Bildzeitung goes science - Singhs und Ernsts bittere Pillen Homöopathie in der evidenzbasierten Medizin

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Wissenschaft

     Georg Ivanovas

     Bildzeitung goes science –
     Singhs und Ernsts bittere Pillen

     Homöopathie in der evidenzbasierten
     Medizin – Teil 3

     Edzard Ernst ist vermutlich der bekannteste Kritiker der Homöopathie. Seine Argu-
     mente prägen deutlich den kürzlich erschienenen Bericht des britischen Parlaments zur
     Homöopathie, der quasi ein Verbot der Homöopathie nahe legt. Als aktiver Kritiker
     und so genannter „Skeptiker“ trägt Ernst wesentlich zur öffentlichen Wahrnehmung
     der Homöopathie bei. Seine Haltung und seine wissenschaftlichen Argumente finden
     sich detailliert in dem Buch Gesund ohne Pillen – was kann die Alternativmedizin,
     das er zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Singh, ebenfalls einem erklärten
     „Skeptiker“, geschrieben hat. Als typisches Beispiel der Haltung orthodoxer Wissen-
     schaftler und der Begrenztheit ihres Wissenschaftsverständnisses wird dieses Buch einer
     erneuten Analyse unterzogen.

     Das Buch Gesund ohne Pillen – was kann die Alter-       • Das Buch von Singh und Ernst ist weiterhin eine
     nativmedizin von Simon Singh und Edzard Ernst             wesentliche Informationsquelle und damit im
     (59) ist jetzt schon bald ein Jahr auf dem Markt. Es      Rahmen der Auseinandersetzung mit der evidenz-
     hat seinerzeit viel Staub aufgewirbelt, ist eingehend     basierten Medizin (EBM) relevant.
     und kontrovers diskutiert worden. Vor allem hat es      • Edzard Ernst hält einen Stuhl für Alternativme-
     das Thema der Wirksamkeit der Homöopathie und             dizin, den ersten der Welt, wie er selber schreibt
     anderer alternativer Verfahren in die allgemeine Dis-     (S. 11). Allein dadurch sind seine Aussagen von
     kussion gebracht.                                         Gewicht.
                                                             • Ernst ist der renommierteste Kritiker der Homöo-
     Dass jetzt nochmals eine Rezension dieses Buches er-      pathie. In diesem Buch finden sich die wesent-
     folgt, hat mehrere Gründe:                                lichsten seiner Argumente.

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Wissenschaft

           • Die Kritiken an Singhs und Ernsts Buch haben sich                 Artikel über die Wirkungslosigkeit der Homöopathie
             in aller Regel auf das Offensichtliche gerichtet, auf             als ausgebildeten Homöopathen („the author is a
             die augenscheinlichen Übertreibungen und Feh-                     trained homeopath“) (14). Darauf könnte man ant-
             ler. Es wurde weniger auf eine differenzierte Be-                 worten: „May be. But very badly trained.“
             trachtung Wert gelegt.
           • Es wurde viel zu wenig diskutiert, was aus dieser                 Unsicherheit
             Kritik zu lernen ist.
                                                                               Bei der Lektüre des Buches und der Auseinanderset-
                                                                               zung mit Ernsts Aussagen ist man oft unschlüssig, ob
       Vorbemerkungen                                                          Dinge des Effekts wegen in einer bestimmten Form
                                                                               dargestellt werden oder aus Unwissenheit. Das Buch
       Wissenschaftliche Verantwortung                                         bedient sich einer parteiischen Sprache. Was die Ver-
                                                                               treter der Alternativmedizin machen, wird negativ,
       Singh ist Wissenschaftsjournalist. Das heißt, er kann                   mitunter als „Falschmünzerei“ bezeichnet (S. 299).
       und soll Meinung machen. Er sollte sorgfältig arbeiten,                 Alternativmediziner werden gar mit „Gaunern“ ver-
       aber es ist nicht seine Aufgabe, diffizile wissenschaft-                glichen (S. 303–304). Dagegen werden Kritiker der
       liche Probleme wirklich zu verstehen.1 Das ist Ernsts                   Alternativmedizin in den lobendsten Worten be-
       Aufgabe. Es ist also angemessen, ihm die wissenschaft-                  schrieben, wobei die Autoren sich selbst nicht genug
       lichen Unschärfen und Fehler des Buches anzulasten.                     rühmen können: „Beide sind wir davon überzeugt,
                                                                               dass wir der Wahrheit näher kommen können als ir-
       Ausdrucksform und Argument                                              gendjemand sonst . . . “ (S. 11–12).
                                                                               Natürlich gab es viele entrüstete Kommentare, man-
       Es ist in der Beurteilung dieses Buches nicht immer                     che sicher überzogen und ungerechtfertigt, ein wenig
       ganz leicht, zwischen Ausdrucksform und Argu-                           nach dem Prinzip, dass auf einen groben Klotz ein
       ment zu unterscheiden. Die gelegentlich aufreizende                     grober Keil gehört. Dass Ernst sich aber ernsthaft
       Darstellungsweise ist selbst schon Aussage an sich.                     darüber wundert und beteuert, er sei zwar nicht mit
       So lässt sich beispielsweise Ernst als „großen Geist“                   Samthandschuhen an die Alternativmedizin herange-
       („great mind“) bezeichnen (58). Man muss das für eine                   gangen, aber es sei kein Buch gegen die Alternativ-
       stilistische Entgleisung halten. Selbst dem Übersetzer                  medizin gewesen2, ist in der Tat verwunderlich. Da
       schien es peinlich gewesen zu sein, denn er machte                      frage ich mich: Kennt er das Buch eigentlich? Oder
       daraus, etwas unschön, „starker Kopf“ (S. 107). Aber                    befindet er sich so weit außerhalb der üblichen Kon-
       es ist nun einmal auch die Aussage, dass der Inhalt des                 ventionen? Aber selbst, wenn die Autoren für sich den
       Buches und seine Schlussfolgerungen die eines großen                    Eindruck besitzen, dass ihr Buch eine objektive Dar-
       Geistes sind. Wie soll man mit solchen Äußerungen                       stellung eines Sachverhaltes ist, so hätten sie durch die
       umgehen? Soll man sie einfach unkommentiert ste-                        Reaktion aufmerksam werden können. Doch die Auf-
       hen lassen? Oder soll man sie als wissenschaftliche                     regung, die sie hervorriefen, schreibt Ernst allein der
       Hypothese („ist er oder ist er nicht?“) werten und                      Inkompetenz anderer zu3. Das lässt eine ganze Reihe
       darauf eingehen? In einigen Fällen muss man einfach                     von Rückschlüssen zu, die natürlich alle spekulativ
       etwas entgegnen. So bezeichnet sich Ernst in einem                      bleiben und letztlich keine Relevanz haben.

       1   Singh steht derzeit vor Gericht. Der Verband der britischen Chiropraktiker hat Klage wegen Ehrverletzung erhoben. Eine solche
           Klage ist in Europa in dieser strengen Form scheinbar nur noch in Großbritannien möglich. Es handelt sich dabei um eine nicht
           hinnehmbare Situation, gegen die alle, die sich der freien Meinungsäußerung verpflichtet fühlen, schärfstens protestieren sollten.
           Dabei ist es unerheblich, ob man Singhs Aussagen und Vorgehen für richtig oder falsch hält. (Siehe Links.)
       2   “It is a critical analysis of the main CAM (Complementary Alternative Medicine) interventions; but it is first and foremost an
           attempt to explain to non-professional readers what evidence is and why it is important. It goes without saying that some treat-
           ments do not come out smelling of roses, but the book is clearly not a book opposing CAM, but is a book emphatically in favour
           of reliable evidence.” (17)

1.10   Homöopathie Konkret                                                                                                                      87
Wissenschaft

