Bildzeitung goes science - Singhs und Ernsts bittere Pillen Homöopathie in der evidenzbasierten Medizin
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Wissenschaft Georg Ivanovas Bildzeitung goes science – Singhs und Ernsts bittere Pillen Homöopathie in der evidenzbasierten Medizin – Teil 3 Edzard Ernst ist vermutlich der bekannteste Kritiker der Homöopathie. Seine Argu- mente prägen deutlich den kürzlich erschienenen Bericht des britischen Parlaments zur Homöopathie, der quasi ein Verbot der Homöopathie nahe legt. Als aktiver Kritiker und so genannter „Skeptiker“ trägt Ernst wesentlich zur öffentlichen Wahrnehmung der Homöopathie bei. Seine Haltung und seine wissenschaftlichen Argumente finden sich detailliert in dem Buch Gesund ohne Pillen – was kann die Alternativmedizin, das er zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Singh, ebenfalls einem erklärten „Skeptiker“, geschrieben hat. Als typisches Beispiel der Haltung orthodoxer Wissen- schaftler und der Begrenztheit ihres Wissenschaftsverständnisses wird dieses Buch einer erneuten Analyse unterzogen. Das Buch Gesund ohne Pillen – was kann die Alter- • Das Buch von Singh und Ernst ist weiterhin eine nativmedizin von Simon Singh und Edzard Ernst wesentliche Informationsquelle und damit im (59) ist jetzt schon bald ein Jahr auf dem Markt. Es Rahmen der Auseinandersetzung mit der evidenz- hat seinerzeit viel Staub aufgewirbelt, ist eingehend basierten Medizin (EBM) relevant. und kontrovers diskutiert worden. Vor allem hat es • Edzard Ernst hält einen Stuhl für Alternativme- das Thema der Wirksamkeit der Homöopathie und dizin, den ersten der Welt, wie er selber schreibt anderer alternativer Verfahren in die allgemeine Dis- (S. 11). Allein dadurch sind seine Aussagen von kussion gebracht. Gewicht. • Ernst ist der renommierteste Kritiker der Homöo- Dass jetzt nochmals eine Rezension dieses Buches er- pathie. In diesem Buch finden sich die wesent- folgt, hat mehrere Gründe: lichsten seiner Argumente. 86 Homöopathie Konkret 1.10
Wissenschaft • Die Kritiken an Singhs und Ernsts Buch haben sich Artikel über die Wirkungslosigkeit der Homöopathie in aller Regel auf das Offensichtliche gerichtet, auf als ausgebildeten Homöopathen („the author is a die augenscheinlichen Übertreibungen und Feh- trained homeopath“) (14). Darauf könnte man ant- ler. Es wurde weniger auf eine differenzierte Be- worten: „May be. But very badly trained.“ trachtung Wert gelegt. • Es wurde viel zu wenig diskutiert, was aus dieser Unsicherheit Kritik zu lernen ist. Bei der Lektüre des Buches und der Auseinanderset- zung mit Ernsts Aussagen ist man oft unschlüssig, ob Vorbemerkungen Dinge des Effekts wegen in einer bestimmten Form dargestellt werden oder aus Unwissenheit. Das Buch Wissenschaftliche Verantwortung bedient sich einer parteiischen Sprache. Was die Ver- treter der Alternativmedizin machen, wird negativ, Singh ist Wissenschaftsjournalist. Das heißt, er kann mitunter als „Falschmünzerei“ bezeichnet (S. 299). und soll Meinung machen. Er sollte sorgfältig arbeiten, Alternativmediziner werden gar mit „Gaunern“ ver- aber es ist nicht seine Aufgabe, diffizile wissenschaft- glichen (S. 303–304). Dagegen werden Kritiker der liche Probleme wirklich zu verstehen.1 Das ist Ernsts Alternativmedizin in den lobendsten Worten be- Aufgabe. Es ist also angemessen, ihm die wissenschaft- schrieben, wobei die Autoren sich selbst nicht genug lichen Unschärfen und Fehler des Buches anzulasten. rühmen können: „Beide sind wir davon überzeugt, dass wir der Wahrheit näher kommen können als ir- Ausdrucksform und Argument gendjemand sonst . . . “ (S. 11–12). Natürlich gab es viele entrüstete Kommentare, man- Es ist in der Beurteilung dieses Buches nicht immer che sicher überzogen und ungerechtfertigt, ein wenig ganz leicht, zwischen Ausdrucksform und Argu- nach dem Prinzip, dass auf einen groben Klotz ein ment zu unterscheiden. Die gelegentlich aufreizende grober Keil gehört. Dass Ernst sich aber ernsthaft Darstellungsweise ist selbst schon Aussage an sich. darüber wundert und beteuert, er sei zwar nicht mit So lässt sich beispielsweise Ernst als „großen Geist“ Samthandschuhen an die Alternativmedizin herange- („great mind“) bezeichnen (58). Man muss das für eine gangen, aber es sei kein Buch gegen die Alternativ- stilistische Entgleisung halten. Selbst dem Übersetzer medizin gewesen2, ist in der Tat verwunderlich. Da schien es peinlich gewesen zu sein, denn er machte frage ich mich: Kennt er das Buch eigentlich? Oder daraus, etwas unschön, „starker Kopf“ (S. 107). Aber befindet er sich so weit außerhalb der üblichen Kon- es ist nun einmal auch die Aussage, dass der Inhalt des ventionen? Aber selbst, wenn die Autoren für sich den Buches und seine Schlussfolgerungen die eines großen Eindruck besitzen, dass ihr Buch eine objektive Dar- Geistes sind. Wie soll man mit solchen Äußerungen stellung eines Sachverhaltes ist, so hätten sie durch die umgehen? Soll man sie einfach unkommentiert ste- Reaktion aufmerksam werden können. Doch die Auf- hen lassen? Oder soll man sie als wissenschaftliche regung, die sie hervorriefen, schreibt Ernst allein der Hypothese („ist er oder ist er nicht?“) werten und Inkompetenz anderer zu3. Das lässt eine ganze Reihe darauf eingehen? In einigen Fällen muss man einfach von Rückschlüssen zu, die natürlich alle spekulativ etwas entgegnen. So bezeichnet sich Ernst in einem bleiben und letztlich keine Relevanz haben. 1 Singh steht derzeit vor Gericht. Der Verband der britischen Chiropraktiker hat Klage wegen Ehrverletzung erhoben. Eine solche Klage ist in Europa in dieser strengen Form scheinbar nur noch in Großbritannien möglich. Es handelt sich dabei um eine nicht hinnehmbare Situation, gegen die alle, die sich der freien Meinungsäußerung verpflichtet fühlen, schärfstens protestieren sollten. Dabei ist es unerheblich, ob man Singhs Aussagen und Vorgehen für richtig oder falsch hält. (Siehe Links.) 2 “It is a critical analysis of the main CAM (Complementary Alternative Medicine) interventions; but it is first and foremost an attempt to explain to non-professional readers what evidence is and why it is important. It goes without saying that some treat- ments do not come out smelling of roses, but the book is clearly not a book opposing CAM, but is a book emphatically in favour of reliable evidence.” (17) 1.10 Homöopathie Konkret 87
