Bildungspolitik und Familienförderung als komplementäre Elemente von Präventionsstrategien - Uni-Due
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2021 | 01 Bildungspolitik und Familienförderung als komplementäre Elemente von Präventionsstrategien Stellungnahme zur Anhörung der Ausschüsse für Schule und Bildung und für Familie, Kinder und Jugend im Landtag Nordrhein-Westfalen vom 07.09.2021 Sybille Stöbe-Blossey Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), Universität Duisburg-Essen
2021 | 01 IAQ-Standpunkt Inhaltsverzeichnis Zusammen aufwachsen in Nordrhein-Westfalen: Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben................. 3 1 Die Familien- und Bildungsoffensive als Strategie vorbeugender Sozialpolitik .............................. 3 2 Präventionsparadoxien: Hemmnisse für die Umsetzung vorbeugender Sozialpolitik .................... 5 2.1 Zeit-Paradox .............................................................................................................................. 5 2.2 Ebenen-Paradox ........................................................................................................................ 6 2.3 Regional-Paradox ...................................................................................................................... 6 2.4 Wanderungs-Paradox ................................................................................................................ 6 2.5 Haushalts-Paradox..................................................................................................................... 6 3 Konsequenzen für die Konzipierung einer Familien- und Bildungsoffensive .................................. 7 3.1 Wissenschaftsbasierte Programmgestaltung und Evaluation anhand von Outputs................. 7 3.2 Unterstützung kommunaler Initiativen und Abbau regionaler Disparitäten ............................ 7 3.3 Beitragsentlastungen vor allem für Familien mit geringem Erwerbseinkommen .................... 8 3.4 Anknüpfung von Förderkonzepten an die Regelinstitutionen Kindertageseinrichtung und Schule ............................................................................................................................. 8 4 Anforderungen an die Gestaltung der verschiedenen Elemente der Familien- und Bildungsoffensive ............................................................................................................................ 9 2 4.1 Familienzentren im Primarbereich ............................................................................................ 9 4.2 Bildungsberatung und -begleitung .......................................................................................... 10 4.3 Familienbüros .......................................................................................................................... 10 4.4 Ausbau- und Qualitätsoffensive .............................................................................................. 10 4.5 Personaloffensive .................................................................................................................... 11 4.6 „Ungleiches ungleich behandeln“ ........................................................................................... 12 4.7 Kinderschutzgesetz.................................................................................................................. 12
2021 | 01 IAQ-Standpunkt Zusammen aufwachsen in Nordrhein- 1 Die Familien- und Bildungsoffensive Westfalen: Aufbruch in ein selbstbestimm- als Strategie vorbeugender Sozialpoli- tes Leben. tik Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der SPD im Hervorzuheben ist zunächst der der Familien- und Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen Bildungsoffensive zugrundeliegende Ansatz, Fami- lien- und Bildungspolitik als komplementäre Hand- Zusammen aufwachsen in Nordrhein-Westfalen: lungsfelder zu betrachten und miteinander zu ver- Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben. knüpfen. Bildung stellt eine wichtige Voraussetzung Nordrhein-Westfalen braucht eine Familien- und Bil- für die persönliche Entwicklung von Kindern und Ju- dungsoffensive! gendlichen, für die Entfaltung der Persönlichkeit und Drucksache 17/13777 für ein eigenverantwortliches Leben dar. Gut entwi- ckelte persönliche und soziale Kompetenzen wiede- Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung rum erleichtern eine effektive Nutzung von Bil- und dungsangeboten und verbessern damit die individu- ellen Bedingungen für die Lernentwicklung und Aus- des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend am schöpfung von Bildungschancen. Wenn Eltern und 7. September 2021 andere Personensorgeberechtigte in ihrer Lebenssi- Mit dem Antrag „Zusammen aufwachsen in Nord- tuation gestärkt werden, können sie selbst ihre Kin- rhein-Westfalen“ wird eine Familien- und Bildungs- der in deren Entwicklung besser begleiten und un- offensive gefordert, die zu einem gelingenden Auf- terstützen. Die Begleitung und Unterstützung von wachsen von Kindern und Jugendlichen in Nord- Familien verbessern somit die Voraussetzungen für rhein-Westfalen beitragen und allen Individuen Bil- Kinder und Jugendliche, an Bildung teilzuhaben dungs-, Entwicklungs- und Teilhabechancen eröff- und Bildungschancen zu ergreifen. Bildungsinstitu- nen soll – gute Startchancen und „zweite Chancen“ tionen (Schulen und Kindertageseinrichtungen) 