     Blick in den Spiegel                                                       fehlt, so hat sie doch darin Recht, dass es in der Ho-
                                                                                möopathie manchen absonderlichen Wildwuchs gibt.
 Das Buch ist eine Gratwanderung zwischen ernst-                                Und da es innerhalb der Homöopathie wenig Selbst-
 hafter Darstellung des Forschungsgegenstandes                                  reinigungskräfte gibt, machen die Herren Singh und
 (Wirksamkeit alternativmedizinischer Verfahren)                                Ernst sozusagen eine Arbeit, die die Homöopathen
 und Pamphlet4. Eine wohlwollende Rezensentin                                   selber nicht machen. Dass sie es nicht zur Zufrie-
 meinte beispielsweise, dass die häufige Nennung des                            denheit der Homöopathen machen, kann ihnen nun
 Begriffs „Wahrheit“ – worunter die Autoren natürlich                           wirklich nicht verübelt werden. Bei all der Entrüstung,
 ihre eigene Ansicht verstehen – „einem durchschnitt-                           die dieses Buch im Kreis der alternativen Heilverfah-
 lichen US-amerikanischen Fernsehprediger alle Ehre                             ren hervorgerufen hat, so haben doch viele schlicht
 machen würde“ (3).                                                             in den Spiegel geschaut. Singh und Ernst haben nicht
 All das tut der Lesbarkeit jedoch keinen Abbruch.                              mit der selbstgefälligen Haltung begonnen. Ihr Buch
 Im Gegenteil. Das Buch ist flüssig geschrieben, leb-                           ist parteiisch, wissenschaftlich zweifelhaft und im Stil
 haft und ein Genuss für diejenigen, die gerne strei-                           einfach schlecht. Aber ein besserer Standard war auf
 ten. Für einen ernsthaften Arzt und Therapeuten und                            Seiten der Homöopathen in der Vergangenheit viel zu
 erst Recht für einen überzeugten Homöopathen ist es                            selten zu finden. Dass dieser sich in letzter Zeit verbes-
 jedoch eine schwer verdauliche Kost, die nur mit ei-                           serte – und es ist wichtig, das zu verstehen – verdankt
 ner regelmäßigen Dosis Ignatia, Staphisagria oder gar                          die Methode auch Leuten wie Singh und Ernst. Es
 einem Betablocker unbeschadet überstanden werden                               geht also darum, die Unzulänglichkeiten dieser Kri-
 kann.                                                                          tik klar und deutlich zu formulieren und sich dabei
 So weit, so gut. Aber das Ganze hat einen Pferdefuß.                           gleichzeitig Gedanken zu machen, was an der Kritik
 Die Ausdrucksweise des Buches gleicht, wie bereits                             berechtigt sein könnte.
 gesagt, über weite Strecken mehr den Produkten der
 Boulevard-Presse als einer ernsthaften Darlegung. Da-
 rüber hinaus charakterisiert das Buch eine herablas-                           Unzulänglichkeiten des
 sende, gelegentlich arrogante, mitunter altväterliche
 Haltung gegenüber den unwissenden Dummerchen,
                                                                                Buches
 die „abstruses Zeugs“ treiben. Eine solche Haltung
 findet sich bei vielen Kritikern der Homöopathie,                              Das Buch von Singh und Ernst ist voller Widersprü-
 auch wenn sie weder die nötigen wissenschaftlichen                             che und Inkonsistenzen6. Diese beruhen, so weit sich
 noch menschlichen Kompetenzen besitzen, die es ih-                             das aus dem Text erschließen lässt, auf einem man-
 nen erlauben würden, zu all jenen Schlussfolgerungen                           gelnden Verständnis folgender Punkte:
 zu kommen, zu denen sie kommen. Die Heftigkeit,                                 • Der evidenzbasierten Medizin,
 die auch in diesem Buch zu finden ist, muss verwun-                             • der regulativen Verfahren, insbesondere der Ho-
 dern.                                                                              möopathie und
 Die Psychodynamik der Homöopathie-Kritik ist je-                                • dem Wesen des Placebo-Effektes.
 doch nicht von Interesse5. Viel wichtiger ist: Auch
 wenn diese Art der Kritik oft übertrieben ist, auch                            Ernst bezeichnet die alternativen Heilverfahren weit-
 wenn ihr oft jedes klinische Gespür und Verständnis                            gehend als Placebo-Therapien, allen voran die Ho-

     3   “This begs the question, why are so many people so annoyed at an honest attempt to explain what reliable evidence is and what
         it tells us? There may be more than one answer to this question, but I think the main one is that they cannot tolerate anyone
         seriously questioning their belief. The crucial term here is ‚belief‘. For many, CAM is not medicine, science, health care, etc., it is a
         belief that cannot and must not be doubted – doubting is a sin, and sinners must be punished!”
     4   „Ein Pamphlet oder eine Schmähschrift ist eine Schrift, in der sich jemand engagiert, oft polemisch, zu einem wissenschaftlichen,
         religiösen oder politischen Thema äußert.“ (Wikipedia)
     5   Für den Autor dieses Artikels („a trained psychotherapist“) sind natürlich die Mechanismen der Verdrängung und Projektion of-
         fensichtlich.
     6   „Inkonsistenz (v. lat. in- „nicht“, con- „zusammen“, sistere „halten“) bezeichnet einen Zustand, in dem zwei Dinge, die beide als
         gültig angesehen werden sollen, nicht miteinander vereinbar sind.“ (Wikipedia)

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Wissenschaft

       möopathie. Die wissentliche Verwendung von Pla-                          se bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholen7.
       cebo-Effekten hält er für unethisch (S. 299). Das ist                    Gravierend ist jedoch, dass diese Art des logischen
       ein Punkt, über den man durchaus diskutieren kann,                       Schlusses mangelhaft ist. Die Autoren vernachlässi-
       wobei es dabei ganz wesentlich auf die Definition von                    gen grundlegende Erkenntnisse der Physiologie und
       „Placebo“ ankommt, die im Buch gelegentlich wech-                        der Placebo-Forschung.
       selt. Der nächste Schritt in Ernsts Argumentation ist,                   Aber selbst in Fällen, in denen die Autoren die wi-
       dass auch die orthodoxe medikamentöse Therapie                           dersprechenden Fakten kennen (wie bei Punkt 3),
       in gleicher Weise einen Placebo-Effekt aufweist, dass                    scheinen sie nicht in der Lage zu sein, die richtigen
       also zu der Wirkung des orthodoxen Medikaments                           Schlüsse daraus zu ziehen. Sie pflegen eine bruch-
       die Placebo-Wirkung hinzukommt (S. 302). Diese                           stückhafte, inselartige Form des Argumentierens, die
       Aussage ist in mehrfacher Hinsicht falsch:                               sich zwar auf handverlesene Fakten stützt, wobei diese
                                                                                aber nicht in ein generelles medizinisches Verständ-
           • Es gibt in biologischen Systemen keine Additivi-                   nis eingebettet werden. Bei Lücken in der Argumen-
             tät. Biologische Systeme sind offene, nonlineare                   tation wird dann stets auf randomisierte Studien als
             Systeme, die nach anderen Gesetzen funktionie-                     Rettungsring verwiesen.
             ren als das triviale System einer Registrierkasse
             (8).                                                               Wissenschaftlicher Hintergrund
           • Die Placebo-Forschung belegt diesen nonlinearen
             Charakter. Eine Placebo-Gabe kann die gleichen                     Ernst ist Inhaber eines Lehrstuhls an der Peninsula
             Signalwege benutzen wie das pharmakologisch                        Medical School, der Universities of Exeter & Ply-
             aktive Mittel, das Verum (24, 46). Das heißt, Pla-                 mouth. Sein Fachbereich ist „Complementary Medi-
             cebo und Verum üben denselben Stimulus auf den                     cine“ (44). Die Qualifikation zu diesem Lehrstuhl und
             Organismus aus. Hier eine Summierung der Akti-                     die praktische Kenntnis der alternativen Heilverfah-
             vität anzunehmen, widerspricht den Kenntnissen                     ren, allen voran der Homöopathie, erwarb er, nach
             der Physiologie. Das Placebo kann auch andere                      eigenen Angaben, durch eine halbjährige Assistenz-
             Signalwege verwenden als das Verum (35). Auch                      zeit in einem Krankenhaus für Naturheilverfahren in
             hier kann nicht von einer Additivität ausgegangen                  München, die er direkt nach seinem Studium absol-
             werden. Eine Vielzahl von Interferenzen ist mög-                   vierte (12, 45). Im Buch spricht Singh zwar davon,
             lich, von Synergien bis hin zu einer gegenseitigen                 dass Ernst darüber hinaus noch viele Jahre weiter
             Inhibition, die als solche auch schon bestätigt                    homöopathisch gearbeitet habe (S. 177), aber Ernst
             wurde (7, 48).                                                     selber widerspricht dem an anderer Stelle (18). Wie
           • In den randomisierten Studien, in denen die Ho-                    dem auch sei, all das ist für einen „trained homeo-
             möopathie im Vergleich zu einer standardisierten                   path“ nicht sehr viel. Vergleichbar wäre die Ernen-
             medikamentösen Therapie geprüft wird, schnei-                      nung eines Professors für Chirurgie nach einem hal-
             det die homöopathische Therapie stets besser ab                    ben Jahr Assistenz in einer chirurgischen Ambulanz.
             als medikamentöse Standardtherapie (Wirkungs-
             paradox) (30). Das dürfte nach Ernsts Logik gar                      Es ist also auf den ersten Blick nicht erstaunlich,
             nicht vorkommen. Folgt man seiner Argumenta-                         dass Ernst grundlegende Mechanismen der Na-
             tion, dann müsste zu der Wirkung der medika-                         turheilkunde wie Individualisierung, Umstim-
             mentösen Standardtherapie die Wirkung der ho-                        mung oder krisenhafte Verläufe nur oberfläch-
             möopathischen Therapie dazukommen.                                   lich zu kennen scheint, beziehungsweise sie für
                                                                                  eine Ausgeburt homöopathischer Fantasie hält
       Ernsts und Singhs Hypothese ist somit falsch und wi-                       (S. 231–232). Er hat damit natürlich Unrecht.
       derspricht jeder Evidenz, auch wenn die Autoren die-