Wissenschaft Blick in den Spiegel fehlt, so hat sie doch darin Recht, dass es in der Ho- möopathie manchen absonderlichen Wildwuchs gibt. Das Buch ist eine Gratwanderung zwischen ernst- Und da es innerhalb der Homöopathie wenig Selbst- hafter Darstellung des Forschungsgegenstandes reinigungskräfte gibt, machen die Herren Singh und (Wirksamkeit alternativmedizinischer Verfahren) Ernst sozusagen eine Arbeit, die die Homöopathen und Pamphlet4. Eine wohlwollende Rezensentin selber nicht machen. Dass sie es nicht zur Zufrie- meinte beispielsweise, dass die häufige Nennung des denheit der Homöopathen machen, kann ihnen nun Begriffs „Wahrheit“ – worunter die Autoren natürlich wirklich nicht verübelt werden. Bei all der Entrüstung, ihre eigene Ansicht verstehen – „einem durchschnitt- die dieses Buch im Kreis der alternativen Heilverfah- lichen US-amerikanischen Fernsehprediger alle Ehre ren hervorgerufen hat, so haben doch viele schlicht machen würde“ (3). in den Spiegel geschaut. Singh und Ernst haben nicht All das tut der Lesbarkeit jedoch keinen Abbruch. mit der selbstgefälligen Haltung begonnen. Ihr Buch Im Gegenteil. Das Buch ist flüssig geschrieben, leb- ist parteiisch, wissenschaftlich zweifelhaft und im Stil haft und ein Genuss für diejenigen, die gerne strei- einfach schlecht. Aber ein besserer Standard war auf ten. Für einen ernsthaften Arzt und Therapeuten und Seiten der Homöopathen in der Vergangenheit viel zu erst Recht für einen überzeugten Homöopathen ist es selten zu finden. Dass dieser sich in letzter Zeit verbes- jedoch eine schwer verdauliche Kost, die nur mit ei- serte – und es ist wichtig, das zu verstehen – verdankt ner regelmäßigen Dosis Ignatia, Staphisagria oder gar die Methode auch Leuten wie Singh und Ernst. Es einem Betablocker unbeschadet überstanden werden geht also darum, die Unzulänglichkeiten dieser Kri- kann. tik klar und deutlich zu formulieren und sich dabei So weit, so gut. Aber das Ganze hat einen Pferdefuß. gleichzeitig Gedanken zu machen, was an der Kritik Die Ausdrucksweise des Buches gleicht, wie bereits berechtigt sein könnte. gesagt, über weite Strecken mehr den Produkten der Boulevard-Presse als einer ernsthaften Darlegung. Da- rüber hinaus charakterisiert das Buch eine herablas- Unzulänglichkeiten des sende, gelegentlich arrogante, mitunter altväterliche Haltung gegenüber den unwissenden Dummerchen, Buches die „abstruses Zeugs“ treiben. Eine solche Haltung findet sich bei vielen Kritikern der Homöopathie, Das Buch von Singh und Ernst ist voller Widersprü- auch wenn sie weder die nötigen wissenschaftlichen che und Inkonsistenzen6. Diese beruhen, so weit sich noch menschlichen Kompetenzen besitzen, die es ih- das aus dem Text erschließen lässt, auf einem man- nen erlauben würden, zu all jenen Schlussfolgerungen gelnden Verständnis folgender Punkte: zu kommen, zu denen sie kommen. Die Heftigkeit, • Der evidenzbasierten Medizin, die auch in diesem Buch zu finden ist, muss verwun- • der regulativen Verfahren, insbesondere der Ho- dern. möopathie und Die Psychodynamik der Homöopathie-Kritik ist je- • dem Wesen des Placebo-Effektes. doch nicht von Interesse5. Viel wichtiger ist: Auch wenn diese Art der Kritik oft übertrieben ist, auch Ernst bezeichnet die alternativen Heilverfahren weit- wenn ihr oft jedes klinische Gespür und Verständnis gehend als Placebo-Therapien, allen voran die Ho- 3 “This begs the question, why are so many people so annoyed at an honest attempt to explain what reliable evidence is and what it tells us? There may be more than one answer to this question, but I think the main one is that they cannot tolerate anyone seriously questioning their belief. The crucial term here is ‚belief‘. For many, CAM is not medicine, science, health care, etc., it is a belief that cannot and must not be doubted – doubting is a sin, and sinners must be punished!” 4 „Ein Pamphlet oder eine Schmähschrift ist eine Schrift, in der sich jemand engagiert, oft polemisch, zu einem wissenschaftlichen, religiösen oder politischen Thema äußert.“ (Wikipedia) 5 Für den Autor dieses Artikels („a trained psychotherapist“) sind natürlich die Mechanismen der Verdrängung und Projektion of- fensichtlich. 6 „Inkonsistenz (v. lat. in- „nicht“, con- „zusammen“, sistere „halten“) bezeichnet einen Zustand, in dem zwei Dinge, die beide als gültig angesehen werden sollen, nicht miteinander vereinbar sind.“ (Wikipedia) 88 Homöopathie Konkret 1.10
Wissenschaft möopathie. Die wissentliche Verwendung von Pla- se bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholen7. cebo-Effekten hält er für unethisch (S. 299). Das ist Gravierend ist jedoch, dass diese Art des logischen ein Punkt, über den man durchaus diskutieren kann, Schlusses mangelhaft ist. Die Autoren vernachlässi- wobei es dabei ganz wesentlich auf die Definition von gen grundlegende Erkenntnisse der Physiologie und „Placebo“ ankommt, die im Buch gelegentlich wech- der Placebo-Forschung. selt. Der nächste Schritt in Ernsts Argumentation ist, Aber selbst in Fällen, in denen die Autoren die wi- dass auch die orthodoxe medikamentöse Therapie dersprechenden Fakten kennen (wie bei Punkt 3), in gleicher Weise einen Placebo-Effekt aufweist, dass scheinen sie nicht in der Lage zu sein, die richtigen also zu der Wirkung des orthodoxen Medikaments Schlüsse daraus zu ziehen. Sie pflegen eine bruch- die Placebo-Wirkung hinzukommt (S. 302). Diese stückhafte, inselartige Form des Argumentierens, die Aussage ist in mehrfacher Hinsicht falsch: sich zwar auf handverlesene Fakten stützt, wobei diese aber nicht in ein generelles medizinisches Verständ- • Es gibt in biologischen Systemen keine Additivi- nis eingebettet werden. Bei Lücken in der Argumen- tät. Biologische Systeme sind offene, nonlineare tation wird dann stets auf randomisierte Studien als Systeme, die nach anderen Gesetzen funktionie- Rettungsring verwiesen. ren als das triviale System einer Registrierkasse (8). Wissenschaftlicher Hintergrund • Die Placebo-Forschung belegt diesen nonlinearen Charakter. Eine Placebo-Gabe kann die gleichen Ernst ist Inhaber eines Lehrstuhls an der Peninsula Signalwege benutzen wie das pharmakologisch Medical School, der Universities of Exeter & Ply- aktive Mittel, das Verum (24, 46). Das heißt, Pla- mouth. Sein Fachbereich ist „Complementary Medi- cebo und Verum üben denselben Stimulus auf den cine“ (44). Die Qualifikation zu diesem Lehrstuhl und Organismus aus. Hier eine Summierung der Akti- die praktische Kenntnis der alternativen Heilverfah- vität anzunehmen, widerspricht den Kenntnissen ren, allen voran der Homöopathie, erwarb er, nach der Physiologie. Das Placebo kann auch andere eigenen Angaben, durch eine halbjährige Assistenz- Signalwege verwenden