3 im Falle von besonderen Herausforderungen und wiederum sind Orte, an denen Kinder, Jugendliche Unterstützungsbedarfen. und Familien niederschwellig erreicht werden kön- nen, um ihnen Präventionsangebote zugänglich zu Im Folgenden wird zunächst auf die Einordnung der machen, die mit Hilfe von Kooperationspartnern Familien- und Bildungsoffensive in Strategien vor- (bspw. aus Familienbildung und -beratung und dem beugender Sozialpolitik eingegangen (1). Anschlie- Gesundheitswesen) konzipiert und realisiert werden ßend werden Präventionsparadoxien thematisiert, können. Die Stärkung von Familien und die Förde- die nicht selten dazu beitragen, dass eine vorbeu- rung von Bildung(schancen) sind somit zwei inei- gende Sozialpolitik nicht durchsetzbar ist oder in der nandergreifende, komplementäre Elemente von Umsetzung an den selbst gesetzten Zielen scheitert Präventionspolitik (Abbildung 1). (2). Aus dieser Darstellung werden Anforderungen für die Ausgestaltung der Familien- und Bildungsof- Mit der Verknüpfung von Familien- und Bildungs- fensive abgeleitet (3), die dann für die im Antrag dar- politik ordnet sich der Antrag ein in eine Strategie gestellten sieben Elemente der Offensive konkreti- vorbeugender Sozialpolitik1, mit der Exklusionsrisi- siert werden (4). ken präventiv bearbeitet werden sollen. Eine solche Strategie stellt eine Ergänzung des deutschen Sys- tems der sozialen Sicherung dar: Traditionell basiert dieses System wesentlich auf Ansprüchen, die über Beiträge aus Erwerbsarbeit erworben werden müs- sen. Damit sind diejenigen Personen abgesichert, die _ 1 Vgl. Klammer, Ute / Brettschneider, Antonio (Hrsg.), 2021: Vorbeu- gende Sozialpolitik. Ergebnisse und Impulse. Frankfurt/M.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt Abbildung 1: Bildungspolitik und Familienförderung als komplementäre Handlungsfelder Quelle: Eigene Darstellung „aus dem Spiel fallen“ – etwa durch Arbeitslosigkeit tive bewirkt vorbeugende Sozialpolitik einen ge- 4 und Erwerbsminderung –, während junge Men- samtgesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen schen, die „nicht ins Spiel kommen“ 2, auch keinen Nutzen. Zugang zum erwerbszentrierten System sozialer Si- Im Antrag „Zusammen aufwachsen in Nordrhein- cherung finden. Angesichts steigender Qualifikati- Westfalen“ wird die Bedeutung von Prävention her- onsanforderungen in der Wissensgesellschaft und vorgehoben, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, der hohen Bedeutung einer abgeschlossenen Be- dass selbst die beste vorbeugende Sozialpolitik nicht rufsausbildung gerade auf dem deutschen Arbeits- alle Probleme im Vorfeld vermeiden kann. Dazu fin- markt muss ein zentrales Ziel präventiver Politik da- det sich im Antrag das Bild eines „Sprungbretts“, das rin bestehen, durch eine früh einsetzende, auf der jedem Kind Chancen eröffnen soll, „seinen Talenten Begleitung und Unterstützung von Familien basie- entsprechend gefördert zu werden und ein selbstbe- rende individuelle Förderung allen jungen Men- stimmtes Leben zu führen“, und eines „Sprung- schen eine Ausbildung mit anerkanntem Abschluss tuchs“ (Antrag S. 3), das Kinder (wie das Rettungs- zu ermöglichen. 3 In diesem Sinne generiert vorbeu- Sprungtuch der Feuerwehr) notfalls auffangen und gende Sozialpolitik auf der Mikroebene einen indivi- ihnen (wie das Sprungtuch eines Trampolins) immer duellen Nutzen für Kinder und Jugendliche. Auf der wieder neue Sprünge ermöglichen soll. Mit diesen Makroebene erhöht sie das Angebot an qualifizier- Bildern ist die Verknüpfung von Primär-, Sekundär- ten Arbeitskräften und leistet damit einen Beitrag und Tertiärprävention4 angesprochen: zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, was zu einem höheren Aufkommen an Steuern und Sozial- • Primärprävention hat einen universellen An- versicherungsbeiträgen führt. Aus dieser Perspek- spruch und beinhaltet allgemeine Angebote zur Vermeidung von Problemen, bspw. Beratung und _ 2 Vgl. Rüb, Friedbert W., 2010: Neue Unsicherheiten, neue soziale Risi- 3 Vgl. Stöbe-Blossey, Sybille, 2018: Neue soziale Risiken. In: Unikate: Ri- ken und die Herausforderungen moderner Wohlfahrtsstaaten. Eine sikoforschung. Interdisziplinäre Perspektiven und neue Paradigmen H. Problemskizze über Gefahren und Risiken im Bereich des Sozialen zu Be- 52, S. 104–113. ginn des 21. Jahrhunderts. In: Münkler, Herfried / Bohlender, Matthias / 4 Vgl. Wohlgemuth, Katja, 2009: Prävention in der Kinder- und Jugend- Meurer, Sabine (Hrsg.): Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwi- hilfe. Annäherung an eine Zauberformel. Wiesbaden, S. 26 f. schen Wagnis und Vorsorge. Bielefeld, S. 221–249, S. 228.