       7   Zum Beispiel: “If we prescribe an effective treatment with the same dedication, time, empathy etc. as homeopaths would pre-
           scribe the homeopathic placebo, patients will benefit from both the non-specific (placebo) effects and the specific effects of the
           treatment.” (19)

1.10   Homöopathie Konkret                                                                                                                      89
Wissenschaft

 Das zeigen alle Untersuchungen von Heilungs-                              hat, individuelle Therapien zu leiten, besitzt weder das
 prozessen, wie sie insbesondere in der Chrono-                            entsprechende theoretische noch empirische Wissen,
 medizin gemacht wurden (28). Allein, dass er                              das eine maßgeschneiderte Medizin erfordert. Nur,
 diese Forschungen nicht kennt, ist im Grunde ver-                         dieser Vorwurf kann für Ernst nicht gelten. Er war
 wunderlich, da sie das Thema seines Lehrstuhls un-                        lange Jahre Professor für physikalische Medizin und
 mittelbar betreffen.                                                      Rehabilitation, zunächst an der Universität Hannover
 Aber Ernst geht noch weiter. Er verwirft das gesamte                      und später in Wien (45). Physikalische Medizin und
 empirische Wissen der regulativen Verfahren, lehnt                        Rehabilitation basieren geradezu auf einem indivi-
 Einzelbeobachtungen kategorisch ab, betrachtet sie                        duellen Verständnis des Falles, auf einer detaillierten
 für vernachlässigbar und überholt (S. 162; 23). Das                       Analyse der regulativen Reserven des Patienten, auf
 ist nun geradezu verblüffend. Medizin beruht auf Ein-                     deren gezielter Förderung. Es ist eines dieser Rätsel,
 zelbeobachtungen!8 Zugegeben, das Thema ist eine                          warum dieses Wissen nicht in seine Arbeit über alter-
 Büchse der Pandora, aus der Schreckgestalten wie                          native Therapien mit eingeflossen ist.
 Induktion und Deduktion aufsteigen. Jahrhunderte
 lang wurde erbittert über die richtige Erkenntnis-                        Mangelnde Kenntnis regulativer
 theorie gekämpft, wurde das Thema Realität, Kau-                          Verfahren
 salität und deren Wahrnehmung in verschiedenster
 Hinsicht untersucht (32). Aber für Ernst gibt es zu                       Eine wesentliche Schwierigkeit von Ernsts Zugang
 allen ontologischen Fragen nur eine Antwort: rando-                       zu den alternativen Heilmethoden zeigt sich schon
 misierte Studien (15).                                                    bei seiner Definition. Für ihn fällt unter den Begriff
                                                                           Alternativmedizin („complementary and alternative
         Sicher hat die statistische Sichtweise eine gewisse               medicine“) alles an medizinischer Praxis, was nicht
         Bedeutung, aber man darf sie nicht überschät-                     den Standards der medizinischen Gemeinschaft ent-
         zen. Statistik ist, wenn ein durchschnittlich 1,68                spricht (13)10, oder, etwas milder ausgedrückt: Alles,
         m großer Mann in einem durchschnittlich 1,43 m                    was nicht von der Mehrheit der Schulmediziner an-
         tiefen See ertrinken kann. Das heißt, individuelle                erkannt wird (S. 9). Diese Definitionen unterscheiden
         Prozesse verlieren in der statistischen Sichtweise                sich allenfalls graduell von Definitionen zu Quacksal-
         ihre Bedeutung.                                                   berei, für die er die Homöopathie erklärtermaßen
                                                                           hält (55). Singh und Ernst werden in ihrem Buch
                                                                           sogar noch deutlicher. Sie betonen, dass, wenn eine
 Das ist in manchen Zusammenhängen sehr nützlich.                          alternative Therapie wirklich wirken würde, sie nicht
 Aber es lässt sich nicht verallgemeinern. Schlimmer                       mehr alternativ wäre, sondern konventionell würde
 noch, in der rein statistischen Sicht gibt es keinerlei                   (S. 349). Das ist eine gewagte Hypothese, deren Wi-
 Beobachtungsstrategie für Verläufe, für ihre Eigen-                       derlegung hier nicht Thema sein soll. Man könnte auf
 heiten, für ein (eventuell) regelhaftes Geschehen,                        die Schnelle allenfalls an die Symbioselenkung erin-
 sozusagen das Kernstück naturheilkundlichen Han-                          nern, die es jetzt gut 90 Jahre gibt, aber trotz guter
 delns. Statistik ist auch eine deutliche Absage an eine                   Beweislage immer noch „alternativ“ ist.
 maßgeschneiderte, auf den Patienten abgestimmte
 Medizin. Sie ist eine Absage an Verständnis und Em-                          Das Problem mit der Quacksalber-Definition ist,
 pathie9.                                                                     dass sie keine Grundlage für einen wissenschaft-
 All das ließe sich leicht mit einem fehlenden Verständ-                      lichen Diskurs schafft. Sie lässt allenfalls Kon-
 nis für klinische Prozesse erklären. Wer es nie gelernt

     8  Wer Beispiele sucht, wie Einzelbeobachtungen schön geordnete Weltbilder durcheinander bringen, sei auf die Beschreibungen
        von Oliver Sacks zu neurologischen Störungen verwiesen.
     9 Es gibt in dem Buch eine erstaunliche Stelle, wo die Autoren einen Fall beschreiben, in dem die intuitive Empathie über die evi-

        denzbasierte Medizin siegt (S. 100). Sie wirkt wie ein Fremdkörper, steht im Gegensatz zum übrigen Text. Es wird auch keine
        Schlussfolgerung daraus gezogen. Vielleicht soll sie zeigen, dass auch „Evidenzler“ zu Mitgefühl fähig sind.
     10 “Medical practices which do not conform to the standards of the medical community.”