als das Verum (35). Auch zeit in einem Krankenhaus für Naturheilverfahren in hier kann nicht von einer Additivität ausgegangen München, die er direkt nach seinem Studium absol- werden. Eine Vielzahl von Interferenzen ist mög- vierte (12, 45). Im Buch spricht Singh zwar davon, lich, von Synergien bis hin zu einer gegenseitigen dass Ernst darüber hinaus noch viele Jahre weiter Inhibition, die als solche auch schon bestätigt homöopathisch gearbeitet habe (S. 177), aber Ernst wurde (7, 48). selber widerspricht dem an anderer Stelle (18). Wie • In den randomisierten Studien, in denen die Ho- dem auch sei, all das ist für einen „trained homeo- möopathie im Vergleich zu einer standardisierten path“ nicht sehr viel. Vergleichbar wäre die Ernen- medikamentösen Therapie geprüft wird, schnei- nung eines Professors für Chirurgie nach einem hal- det die homöopathische Therapie stets besser ab ben Jahr Assistenz in einer chirurgischen Ambulanz. als medikamentöse Standardtherapie (Wirkungs- paradox) (30). Das dürfte nach Ernsts Logik gar Es ist also auf den ersten Blick nicht erstaunlich, nicht vorkommen. Folgt man seiner Argumenta- dass Ernst grundlegende Mechanismen der Na- tion, dann müsste zu der Wirkung der medika- turheilkunde wie Individualisierung, Umstim- mentösen Standardtherapie die Wirkung der ho- mung oder krisenhafte Verläufe nur oberfläch- möopathischen Therapie dazukommen. lich zu kennen scheint, beziehungsweise sie für eine Ausgeburt homöopathischer Fantasie hält Ernsts und Singhs Hypothese ist somit falsch und wi- (S. 231–232). Er hat damit natürlich Unrecht. derspricht jeder Evidenz, auch wenn die Autoren die- 7 Zum Beispiel: “If we prescribe an effective treatment with the same dedication, time, empathy etc. as homeopaths would pre- scribe the homeopathic placebo, patients will benefit from both the non-specific (placebo) effects and the specific effects of the treatment.” (19) 1.10 Homöopathie Konkret 89
Wissenschaft Das zeigen alle Untersuchungen von Heilungs- hat, individuelle Therapien zu leiten, besitzt weder das prozessen, wie sie insbesondere in der Chrono- entsprechende theoretische noch empirische Wissen, medizin gemacht wurden (28). Allein, dass er das eine maßgeschneiderte Medizin erfordert. Nur, diese Forschungen nicht kennt, ist im Grunde ver- dieser Vorwurf kann für Ernst nicht gelten. Er war wunderlich, da sie das Thema seines Lehrstuhls un- lange Jahre Professor für physikalische Medizin und mittelbar betreffen. Rehabilitation, zunächst an der Universität Hannover Aber Ernst geht noch weiter. Er verwirft das gesamte und später in Wien (45). Physikalische Medizin und empirische Wissen der regulativen Verfahren, lehnt Rehabilitation basieren geradezu auf einem indivi- Einzelbeobachtungen kategorisch ab, betrachtet sie duellen Verständnis des Falles, auf einer detaillierten für vernachlässigbar und überholt (S. 162; 23). Das Analyse der regulativen Reserven des Patienten, auf ist nun geradezu verblüffend. Medizin beruht auf Ein- deren gezielter Förderung. Es ist eines dieser Rätsel, zelbeobachtungen!8 Zugegeben, das Thema ist eine warum dieses Wissen nicht in seine Arbeit über alter- Büchse der Pandora, aus der Schreckgestalten wie native Therapien mit eingeflossen ist. Induktion und Deduktion aufsteigen. Jahrhunderte lang wurde erbittert über die richtige Erkenntnis- Mangelnde Kenntnis regulativer theorie gekämpft, wurde das Thema Realität, Kau- Verfahren salität und deren Wahrnehmung in verschiedenster Hinsicht untersucht (32). Aber für Ernst gibt es zu Eine wesentliche Schwierigkeit von Ernsts Zugang allen ontologischen Fragen nur eine Antwort: rando- zu den alternativen Heilmethoden zeigt sich schon misierte Studien (15). bei seiner Definition. Für ihn fällt unter den Begriff Alternativmedizin („complementary and alternative Sicher hat die statistische Sichtweise eine gewisse medicine“) alles an medizinischer Praxis, was nicht Bedeutung, aber man darf sie nicht überschät- den Standards der medizinischen Gemeinschaft ent- zen. Statistik ist, wenn ein durchschnittlich 1,68 spricht (13)10, oder, etwas milder ausgedrückt: Alles, m großer Mann in einem durchschnittlich 1,43 m was nicht von der Mehrheit der Schulmediziner an- tiefen See ertrinken kann. Das heißt, individuelle erkannt wird (S. 9). Diese Definitionen unterscheiden Prozesse verlieren in der statistischen Sichtweise sich allenfalls graduell von Definitionen zu Quacksal- ihre Bedeutung. berei, für die er die Homöopathie erklärtermaßen hält (55). Singh und Ernst werden in ihrem Buch sogar noch deutlicher. Sie betonen, dass, wenn eine Das ist in manchen Zusammenhängen sehr nützlich. alternative Therapie wirklich wirken würde, sie nicht Aber es lässt sich nicht verallgemeinern. Schlimmer mehr alternativ wäre, sondern konventionell würde noch, in der rein statistischen Sicht gibt es keinerlei (S. 349). Das ist eine gewagte Hypothese, deren Wi- Beobachtungsstrategie für Verläufe, für ihre Eigen- derlegung hier nicht Thema sein soll. Man könnte auf heiten, für ein (eventuell) regelhaftes Geschehen, die Schnelle allenfalls an die Symbioselenkung erin- sozusagen das Kernstück naturheilkundlichen Han- nern, die es jetzt gut 90 Jahre gibt, aber trotz guter delns. Statistik ist auch eine deutliche Absage an eine Beweislage immer noch „alternativ“ ist. maßgeschneiderte, auf den Patienten abgestimmte Medizin. Sie ist eine Absage an Verständnis und Em- Das Problem mit der Quacksalber-Definition ist, pathie9. dass sie keine Grundlage für einen wissenschaft- All das ließe sich leicht mit einem fehlenden Verständ- lichen Diskurs schafft. Sie lässt allenfalls Kon- nis für klinische Prozesse erklären. Wer es nie gelernt 8 Wer Beispiele sucht, wie Einzelbeobachtungen schön geordnete Weltbilder durcheinander bringen, sei auf die Beschreibungen von Oliver Sacks zu neurologischen Störungen verwiesen. 9 Es gibt in dem Buch eine erstaunliche Stelle, wo die Autoren einen Fall beschreiben, in dem die intuitive Empathie über die evi- denzbasierte Medizin siegt (S. 100). Sie wirkt wie ein Fremdkörper, steht im Gegensatz zum übrigen Text. Es wird auch keine Schlussfolgerung daraus gezogen. Vielleicht soll sie zeigen, dass auch „Evidenzler“ zu Mitgefühl fähig sind. 10 “Medical practices which do not conform to the standards of the medical community.” 90 Homöopathie Konkret 1.10
