von Bildungs-                  Im Hinblick auf die Qualitätsentwicklung ist für Kin-
lots*innen – verbunden mit entsprechenden Res-              dertageseinrichtungen mit der Novellierung des
sourcen – in das Leistungsspektrum von Familien-            KiBiz zum 01.08.2020 vieles auf den Weg gebracht
zentren und Schulsozialarbeit integriert werden             worden (bspw. bessere Förderung für Familienzen-
(vgl. 4.1). Im Schulbereich ist es sinnvoll, eine ausrei-   tren, Sprachbildung und Fachberatung sowie die
chende Anzahl an unbefristeten und projektunab-             Stärkung der Leitung). Darüber hinaus wurden mit
hängigen Stellen für Schulsozialarbeit einzurichten;        § 48 KiBiz neue Möglichkeiten flexibler und erwei-
in Kindertageseinrichtungen hat sich der Einsatz von        terter Betreuungszeiten eingeführt. Nicht zuletzt an-
„Familiencoachs“ bewährt.                                   gesichts der Einschränkungen aufgrund der Corona-
                                                            Pandemie ist es zu früh, eine Bilanz zu Erfahrungen
                                                            zu ziehen und weitere Entwicklungsbedarfe heraus-         10
4.3   Familienbüros
                                                            zuarbeiten. Deutlich sind diese Bedarfe allerdings
„3. Familienbüros, die alle bürokratischen Angele-          auf zwei Ebenen: Erstens fehlen Regelungen zur Bei-
genheiten (Elterngeldantrag etc.) in einer Anlauf-          tragsentlastung von Eltern mit geringem Erwerbs-
stelle bündeln“ (Antrag S. 3).                              einkommen (vgl. 3.3; insbesondere auch für Eltern
                                                            von unter Dreijährigen, für die in einigen Kommunen
Das Angebot eines Familienbüros ist nur dezentral –         besonders hohe Beiträge erhoben werden); zwei-
im Stadtteil oder in der einzelnen Gemeinde im länd-        tens besteht nach wie vor eine Deckelung des An-
lichen Raum – sinnvoll, da der Weg zu einer zentra-         stiegs des Anteils von Ganztagsplätzen im jeweiligen
len Stelle – in der Innenstadt oder im ländlichen           Jugendamtsbezirk (§ 33 Abs. 3 KiBiz), was immer
Raum in der Kreisstadt – gerade für diejenigen eine         wieder zu Engpässen in der Deckung des Bedarfs
Hemmschwelle bedeutet, die die Unterstützung in             führt.
bürokratischen Angelegenheiten am nötigsten ha-
ben. Insofern bietet sich eine zentrale koordinie-          Im Schulbereich ist eine Reform des Offenen Ganz-
rende Stelle mit dezentralen Sprechstunden in               tags erforderlich. Zum einen muss hier sichergestellt
Schulen und Kindertageseinrichtungen an.                    werden, dass alle Kinder, die außerunterrichtliche
                                                            Angebote benötigen und deren Eltern dies wün-
Ebenso wichtig sind jedoch Maßnahmen der Verein-            schen, auch einen Zugang dazu erhalten – selbst
fachung, barrierefreien Gestaltung und Digitalisie-         wenn der bundesweite Rechtsanspruch auf sich war-
rung von Antragsverfahren und -formularen. Die              ten lässt. Zum anderen ist eine Flexibilisierung erfor-
Nutzung des Smartphones ist für viele Menschen              derlich, mit der das außerunterrichtliche Angebot
längst zum Alltag geworden; Online-Formulare kön-           des Ganztags besser mit anderen Angeboten ver-
nen über Filterfragen und eine intelligente Nutzer-         knüpft (vgl. 4.1) und an die Bedarfe von Kindern und
führung wesentlich einfacher und übersichtlicher            Familien angepasst wird. So hat die Evaluation der
gestaltet werden als Papierformulare; die Bereitstel-       Familienzentren an Grundschulen in Gelsenkirchen
lung in verschiedenen Sprachen lässt sich leicht rea-       gezeigt, dass es viele Familien gibt (und zwar gerade
lisieren. Wenn die Gestaltung von Online-Verfahren          sozial benachteiligte Familien ohne elterliche Er-
von der Zielgruppe aus gedacht wird und deren Me-           werbstätigkeit), die – zum Teil auf der Basis eines
dienausstattung und ihr Mediennutzungsverhalten
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