90                                                                                                            Homöopathie Konkret         1.10
Wissenschaft

                                                                              Um ein Beispiel für eine homöopathische (Placebo-)
            frontation zu. Sicher, es ist nicht einfach, eine
                                                                              Therapie zu geben, wird dann die Behandlung einer
            geeignete Definition für die alternative Medizin
            oder Naturheilverfahren zu finden. Aber es gibt                   Verbrennung beim Grillen mit Cantharis geschildert.
            Möglichkeiten, mehr den phänomenologisch-                         Der Fall stammt aus einem belanglosen Laien-Buch
            klinischen Aspekt dieser Therapien hervorzuhe-                    über die Homöopathie (62). Natürlich wird darauf
            ben. Eine solche Definition wäre beispielsweise:                  hingewiesen, dass eine vergleichbar schnelle Rück-
            Alternativmedizin oder Naturheilverfahren sind                    bildung auch bei einer Spontanheilung zu erwarten
            Methoden, welche die innere Regulation des                        gewesen wäre (S. 161). Wenn für die Autoren diese
            Organismus beeinflussen, sodass er ein besseres                   Anekdote und diese Wissensquelle das Wesentliche
            inneres Gleichgewicht und/oder eine größere Ro-                   ist, was ihnen zum Thema homöopathische Hei-
            bustheit entwickelt (modifiziert nach 56).                        lungen einfällt, dann ist es wirklich sehr schlecht um
                                                                              Ernsts Kenntnis der homöopathischen Praxis bestellt.
                                                                              Möglich ist aber, dass ein Fall ausgewählt wurde,
       Diese Definition eröffnet eine Plattform, auf der eine                 der möglichst unspektakulär und beliebig ist, damit
       Diskussion mit klaren wissenschaftlichen Prinzipien                    er besser in die Argumentationskette passt, was ei-
       möglich wäre. Natürlich würden dabei einige na-                        nige Placebo-Beispiele an anderer Stelle nahelegen
       turheilkundliche Verfahren nicht mit berücksichtigt                    (S. 298). Das wäre dann aber zutiefst unredlich.
       werden, beispielsweise eine Phytotherapie, die einem                   Wie immer es auch sein mag, man muss Ernst fun-
       reduktionistischen, nicht regulativen Therapiekon-                     damentale Lücken in der Kenntnis der Homöopathie
       zept folgt. Es ist kein Zufall, sondern inhärente Logik,               bescheinigen, auch wenn er von sich selbst behauptet,
       ein prinzipielles Missverständnis regulativer Prozesse,                das Ähnlichkeitsprinzip zu verstehen11. Die Unter-
       dass Ernst allein dieser Form der Phytotherapie eine                   scheidung zwischen einer Therapie mit potenzierten
       gewisse therapeutische Wirksamkeit zuspricht.                          Substanzen und einer homöopathischen Therapie
       Ganz sicher kann es jedoch auf der Basis des Quack-                    mag ihm vielleicht geläufig sein. Relevant ist sie für
       salber-Paradigmas keine brauchbare Forschung zu                        ihn nicht. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob
       alternativen Verfahren geben, kein Verständnis regu-                   eine Therapie nach dem Ähnlichkeitsgesetz konzipiert
       lativer Prinzipien, keinen Beobachtungsaustausch mit                   oder diagnosebedingt mit stets demselben Mittel be-
       der orthodoxen Medizin, keine Bereicherung der the-                    handelt wird. Zumindest spielt das für ihn in der Be-
       rapeutischen Konzepte durch individuelle Beobach-                      urteilung von Wirksamkeitsstudien keine Rolle (14).
       tungsstrategien. All das kann man von Ernst beim                       Geradezu verstörend ist seine vehemente Attacke ge-
       besten Willen nicht erwarten.                                          gen das potenzierte Mittel Oscillococcinum (S. 178–
                                                                              179), das nun mit der homöopathischen Thera-
       Mangelnde Kenntnis der                                                 pie wirklich nichts zu tun hat.12 Entsprechend wäre
       Homöopathie                                                            vielleicht der Vorwurf, dass die Pharmakotherapie
                                                                              deshalb abzulehnen sei, da chinesische Kellerunter-
       Das Buch von Singh und Ernst widmet ein Kapitel der                    nehmen die Fitness-Zentren Europas mit dubiosen
       Homöopathie. Darin wird deren Geschichte informa-                      Anabolika überschwemmen. Dies kann kein Verse-
       tiv und wenig einseitig dargestellt. Singh ist ein sehr                hen sein, denn dieses Mittel kommt auch in seinen
       guter Wissenschaftsjournalist, dem es in aller Regel                   wissenschaftlichen Artikeln vor (14).
       gelingt, schwierige Zusammenhänge einleuchtend                         Dass die Autoren nur Schmähungen über die Ver-
       darzustellen. Natürlich nimmt die Potenzierung, die                    wendung von Berliner Mauer C 30 übrig haben
       jeden wissenschaftlich denkenden Menschen verwir-                      (S. 304), sei ihnen unbenommen. Aber zumindest
       ren muss, einen großen Raum ein.                                       Ernst, als ausgebildetem Homöopathen, sollte ge-

       11 „Many years ago, I have worked as a homeopath and therefore understand the concepts of homeopathy (e.g. like cures like and
          dilution increases effectiveness).” (18)
       12 Oscillococcinum ist, laut Wikipedia, ein aus Entenleber potenziertes Mittel eines französischen Herstellers, das bei grippeartigen

          Symptomen hilfreich sein soll. Es ist in der Homöopathie völlig unbekannt. Es gibt dafür wohl keine Arzneimittelprüfung und es
          wird nicht nach dem Ähnlichkeitsgesetz verschrieben.

1.10   Homöopathie Konkret                                                                                                                     91
Wissenschaft

 läufig sein, dass dies nicht homöopathische Praxis          rangieren die Nebenwirkungen von Arzneimitteln auf
 ist, kein ernstzunehmender Beitrag zur homöopa-             Platz 4 bis 6 der Liste der Todesursachen (34).
 thischen Therapie.                                          Zur Feststellung schwerer, aber seltener Nebenwir-
 Einen vollständigen Mangel an Kenntnissen der               kungen von Medikamenten sind randomisierte Stu-
 Homöopathie beweisen die Autoren schließlich mit            dien wenig geeignet (65). Solche werden durch Ein-
 der aberwitzigen Behauptung, dass eine mögliche             zelbeobachtungen entdeckt, wie beispielsweise die
 Wirkung homöopathischer Mittel auf eine Verun-              Rhabdomyolyse durch Baycol/Lipobay (64). Dazu
 reinigung mit Steroiden und/oder anderen pharma-            kommt, dass in der Praxis sehr oft Menschen behan-
 zeutischen Substanzen zurückzuführen sein könnte            delt werden, für die es gar keine Evidenz gibt, da für
 (S. 232).                                                   ihren Fall gar keine Studien vorliegen (37). Dazu ge-
                                                             hören beispielsweise die 20–50 % der psychiatrischen
     Glorifizierung der EBM                                  Fälle, die laut DSM IV in die „nos-Kategorie“ (not
                                                             otherwise specified) fallen (26). Die Schätzung, dass
 Ernst, das lässt sich widerspruchsfrei sagen, ist ein       einer von 12 Patienten die falsche Medizin verschrie-
 überzeugter Verfechter der evidenzbasierten Medizin.        ben bekommt (50), ist vermutlich untertrieben. Eines
 Ihre eingeschränkte Aussagekraft ist für ihn kein The-      der vielen, vielen Probleme ist der hohe Antibiotika-
 ma (16). Auf Argumente, die ihre Begrenzungen im            konsum, das „Heranzüchten“ resistenter Erreger (36),
 Allgemeinen und für die Naturheilverfahren im Spe-          die Störung der Darmflora, die langfristige Störungen
 ziellen belegen, geht er allenfalls beiläufig ein. Es ist   wie Allergien (4, 49, 43) oder möglicherweise sogar
 also nicht verwunderlich, dass er randomisierte, dop-       Krebs (66) verursachen kann.
 pelblinde Studien als die „bestmögliche Evidenz“ zur        Einer offiziellen Schätzung nach sind allein in
 Beurteilung von Naturheilverfahren betrachtet. Das          Deutschland etwa 1,4 Millionen Menschen in ir-
 einzige Problem, dünkt ihm, dass die EBM für das            gendeiner Weise medikamentenabhängig, mehr als
 allgemeine Publikum „kalt“ wirken könnte (S. 40).           von Alkohol (6).
 Man könnte dies einfach als den Standpunkt eines            Allein solche Zahlen könnten nachdenklich machen.
 Wissenschaftlers betrachten, der sich vollständig einer     Aber selbst wenn die Herren Singh und Ernst mit sol-
 bestimmten Sache verschrieben hat und wenig kritik-         chen Daten nicht vertraut wären, so haben sie schon
 fähig ist. Aber der strittige Punkt ist ein anderer.        vom Vioxx-Skandal oder der WHI-Studie zur Hor-
 Ernst und Singh vertreten die Meinung, dass die kon-        monersatztherapie gehört, die beide ganz deutlich die
 ventionelle medikamentöse Therapie jeder Form von           Grenzen der evidenzbasierten Medizin aufzeigen.
 Alternativmedizin vorzuziehen sei (S. 247), besonders       Dazu kommt, dass die Realität der derzeitigen medi-
 der Homöopathie. Um dies besser beurteilen zu kön-          kamentösen Therapien alles andere als rosig ist. Phar-
 nen, müssen wir uns einmal die Realität der konven-         mafirmen manipulieren, lügen, bestechen, beeinflus-
 tionellen medikamentösen Therapie ansehen:                  sen Ärzte, wissenschaftliche Zeitschriften und Patien-
 Schwere, auch tödliche Nebenwirkungen werden er-            tenhilfsorganisationen, gestalten also die Wahrneh-
 heblich unterschätzt. Nur 6 % der Nebenwirkungen            mung der Wirksamkeit von Effektivität (29).
 von Medikamenten werden der zugehörigen Thera-              Es findet genau das statt, was Singh und Ernst gegen
 pie zugeordnet (11, 57). Meistens werden sie als bezie-     die Homöopathie anführen: „. . . wer den überzeu-
 hungslos betrachtet (10). 6,5 % der Krankenhausein-         gendsten Werbefeldzug unternimmt, hat die größten
 weisungen in England (47) und 3 % der Todesfälle            Chancen, seine Meinung durchzusetzen, ohne Rück-
 in Schweden sind Folge einer Arzneimittelnebenwir-          sicht darauf, ob sie richtig oder falsch ist.“ (S. 9)
 kung (67). In Ländern mit höherem Medikamenten-
 konsum, wie Griechenland oder Frankreich (25, 39),            In einem solchen Umfeld ist es nicht einfach,
 wird der Prozentsatz vermutlich höher sein. In der            die richtige Strategie für den Patienten zu entwi-
 Tat ergab eine Untersuchung in spanischen Kranken-            ckeln. Und in keinem Fall sollten sich Vertreter
 häusern, dass 6 von 100 Patienten an der Folge von            der Schul- und Alternativmedizin auf ein so ho-
 Arzneimittelnebenwirkungen verstarben und nicht an            hes ethisches Ross setzen, wie Singh und Ernst
 ihren Erkrankungen (63). In den Vereinigten Staaten