Wissenschaft Um ein Beispiel für eine homöopathische (Placebo-) frontation zu. Sicher, es ist nicht einfach, eine Therapie zu geben, wird dann die Behandlung einer geeignete Definition für die alternative Medizin oder Naturheilverfahren zu finden. Aber es gibt Verbrennung beim Grillen mit Cantharis geschildert. Möglichkeiten, mehr den phänomenologisch- Der Fall stammt aus einem belanglosen Laien-Buch klinischen Aspekt dieser Therapien hervorzuhe- über die Homöopathie (62). Natürlich wird darauf ben. Eine solche Definition wäre beispielsweise: hingewiesen, dass eine vergleichbar schnelle Rück- Alternativmedizin oder Naturheilverfahren sind bildung auch bei einer Spontanheilung zu erwarten Methoden, welche die innere Regulation des gewesen wäre (S. 161). Wenn für die Autoren diese Organismus beeinflussen, sodass er ein besseres Anekdote und diese Wissensquelle das Wesentliche inneres Gleichgewicht und/oder eine größere Ro- ist, was ihnen zum Thema homöopathische Hei- bustheit entwickelt (modifiziert nach 56). lungen einfällt, dann ist es wirklich sehr schlecht um Ernsts Kenntnis der homöopathischen Praxis bestellt. Möglich ist aber, dass ein Fall ausgewählt wurde, Diese Definition eröffnet eine Plattform, auf der eine der möglichst unspektakulär und beliebig ist, damit Diskussion mit klaren wissenschaftlichen Prinzipien er besser in die Argumentationskette passt, was ei- möglich wäre. Natürlich würden dabei einige na- nige Placebo-Beispiele an anderer Stelle nahelegen turheilkundliche Verfahren nicht mit berücksichtigt (S. 298). Das wäre dann aber zutiefst unredlich. werden, beispielsweise eine Phytotherapie, die einem Wie immer es auch sein mag, man muss Ernst fun- reduktionistischen, nicht regulativen Therapiekon- damentale Lücken in der Kenntnis der Homöopathie zept folgt. Es ist kein Zufall, sondern inhärente Logik, bescheinigen, auch wenn er von sich selbst behauptet, ein prinzipielles Missverständnis regulativer Prozesse, das Ähnlichkeitsprinzip zu verstehen11. Die Unter- dass Ernst allein dieser Form der Phytotherapie eine scheidung zwischen einer Therapie mit potenzierten gewisse therapeutische Wirksamkeit zuspricht. Substanzen und einer homöopathischen Therapie Ganz sicher kann es jedoch auf der Basis des Quack- mag ihm vielleicht geläufig sein. Relevant ist sie für salber-Paradigmas keine brauchbare Forschung zu ihn nicht. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob alternativen Verfahren geben, kein Verständnis regu- eine Therapie nach dem Ähnlichkeitsgesetz konzipiert lativer Prinzipien, keinen Beobachtungsaustausch mit oder diagnosebedingt mit stets demselben Mittel be- der orthodoxen Medizin, keine Bereicherung der the- handelt wird. Zumindest spielt das für ihn in der Be- rapeutischen Konzepte durch individuelle Beobach- urteilung von Wirksamkeitsstudien keine Rolle (14). tungsstrategien. All das kann man von Ernst beim Geradezu verstörend ist seine vehemente Attacke ge- besten Willen nicht erwarten. gen das potenzierte Mittel Oscillococcinum (S. 178– 179), das nun mit der homöopathischen Thera- Mangelnde Kenntnis der pie wirklich nichts zu tun hat.12 Entsprechend wäre Homöopathie vielleicht der Vorwurf, dass die Pharmakotherapie deshalb abzulehnen sei, da chinesische Kellerunter- Das Buch von Singh und Ernst widmet ein Kapitel der nehmen die Fitness-Zentren Europas mit dubiosen Homöopathie. Darin wird deren Geschichte informa- Anabolika überschwemmen. Dies kann kein Verse- tiv und wenig einseitig dargestellt. Singh ist ein sehr hen sein, denn dieses Mittel kommt auch in seinen guter Wissenschaftsjournalist, dem es in aller Regel wissenschaftlichen Artikeln vor (14). gelingt, schwierige Zusammenhänge einleuchtend Dass die Autoren nur Schmähungen über die Ver- darzustellen. Natürlich nimmt die Potenzierung, die wendung von Berliner Mauer C 30 übrig haben jeden wissenschaftlich denkenden Menschen verwir- (S. 304), sei ihnen unbenommen. Aber zumindest ren muss, einen großen Raum ein. Ernst, als ausgebildetem Homöopathen, sollte ge- 11 „Many years ago, I have worked as a homeopath and therefore understand the concepts of homeopathy (e.g. like cures like and dilution increases effectiveness).” (18) 12 Oscillococcinum ist, laut Wikipedia, ein aus Entenleber potenziertes Mittel eines französischen Herstellers, das bei grippeartigen Symptomen hilfreich sein soll. Es ist in der Homöopathie völlig unbekannt. Es gibt dafür wohl keine Arzneimittelprüfung und es wird nicht nach dem Ähnlichkeitsgesetz verschrieben. 1.10 Homöopathie Konkret 91
Wissenschaft läufig sein, dass dies nicht homöopathische Praxis rangieren die Nebenwirkungen von Arzneimitteln auf ist, kein ernstzunehmender Beitrag zur homöopa- Platz 4 bis 6 der Liste der Todesursachen (34). thischen Therapie. Zur Feststellung schwerer, aber seltener Nebenwir- Einen vollständigen Mangel an Kenntnissen der kungen von Medikamenten sind randomisierte Stu- Homöopathie beweisen die Autoren schließlich mit dien wenig geeignet (65). Solche werden durch Ein- der aberwitzigen Behauptung, dass eine mögliche zelbeobachtungen entdeckt, wie beispielsweise die Wirkung homöopathischer Mittel auf eine Verun- Rhabdomyolyse durch Baycol/Lipobay (64). Dazu reinigung mit Steroiden und/oder anderen pharma- kommt, dass in der Praxis sehr oft Menschen behan- zeutischen Substanzen zurückzuführen sein könnte delt werden, für die es gar keine Evidenz gibt, da für (S. 232). ihren Fall gar keine Studien vorliegen (37). Dazu ge- hören beispielsweise die 20–50 % der psychiatrischen Glorifizierung der EBM Fälle, die laut DSM IV in die „nos-Kategorie“ (not otherwise specified) fallen (26). Die Schätzung, dass Ernst, das lässt sich widerspruchsfrei sagen, ist ein einer von 12 Patienten die falsche Medizin verschrie- überzeugter Verfechter der evidenzbasierten Medizin. ben bekommt (50), ist vermutlich untertrieben. Eines Ihre eingeschränkte Aussagekraft ist für ihn kein The- der vielen, vielen Probleme ist der hohe Antibiotika- ma (16). Auf Argumente, die ihre Begrenzungen im konsum, das „Heranzüchten“ resistenter Erreger (36), Allgemeinen und für die Naturheilverfahren im Spe- die Störung der Darmflora, die langfristige Störungen ziellen belegen, geht er allenfalls beiläufig ein. Es ist wie Allergien (4, 49, 43) oder möglicherweise sogar also nicht verwunderlich, dass er randomisierte, dop- Krebs (66) verursachen kann. pelblinde Studien als die „bestmögliche Evidenz“ zur Einer offiziellen Schätzung nach sind allein in Beurteilung von Naturheilverfahren betrachtet. Das Deutschland etwa 1,4 Millionen Menschen in ir- einzige Problem, dünkt ihm, dass die EBM für das gendeiner Weise medikamentenabhängig, mehr als allgemeine Publikum „kalt“ wirken könnte (S. 40). von Alkohol (6). Man könnte dies einfach als den