Brasilien als geoökonomischer Knoten Südamerikas? - Sören Scholvin und Andrés Malamud - GIGA ...
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Nummer 10 2014 ISSN 1862-3573 Brasilien als geoökonomischer Knoten Südamerikas? Sören Scholvin und Andrés Malamud Am 4. Dezember fand in Montevideo die fünfte Tagung des Südamerikanischen Rats für Infrastruktur und Planung (Consejo Suramericano de Infraestructura y P laneamiento, COSIPLAN) statt. Beim angestrebten Ausbau der transkontinentalen Verkehrswege nimmt Brasilien allein schon aufgrund seiner geographischen Lage eine zentrale Posi- tion ein. Analyse Regionalmächte binden ihre Nachbarländer wirtschaftlich zusammen. Sie stellen „geo ökonomische Knoten“ dar, sind daher Motoren regionaler Integrationsprozesse und lösen jenseits ihrer Grenzen wirtschaftliche Dynamiken aus. Brasilien scheint ein typisches Beispiel für dieses Phänomen zu sein. Ein genauer Blick führt jedoch zu nuan- cierteren Aussagen: Geographische, infrastrukturelle, wirtschaftsstrukturelle und poli- tische Faktoren mindern Brasiliens Bedeutung für Südamerika. Brasilien ist der wichtigste Handelspartner für Argentinien, Bolivien, Paraguay und Uruguay. Brasiliens Nationale Entwicklungsbank unterstützt die Internationalisie- rung brasilianischer Firmen. Unternehmen wie Petrobras sind bedeutende Inves toren in ganz Südamerika. Allerdings ist die Entfernung der Wirtschaftsmetropolen Rio de Janeiro und São Paulo zu den Andenländern und Venezuela schon auf dem Landweg groß. Schiffsrouten nach Europa und Nordamerika sind kürzer als nach Ecuador und Peru. Auch natur- räumliche Barrieren erschweren regionale Wirtschaftsverflechtungen. Die brasilianische Regierung fördert zwar die Initiative zur Regionalen Integration Südamerikas (Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regional Surame- ricana, IIRSA), deren Zielsetzung vor allem im Ausbau der transkontinentalen Ver- kehrsinfrastruktur besteht. Die Umsetzung der konkreten Pläne lässt aber auf sich warten. Zudem exportieren Brasilien und seine Nachbarländer gleichermaßen vor allem Agrar- und Bergbauprodukte; der regionale Handel macht deshalb einen sehr gerin- gen Anteil am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt aus. Schlagwörter: Brasilien, Südamerika, regionale internationale Wirtschaftszusammenarbeit, Integrationspolitik, Wirtschaftsgeographie, IIRSA www.giga-hamburg.de/giga-focus
Brasiliens Bedeutung für Südamerika sich 16 Prozent der Veränderung des paraguayi schen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Phasen wirt- Die regionalen wirtschaftlichen Verflechtungen schaftlicher Rezession auf brasilianischen Einfluss, Brasiliens zeigen sich zunächst am Anteil, den das heißt stagnierenden oder rückläufigen bilate- Exporte nach und Importe aus Brasilien am Außen- ralen Handel, zurückführen. Für Argentinien er- handel seiner Nachbarländer einnehmen. Brasilien reicht dieser Wert immerhin noch 10 Prozent, für ist – teils mit deutlichem Abstand – der wichtigste Bolivien, Chile und Uruguay 5 bzw. 6 Prozent. Handelspartner für Argentinien, Bolivien, Para- Demgegenüber lässt sich wirtschaftliche Stagna- guay und Uruguay. Demgegenüber