92                                                                                         Homöopathie Konkret        1.10
Wissenschaft

                                                                                vidualisierung mehr entspricht. Je statistisch valider
            es tun. Dies ist, meiner Ansicht nach, der wesent-
                                                                                eine Studie ist, desto sicherer wird das Verfahren als
            liche Fehler des Buches.
                                                                                solches besser als eine Standardtherapie abschneiden,
                                                                                ohne dass eine Zuordnung zu einer definierten Inter-
       Beispielsweise sagen die Autoren, dass die Homöo-                        vention möglich ist. In beiden Fällen schneidet jedoch
       pathen ihre Augen vor der Forschung verschließen.                        das regulative Verfahren besser ab als die orthodoxe
       Denn wenn sie das nicht täten, dann  müssten sie ihre                    Standardtherapie. Ich habe das als Wirkungsparadox
       Patienten anlügen, um überhaupt einen (Placebo-)                         bezeichnet: „Eine unwirksame Therapie ist wirksamer
       Effekt zu erzielen (S. 297–301). Wenn die Homöo-                         als eine wirksame Therapie“ (30).
       pathen wahrhaftig wären, müssten sie sagen:                              Nun müsste dieses Wirkungsparadox eine gewisse
       „Nimm dieses Mittel. Es ist nichts drin und die wis-                     Irritation hervorrufen. Denn irgendwo steckt in die-
       senschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass es ein                       sem ganzen Geflecht ein logischer Fehler. Es ist ge-
       reines Placebo ist. Aber es mag trotzdem etwas hel-                      radezu absurd. Niemand auf der Welt wäre besser
       fen.“13                                                                  geeignet, über dieses Phänomen nachzudenken und
       Wollen wir die Aussage ein wenig abändern. Wenn                          Modelle dazu zu erstellen, als Ernst (Lehrstuhl für
       die konventionellen Therapeuten wahrhaftig wären,                        Komplementärmedizin und Schwerpunkt Wirkungs-
       dann müssten sie sagen:                                                  nachweis), aber bei ihm kommt das Thema über-
       „Nehmen Sie dieses Mittel. Die Wahrscheinlichkeit,                       haupt nicht vor. Im Gegenteil, die Autoren schließen
       dass es Ihnen hilft, liegt nach Untersuchungen bei                       aus diesen Ergebnissen auf die „Unwirksamkeit der
       höchstens 10–20 %. Aber letztlich kann für Sie gar                       Homöopathie“, und zwar mit der Hypothese, dass
       keine Aussage gemacht werden. Es kann auch sein,                         die Therapien nicht wirken würden, wenn die Leu-
       dass die Therapie erhebliche Nebenwirkungen hat.                         te wüssten, dass die Homöopathie in Studien keinen
       Möglicherweise ist das Mittel viel, viel schädlicher als                 spezifischen Effekt hat.
       bekannt ist, denn es wird so viel vertuscht. Von den                     Als ob das nicht schon hypothetisch genug wäre, geht
       meisten Nebenwirkungen erfahren wir gar nichts.                          die argumentative Kette der Autoren noch weiter.
       Außerdem sind viele Fürsprecher dieser Therapie den                      Studien legen nahe, dass die homöopathische Thera-
       Pharmafirmen verpflichtet. Übrigens auch eine große                      pie entweder kostengünstiger als die konventionelle
       Anzahl medizinischer Zeitschriften. Aber das Mittel                      Standard-Therapie ist (52) oder bei gleichen Kosten
       mag trotzdem helfen“.                                                    effektiver (68). Als eine Übersichtsarbeit zur Kosten-
       All das ist einfach schlechter Stil, eine Art der Darstel-               effektivität der Homöopathie durchgeführt werden
       lung, die eher in die Boulevard-Presse gehört als in ein                 sollte, der Smallwood-Report, bat man Ernst, da-
       ernsthaftes Buch.                                                        ran mitzuarbeiten. Dieser lehnte aus methodischen
                                                                                Gründen ab (22). Schließlich bescheinigte der Small-
       Effektivität der Homöopathie                                             wood-Report der Homöopathie, eine kostengünstige
                                                                                Alternative zu sein. Dieses Ergebnis weisen Singh und
       In ihrem Buch greifen die Autoren nicht auf Ernsts                       Ernst mit folgender Argumentation zurück: Da die
       eigene Forschungsarbeiten zur Wirksamkeit der Ho-                        Homöopathie nicht wirkt und wirken kann, so kann
       möopathie zurück, sondern beschränken sich darauf,                       sie nicht kostengünstiger sein, sondern ist allenfalls
       die Geschichte der beiden Meta-Analysen des Lancet                       gefährlich (S. 295). Dieses ganze Konstrukt ist weder
       darzustellen. Dieses Thema wurde an anderer Stelle                       logisch evident, noch entspricht es dem Stand der evi-
       detailliert analysiert (29). Zusammenfassend lässt sich                  denzbasierten Forschung.
       sagen:
       Die Studien der letzten Jahre zu den regulativen                         Komplikationen
       Verfahren, zur Homöopathie und zur Akupunktur
       zeigen, dass ein Effekt umso wahrscheinlicher ist, je                    Da Singh und Ernst die Homöopathie für ineffek-
       kleiner und praxisnäher die Studie ist, also der Indi-                   tiv halten, können sie sich auch keine anderen Ne-

       13   “Take this remedy, there is nothing in it and the evidence shows it is a pure placebo, but it might still do you some good.” (19)