Standpunkt eines Allein solche Zahlen könnten nachdenklich machen. Wissenschaftlers betrachten, der sich vollständig einer Aber selbst wenn die Herren Singh und Ernst mit sol- bestimmten Sache verschrieben hat und wenig kritik- chen Daten nicht vertraut wären, so haben sie schon fähig ist. Aber der strittige Punkt ist ein anderer. vom Vioxx-Skandal oder der WHI-Studie zur Hor- Ernst und Singh vertreten die Meinung, dass die kon- monersatztherapie gehört, die beide ganz deutlich die ventionelle medikamentöse Therapie jeder Form von Grenzen der evidenzbasierten Medizin aufzeigen. Alternativmedizin vorzuziehen sei (S. 247), besonders Dazu kommt, dass die Realität der derzeitigen medi- der Homöopathie. Um dies besser beurteilen zu kön- kamentösen Therapien alles andere als rosig ist. Phar- nen, müssen wir uns einmal die Realität der konven- mafirmen manipulieren, lügen, bestechen, beeinflus- tionellen medikamentösen Therapie ansehen: sen Ärzte, wissenschaftliche Zeitschriften und Patien- Schwere, auch tödliche Nebenwirkungen werden er- tenhilfsorganisationen, gestalten also die Wahrneh- heblich unterschätzt. Nur 6 % der Nebenwirkungen mung der Wirksamkeit von Effektivität (29). von Medikamenten werden der zugehörigen Thera- Es findet genau das statt, was Singh und Ernst gegen pie zugeordnet (11, 57). Meistens werden sie als bezie- die Homöopathie anführen: „. . . wer den überzeu- hungslos betrachtet (10). 6,5 % der Krankenhausein- gendsten Werbefeldzug unternimmt, hat die größten weisungen in England (47) und 3 % der Todesfälle Chancen, seine Meinung durchzusetzen, ohne Rück- in Schweden sind Folge einer Arzneimittelnebenwir- sicht darauf, ob sie richtig oder falsch ist.“ (S. 9) kung (67). In Ländern mit höherem Medikamenten- konsum, wie Griechenland oder Frankreich (25, 39), In einem solchen Umfeld ist es nicht einfach, wird der Prozentsatz vermutlich höher sein. In der die richtige Strategie für den Patienten zu entwi- Tat ergab eine Untersuchung in spanischen Kranken- ckeln. Und in keinem Fall sollten sich Vertreter häusern, dass 6 von 100 Patienten an der Folge von der Schul- und Alternativmedizin auf ein so ho- Arzneimittelnebenwirkungen verstarben und nicht an hes ethisches Ross setzen, wie Singh und Ernst ihren Erkrankungen (63). In den Vereinigten Staaten 92 Homöopathie Konkret 1.10
Wissenschaft vidualisierung mehr entspricht. Je statistisch valider es tun. Dies ist, meiner Ansicht nach, der wesent- eine Studie ist, desto sicherer wird das Verfahren als liche Fehler des Buches. solches besser als eine Standardtherapie abschneiden, ohne dass eine Zuordnung zu einer definierten Inter- Beispielsweise sagen die Autoren, dass die Homöo- vention möglich ist. In beiden Fällen schneidet jedoch pathen ihre Augen vor der Forschung verschließen. das regulative Verfahren besser ab als die orthodoxe Denn wenn sie das nicht täten, dann müssten sie ihre Standardtherapie. Ich habe das als Wirkungsparadox Patienten anlügen, um überhaupt einen (Placebo-) bezeichnet: „Eine unwirksame Therapie ist wirksamer Effekt zu erzielen (S. 297–301). Wenn die Homöo- als eine wirksame Therapie“ (30). pathen wahrhaftig wären, müssten sie sagen: Nun müsste dieses Wirkungsparadox eine gewisse „Nimm dieses Mittel. Es ist nichts drin und die wis- Irritation hervorrufen. Denn irgendwo steckt in die- senschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass es ein sem ganzen Geflecht ein logischer Fehler. Es ist ge- reines Placebo ist. Aber es mag trotzdem etwas hel- radezu absurd. Niemand auf der Welt wäre besser fen.“13 geeignet, über dieses Phänomen nachzudenken und Wollen wir die Aussage ein wenig abändern. Wenn Modelle dazu zu erstellen, als Ernst (Lehrstuhl für die konventionellen Therapeuten wahrhaftig wären, Komplementärmedizin und Schwerpunkt Wirkungs- dann müssten sie sagen: nachweis), aber bei ihm kommt das Thema über- „Nehmen Sie dieses Mittel. Die Wahrscheinlichkeit, haupt nicht vor. Im Gegenteil, die Autoren schließen dass es Ihnen hilft, liegt nach Untersuchungen bei aus diesen Ergebnissen auf die „Unwirksamkeit der höchstens 10–20 %. Aber letztlich kann für Sie gar Homöopathie“, und zwar mit der Hypothese, dass keine Aussage gemacht werden. Es kann auch sein, die Therapien nicht wirken würden, wenn die Leu- dass die Therapie erhebliche Nebenwirkungen hat. te wüssten, dass die Homöopathie in Studien keinen Möglicherweise ist das Mittel viel, viel schädlicher als spezifischen Effekt hat. bekannt ist, denn es wird so viel vertuscht. Von den Als ob das nicht schon hypothetisch genug wäre, geht meisten Nebenwirkungen erfahren wir gar nichts. die argumentative Kette der Autoren noch weiter. Außerdem sind viele Fürsprecher dieser Therapie den Studien legen nahe, dass die homöopathische Thera- Pharmafirmen verpflichtet. Übrigens auch eine große pie entweder kostengünstiger als die konventionelle Anzahl medizinischer Zeitschriften. Aber das Mittel Standard-Therapie ist (52) oder bei gleichen Kosten mag trotzdem helfen“. effektiver (68). Als eine Übersichtsarbeit zur Kosten- All das ist einfach schlechter Stil, eine Art der Darstel- effektivität der Homöopathie durchgeführt werden lung, die eher in die Boulevard-Presse gehört als in ein sollte, der Smallwood-Report, bat man Ernst, da- ernsthaftes Buch. ran mitzuarbeiten. Dieser lehnte aus methodischen Gründen ab (22). Schließlich bescheinigte der Small- Effektivität der Homöopathie wood-Report der Homöopathie, eine kostengünstige Alternative zu sein. Dieses Ergebnis weisen Singh und In ihrem Buch greifen die Autoren nicht auf Ernsts Ernst mit folgender Argumentation zurück: Da die eigene Forschungsarbeiten zur Wirksamkeit der Ho- Homöopathie nicht wirkt und wirken kann, so kann möopathie zurück, sondern beschränken sich darauf, sie nicht kostengünstiger sein, sondern ist allenfalls die Geschichte der beiden Meta-Analysen des Lancet gefährlich (S. 295). Dieses ganze Konstrukt ist weder darzustellen. Dieses Thema wurde an anderer Stelle logisch evident, noch entspricht es dem Stand der evi- detailliert analysiert (29). Zusammenfassend lässt sich denzbasierten Forschung. sagen: Die Studien der letzten Jahre zu den regulativen Komplikationen Verfahren, zur Homöopathie und zur Akupunktur zeigen, dass ein Effekt umso wahrscheinlicher ist, je Da Singh und Ernst die Homöopathie für ineffek- kleiner und praxisnäher die Studie ist, also der Indi- tiv halten, können sie sich auch keine anderen Ne- 13 “Take this remedy, there is nothing in it and the evidence shows it is a pure placebo, but it might still do you some good.” (19) 1.10 Homöopathie Konkret 93