ist der Han- tion in Ecuador, Kolumbien und Venezuela kaum del Chiles, Ecuadors, Guyanas, Kolumbiens, Perus, auf Entwicklungen in Brasilien zurückführen. Die Gesamtexporte der südamerikanischen Län- Tabelle 1: Haupthandelspartner der süd der gingen in der Vergangenheit um durchschnitt- amerikanischen Länder in Prozent lich 20 Prozent zurück, wenn Brasiliens Wirtschaft Land Exportpartner Importpartner stagnierte; dabei wurde in Bolivien und den Län- Argen 1. Brasilien 20,4% 1. Brasilien 27,2% dern des Cono Sur (Argentinien, Chile, Paraguay tinien 2. China 7,4% 2. USA 15,6% und Uruguay) ein über-, im Rest des Subkontinents Bolivien 1. Brasilien 41,8% 1. Chile 21,3% ein unterdurchschnittlicher Rückgang beobachtet. 2. USA 18,4% 2. Brasilien 20,3% Mit anderen Worten: Brasilien überträgt auch Aus- Brasilien 1. China 17,0% 1. China 15,3% wirkungen globaler Wirtschaftskrisen auf einige 2. USA 11,1% 2. USA 14,6% seiner Nachbarländer (Adler und Sosa 2012). Chile 1. China 22,3% 1. USA 22,9% Die Auslandsinvestitionen herausragender bra- 2. USA 12,3% 2. China 18,2% silianischer Unternehmen sind ein weiterer Indika- Ecuador 1. USA 37,3% 1. USA 28,4% tor für die wirtschaftliche Bedeutung des Landes. 2. Chile 8,1% 2. China 11,3% Der halbstaatliche Ölgigant Petrobras ist Hauptab- Guyana 1. USA 30,8% 1. USA 22,2% nehmer für bolivianisches Erdgas. Gemeinsam mit 2. Kanada 28,9% 2. Trinidad und der venezolanischen Ölgesellschaft Petróleos de Ve- Tobago 21,9% nezuela S.A. (PDVSA) plant Petrobas den Bau ei- Kolum- 1. USA 36,6% 1. USA 24,2% ner Ölraffinerie für 230.000 Barrel pro Tag im brasi- bien 2. China 5,5% 2. China 16,3% lianischen Bundesstaat Pernambuco. Diese soll am Para- 1. Uruguay 17,7% 1. Brasilien 24,2% Unterlauf des Orinoco gefördertes Schweröl verar- guay 2. Brasilien 16,4% 2. China 19,5% beiten. Bislang konnte PDVSA allerdings keine aus- Peru 1. China 19,9% 1. USA 26,4% reichenden Garantien für einen Kredit der Natio- 2. USA 15,7% 2. China 14,0% nalen Entwicklungsbank Brasiliens (Banco Nacional Surinam 1. USA 25,7% 1. USA 26,0% de Desenvolvimento Econômico e Social, BNDES) 2. Belgien 17,4% 2. Niederlande 16,0% aufbringen. Bereits 2003 hatte Petrobras mit Perez Vene- 1. USA 39,1% 1. USA 31,7% Companc Energía das größte Erdölunternehmen im zuela 2. China 14,3% 2. China 16,8% Nachbarland Argentinien gekauft. Im Jahr 2013 ka- Uruguay 1. Brasilien 18,6% 1. China 16,4% men 75 Mio. der insgesamt 148 Mio. Barrel Erdöl, 2. China 17,9% 2. Brasilien 14,9% die Petrobras im Ausland förderte, aus Südameri- Quelle: CIA World Factbook, online: Jahr 2000. Die Erdgasförderung durch Petrobras in (12. Dezember 2014). Südamerika nahm im gleichen Zeitraum von 1,7 Bil lionen Kubikmetern auf 15,1 Billionen zu.2 Surinams und Venezuelas auf die Vereinigten Staa- Petrobras ist keinesfalls eine Ausnahme. Hoch- ten ausgerichtet; für diese Staaten spielt Brasilien gradig internationalisierte Firmen wie die Banco eine eher nebensächliche Rolle (Tabelle 1).1 do Brasil, das Bauunternehmen Odebrecht und Ökonometrische Untersuchungen bestätigen der Bergbaukonzern Vale sind in vielen, wenn die hohe Varianz der Abhängigkeit südamerika- auch nicht allen Ländern des Subkontinents prä- nischer Volkswirtschaften von Brasilien. So lassen sent. Gleichzeitig sind sie auf europäischen und 1 In Tabelle 1 wird auch Chinas Bedeutung als Handelspartner 2 Eine detaillierte Auflistung der Öl- und Gasförderung von für viele südamerikanische Länder deutlich – im Gegensatz Petrobras ist online abrufbar unter ; Abruf der hier Staaten ein deutlich jüngeres Phänomen. genannten Daten am 9. Dezember 2014. GIGA Focus Lateinamerika 10/2014 -2-