traditionellen Familienbildes – keine Teilnahme ih-                          dungsformen erforderlich, bspw. duale Ausbildun-
res Kindes am Ganztag wünschen, aber sehr wohl                               gen für Erzieher*innen („Praxisintegrierte Ausbil-
daran interessiert sind, dass ihr Kind bestimmte au-                         dung – PiA“ – nicht nur in Kindertageseinrichtungen,
ßerunterrichtliche Förderangebote wahrnimmt.                                 sondern auch in Offenen Ganztagsschulen), duale
                                                                             Studiengänge in der Sozialen Arbeit oder auch mo-
Ferner hat die Corona-Pandemie deutlich gemacht,
                                                                             dular aufgebaute Ausbildungen (bspw. für Zuge-
wie groß der Bedarf für eine gute digitale Ausstat-
                                                                             wanderte), die mit Spracherwerb, allgemeinbilden-
tung ist – in allen Bildungsinstitutionen: Kindertages-
                                                                             dem Schulabschluss und Qualifikationen für Assis-
einrichtungen, allgemeinbildende und berufsbil-
                                                                             tenztätigkeiten in multiprofessionellen Teams be-
dende Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe.
                                                                             ginnen und über unterschiedliche Bausteine zu an-
Hier ist eine Digitalisierungsoffensive notwendig,
                                                                             erkannten Abschlüssen führen (können). Die im Juni
die sich nicht auf die Ausstattung mit Hardware be-
                                                                             2021 gestartete „Ausbildungsoffensive“ für Alltags-
schränkt, sondern vor allem geeignete Tools für di-
                                                                             helfer*innen und für eine bessere finanzielle Absi-
gitales Lernen und digitale Kommunikation zugäng-
                                                                             cherung der Ausbildung für Kinderpfleger*innen
lich macht. Dass bei derartigen Tools der Schutz per-
                                                                             und der Umschulung zu Erzieher*innen stellen sehr
sönlicher Daten gesichert sein muss, ist selbstver-
                                                                             wichtige Schritte in die richtige Richtung dar.
ständlich; genauso selbstverständlich müssen sie
aber auch den Anforderungen an Stabilität und Nut-                           Für jegliche Form des Quereinstiegs – ob nun in die
zungsfreundlichkeit gerecht werden.                                          Kindertageseinrichtung von Alltagshelfer*innen bis
                                                                             hin zu akademisch ausgebildeten Kräften oder in das
                                                                             Lehramt an Berufskollegs – sind vier Aspekte zu be-
4.5      Personaloffensive
                                                                             achten: Erstens ist für Quereinsteiger*innen die Ein-
„5. Eine Personaloffensive, um die angestrebte Be-                           bindung in ein multiprofessionelles Team entschei-
treuungs- und Bildungsqualität durch ausreichendes                           dend. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, sind Be-
und multiprofessionelles Personal in den Bildungs-                           fürchtungen einer Dequalifizierung des Arbeitsfel-
einrichtungen auch erreichen zu können“ (Antrag S.                           des (wie in der Debatte immer wieder geäußert wur-                     11
3).                                                                          den) nicht berechtigt. Allerdings muss berücksichtigt
                                                                             werden, dass die Fachkräfte in multiprofessionellen
Zu empfehlen ist eine umfassende Personaloffen-                              Teams Kapazitäten für die Anleitung von Querein-
sive – für Kindertageseinrichtungen 10 und Schulen                           steiger*innen brauchen. Zweitens sind für die Siche-
und für alle Berufsgruppen: Lehrkräfte, fachschu-                            rung der Qualität Angebote der Weiterqualifizie-
lisch ausgebildete Erzieher*innen und akademisch                             rung notwendig, die im Idealfall über modulare An-
ausgebildete Kindheitspädagog*innen, Kinderpfle-                             gebote zu einem anerkannten Abschluss führen
ger*innen, Sozialarbeiter*innen und Sozialpäda-                              (können). Drittens muss die Gestaltung von Verfah-
gog*innen und nicht zuletzt Quereinsteiger*innen                             ren zur Anerkennung von außerhalb der Ausbildung,
mit anderen Qualifikationen oder mit Praxiserfah-                            in anderen Ausbildungs- und Studiengängen oder im
rung (bspw. Kindertagespflege, Mitarbeit im Offe-                            Ausland erworbenen Qualifikationen überdacht
nen Ganztag oder Ehrenamt) und qualifizierte Kräfte                          werden. Der Orientierungsrahmen für diese Aner-
mit im Ausland erworbenen Studien- oder Berufsab-                            kennung darf sich nicht aus einem formalen Abgleich
schlüssen. Begleitend ist eine Ausweitung der Aus-                           mit der jeweiligen Ausbildung ergeben, sondern aus
bildungskapazitäten an den Berufskollegs (Erzie-                             dem Bedarf des Arbeitsfeldes. Viertens werden
her*innen, Kinderpfleger*innen) notwendig. Auch                              Quereinsteiger*innen nur dann qualitativ hochwer-
hierfür fehlen Fachkräfte, so dass auch das Lehramt                          tige Arbeit leisten, wenn ihre Arbeit wertgeschätzt
an Berufskollegs dringend stärker für Quereinstei-                           wird und sie die Möglichkeit haben, über den Quer-
ger*innen, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen aus                           einstieg in einem überschaubaren Zeitraum und mit
(Fach-)Hochschulen und Menschen mit Praxiserfah-                             klaren Kriterien Perspektiven für ihre Berufslauf-
rung geöffnet werden muss. Schließlich ist die Aus-                          bahn zu entwickeln. Wertschätzung von Diversität
weitung von neuen, vor allem hybriden, Ausbil-                               ist letztlich eine zentrale Voraussetzung für einen
                                                                             erfolgreichen Einsatz von Quereinsteiger*innen.