Wissenschaft benwirkungen dieser Therapie vorstellen, außer der gespart werden könnte. Ich will deshalb versuchen, unterlassenen Hilfeleistung. Um diese zu beurteilen, das Thema klinisch ein wenig anzureißen. bedienen sie sich folgender Methode: Eine Testperson Das Thema Impfung ist zu einem Glaubenskrieg de- geht als fingierter Patient zu einem Homöopathen generiert, bei dem es blinde Gegner und blinde Be- und bittet um eine Empfehlung zu bestimmten The- fürworter gibt. Medizinischer Sachverstand ist dabei men. Natürlich ist das mehr investigativer Journalis- weniger gefragt. Mit geradezu religiösem Eifer ist man mus als Wissenschaft und natürlich sind die daraus entweder für oder gegen „die Impfung“. Dabei ist gezogenen Schlussfolgerungen mehr als zweifelhaft. irgendwie gleichgültig geworden, ob es um Diphthe- Natürlich ist diese Form der verdeckten Ermittlung rie oder Varizellen, um Gelbfieber oder Grippe geht. (so als ob Homöopathen Verbrecher wären) in be- Manche Homöopathen argumentieren, als ob Jen- liebiger Weise manipulierbar. Kurz, dieses Verfahren ner seine Kuhpockenimpfung ausprobieren möch- weist all die Mängel auf, die dem Skandaljournalis- te. Und die Vertreter der orthodoxen Seite spinnen mus angekreidet werden. Sowohl dem Verfahren als aberwitzige Ausrottungsszenarien aus dem vorigen auch dessen Ausschlachtung haftet etwas Unsolides Jahrhundert.14 Da wird dann den Homöopathen, den an. Aber vor allem widerspricht es Ernsts eigenem Anthroposophen oder gar einer Hebamme die Schuld Credo „emphatically in favour of reliable evidence“ gegeben (9), dass nicht funktioniert, was nicht funk- (17) zu sein. tionieren kann. Worauf sind die Autoren bei ihrer Forschung gesto- ßen? Impfkomplikationen in der Praxis Ein 14 Monate alter Junge, der sich bis dahin normal Impfungen entwickelt hatte, wurde gegen MMR geimpft. Am 8. und 9. Tag, also zur Zeit der Virämie, kam es zu einem Eine wesentliche Bedrohung durch die Homöopathie unspezifischen Exanthem und hohem Fieber, das an- sehen Ernst und Singh in der impfkritischen Haltung tipyretisch behandelt wurde. In den nächsten Tagen vieler Homöopathen. Das hat zunächst nichts mit der entwickelte sich ein ausgedehnter, bullöser Ausschlag Methode als solcher zu tun. Aber es ist richtig, dass am Körper. Dieser wurde als allergisch gedeutet und viele homöopathische Kollegen nicht den Impfemp- dem Kind hochdosiert Steroide verabreicht. Innerhalb fehlungen der STIKO und sonstiger Organisationen von wenigen Tagen hörte das Kind auf zu sprechen, folgen. Richtig ist auch, dass es unter den Homöo- wurde völlig verhaltensgestört, was ihm Jahre später pathen sehr impfkritische Kollegen gibt. Richtig ist die Diagnose Autismus einbrachte. Es handelte sich auch, dass Impfkritiker zur Homöopathie neigen. dabei aber wohl eher um eine (post-)infektiöse zere- Und richtig ist auch, dass dabei ganz viel wirres brale Schädigung. Der typische Autismus weist keine Zeugs geredet wird. Dass das Phänomen jedoch nicht so plötzliche Wesensänderung auf, ist nicht durch generalisiert werden kann, zeigt beispielsweise eine solche dramatischen Rückschritte in der Entwicklung Befragung belgischer Ärzte, die Ernst selbst in sei- charakterisiert. ner Zeitschrift FACT zitiert. Keiner der 40 befragten Sicher wird es Kollegen geben, die hier keinen Zusam- Teilnehmer lehnte Impfungen generell ab. Keiner be- menhang zu der Impfung sehen wollen. Sie mögen hauptete, homöopathische Mittel könnten diese er- auf die Statistik verweisen oder von einem zufälligen setzen. Vorbehalte hatte etwa die Hälfte der Kollegen Erscheinen dieser Symptomatik nach der Impfung jedoch bei bestimmten Impfungen (21). sprechen. Man könnte, der üblichen Logik folgend, Nun ist das Thema viel zu komplex, als dass es auch sogar einen Nocebo-Effekt postulieren, wenn die nur stichwortartig hier abgehandelt werden könnte. Eltern ängstlich gegenüber der Impfung gewesen Es ist aber auch zu bedeutsam – Singh und Ernst ver- wären. treten ihre Ansicht nicht nur im Buch, sondern auch Die Diskussion, ob die MMR-Impfung Autismus in ihren vielen medialen Auftritten – als dass es aus- hervorrufen kann, wurde in den letzten Jahren heftig 14 Berüchtigt ist der Ausspruch des amerikanischen Obermediziners (US Surgeon General) von 1967: “The war against infectious disease has been won.” (40) 94 Homöopathie Konkret 1.10
Wissenschaft geführt, stets mit problematischen Daten. Einerseits gebe. Ich erwiderte, dass es natürlich prinzipiell kei- sind die Epidemiologen uneins, was die Häufigkeit nen Zusammenhang geben kann, wenn er solche Fälle des Autismus und seiner möglichen Zunahme betrifft als beziehungslos betrachte. Der Disput endete darin, (33, 31). Andererseits gibt es für diese Impfung keine dass der Kollege erzürnt sagte: „Ich habe ein Buch ge- Doppelblindstudien, also keine Form von Evidenz, schrieben, in dem ich ganz eindeutig nachweise, dass wie sie von überzeugten Evidenzlern gefordert wird. es keinen Zusammenhang zwischen Impfung und Selbst epidemiologische Studien sind nur schwer in- Ekzem gibt“. Es wäre nicht ganz so absurd, aber lo- terpretierbar, da es viel zu wenig Vergleichsmöglich- gisch gleichwertig gewesen, hätte er auf das Buch eines keiten zwischen geimpften und ungeimpften Kohor- Kollegen oder eine Statistik verwiesen. ten gibt. Aber letztlich übersteigt all das die Expertise Gehen wir zur klinischen Dimension des Falles zu- eines einfachen Praktikers. rück: Würde Herr Ernst ein 3. Mal impfen? Würde Wenn man aber in der eigenen Praxis einige solcher Herr Singh sein Kind ein 3. Mal impfen lassen? Nur Fälle gesehen hat und das nur bei der MMR-Impfung, weil eine Statistik oder ein Professor einen zufälligen dann kommt man einfach ins Nachdenken. Dann zeitlichen Zusammenhang von Ekzem und Impfung fragt man sich, ob die zuständigen Stellen, die jeden nahelegen? Vor solchen Situationen stehen wir regel- Zusammenhang zwischen Impfungen und Hirnschä- mäßig. Sie machen unsere klinische Praxis aus. Sol- digung verneinen, die jeden Zweifel heftigst, gelegent- che Abwägungsprobleme scheinen die Autoren nicht lich fast hasserfüllt beantworten, ob diese Personen zu kennen, auch wenn Ernst für sich anderes rekla- wirklich vertrauenswürdig sind. Ich persönlich glaube miert.15 es eher nicht. Nach meinem Gefühl verhalten sich ver- Es ist möglich, dass Homöopathen mehr davon be- trauenswürdige Wissenschaftler und Ärzte anders. troffen sind, da Patienten, die ihren Krankheits- prozess nicht hinreichend verstanden sehen, sich Dazu ein