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt Information mit aufklärender und sensibilisieren- zen zu erwarten ist – Prävention lohnt sich individu- der Funktion, und verfolgt das Ziel, „positive Le- ell und für die Gesellschaft. Voraussetzung ist aller- bensbedingungen für junge Menschen und ihre dings, dass die Förderung als Präventionskette an- Familien sowie eine kinder- und familienfreundli- gelegt ist – ein einzelnes Sprungbrett wird oft nicht che Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (so die ausreichen, um von der frühen Förderung bis ins Be- einleitende Formulierung im Kinder- und Jugend- rufsleben zu „springen“. Insbesondere für Kinder und Jugendliche mit schwierigen Startbedingungen hilfegesetz; § 1 Abs. 3 Nr. 5 SGB VIII). Hier geht es bedarf es mehrerer Sprungbretter und auch also um „Sprungbretter“, die für alle – unabhän- Sprungtücher in unterschiedlichen Lebensphasen, gig von ihrer Herkunft – die Chancen verbessern, insbesondere an Übergängen in der Bildungsbio- „ins Spiel zu kommen“. grafie. Der Aufwand für Präventionspolitik ist also • Sekundärprävention richtet sich an Zielgruppen nicht zu unterschätzen. mit erhöhten Risiken und umfasst die Begleitung Nicht nur deshalb würde die Erwartung kurzfristiger und Unterstützung in Risikosituationen, ggf. ver- Haushaltsentlastungen als Ergebnis von Prävention bunden mit (zunächst niederschwelligen, bei Be- in die Irre führen: Die intendierten gesamtgesell- darf auch spezifischen) Hilfen im Einzelfall – also schaftlichen und volkswirtschaftlichen Effekte tre- Hilfen für diejenigen, die möglicherweise nicht ten nicht kurzfristig ein – und machen sich nicht un- ohne Weiteres in der Lage sind, auf ein „Sprung- bedingt im Haushalt derjenigen staatlichen Ebene brett“ zu steigen und zu springen. bemerkbar, die die Kosten für Prävention zu tragen • Tertiärprävention betrifft Maßnahmen zur Ver- hat. Darüber hinaus zeigen die Langzeitstudien, dass meidung von Folgeproblemen, die dann notwen- es junge Menschen gibt, die trotz der Sprungbretter dig sind, wenn es trotz präventiver Angebote o- und Sprungtücher nicht „ins Spiel kommen“ oder der aufgrund von besonderen Ereignissen zu später dennoch „aus dem Spiel fallen“ – wie die Problemen in der Bildungslaufbahn oder der per- Corona-Impfung wirkt auch die beste Förderung nicht zu 100 Prozent. Wir haben es hier mit „Präven- 5 sönlichen Entwicklung kommt (wie aktuell im tionsparadoxien“ auf mehreren Ebenen zu tun, die Kontext der Corona-Pandemie). Hier ist dann das bei der Gestaltung einer Familien- und Bildungsof- „Sprungtuch“ erforderlich, das verhindert, dass fensive, aber nicht zuletzt auch bei ihrer Evaluation Kinder und Jugendliche „aus dem Spiel fallen“, und politischen Bewertung zu beachten sind: bevor sie wirklich hineingekommen sind, das sie auffängt und das sie dabei unterstützt, erneut zu 2.1 Zeit-Paradox springen. Allgemein besteht Einigkeit darüber, dass Förderung umso effektiver ist, je früher sie einsetzt, weil die 2 Präventionsparadoxien: Hemmnisse frühkindliche Entwicklung Kinder prägt und weil für die Umsetzung vorbeugender Sozi- durch frühe Primärprävention der Entstehung von alpolitik Problemen vorgebeugt bzw. ihre Verfestigung ver- mieden werden kann. Ob aber ein Kind, das aktuell Schon seit vielen Jahren liegen Langzeitstudien (vor an früher Bildung teilhat und dessen Familie beglei- allem aus den USA) vor, die hohe volkswirtschaftli- tet und unterstützt wird, tatsächlich einen Berufsab- che Effekte einer frühen, am Bild des Sprungbretts schluss erreicht, wird sich erst viele Jahre später zei- orientierten Förderung belegen. 5 Bei der Konzipie- gen. Während dieser Zeit können viele Ereignisse rung einer Familien- und Bildungsoffensive ist somit eintreten, die die Entwicklung des Kindes weiter för- zu berücksichtigen, dass sowohl ein individueller dern – oder aber beeinträchtigen. Gerade für früh Nutzen für die geförderten Kinder, Jugendlichen und einsetzende Primärprävention lassen sich somit Out- Familien als auch ein gesamtgesellschaftlicher Nut- comes, also eindeutig einer bestimmten Förderung _ 5 Vgl. bspw. zum “Perry Preschool Project” Schweinhart, Lawrence, 2003: Benefits, Costs, and Explanation of the High/Scope Perry Pre- school Program. High/Scope Educational Research Foundation, Tampa, Florida.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt zuzuordnende Wirkungen, nur schwer ermitteln. Er- aus erfolgreicher Förderung resultierenden Bil- folge sind somit erst mit großem Zeitverzug und dungsaufstieg attraktive Ausbildungs-, Studien- und über aufwändige Langzeitstudien mit Kontrollgrup- Arbeitsplätze in anderen Kommunen annehmen. In- pendesigns erkennbar. dividuellen Erfolge können also zu Fortzügen füh- ren, während möglicherweise – bspw. aufgrund von preisgünstigem Wohnraum oder in der Kom- 2.2 Ebenen-Paradox mune lebenden Communities – neue benachtei- Die Kosten für Prävention fallen zu großen Teilen ligte Gruppen zuziehen. Die Erfolge der Förderung auf der kommunalen Ebene an (bspw. im Feld der werden somit in den Daten zur Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe); höhere Einnahmen über Strukturen in einer Kommune nicht unbedingt sicht- Steuern und Sozialversicherungsbeiträge sind eher bar. Daten zur Sozialstruktur, zu Schul- und Berufs- bei anderen Institutionen des Sozialstaates zu er- bildungsabschlüssen usw., wie sie etwa im kommu- warten. Kosten für die Finanzierung von Prävention nalen Bildungsmonitoring oder in der Sozialbericht- einerseits und der potenzielle finanzielle Ertrag die- erstattung erhoben werden, stellen damit zwar eine ser Prävention andererseits sind also ungleich ver- wichtige Grundlage für eine zu den Bedingungen in teilt. Eine Kommune, die in Präventionspolitik in- den einzelnen Sozialräumen passende Planung der vestiert, leistet also zwar zweifellos einen Beitrag Präventionspolitik dar, eignen sich jedoch nur teil- zur Steigerung der Lebensqualität vor Ort und der weise – und nur bei sehr genauer Prüfung der Aus- Attraktivität des Standorts – aber auch nicht zuletzt sagekraft der einzelnen Indikatoren – zur Messung zur Entwicklung von Gesellschaft und Volkswirt- von Erfolgen. schaft weit über die eigene Kommune hinaus. 