_
10 Zur Personalwirtschaft für Kindertageseinrichtungen vgl. Klaudy, E. Ka-   Herausforderungen und Strategien. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.
tharina / Köhling, Karola / Micheel, Brigitte / Stöbe-Blossey, Sybille,      Study der Hans-Böckler-Stiftung 336.
2016: Nachhaltige Personalwirtschaft für Kindertageseinrichtungen.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

4.6   „Ungleiches ungleich behandeln“

„6. Eine Gerechtigkeitsoffensive mit Hilfe eines ein-
richtungsscharfen Sozialindex, um Bildungschancen
insbesondere dort zu fördern, wo es wenig davon
gibt. Regionale Bildungslandschaften sollen die Bil-
dungseinrichtungen vor Ort weiter stärken“ (Antrag
S. 3).
Die Nutzung von Sozialindizes für die Zuweisung von
Finanzmitteln ist – im Sinne der Forderung, Unglei-
ches ungleich zu behandeln – ein geeignetes Instru-
ment, um die Ausstattung mit (durch das Land ganz
oder teilweise finanziertem) Personal in Schulen und
Kindertageseinrichtungen mit besonderen Heraus-
forderungen zu verbessern. Für den Einsatz von För-
dermitteln auf der Basis kommunaler Konzepte
sollte die Konkretisierung und Verteilung auf die Ein-
richtungen hingegen den Kommunen überlassen
werden (vgl. 3.2).

4.7   Kinderschutzgesetz

„7. Die Erarbeitung eines umfassenden Kinderschutz-
gesetzes für Nordrhein-Westfalen, das Präventions-
netzwerke über die Frühen Hilfen hinaus etabliert,       12
vergleichbare Qualitätsstandards ausformuliert, Kin-
derschutzaspekte in der Aus- und Fortbildung regelt
sowie Kinderschutzkonzepte in allen Bildungseinrich-
tungen festschreibt und dabei eine altersgerechte
Partizipation ermöglicht“ (Antrag S. 3).
Für die Erarbeitung eines umfassenden Kinder-
schutzgesetzes geht es darum, bestehende Ele-
mente früher Hilfen und kommunaler Präventions-
ketten (wie das Programm „kinderstark – NRW
schafft Chancen“) zunächst auf der Basis bereits vor-
liegender Ergebnisse zusammenfassend zu evaluie-
ren und dann zu bündeln, auf eine gesetzliche Basis
zu stellen und ohne jährliche Antragsverfahren in
eine Regelförderung zu überführen.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt

Autorin

                           Prof. Dr. Sybille Stöbe-Blossey
                           Leiterin der Forschungsabteilung
                           Bildung, Entwicklung, Soziale Teilhabe

                           Mail: sybille.stoebe-blossey@uni-due.de
                           Telefon: +49 203 37 91805

                                                                                                13

IAQ-Standpunkt 2021 | 01
Redaktionsschluss: 21.09.2021

Institut Arbeit und Qualifikation
Fakultät für Gesellschaftswissenschaften
Universität Duisburg-Essen

    IAQ-Standpunkt:                                               Redaktion:
    https://www.uni-due.de/iaq/iaq-standpunkt.php                 Claudia Braczko
                                                                  claudia.braczko@uni-due.de
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    Der IAQ-Standpunkt erscheint in unregelmäßiger Folge
    als ausschließlich elektronische Publikation. Der Bezug ist
    kostenlos.
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DOI:      10.17185/duepublico/74831
URN:      urn:nbn:de:hbz:464-20210923-081240-9

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