anderes Beispiel vermehrt der Homöopathie zuwenden. Es ist auch Eine Mutter brachte mir ein 15 Monate altes, ekzema- möglich, dass Homöopathen durch ihre sorgfältige tisches Kind. Das Ekzem hatte ca. eine Woche nach Anamnese Begleitumstände erkennen, die üblicher- der Polio-Impfung begonnen. Zwei Tage Fieber, dann weise übersehen werden. So wurde der mögliche Zu- waren ca. 20 % des Körpers mit ekzematischen Efflo- sammenhang von Verhaltensstörung und Impfung reszenzen bedeckt. Nach zwei Monaten wurde die beim oben genannten Kind erst durch mich im 5. Le- Impfung wiederholt, wobei sich das Ekzem auf 40 % bensjahr entdeckt, weil mir der plötzliche Rückschritt des Körpers ausgedehnt hatte. Es war ein schreck- in der Entwicklung verdächtig vorkam. Anhand von liches Bild. Die Mutter hatte folgende Frage: Besteht Krankenunterlagen und Fotos konnte der Verlauf ein ausreichender Impfschutz für das Kind? Denn sie exakt nachvollzogen werden. Dabei war das Kind wollte nach Afrika reisen. Es muss um 1990 gewesen schon von unzähligen Ärzten und Psychologen gese- sein, als es noch reichlich Poliomyelitis in Afrika gab. hen und untersucht worden. Sein Fall taucht natür- Natürlich war ich damit überfragt. Ich rief also in der lich in keiner Statistik auf. nächstgelegenen Uni an, ließ mich mit dem zustän- Meine Hypothese ist, dass beide Mechanismen, dif- digen Fachmann verbinden und fragte ihn, ob der ferenziertere Anamnese und schwierigere Fälle, eine Impfschutz des Kindes gewährleistet sei. Die Antwort Rolle dabei spielen. des Professors war: „Impfen Sie das Kind ruhig, denn Das gelegentlich fanatische Impfbedürfnis führt das Ekzem hat nichts mit der Impfung zu tun!“. Ich manchmal zu seltsamen Auswüchsen. So entwickelte war zunächst perplex. Meine Erklärung, dass die Er- ein Kind nach der ersten Fünffachimpfung eine aus- krankung in diesem Fall sehr wohl etwas mit der Imp- gedehnte Schwellung im Injektionsbereich. Nach der fung zu tun habe, empörte ihn geradezu. Er bestand zweiten Impfung produzierte es ein generelles Exan- darauf, dass es prinzipiell keinen Zusammenhang them und ein Quincke-Ödem. Der Kinderarzt des 15 “Before critics reiterate what they have said so often before – ‚Ernst does not know what we have to deal with at the coal face of clinical practice‘ – let me pre-empt this by stressing that I was a clinician for many years and have even treated patients in a home- opathic hospital.” (19) 1.10 Homöopathie Konkret 95
Wissenschaft Säuglings empfahl, die dritte Impfung unbedingt zu detailliert die Gefahren eines solchen Vorgehens er- machen, aber sicherheitshalber unter Intubations- klären. bedingungen im Krankenhaus. Die Eltern lehnten Die Malaria-Prophylaxe ist nur ein Beispiel, bei dem dankend ab. die Frage auftaucht, wo die Grenzen der therapeu- Ich denke, es ist allein durch diese Fälle einsehbar, tischen Möglichkeiten sind, wo eine Behandlung noch dass wir die Dinge gelegentlich kritischer sehen und vertretbar ist, wo ein Fall an den Spezialisten und/ sehr viel vorsichtiger mit generellen Empfehlungen oder an ein Krankenhaus abgegeben werden muss. Es umgehen. Daraus eine unterlassene Hilfeleistung zu ist ein Thema, das in den homöopathischen Journalen konstruieren, wie es Singh und Ernst machen, ist als und Zirkeln nicht oder viel zu selten diskutiert wird. generelle Aussage nicht angemessen. Wenig wird über das Versagen der Therapie berichtet, über Fehler, über Machtlosigkeit. Dafür sind die ho- Malariaprophylaxe möopathischen Journale voll von Erfolgsmeldungen. Diese vielen positiven Berichte vermitteln manchmal In einer Studie von Singh wurden zehn Homöopathen ein Gefühl von Allmacht, das geradezu dazu verleitet, in einer fingierten Patientenanfrage gebeten, eine die eigenen Grenzen falsch einzuschätzen. Empfehlung für eine Reise in ein Malariagebiet ab- zugeben (S. 231–234). Alle angefragten Therapeuten Natürlich gibt es eine berechtigte Sorge, dass jeder gaben die üblichen Empfehlungen ab (Nosode, Nat- Fehler eines Homöopathen ausgeschlachtet wird. m., Chin.). Keiner informierte die Patientin über die Singh und Ernst wären sicher die Ersten, dies zu Risiken einer solchen Empfehlung. Zudem erhoben tun. Wenn bei gleicher Wirksamkeit eine fiktive sieben der Kollegen nicht einmal deren Fallgeschich- Standardtherapie in 2 % der Fälle eine schädliche te. Das ist, selbst wenn es nicht repräsentativ ist, keine Wirkung zeigen würde, bei der Homöopathie Ruhmestat für ein Verfahren, das sich seiner Individu- aber in einem Fall, dann würden Singh und Ernst alisierung brüstet. Wo bitte – und das fragt in diesem diesen einen Fall als Beleg für die Schädlichkeit Fall nicht Herr Ernst – ist die Evidenz für ein solches der Homöopathie betrachten. Das ist nicht nur Vorgehen? Welcher dieser Homöopathen kennt die absurd. Es ist eine völlige Fehleinschätzung der Problematik der Malaria? Wer hat Erfahrung auf die- klinischen Wirklichkeit. sem Gebiet? Was gibt es für Referenzen für ein solches Vorgehen, außer unverbindlichen Empfehlungen16 oder vereinzelten Fallschilderungen17? Die Überschätzung der Wirksamkeit der eigenen The- Das ist, da haben Singh und Ernst völlig Recht, ein rapie ist ein generelles Problem der Medizin. Würden unverantwortliches Spiel mit der Gesundheit der Pa- Ärzte die NNT (number needed to treat) kennen, wä- tienten. Natürlich kommen Patienten zu uns, die in ren sie vermutlich sehr, sehr viel vorsichtiger mit ih- eine bestimmte Gegend reisen, aber die dafür emp- ren Wirkversprechen. Denn Zahlen von 1: 5 sind eine fohlene Malariaprophylaxe nicht einnehmen wollen. Rarität, während Zahlen von über 1: 20 eher die Re- Aber warum wollen sie das nicht? Und warum wollen gel sind (61). Das heißt, für einen Patienten, der von sie dann ausgerechnet in eine Gegend, in der es Ma- einer Therapie profitiert, werden 20 unnötigerweise laria gibt? therapiert, dafür werden alle den möglichen Neben- Sicher mag es Kollegen mit unbegrenztem Vertrauen wirkungen ausgesetzt. Oft wären andere, nicht-me- in diese Form der Prophylaxe geben. Es steht ihnen dikamentöse Therapien Erfolg versprechender, von und jedem Menschen frei, keine Prophylaxe einzu- einer homöopathischen Therapie ganz zu schweigen. nehmen. Aber man sollte Patienten sehr deutlich und Singhs Untersuchung zur Malaria-Prophylaxe bei 16 Ravi Roy sagt: „Eine Doppelgabe Malaria officinalis C 200 wirkt über 6 Monate.“ Er nennt sein Verfahren dreisterweise auch noch „homöopathische Impfung“. (54) 17 Michael Barthel verweist auf einige Fälle, bei denen er Nat-m. M als Malariaprophylaxe verwendet hat. Auch beschreibt er den Fall eines Technikers und seiner Frau, die zwölf Monate in einem Malariagebiet lebten, mit Nat-m. als einziger Prophylaxe. Sie hät- ten keine Malaria bekommen, während alle anderen Europäer trotz Malaria-Prophylaxe daran erkrankt seien. (5). Daraus jedoch eine generelle, gesicherte Therapie abzuleiten, ist nicht akzeptabel. 96 Homöopathie Konkret 1.10