fernöstlichen sowie zunehmend auch auf afrika- ter). Rio de Janeiro und São Paulo, also die beiden nischen Märkten aktiv. Mittelmäßig stark interna- Bundesstaaten, die zusammen 45 Prozent des bra- tionalisierte Firmen sind demgegenüber vor allem silianischen BIP erwirtschaften, befinden sich im regional ausgerichtet: Petrobras ist neben Brasilien Südosten des Landes. Von São Paulo zur argen- in weiteren 13 Ländern tätig, von denen acht in tinischen Metropole Buenos Aires sind es „nur“ Südamerika liegen; im Fall des Bauunternehmens 2.250 Kilometer Wegstrecke; nach Lima in Peru Tigre sind es sogar acht von neun Ländern. Be- sind es fast 5.000 Kilometer. trachtet man lediglich die Präsenz im Ausland und Hinzu kommen erhebliche physische Barrie- vernachlässigt die Höhe der Investitionen und Pro- ren, die Brasilien von den Ballungsräumen Chiles, fite, ist der größte Anteil (31 Prozent) der Auslands- Ecuadors, Kolumbiens, Perus und Venezuelas tren- aktivitäten brasilianischer Unternehmen auf Süd- nen. In den Anden, die eine maximale Ost-West- amerika ausgerichtet, gefolgt von Europa (21 Pro- Ausdehnung von 700 Kilometern erreichen, sind zent) und Asien (17 Prozent) (Fundação Dom Cam- selbst die wichtigsten Gebirgspässe bei starkem bral 2011). Schneefall nicht passierbar. Straßen schlängeln Mit der BNDES wird die regionale Expansion sich in Serpentinen steile Bergabhänge hinauf; wo brasilianischer Unternehmen durch eine zentrale sie wenig befestigt sind, existiert ein erhebliches staatliche Institution unterstützt. Die BNDES ist der Unfallrisiko. Weiter östlich erschließt der Ama- wichtigste Geber langfristiger Kredite auf dem bra- zonas zwar das Innere des Subkontinents, weil er silianischen Markt. Seit der Präsidentschaft Lula da bis zur Stadt Iquitos im Osten Perus schiffbar ist. Silvas von 2003 bis 2011 verfolgt die Bank indus- Doch steigt sein Pegel einmal jährlich um bis zu triepolitische Ziele und sie verdoppelte in dieser neun Meter; Brücken werden unterspült, Binnen- Zeit ihr Investmentportfolio. Über das Programm häfen sind wochenlang nicht nutzbar. Ganzjährig „BNDES Finanzen und Unternehmen“ vergibt sie erschweren sich verlagernde Sandbänke die Schiff- Kredite an klein- und mittelständische Firmen, ins- fahrt. Wegen des tropischen Klimas wuchern durch besondere im Energie- und Transportsektor, um den Regenwald geschlagene Trassen für Eisen- deren Internationalisierung zu fördern und durch bahnlinien und Überlandstraßen schnell zu. Stark die Ausweitung des Imports von Kapitalgütern zur regenereignisse machen Erd- und Schotterpisten, Modernisierung der brasilianischen Wirtschaft bei- teils sogar asphaltierte Straßen unbenutzbar. Mit zutragen. Kredite für