2.5 Haushalts-Paradox 2.3 Regional-Paradox Wenn Kommunen in präventive Politik investieren, Viele Kommunen, in denen besonders hohe Anteile wird dies nicht selten mit der Hoffnung auf Einspa- 6 von Kindern, Jugendlichen und Familien in prekären rungen bei Maßnahmen zur Lösung entstandener Lebenssituationen leben, sind besonders stark von Probleme begründet – so soll bspw. frühe Förde- defizitären Kommunalhaushalten betroffen – nicht rung (also Primärprävention) zur Reduzierung der zuletzt deshalb, weil sie oft eine in besonderem Kosten für Hilfen zur Erziehung (also für Sekun- Maße vom Strukturwandel betroffene Branchen- därprävention) im kommunalen Haushalt führen. struktur aufweisen, die sowohl zu überproportiona- Mit dieser Erwartung wird jedoch die Tatsache igno- len Arbeitslosenquoten und zu unterproportionalen riert, dass es sich bei vielen Angeboten der Jugend- Gewerbesteuereinnahmen beiträgt. Oft sind die El- hilfe – insbesondere bei Maßnahmen, die der Sekun- ternbeiträge für Kindertageseinrichtungen oder den därprävention zuzuordnen sind – um Angebote han- Offenen Ganztag im Primarbereich in solchen Kom- delt, die Kinder, Jugendliche und Familien freiwillig munen relativ hoch (auch für Familien mit geringem nutzen und teilweise aktiv beantragen müssen. Die Einkommen), und Förderprogramme, die mit einem Funktion von Primärprävention besteht nicht zu- kommunalen Eigenanteil verbunden sind, können letzt darin, die Hemmschwellen für die Inanspruch- nicht oder in relativ geringem Ausmaß genutzt wer- nahme von Angeboten der Sekundärprävention ab- den. Wenn – wie dies in einigen Kommunen in NRW zubauen. Wenn bspw. eine Familie mit Kindern im der Fall ist – etwa ein Drittel der Kinder und Jugend- Kindergartenalter im Familienzentrum die Erfahrung lichen in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften lebt, ist der macht, dass ein Besuch der dort angebotenen offe- Handlungsbedarf für eine Familien- und Bildungsof- nen Sprechstunde der Erziehungsberatung hilfreich fensive besonders groß – und der (finanzielle) ist, wird sie bei Schwierigkeiten im Jugendalter eher Handlungsspielraum der Kommunen besonders ge- bereit sein, erneut zur Erziehungsberatungsstelle zu ring. gehen, und sich von dieser bei Bedarf eher überzeu- gen lassen, dass eine sozialpädagogische Familien- hilfe sinnvoll ist. Primärprävention kann also 2.4 Wanderungs-Paradox Hemmschwellen für die Nutzung von Angeboten der Sekundärprävention senken und damit durch- Gerade bei in besonderem Maße vom wirtschaftli- aus zunächst zu höheren Kosten führen – ein Effekt, chen Strukturwandel betroffenen Kommunen ist es nicht unwahrscheinlich, dass Individuen nach einem
2021 | 01 IAQ-Standpunkt der sogar erwünscht ist, um die Notwendigkeit ei- Evaluation des einzelnen Programms ist vor diesem ner mit noch höheren Kosten verbundenen Terti- Hintergrund die Messung und Bewertung von Out- ärprävention oder das vollständige „Aus-dem- puts hinreichend und kann weiteres Wissen generie- Spiel-Fallen“ zu vermeiden. Einsparungen im Haus- ren, um die Qualität der eingesetzten Instrumente halt für Maßnahmen der Sekundärprävention kontinuierlich verbessern und die Ausrichtung zu- (bspw. im Feld der Hilfen zur Erziehung) können so- künftiger Maßnahmen zielorientiert anpassen zu mit nicht als Indikator für den Erfolg von Maßnah- können. men definiert und gewertet werden; Einsparungen Für die Messung und politische Bewertung von im Bereich der Tertiärprävention sind erst mittel- bis Erfolgen einer Familien- und Bildungsoffensive langfristig zu erwarten – womit sich der Kreis zum eingangs angesprochenen Zeit-Paradox schließt (vgl. sollten nicht Outcomes (also intendierte Wir- 2.1). kungen), sondern Outputs (also Produkte und Leistungen) definiert und anhand der folgenden Fragestellungen bewertet werden: Welche ziel- 3 Konsequenzen für die Konzipierung ei- orientierten Angebote werden entwickelt und ner Familien- und Bildungsoffensive umgesetzt? Inwieweit entsprechen die Konzepte wissenschaftlich fundierten fachlichen Qualitäts- Aus den dargestellten Präventionsparadoxien erge- kriterien? Wie werden sie von den Kindern, Ju- ben sich Konsequenzen für die Planung, Ausgestal- gendlichen und Familien angenommen? Wie tung und Evaluation einer Familien- und Bildungsof- werden sie von den beteiligten Fachkräften vor fensive, die im Folgenden kurz skizziert werden, um dem Hintergrund ihrer Professionalität bewer- auf dieser Basis Empfehlungen zu formulieren. tet? 3.1 Wissenschaftsbasierte Programmgestal- 3.2 Unterstützung kommunaler Initiativen tung und Evaluation anhand von Out- und Abbau regionaler Disparitäten 7 puts Die Forderung, „Ungleiches ungleich zu behandeln“ Angesichts der skizzierten Präventionsparadoxien (vgl. 4.6), gilt im Sinne des Postulats gleichwertiger sollte die Förderung von Maßnahmen einer Fami- Lebensverhältnisse nicht nur für Individuen und Bil- lien- und Bildungsoffensive weder mit der Erwar- dungsinstitutionen, sondern auch für Kommunen. tung kurzfristig zu realisierender Kosteneinsparun- Die Finanzierung von Förderprogrammen muss da- gen noch mit dem Anspruch mittel- oder gar kurz- her so gestaltet werden, dass vor allem diejenigen fristig messbarer Outcomes verbunden werden. Kommunen partizipieren können, in denen beson- Dies gilt für Förderprogramme des Landes (und des ders viele Familien in prekären Lebenssituationen Bundes) ebenso wie für die Begründung und Evalua- leben. Kommunen mit hohen Anteilen an Familien in tion von Maßnahmen innerhalb der Kommunen. prekären Lebenssituationen müssen demnach ent- sprechend hohe Anteile an Landesmitteln erhalten. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Out- Die Verteilung innerhalb der Sozialräume kann dabei put und Outcome (also nach dem Einfluss einer be- den einzelnen Kommunen überlassen werden, denn stimmten Maßnahme auf die Entwicklung von Kin- diese kennen die Situation vor Ort am besten und dern und Jugendlichen) kann nicht für jedes einzelne haben in den letzten Jahren – bspw. im Kontext der Förderprogramm beantwortet werden. Der Auf- Erstellung von Bildungs- und Sozialberichten – oft wand für eine wissenschaftlich seriöse und metho- viel in den Aufbau eines Monitorings investiert. Zu disch abgesicherte Analyse wäre zu hoch, und ge- beachten ist auch der administrative Aufwand für rade bei früher Förderung dauert es zu lange, bis die die Nutzung von Förderprogrammen: Wenn die Pla- intendierten Outcomes (bspw. Schul- oder Ausbil- nung, die Umsetzung und die Abrechnung erhebli- dungsabschlüsse) eintreten (vgl. 2.1). Vielmehr sind che Verwaltungskapazitäten binden, beeinträchtigt bei der Planung von Programmen wissenschaftlich dies ebenso wie finanzielle Eigenanteile die Nutzbar- belegte Wirkungszusammenhänge zu berücksichti- keit der Programme gerade in denjenigen Kommu- gen (bspw. das Wissen über den positiven Einfluss nen, in denen diese Kapazitäten besonders knapp früher Förderung oder der Einbeziehung der Eltern sind. Schließlich sind gerade in einigen Kommunen auf die Entwicklung von Kindern). Bei der späteren
2021 | 01 IAQ-Standpunkt mit besonders hohem Problemdruck kreative Lö- möglichst zielgenauen Einsatz von Mitteln vor Ort, sungen entstanden, die – bspw. mit zeitlich befriste- bei dem Ungleiches ungleich behandelt wird. Neben ter Unterstützung durch Mittel von Stiftungen oder der bereits erwähnten Finanzierung von Förderpro- anderen Geldgebern – vor Ort eine Verstetigung be- grammen (vgl. 3.2) betrifft dies die Gestaltung von nötigen und für andere Kommunen als Modell die- Elternbeiträgen für Kindertageseinrichtungen und nen können. schulische Ganztagsangebote. Für die zielorientierte Verteilung von Landes- Eine allgemeine Beitragsbefreiung für diese Ange- mitteln auf die Kommunen sollte der Anteil der bote ist zwar wünschenswert, Forschungsergebnisse Kinder und Jugendlichen in SGB-II-Bedarfsge- zeigen jedoch, dass Elternbeiträge auf die Teilhabe- meinschaften zugrunde gelegt werden. Dies ist entscheidungen für Familien mit mittlerem und ho- ein einfacher und geeigneter Indikator; die Ver- hem Einkommen keinen Einfluss haben. Familien, teilung auf die Sozialräume kann auf dieser Ba- die Transferleistungen beziehen, sind bundesweit nach § 90 Abs. 4 SGB VIII von Beiträgen befreit. El- sis dezentral durch die einzelne Kommune er- ternbeiträge stellen somit insbesondere für Familien folgen. Für die Vermeidung zusätzlicher finan- mit geringem Erwerbseinkommen eine potenzielle zieller Belastungen durch die Nutzung von För- Zugangshürde für Kindertageseinrichtungen und derprogrammen und für eine administrativ schulische Ganztagsbetreuung dar (bspw., wenn die einfache Abwicklung sollten alle haushalts- Kosten für eine zu den Arbeitszeiten passende Be- rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft wer- treuung höher sind als das erzielbare Einkommen). den. Dazu ist es hilfreich, so weit wie möglich Die Ressourcen für Beitragsentlastungen soll- auf Pauschalen ohne detaillierte Verwendungs- ten sich zunächst auf sozioökonomisch be- nachweise zurückzugreifen. Eigenanteile der nachteiligte Gruppen konzentrieren. Erforder- Kommunen sollten, soweit haushaltsrechtlich lich ist weiterhin ein Ausgleich der Einnahme- möglich, vermieden werden und ggf. über vor- ausfälle für Kommunen mit besonders hohen handene Stellenanteile in der Kommunalver- 8 Anteilen dieser Gruppen, um das Problem zu waltung realisiert werden können. Darüber hin- lösen, dass aktuell Eltern in strukturell benach- aus ist es sinnvoll, wenn Förderprogramme un- teiligten Kommunen aktuell oft relativ hohe terschiedlicher Ministerien bereits auf Landes- Beiträge zahlen müssen. ebene gebündelt werden und nicht erst in den Kommunen koordiniert werden müssen. Mo- delle für kreative Lösungen in einzelnen Kom- 3.4 Anknüpfung von Förderkonzepten an die munen sollten in ihrer Verstetigung unterstützt Regelinstitutionen Kindertageseinrich- und für den Transfer in andere Kommunen auf- tung und Schule bereitet werden. Bei einer Landesförderung Angesichts knapper Ressourcen geht es darum, För- von Verstetigung und Transfer benötigen die derangebote zu bündeln, Synergien zu erzielen und Kommunen Freiraum für eine an die kommuna- Doppelangebote zu vermeiden. Eine solche effizi- len Bedingungen anpassbare Umsetzung. Hilf- ente Gestaltung lässt sich erreichen, indem Förder- reich ist darüber hinaus die Organisation inter- konzepte möglichst an Regelinstitutionen (Kinder- kommunalen Austauschs. tageseinrichtungen, Schulen) angedockt werden. Diese benötigen dafür multiprofessionelle Teams 3.3 Beitragsentlastungen vor allem für Fami- und externe Kooperationspartner, bspw. aus der lien mit geringem Erwerbseinkommen Familienbildung und -beratung und dem Gesund- heitswesen. Eine solche Strategie bietet erstens die Angesicht der mit Prävention verbundenen Kosten Möglichkeit, Kinder, Jugendliche und Familien nie- ist es wichtig, mit den eingesetzten Fördermitteln derschwellig und dezentral zu erreichen, zweitens größtmögliche Effekte zu erzielen. Entscheidend da- werden auf diese Weise die Regeleinrichtungen in für ist die bedarfsgerechte Steuerung des Einsatzes Sozialräumen mit besonderen Herausforderungen der Finanzmittel – vor dem Hintergrund knapper gestärkt, drittens wird eine ganzheitliche Förderung Ressourcen kann es nicht um Förderung nach dem ohne institutionelle Brüche erleichtert, viertens „Gießkannenprinzip“ gehen, sondern um einen