Wissenschaft Homöopathen thematisiert also ein wichtiges Phäno- Das Thema der Abwägung wird kaum diskutiert. Dazu men, das eingehend diskutiert gehört, auch von den hat auch die evidenzbasierte Medizin beigetragen, die Homöopathen. Dass aber Singh auf der Grundlage nach dem Motto funktioniert: „Every ill has its pill“. von 10 Befragungen eine wahre Hexenjagd inszeniert Da dies schön durch Studien belegt ist, scheinen klare (60), ist weder angemessen, noch basiert es auf Evi- Verhältnisse zu bestehen. Das wird allgemein sugge- denz, noch hat es mit der homöopathischen Therapie riert. Das verfechten auch Singh und Ernst. Dies hat als solches zu tun. in den letzten Jahrzehnten zu einer Medikalisierung der Medizin geführt (38). Aber all das ist nur zutref- fend, wenn man einen Faktor in Erwägung zieht, und Vom Pauschaldenken zur selbst da nur begrenzt, wie das Beispiel der Otitis zeigt. Kommen mehrere Faktoren ins Spiel, dann bricht das klinischen Evaluation ganze Denksystem zusammen. So gibt es Studien, die dem Rotwein, und nur diesem, eine gute Wirkung für Bisher ging es in dieser Kritik um Detailfragen zur bestimmte Beschwerden bescheinigen, einschließlich Homöopathie. Es scheint mir jedoch wichtig, ein we- Tierexperiment, Substanzanalyse usw. Dann gibt es nig den Kontext zu erhellen, in dem dieses Buch und Studien, die dasselbe für den Weißwein zeigen und die Arbeit Singhs und Ernsts gesehen werden muss. natürlich auch solche für Bier, aber eben für jeweils andere Erkrankungen. Die einzelnen Effekte sind oft Man kann die Logik der Autoren in etwa so zu- deutlich besser als die von stark umworbenen Medi- sammenfassen: Wenn in randomisierten Studien kamenten. Wäre die logische Konsequenz, Patienten eine Therapie für ein Kollektiv besser ist als ein aufzufordern, Rotwein und Weißwein und Bier zu Placebo, dann ist diese Therapie die beste The- trinken? Wäre es richtig, einen Abstinenzler zum Al- rapie für den Einzelnen. Eine solche nicht anzu- koholkonsum anzuhalten? Das ist klinische Evaluie- wenden, wäre unterlassene Hilfeleistung. Eine rung. solche Herangehensweise ist für die klinische Pra- Eine Therapie kann aus einem ganzen Bündel von xis leider nicht geeignet. Sie versagt schon bei der Maßnahmen bestehen, aus einer konventionellen, einfachen Frage, ob ein Patient therapiert werden medikamentösen Therapie, aus diätetischen Maßnah- soll oder nicht. men, aus vermehrter Bewegung, Lebensordnung oder Darmsanierung. Natürlich muss eine solche Therapie auf den Einzelnen zugeschnitten sein, den Ressour- So sagen beispielsweise die Meta-Analysen zur Oti- cen und Reaktionen des Patienten gerecht werden. tis (27, 53), dass eine antibiotische Therapie nicht Vor allem muss jeder Schritt der Therapie anhand der besser wirkt als eine Placebo-Therapie. Daraus ab- Entwicklung angepasst werden. Natürlich gilt das in zuleiten, dass bei einer Otitis die Gabe eines Anti- gleichem Maße bei einer Monotherapie, vor allem bei biotikums unangebracht ist, ist ebenso falsch wie das einer regulativen wie der Homöopathie. Gegenteil. Diese Meta-Analysen geben letztlich nur Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass diese Eva- Hinweise, wobei im einzelnen Fall Faktoren gegen- luierung nach bestimmten Prinzipien erfolgen sollte. einander abgewogen werden müssen, die in Studien so Man benötigt eine individuelle Prognostik. Natürlich gar nicht vorkommen. Diese klinische Evaluierung ist besitzt jeder Therapeut nach ein paar Jahren Tätigkeit oft schwierig. Ein abwartendes Vorgehen birgt andere eine private, inoffizielle Theorie. Sie fällt unter das, Gefahren als eine forcierte Therapie. Durch Abwar- was man Erfahrung nennt. ten kann es zu schwereren Verläufen kommen, wäh- In der medizinischen Literatur wird diesem Thema rend bei der forcierten Therapie die unerwünschten jedoch keine spezifische Bedeutung beigemessen. Wirkungen und Nebenwirkungen im Vordergrund Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen fehlen die stehen. Aus der weit verbreiteten Furcht vor Kompli- epistemischen Voraussetzungen. Die heutige Medizin kationen tendieren jedoch viele Ärzte zu einem for- besitzt einfach keine Denkmodelle, die eine individu- cierten Vorgehen, obwohl ein abwartendes Verhalten elle Prognostik erlauben. Neuerdings gibt es zaghafte angemessener wäre (42). Ansätze auf der Basis der Systemtheorie, die als zu- 1.10 Homöopathie Konkret 97
Wissenschaft kunftsweisend für Biologie und Medizin gilt (1, 2, 20). All das ist sehr, sehr befremdlich. Im Grunde könnte Dabei sind eine ganze Reihe neuer Konzepte erfor- man das Buch von Singh und Ernst getrost unter der derlich, beispielsweise das einer biologischen Hier- Rubrik „Kuriositäten“ ad acta legen, wenn beide nicht archie (51). Ein anderer Grund für das Fehlen einer mit missionarischem Eifer gegen die Homöopathie individuellen Prognostik ist bei Singh und Ernst in und andere Verfahren zu Felde ziehen würden. Reinkultur vorzufinden. Die beiden Autoren lehnen die Beurteilung eines Einzelverlaufes ausdrücklich ab, betrachten das per se als unwissenschaftlich. Georg Ivanovas Es wäre sicher interessant, diese Art von Wissen- Praktischer Arzt schaftsbegriff detailliert zu untersuchen. Ich will je- Platia Riga Feraiou 13 doch abschließend nur auf eine Realsatire hinweisen. 71201 Heraklion Die alternativen Heilverfahren, allen voran die Ho- Kreta, Griechenland möopathie, besitzen differenzierte Modelle zur Indi- homeopathy@ivanovas.com vidualdiagnostik, Modelle, die auch im Einklang mit der Systemtheorie stehen. Es handelt sich dabei um empirische Beobachtungsstrategien, die den Verlauf Die ausführliche Literaturliste und weiterführende einer Therapie und deren Einschätzung betreffen, Links finden Sie auf der Wissenschaftsseite der Ho- also primär gar nichts mit der Frage, was wie wirkt, zu möopathie Konkret unter http://www.homoeopa- tun hat. Diese Empirik beeindruckt eine große Zahl thie-konkret.de/wissenschaft.html von Forschern (41). Wer jedoch absolut nichts davon wissen will, ist Edzard Ernst, der erste Lehrstuhlinha- ber für Alternativmedizin auf der Welt. 98 Homöopathie Konkret 1.10
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