1.10   Homöopathie Konkret                                                                                                                      93
Wissenschaft

 benwirkungen dieser Therapie vorstellen, außer der                       gespart werden könnte. Ich will deshalb versuchen,
 unterlassenen Hilfeleistung. Um diese zu beurteilen,                     das Thema klinisch ein wenig anzureißen.
 bedienen sie sich folgender Methode: Eine Testperson                     Das Thema Impfung ist zu einem Glaubenskrieg de-
 geht als fingierter Patient zu einem Homöopathen                         generiert, bei dem es blinde Gegner und blinde Be-
 und bittet um eine Empfehlung zu bestimmten The-                         fürworter gibt. Medizinischer Sachverstand ist dabei
 men. Natürlich ist das mehr investigativer Journalis-                    weniger gefragt. Mit geradezu religiösem Eifer ist man
 mus als Wissenschaft und natürlich sind die daraus                       entweder für oder gegen „die Impfung“. Dabei ist
 gezogenen Schlussfolgerungen mehr als zweifelhaft.                       irgendwie gleichgültig geworden, ob es um Diphthe-
 Natürlich ist diese Form der verdeckten Ermittlung                       rie oder Varizellen, um Gelbfieber oder Grippe geht.
 (so als ob Homöopathen Verbrecher wären) in be-                          Manche Homöopathen argumentieren, als ob Jen-
 liebiger Weise manipulierbar. Kurz, dieses Verfahren                     ner seine Kuhpockenimpfung ausprobieren möch-
 weist all die Mängel auf, die dem Skandaljournalis-                      te. Und die Vertreter der orthodoxen Seite spinnen
 mus angekreidet werden. Sowohl dem Verfahren als                         aberwitzige Ausrottungsszenarien aus dem vorigen
 auch dessen Ausschlachtung haftet etwas Unsolides                        Jahrhundert.14 Da wird dann den Homöopathen, den
 an. Aber vor allem widerspricht es Ernsts eigenem                        Anthroposophen oder gar einer Hebamme die Schuld
 Credo „emphatically in favour of reliable evidence“                      gegeben (9), dass nicht funktioniert, was nicht funk-
 (17) zu sein.                                                            tionieren kann.
 Worauf sind die Autoren bei ihrer Forschung gesto-
 ßen?                                                                     Impfkomplikationen in der Praxis
                                                                          Ein 14 Monate alter Junge, der sich bis dahin normal
     Impfungen                                                            entwickelt hatte, wurde gegen MMR geimpft. Am 8.
                                                                          und 9. Tag, also zur Zeit der Virämie, kam es zu einem
 Eine wesentliche Bedrohung durch die Homöopathie                         unspezifischen Exanthem und hohem Fieber, das an-
 sehen Ernst und Singh in der impfkritischen Haltung                      tipyretisch behandelt wurde. In den nächsten Tagen
 vieler Homöopathen. Das hat zunächst nichts mit der                      entwickelte sich ein ausgedehnter, bullöser Ausschlag
 Methode als solcher zu tun. Aber es ist richtig, dass                    am Körper. Dieser wurde als allergisch gedeutet und
 viele homöopathische Kollegen nicht den Impfemp-                         dem Kind hochdosiert Steroide verabreicht. Innerhalb
 fehlungen der STIKO und sonstiger Organisationen                         von wenigen Tagen hörte das Kind auf zu sprechen,
 folgen. Richtig ist auch, dass es unter den Homöo-                       wurde völlig verhaltensgestört, was ihm Jahre später
 pathen sehr impfkritische Kollegen gibt. Richtig ist                     die Diagnose Autismus einbrachte. Es handelte sich
 auch, dass Impfkritiker zur Homöopathie neigen.                          dabei aber wohl eher um eine (post-)infektiöse zere-
 Und richtig ist auch, dass dabei ganz viel wirres                        brale Schädigung. Der typische Autismus weist keine
 Zeugs geredet wird. Dass das Phänomen jedoch nicht                       so plötzliche Wesensänderung auf, ist nicht durch
 generalisiert werden kann, zeigt beispielsweise eine                     solche dramatischen Rückschritte in der Entwicklung
 Befragung belgischer Ärzte, die Ernst selbst in sei-                     charakterisiert.
 ner Zeitschrift FACT zitiert. Keiner der 40 befragten                    Sicher wird es Kollegen geben, die hier keinen Zusam-
 Teilnehmer lehnte Impfungen generell ab. Keiner be-                      menhang zu der Impfung sehen wollen. Sie mögen
 hauptete, homöopathische Mittel könnten diese er-                        auf die Statistik verweisen oder von einem zufälligen
 setzen. Vorbehalte hatte etwa die Hälfte der Kollegen                    Erscheinen dieser Symptomatik nach der Impfung
 jedoch bei bestimmten Impfungen (21).                                    sprechen. Man könnte, der üblichen Logik folgend,
 Nun ist das Thema viel zu komplex, als dass es auch                      sogar einen Nocebo-Effekt postulieren, wenn die
 nur stichwortartig hier abgehandelt werden könnte.                       Eltern ängstlich gegenüber der Impfung gewesen
 Es ist aber auch zu bedeutsam – Singh und Ernst ver-                     wären.
 treten ihre Ansicht nicht nur im Buch, sondern auch                      Die Diskussion, ob die MMR-Impfung Autismus
 in ihren vielen medialen Auftritten – als dass es aus-                   hervorrufen kann, wurde in den letzten Jahren heftig

     14   Berüchtigt ist der Ausspruch des amerikanischen Obermediziners (US Surgeon General) von 1967: “The war against infectious
          disease has been won.” (40)

94                                                                                                         Homöopathie Konkret        1.10
Wissenschaft