2021 | 01 IAQ-Standpunkt werden Ressourcen eingespart, die bei neuen Insti- Potenziale für die Förderung von Kindern im Grund- tutionen für Räume und für die Steuerung erforder- schulalter und ihren Familien bietet. Familienzen- lich wären. tren stellen ein Konzept der Primärprävention dar, beinhalten niederschwellige Angebote der Sekun- Die Familien- und Bildungsoffensive sollte wei- därprävention und erleichtern bei Bedarf den Zu- testmöglich über Regelinstitutionen (Schule, gang zu Maßnahmen der Tertiärprävention. Kindertageseinrichtung) organisiert werden. Kooperationen sind zu fördern und die Neu- Es ist zu begrüßen, dass es für Familiengrundschul- gründung von Institutionen zu vermeiden. zentren inzwischen Förderungen sowohl aus Mit- teln des MKFFI als auch des MSB gibt. Für die Zu- kunft sollten die unterschiedlichen Fördermöglich- 4 Anforderungen an die Gestaltung der keiten erstens zusammengeführt und zweitens – analog zu den Kindertageseinrichtungen – ausge- verschiedenen Elemente der Familien- hend von der Projektförderung auf eine dauerhafte und Bildungsoffensive Basis gestellt werden. Sinnvoll wäre ein landesweit geltender Katalog von Qualitätskriterien, der vor al- Im Antrag „Zusammen aufwachsen in Nordrhein- lem die Einbindung des Konzepts „Familienzentrum“ Westfalen“ werden sieben Kernelemente einer Fa- in die Schulentwicklung sichert und so dazu beiträgt, milien- und Bildungsoffensive aufgeführt. Für diese dass das Familienzentrum kein additives Angebot sieben Kernelemente werden im Folgenden einige bleibt, sondern mit Offenem Ganztag und Schulsozi- Anforderungen an die Ausgestaltung formuliert. alarbeit verknüpft wird – im Idealfall in der Hand ei- Diese Anforderungen erheben keinen Anspruch auf nes gemeinsamen Trägers. Durch eine solche In- Vollständigkeit; die Auswahl der konkretisierenden tegration würden auch die Möglichkeiten von Perso- Elemente erfolgte vor dem Hintergrund vorliegen- nalwirtschaft und Personalentwicklung im (bislang der Projekterfahrungen am IAQ. oft durch befristete Verträge und prekäre Arbeits- verhältnisse gekennzeichneten) Bereich des weite- 9 ren pädagogischen Personals an Schulen verbessert. 4.1 Familienzentren im Primarbereich Notwendig für eine solche integrierte Strategie ist „1. Der Ausbau von mehr Grundschulen zu Familien- eine Reform der Regelungen zum Offenen Ganztag, zentren, die Bildung und Förderung durch multipro- mit dem die strikte (auch pädagogisch problemati- fessionelle Teams an einem Ort vereinen“ (Antrag S. sche) Trennung zwischen „Ganztagskindern“ und 3). „Halbtagskindern“ aufgehoben und die Möglichkeit offener Angebote geschaffen würde (vgl. 4.4). Die Adaptierung des für Kindertageseinrichtungen 2006 eingeführten und mit den KiBiz-Revisionen von Ähnlich wie im Bereich der Kindertageseinrichtun- 2011 und 2019 weiterentwickelten Konzepts des Fa- gen sollten die Familienzentren an Grundschulen milienzentrums 6 für Grundschulen stellt ein zentra- stufenweise auf- und ausgebaut werden. Zum einen les Element für die Förderung von Kindern im Grund- ist es wichtig, Erfahrungen mit unterschiedlichen schulalter und ihren Familien dar. 7 Das von der Wüb- Formen der Umsetzung des Konzepts zu sammeln ben Stiftung im Rahmen einer Entwicklungspartner- und auszuwerten9, zum anderen wäre eine schnelle schaft geförderte Modellprojekt der Stadt Gelsenkir- flächendeckende Umsetzung schon allein mangels chen 8 hat gezeigt, dass die Verknüpfung einer erwei- einer hinreichenden Anzahl an geeigneten pädago- terten Familienorientierung, der Weiterentwicklung gischen Kräften auf dem Arbeitsmarkt nicht reali- multiprofessioneller Kooperation innerhalb der sierbar. Die Ressourcen für den Aufbau von Famili- Schule und der Öffnung zum Sozialraum erhebliche enzentren im Primarbereich sollten auf Schulen der _ 6 Vgl. zur Evaluation Stöbe-Blossey, Sybille / Hagemann, Linda / Klaudy, 8 Vgl. zur Evaluation Born, Andreas / Klaudy, Elke Katharina / Micheel, E. Katharina / Micheel, Brigitte / Nie-ding, Iris, 2020: Familienzentren in Brigitte / Risse, Thomas / Stöbe-Blossey, Sybille (Hrsg.), 2019: Familien- Nordrhein-Westfalen: Eine empirische Analyse. Wiesbaden. zentren an Grundschulen. Abschlussbericht zur Evaluation in Gelsenkir- 7 Vgl. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju- chen. Duisburg: Inst. Arbeit und Qualifikation. IAQ-Forschung 2019-04. gend) (Hrsg.), 2021: Neunter Familienbericht: Eltern sein in Deutschland 9 Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg- – Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt. Essen plant dazu von Oktober 2021 bis September 2023 mit Förderung Berlin. (siehe vor allem Kap. 7: Bildungsinstitutionen der Kinder und Ju- der Wübben Stiftung ein Forschungsprojekt („Familienzentren im Prim- gendlichen als Infrastruktur für Familien) arbereich – Nachhaltigkeit, Transfer und Weiterentwicklung“).