       geführt, stets mit problematischen Daten. Einerseits                       gebe. Ich erwiderte, dass es natürlich prinzipiell kei-
       sind die Epidemiologen uneins, was die Häufigkeit                          nen Zusammenhang geben kann, wenn er solche Fälle
       des Autismus und seiner möglichen Zunahme betrifft                         als beziehungslos betrachte. Der Disput endete darin,
       (33, 31). Andererseits gibt es für diese Impfung keine                     dass der Kollege erzürnt sagte: „Ich habe ein Buch ge-
       Doppelblindstudien, also keine Form von Evidenz,                           schrieben, in dem ich ganz eindeutig nachweise, dass
       wie sie von überzeugten Evidenzlern gefordert wird.                        es keinen Zusammenhang zwischen Impfung und
       Selbst epidemiologische Studien sind nur schwer in-                        Ekzem gibt“. Es wäre nicht ganz so absurd, aber lo-
       terpretierbar, da es viel zu wenig Vergleichsmöglich-                      gisch gleichwertig gewesen, hätte er auf das Buch eines
       keiten zwischen geimpften und ungeimpften Kohor-                           Kollegen oder eine Statistik verwiesen.
       ten gibt. Aber letztlich übersteigt all das die Expertise                  Gehen wir zur klinischen Dimension des Falles zu-
       eines einfachen Praktikers.                                                rück: Würde Herr Ernst ein 3. Mal impfen? Würde
       Wenn man aber in der eigenen Praxis einige solcher                         Herr Singh sein Kind ein 3. Mal impfen lassen? Nur
       Fälle gesehen hat und das nur bei der MMR-Impfung,                         weil eine Statistik oder ein Professor einen zufälligen
       dann kommt man einfach ins Nachdenken. Dann                                zeitlichen Zusammenhang von Ekzem und Impfung
       fragt man sich, ob die zuständigen Stellen, die jeden                      nahelegen? Vor solchen Situationen stehen wir regel-
       Zusammenhang zwischen Impfungen und Hirnschä-                              mäßig. Sie machen unsere klinische Praxis aus. Sol-
       digung verneinen, die jeden Zweifel heftigst, gelegent-                    che Abwägungsprobleme scheinen die Autoren nicht
       lich fast hasserfüllt beantworten, ob diese Personen                       zu kennen, auch wenn Ernst für sich anderes rekla-
       wirklich vertrauenswürdig sind. Ich persönlich glaube                      miert.15
       es eher nicht. Nach meinem Gefühl verhalten sich ver-                      Es ist möglich, dass Homöopathen mehr davon be-
       trauenswürdige Wissenschaftler und Ärzte anders.                           troffen sind, da Patienten, die ihren Krankheits-
                                                                                  prozess nicht hinreichend verstanden sehen, sich
       Dazu ein anderes Beispiel                                                  vermehrt der Homöopathie zuwenden. Es ist auch
       Eine Mutter brachte mir ein 15 Monate altes, ekzema-                       möglich, dass Homöopathen durch ihre sorgfältige
       tisches Kind. Das Ekzem hatte ca. eine Woche nach                          Anamnese Begleitumstände erkennen, die üblicher-
       der Polio-Impfung begonnen. Zwei Tage Fieber, dann                         weise übersehen werden. So wurde der mögliche Zu-
       waren ca. 20 % des Körpers mit ekzematischen Efflo-                        sammenhang von Verhaltensstörung und Impfung
       reszenzen bedeckt. Nach zwei Monaten wurde die                             beim oben genannten Kind erst durch mich im 5. Le-
       Impfung wiederholt, wobei sich das Ekzem auf 40 %                          bensjahr entdeckt, weil mir der plötzliche Rückschritt
       des Körpers ausgedehnt hatte. Es war ein schreck-                          in der Entwicklung verdächtig vorkam. Anhand von
       liches Bild. Die Mutter hatte folgende Frage: Besteht                      Krankenunterlagen und Fotos konnte der Verlauf
       ein ausreichender Impfschutz für das Kind? Denn sie                        exakt nachvollzogen werden. Dabei war das Kind
       wollte nach Afrika reisen. Es muss um 1990 gewesen                         schon von unzähligen Ärzten und Psychologen gese-
       sein, als es noch reichlich Poliomyelitis in Afrika gab.                   hen und untersucht worden. Sein Fall taucht natür-
       Natürlich war ich damit überfragt. Ich rief also in der                    lich in keiner Statistik auf.
       nächstgelegenen Uni an, ließ mich mit dem zustän-                          Meine Hypothese ist, dass beide Mechanismen, dif-
       digen Fachmann verbinden und fragte ihn, ob der                            ferenziertere Anamnese und schwierigere Fälle, eine
       Impfschutz des Kindes gewährleistet sei. Die Antwort                       Rolle dabei spielen.
       des Professors war: „Impfen Sie das Kind ruhig, denn                       Das gelegentlich fanatische Impfbedürfnis führt
       das Ekzem hat nichts mit der Impfung zu tun!“. Ich                         manchmal zu seltsamen Auswüchsen. So entwickelte
       war zunächst perplex. Meine Erklärung, dass die Er-                        ein Kind nach der ersten Fünffachimpfung eine aus-
       krankung in diesem Fall sehr wohl etwas mit der Imp-                       gedehnte Schwellung im Injektionsbereich. Nach der
       fung zu tun habe, empörte ihn geradezu. Er bestand                         zweiten Impfung produzierte es ein generelles Exan-
       darauf, dass es prinzipiell keinen Zusammenhang                            them und ein Quincke-Ödem. Der Kinderarzt des

       15   “Before critics reiterate what they have said so often before – ‚Ernst does not know what we have to deal with at the coal face of
            clinical practice‘ – let me pre-empt this by stressing that I was a clinician for many years and have even treated patients in a home-
            opathic hospital.” (19)

1.10   Homöopathie Konkret                                                                                                                       95
Wissenschaft

 Säuglings empfahl, die dritte Impfung unbedingt zu                         detailliert die Gefahren eines solchen Vorgehens er-
 machen, aber sicherheitshalber unter Intubations-                          klären.
 bedingungen im Krankenhaus. Die Eltern lehnten                             Die Malaria-Prophylaxe ist nur ein Beispiel, bei dem
 dankend ab.                                                                die Frage auftaucht, wo die Grenzen der therapeu-
 Ich denke, es ist allein durch diese Fälle einsehbar,                      tischen Möglichkeiten sind, wo eine Behandlung noch
 dass wir die Dinge gelegentlich kritischer sehen und                       vertretbar ist, wo ein Fall an den Spezialisten und/
 sehr viel vorsichtiger mit generellen Empfehlungen                         oder an ein Krankenhaus abgegeben werden muss. Es
 umgehen. Daraus eine unterlassene Hilfeleistung zu                         ist ein Thema, das in den homöopathischen Journalen
 konstruieren, wie es Singh und Ernst machen, ist als                       und Zirkeln nicht oder viel zu selten diskutiert wird.
 generelle Aussage nicht angemessen.                                        Wenig wird über das Versagen der Therapie berichtet,
                                                                            über Fehler, über Machtlosigkeit. Dafür sind die ho-
     Malariaprophylaxe                                                      möopathischen Journale voll von Erfolgsmeldungen.
                                                                            Diese vielen positiven Berichte vermitteln manchmal
 In einer Studie von Singh wurden zehn Homöopathen                          ein Gefühl von Allmacht, das geradezu dazu verleitet,
 in einer fingierten Patientenanfrage gebeten, eine                         die eigenen Grenzen falsch einzuschätzen.
 Empfehlung für eine Reise in ein Malariagebiet ab-
 zugeben (S. 231–234). Alle angefragten Therapeuten                           Natürlich gibt es eine berechtigte Sorge, dass jeder
 gaben die üblichen Empfehlungen ab (Nosode, Nat-                             Fehler eines Homöopathen ausgeschlachtet wird.
 m., Chin.). Keiner informierte die Patientin über die                        Singh und Ernst wären sicher die Ersten, dies zu
 Risiken einer solchen Empfehlung. Zudem erhoben                              tun. Wenn bei gleicher Wirksamkeit eine fiktive
 sieben der Kollegen nicht einmal deren Fallgeschich-                         Standardtherapie in 2 % der Fälle eine schädliche
 te. Das ist, selbst wenn es nicht repräsentativ ist, keine                   Wirkung zeigen würde, bei der Homöopathie
 Ruhmestat für ein Verfahren, das sich seiner Individu-                       aber in einem Fall, dann würden Singh und Ernst
 alisierung brüstet. Wo bitte – und das fragt in diesem                       diesen einen Fall als Beleg für die Schädlichkeit
 Fall nicht Herr Ernst – ist die Evidenz für ein solches                      der Homöopathie betrachten. Das ist nicht nur
 Vorgehen? Welcher dieser Homöopathen kennt die                               absurd. Es ist eine völlige Fehleinschätzung der
 Problematik der Malaria? Wer hat Erfahrung auf die-                          klinischen Wirklichkeit.
 sem Gebiet? Was gibt es für Referenzen für ein solches
 Vorgehen, außer unverbindlichen Empfehlungen16
 oder vereinzelten Fallschilderungen17?                                     Die Überschätzung der Wirksamkeit der eigenen The-
 Das ist, da haben Singh und Ernst völlig Recht, ein                        rapie ist ein generelles Problem der Medizin. Würden
 unverantwortliches Spiel mit der Gesundheit der Pa-                        Ärzte die NNT (number needed to treat) kennen, wä-
 tienten. Natürlich kommen Patienten zu uns, die in                         ren sie vermutlich sehr, sehr viel vorsichtiger mit ih-
 eine bestimmte Gegend reisen, aber die dafür emp-                          ren Wirkversprechen. Denn Zahlen von 1: 5 sind eine
 fohlene Malariaprophylaxe nicht einnehmen wollen.                          Rarität, während Zahlen von über 1: 20 eher die Re-
 Aber warum wollen sie das nicht? Und warum wollen                          gel sind (61). Das heißt, für einen Patienten, der von
 sie dann ausgerechnet in eine Gegend, in der es Ma-                        einer Therapie profitiert, werden 20 unnötigerweise
 laria gibt?                                                                therapiert, dafür werden alle den möglichen Neben-
 Sicher mag es Kollegen mit unbegrenztem Vertrauen                          wirkungen ausgesetzt. Oft wären andere, nicht-me-
 in diese Form der Prophylaxe geben. Es steht ihnen                         dikamentöse Therapien Erfolg versprechender, von
 und jedem Menschen frei, keine Prophylaxe einzu-                           einer homöopathischen Therapie ganz zu schweigen.
 nehmen. Aber man sollte Patienten sehr deutlich und                        Singhs Untersuchung zur Malaria-Prophylaxe bei

     16 Ravi Roy sagt: „Eine Doppelgabe Malaria officinalis C 200 wirkt über 6 Monate.“ Er nennt sein Verfahren dreisterweise auch noch
        „homöopathische Impfung“. (54)
     17 Michael Barthel verweist auf einige Fälle, bei denen er Nat-m. M als Malariaprophylaxe verwendet hat. Auch beschreibt er den

        Fall eines Technikers und seiner Frau, die zwölf Monate in einem Malariagebiet lebten, mit Nat-m. als einziger Prophylaxe. Sie hät-
        ten keine Malaria bekommen, während alle anderen Europäer trotz Malaria-Prophylaxe daran erkrankt seien. (5). Daraus jedoch
        eine generelle, gesicherte Therapie abzuleiten, ist nicht akzeptabel.