2021 | 01 IAQ-Standpunkt Standorttypen 4 und 5 konzentriert werden, da an berücksichtigt werden, können viele Menschen ihre diesen Schulen der größte Bedarf besteht. Angelegenheiten online erledigen und sparen dadurch Zeit und Wege. Diejenigen, die dafür (in- haltliche oder technische) Unterstützung brauchen, 4.2 Bildungsberatung und -begleitung können dezentrale Sprechstunden nutzen. „2. Bildungslotsinnen und Bildungslotsen, die ein Kind und seine Familie begleiten und beraten“ (An- 4.4 Ausbau- und Qualitätsoffensive trag S. 3). „4. Eine Ausbau- und Qualitätsoffensive für Kitas und Eine erweiterte Begleitung und Beratung von Kin- Schulen, um zum einen ausreichend Betreuungs- dern, Jugendlichen und Familien stellt ein Angebot plätze an Kitas und Ganztagsgrundschulen zu schaf- der Sekundärprävention dar und ist ein Kernelement fen und zum anderen ausreichend Zeit und Ressour- sowohl des Modells des Familienzentrums als auch cen für pädagogische Arbeit sicherzustellen“ (Antrag von Konzepten der Schulsozialarbeit. Insofern soll- S. 3). ten hier keine zusätzlichen Strukturen geschaffen werden, sondern die Aufgaben von Bildungs- Im Hinblick auf die Qualitätsentwicklung ist für Kin- lots*innen – verbunden mit entsprechenden Res- dertageseinrichtungen mit der Novellierung des sourcen – in das Leistungsspektrum von Familien- KiBiz zum 01.08.2020 vieles auf den Weg gebracht zentren und Schulsozialarbeit integriert werden worden (bspw. bessere Förderung für Familienzen- (vgl. 4.1). Im Schulbereich ist es sinnvoll, eine ausrei- tren, Sprachbildung und Fachberatung sowie die chende Anzahl an unbefristeten und projektunab- Stärkung der Leitung). Darüber hinaus wurden mit hängigen Stellen für Schulsozialarbeit einzurichten; § 48 KiBiz neue Möglichkeiten flexibler und erwei- in Kindertageseinrichtungen hat sich der Einsatz von terter Betreuungszeiten eingeführt. Nicht zuletzt an- „Familiencoachs“ bewährt. gesichts der Einschränkungen aufgrund der Corona- Pandemie ist es zu früh, eine Bilanz zu Erfahrungen zu ziehen und weitere Entwicklungsbedarfe heraus- 10 4.3 Familienbüros zuarbeiten. Deutlich sind diese Bedarfe allerdings „3. Familienbüros, die alle bürokratischen Angele- auf zwei Ebenen: Erstens fehlen Regelungen zur Bei- genheiten (Elterngeldantrag etc.) in einer Anlauf- tragsentlastung von Eltern mit geringem Erwerbs- stelle bündeln“ (Antrag S. 3). einkommen (vgl. 3.3; insbesondere auch für Eltern von unter Dreijährigen, für die in einigen Kommunen Das Angebot eines Familienbüros ist nur dezentral – besonders hohe Beiträge erhoben werden); zwei- im Stadtteil oder in der einzelnen Gemeinde im länd- tens besteht nach wie vor eine Deckelung des An- lichen Raum – sinnvoll, da der Weg zu einer zentra- stiegs des Anteils von Ganztagsplätzen im jeweiligen len Stelle – in der Innenstadt oder im ländlichen Jugendamtsbezirk (§ 33 Abs. 3 KiBiz), was immer Raum in der Kreisstadt – gerade für diejenigen eine wieder zu Engpässen in der Deckung des Bedarfs Hemmschwelle bedeutet, die die Unterstützung in führt. bürokratischen Angelegenheiten am nötigsten ha- ben. Insofern bietet sich eine zentrale koordinie- Im Schulbereich ist eine Reform des Offenen Ganz- rende Stelle mit dezentralen Sprechstunden in tags erforderlich. Zum einen muss hier sichergestellt Schulen und Kindertageseinrichtungen an. werden, dass alle Kinder, die außerunterrichtliche Angebote benötigen und deren Eltern dies wün- Ebenso wichtig sind jedoch Maßnahmen der Verein- schen, auch einen Zugang dazu erhalten – selbst fachung, barrierefreien Gestaltung und Digitalisie- wenn der bundesweite Rechtsanspruch auf sich war- rung von Antragsverfahren und -formularen. Die ten lässt. Zum anderen ist eine Flexibilisierung erfor- Nutzung des Smartphones ist für viele Menschen derlich, mit der das außerunterrichtliche Angebot längst zum Alltag geworden; Online-Formulare kön- des Ganztags besser mit anderen Angeboten ver- nen über Filterfragen und eine intelligente Nutzer- knüpft (vgl. 4.1) und an die Bedarfe von Kindern und führung wesentlich einfacher und übersichtlicher Familien angepasst wird. So hat die Evaluation der gestaltet werden als Papierformulare; die Bereitstel- Familienzentren an Grundschulen in Gelsenkirchen lung in verschiedenen Sprachen lässt sich leicht rea- gezeigt, dass es viele Familien gibt (und zwar gerade lisieren. Wenn die Gestaltung von Online-Verfahren sozial benachteiligte Familien ohne elterliche Er- von der Zielgruppe aus gedacht wird und deren Me- werbstätigkeit), die – zum Teil auf der Basis eines dienausstattung und ihr Mediennutzungsverhalten
2021 | 01 IAQ-Standpunkt traditionellen Familienbildes – keine Teilnahme ih- dungsformen erforderlich, bspw. duale Ausbildun- res Kindes am Ganztag wünschen, aber sehr wohl gen für Erzieher*innen („Praxisintegrierte Ausbil- daran interessiert sind, dass ihr Kind bestimmte au- dung – PiA“ – nicht nur in Kindertageseinrichtungen, ßerunterrichtliche Förderangebote wahrnimmt. sondern auch in Offenen Ganztagsschulen), duale Studiengänge in der Sozialen Arbeit oder auch mo- Ferner hat die Corona-Pandemie deutlich gemacht, dular aufgebaute Ausbildungen (bspw. für Zuge- wie groß der Bedarf für eine gute digitale Ausstat- wanderte), die mit Spracherwerb, allgemeinbilden- tung ist – in allen Bildungsinstitutionen: Kindertages- dem Schulabschluss und Qualifikationen für Assis- einrichtungen, allgemeinbildende und berufsbil- tenztätigkeiten in multiprofessionellen Teams be- dende Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe. ginnen und über unterschiedliche Bausteine zu an- Hier ist eine Digitalisierungsoffensive notwendig, erkannten Abschlüssen führen (können). Die im Juni die sich nicht auf die Ausstattung mit Hardware be- 2021 gestartete „Ausbildungsoffensive“ für Alltags- schränkt, sondern vor allem geeignete Tools für di- helfer*innen und für eine bessere finanzielle Absi- gitales Lernen und digitale Kommunikation zugäng- cherung der Ausbildung für Kinderpfleger*innen lich macht. Dass bei derartigen Tools der Schutz per- und der Umschulung zu Erzieher*innen stellen sehr sönlicher Daten gesichert sein muss, ist selbstver- wichtige Schritte in die richtige Richtung dar. ständlich; genauso selbstverständlich müssen sie aber auch den Anforderungen an Stabilität und Nut- Für jegliche Form des Quereinstiegs – ob nun in die zungsfreundlichkeit gerecht werden. Kindertageseinrichtung von Alltagshelfer*innen bis hin zu akademisch ausgebildeten Kräften oder in das Lehramt an Berufskollegs – sind vier Aspekte zu be- 4.5 Personaloffensive achten: Erstens ist für Quereinsteiger*innen die Ein- „5. Eine Personaloffensive, um die angestrebte Be- bindung in ein multiprofessionelles Team entschei- treuungs- und Bildungsqualität durch ausreichendes dend. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, sind Be- und multiprofessionelles Personal in den Bildungs- fürchtungen einer Dequalifizierung des Arbeitsfel- einrichtungen auch erreichen zu können“ (Antrag S. des (wie in der Debatte immer wieder geäußert wur- 11 3). den) nicht berechtigt. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Fachkräfte in multiprofessionellen Zu empfehlen ist eine umfassende Personaloffen- Teams Kapazitäten für die Anleitung von Querein- sive – für Kindertageseinrichtungen 10 und Schulen steiger*innen brauchen. Zweitens sind für die Siche- und für alle Berufsgruppen: Lehrkräfte, fachschu- rung der Qualität Angebote der Weiterqualifizie- lisch ausgebildete Erzieher*innen und akademisch rung notwendig, die im Idealfall über modulare An- ausgebildete Kindheitspädagog*innen, Kinderpfle- gebote zu einem anerkannten Abschluss führen ger*innen, Sozialarbeiter*innen und Sozialpäda- (können). Drittens muss die Gestaltung von Verfah- gog*innen und nicht zuletzt Quereinsteiger*innen ren zur Anerkennung von außerhalb der Ausbildung, mit anderen Qualifikationen oder mit Praxiserfah- in anderen Ausbildungs- und Studiengängen oder im rung (bspw. Kindertagespflege, Mitarbeit im Offe- Ausland erworbenen Qualifikationen überdacht nen Ganztag oder Ehrenamt) und qualifizierte Kräfte werden. Der Orientierungsrahmen für diese Aner- mit im Ausland erworbenen Studien- oder Berufsab- kennung darf sich nicht aus einem formalen Abgleich schlüssen. Begleitend ist eine Ausweitung der Aus- mit der jeweiligen Ausbildung ergeben, sondern aus bildungskapazitäten an den Berufskollegs (Erzie- dem Bedarf des Arbeitsfeldes. Viertens werden her*innen, Kinderpfleger*innen) notwendig. Auch Quereinsteiger*innen nur dann qualitativ hochwer- hierfür fehlen Fachkräfte, so dass auch das Lehramt tige Arbeit leisten, wenn ihre Arbeit wertgeschätzt an Berufskollegs dringend stärker für Quereinstei- wird und sie die Möglichkeit haben, über den Quer- ger*innen, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen aus einstieg in einem überschaubaren Zeitraum und mit (Fach-)Hochschulen und Menschen mit Praxiserfah- klaren Kriterien Perspektiven für ihre Berufslauf- rung geöffnet werden muss. Schließlich ist die Aus- bahn zu entwickeln. Wertschätzung von Diversität weitung von neuen, vor allem hybriden, Ausbil- ist letztlich eine zentrale Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz von Quereinsteiger*innen. _ 10 Zur Personalwirtschaft für Kindertageseinrichtungen vgl. Klaudy, E. Ka- Herausforderungen und Strategien. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. tharina / Köhling, Karola / Micheel, Brigitte / Stöbe-Blossey, Sybille, Study der Hans-Böckler-Stiftung 336. 2016: Nachhaltige Personalwirtschaft für Kindertageseinrichtungen.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt 4.6 „Ungleiches ungleich behandeln“ „6. Eine Gerechtigkeitsoffensive mit Hilfe eines ein- richtungsscharfen Sozialindex, um Bildungschancen insbesondere dort zu fördern, wo es wenig davon gibt. Regionale Bildungslandschaften sollen die Bil- dungseinrichtungen vor Ort weiter stärken“ (Antrag S. 3). Die Nutzung von Sozialindizes für die Zuweisung von Finanzmitteln ist – im Sinne der Forderung, Unglei- ches ungleich zu behandeln – ein geeignetes Instru- ment, um die Ausstattung mit (durch das Land ganz oder teilweise finanziertem) Personal in Schulen und Kindertageseinrichtungen mit besonderen Heraus- forderungen zu verbessern. Für den Einsatz von För- dermitteln auf der Basis kommunaler Konzepte sollte die Konkretisierung und Verteilung auf die Ein- richtungen hingegen den Kommunen überlassen werden (vgl. 3.2). 4.7 Kinderschutzgesetz „7. Die Erarbeitung eines umfassenden Kinderschutz- gesetzes für Nordrhein-Westfalen, das Präventions- netzwerke über die Frühen Hilfen hinaus etabliert, 12 vergleichbare Qualitätsstandards ausformuliert, Kin- derschutzaspekte in der Aus- und Fortbildung regelt sowie Kinderschutzkonzepte in allen Bildungseinrich- tungen festschreibt und dabei eine altersgerechte Partizipation ermöglicht“ (Antrag S. 3). Für die Erarbeitung eines umfassenden Kinder- schutzgesetzes geht es darum, bestehende Ele- mente früher Hilfen und kommunaler Präventions- ketten (wie das Programm „kinderstark – NRW schafft Chancen“) zunächst auf der Basis bereits vor- liegender Ergebnisse zusammenfassend zu evaluie- ren und dann zu bündeln, auf eine gesetzliche Basis zu stellen und ohne jährliche Antragsverfahren in eine Regelförderung zu überführen.
2021 | 01 IAQ-Standpunkt Autorin Prof. Dr. Sybille Stöbe-Blossey Leiterin der Forschungsabteilung Bildung, Entwicklung, Soziale Teilhabe Mail: sybille.stoebe-blossey@uni-due.de Telefon: +49 203 37 91805 13 IAQ-Standpunkt 2021 | 01 Redaktionsschluss: 21.09.2021 Institut Arbeit und Qualifikation Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Universität Duisburg-Essen IAQ-Standpunkt: Redaktion: https://www.uni-due.de/iaq/iaq-standpunkt.php Claudia Braczko claudia.braczko@uni-due.de Über das Erscheinen der IAQ-Standpunkte informieren wir über eine Mailingliste: IAQ im Internet https://www.uni-due.de/iaq/newsletter.php https://www.uni-due.de/iaq/ Der IAQ-Standpunkt erscheint in unregelmäßiger Folge als ausschließlich elektronische Publikation. Der Bezug ist kostenlos.
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