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Wissenschaft

       Homöopathen thematisiert also ein wichtiges Phäno-       Das Thema der Abwägung wird kaum diskutiert. Dazu
       men, das eingehend diskutiert gehört, auch von den       hat auch die evidenzbasierte Medizin beigetragen, die
       Homöopathen. Dass aber Singh auf der Grundlage           nach dem Motto funktioniert: „Every ill has its pill“.
       von 10 Befragungen eine wahre Hexenjagd inszeniert       Da dies schön durch Studien belegt ist, scheinen klare
       (60), ist weder angemessen, noch basiert es auf Evi-     Verhältnisse zu bestehen. Das wird allgemein sugge-
       denz, noch hat es mit der homöopathischen Therapie       riert. Das verfechten auch Singh und Ernst. Dies hat
       als solches zu tun.                                      in den letzten Jahrzehnten zu einer Medikalisierung
                                                                der Medizin geführt (38). Aber all das ist nur zutref-
                                                                fend, wenn man einen Faktor in Erwägung zieht, und
       Vom Pauschaldenken zur                                   selbst da nur begrenzt, wie das Beispiel der Otitis zeigt.
                                                                Kommen mehrere Faktoren ins Spiel, dann bricht das
       klinischen Evaluation                                    ganze Denksystem zusammen. So gibt es Studien, die
                                                                dem Rotwein, und nur diesem, eine gute Wirkung für
       Bisher ging es in dieser Kritik um Detailfragen zur      bestimmte Beschwerden bescheinigen, einschließlich
       Homöopathie. Es scheint mir jedoch wichtig, ein we-      Tierexperiment, Substanzanalyse usw. Dann gibt es
       nig den Kontext zu erhellen, in dem dieses Buch und      Studien, die dasselbe für den Weißwein zeigen und
       die Arbeit Singhs und Ernsts gesehen werden muss.        natürlich auch solche für Bier, aber eben für jeweils
                                                                andere Erkrankungen. Die einzelnen Effekte sind oft
         Man kann die Logik der Autoren in etwa so zu-          deutlich besser als die von stark umworbenen Medi-
         sammenfassen: Wenn in randomisierten Studien           kamenten. Wäre die logische Konsequenz, Patienten
         eine Therapie für ein Kollektiv besser ist als ein     aufzufordern, Rotwein und Weißwein und Bier zu
         Placebo, dann ist diese Therapie die beste The-        trinken? Wäre es richtig, einen Abstinenzler zum Al-
         rapie für den Einzelnen. Eine solche nicht anzu-       koholkonsum anzuhalten? Das ist klinische Evaluie-
         wenden, wäre unterlassene Hilfeleistung. Eine          rung.
         solche Herangehensweise ist für die klinische Pra-     Eine Therapie kann aus einem ganzen Bündel von
         xis leider nicht geeignet. Sie versagt schon bei der   Maßnahmen bestehen, aus einer konventionellen,
         einfachen Frage, ob ein Patient therapiert werden      medikamentösen Therapie, aus diätetischen Maßnah-
         soll oder nicht.                                       men, aus vermehrter Bewegung, Lebensordnung oder
                                                                Darmsanierung. Natürlich muss eine solche Therapie
                                                                auf den Einzelnen zugeschnitten sein, den Ressour-
       So sagen beispielsweise die Meta-Analysen zur Oti-       cen und Reaktionen des Patienten gerecht werden.
       tis (27, 53), dass eine antibiotische Therapie nicht     Vor allem muss jeder Schritt der Therapie anhand der
       besser wirkt als eine Placebo-Therapie. Daraus ab-       Entwicklung angepasst werden. Natürlich gilt das in
       zuleiten, dass bei einer Otitis die Gabe eines Anti-     gleichem Maße bei einer Monotherapie, vor allem bei
       biotikums unangebracht ist, ist ebenso falsch wie das    einer regulativen wie der Homöopathie.
       Gegenteil. Diese Meta-Analysen geben letztlich nur       Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass diese Eva-
       Hinweise, wobei im einzelnen Fall Faktoren gegen-        luierung nach bestimmten Prinzipien erfolgen sollte.
       einander abgewogen werden müssen, die in Studien so      Man benötigt eine individuelle Prognostik. Natürlich
       gar nicht vorkommen. Diese klinische Evaluierung ist     besitzt jeder Therapeut nach ein paar Jahren Tätigkeit
       oft schwierig. Ein abwartendes Vorgehen birgt andere     eine private, inoffizielle Theorie. Sie fällt unter das,
       Gefahren als eine forcierte Therapie. Durch Abwar-       was man Erfahrung nennt.
       ten kann es zu schwereren Verläufen kommen, wäh-         In der medizinischen Literatur wird diesem Thema
       rend bei der forcierten Therapie die unerwünschten       jedoch keine spezifische Bedeutung beigemessen.
       Wirkungen und Nebenwirkungen im Vordergrund              Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen fehlen die
       stehen. Aus der weit verbreiteten Furcht vor Kompli-     epistemischen Voraussetzungen. Die heutige Medizin
       kationen tendieren jedoch viele Ärzte zu einem for-      besitzt einfach keine Denkmodelle, die eine individu-
       cierten Vorgehen, obwohl ein abwartendes Verhalten       elle Prognostik erlauben. Neuerdings gibt es zaghafte
       angemessener wäre (42).                                  Ansätze auf der Basis der Systemtheorie, die als zu-

1.10   Homöopathie Konkret                                                                                               97
Wissenschaft

 kunftsweisend für Biologie und Medizin gilt (1, 2, 20).   All das ist sehr, sehr befremdlich. Im Grunde könnte
 Dabei sind eine ganze Reihe neuer Konzepte erfor-         man das Buch von Singh und Ernst getrost unter der
 derlich, beispielsweise das einer biologischen Hier-      Rubrik „Kuriositäten“ ad acta legen, wenn beide nicht
 archie (51). Ein anderer Grund für das Fehlen einer       mit missionarischem Eifer gegen die Homöopathie
 individuellen Prognostik ist bei Singh und Ernst in       und andere Verfahren zu Felde ziehen würden.
 Reinkultur vorzufinden. Die beiden Autoren lehnen
 die Beurteilung eines Einzelverlaufes ausdrücklich ab,
 betrachten das per se als unwissenschaftlich.             Georg Ivanovas
 Es wäre sicher interessant, diese Art von Wissen-         Praktischer Arzt
 schaftsbegriff detailliert zu untersuchen. Ich will je-   Platia Riga Feraiou 13
 doch abschließend nur auf eine Realsatire hinweisen.      71201 Heraklion
 Die alternativen Heilverfahren, allen voran die Ho-       Kreta, Griechenland
 möopathie, besitzen differenzierte Modelle zur Indi-      homeopathy@ivanovas.com
 vidualdiagnostik, Modelle, die auch im Einklang mit
 der Systemtheorie stehen. Es handelt sich dabei um
 empirische Beobachtungsstrategien, die den Verlauf        Die ausführliche Literaturliste und weiterführende
 einer Therapie und deren Einschätzung betreffen,          Links finden Sie auf der Wissenschaftsseite der Ho-
 also primär gar nichts mit der Frage, was wie wirkt, zu   möopathie Konkret unter http://www.homoeopa-
 tun hat. Diese Empirik beeindruckt eine große Zahl        thie-konkret.de/wissenschaft.html
 von Forschern (41). Wer jedoch absolut nichts davon
 wissen will, ist Edzard Ernst, der erste Lehrstuhlinha-
 ber für Alternativmedizin auf der Welt.

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