Projekte brasilianischer Fir- dem Brasilianischen Hochland gibt es östlich und men im Ausland können dann gewährt werden, südöstlich des Amazonasbeckens eine stark frag- wenn sie voraussichtlich positive sozioökono- mentierte Mittelgebirgslandschaft. Dort kommt mische Effekte für Brasilien haben. Über das Pro- die mittlerweile stillgelegte Bahnverbindung von gramm „BNDES Exim“ und Vorläuferprogramme Rio de Janeiro nach Belo Horizonte auf 640 Stre- unterstützt die BNDES bereits seit 1991 den Export ckenkilometer bei einer Distanz von nur 340 Kilo- von Kapitalgütern nach ganz Lateinamerika. metern Luftlinie. In den 1980er Jahren brauchten Züge für diese Strecke ganze 14 Stunden. Weil das Brasilianische Hochland nach Westen geneigt ist, Entfernungen und naturräumliche Barrieren fließen zudem Flüsse – auch solche, die ihren Ur- sprung nahe dem Atlantik haben – ins Landesin- Auf den ersten Blick sprechen auch räumliche nere. Sie erschließen das Hinterland nicht und sind Faktoren für eine Rolle Brasiliens als geoökono- aufgrund von Wasserfällen ohnehin selten schiff- mischer Knoten Südamerikas. Die Regionalmacht bar. Im Grenzgebiet von Brasilien, Guyana, Suri- hat eine zentrale Lage auf dem Subkontinent; bis nam und Venezuela hat das Hochland von Guyana auf Chile und Ecuador grenzen alle südamerika- ähnlich ungünstige Reliefeigenschaften. nischen Länder an Brasilien. Doch während Brasi- Die genannten naturräumlichen Barrieren für lien (wie auch Südamerika insgesamt) ein Territo- den Transport über Land wären weniger schwer- rium enormer Größe umfasst, leben rund 80 Pro- wiegend, wenn der intraregionale Handel leicht zent der brasilianischen Bevölkerung weniger als auf dem Seeweg durchgeführt werden könnte. In 200 Kilometer vom Atlantik entfernt. Die Hafen- der Tat wurden zwischen 2002 und 2012 50,4 Pro- stadt Recife im brasilianischen Nordosten liegt mit zent des brasilianischen Südamerikahandels per einer Luftlinienentfernung von 3.100 Kilometern Schiff abgewickelt. Nimmt man statt des mone- näher an Monrovia im westafrikanischen Liberia tären Warenwerts das Gewicht der Waren als Be- als an Ecuadors Hauptstadt Quito (4.900 Kilome- rechnungsgrundlage, liegt der Anteil des mariti- GIGA Focus Lateinamerika 10/2014 -3-
Abbildung 1: Räumliche Hemmnisse regionaler naler Wirtschaftsintegration zusammen- Wirtschaftsintegration in Südamerika fassend dargestellt. IIRSA und ihre Grenzen Anfang dieses Jahrtausends zeigten Stu- dien der Interamerikanischen Entwick- lungsbank (Inter-American Development Bank, IDB) und der Wirtschaftskommis- sion für Lateinamerika und die Kari- bik (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL), dass Probleme mit der Verkehrsinfrastruktur Zusatzkos ten von 170 USD pro LKW-Ladung von Argentinien nach Brasilien verursach- ten. Grenzkontrollen hielten den Güter- verkehr zwischen diesen beiden Ländern durchschnittlich 30 bis 36 Stunden lang auf (Sánchez und Tomassian 2003). Dabei sind Argentinien und Brasilien vergleichs- weise gut über den Landweg verbunden. Je weiter man von Rio de Janeiro und São Paulo nach Nordwesten fährt, desto dün- ner und schlechter befestigt ist das Stra- ßennetz. Bei einer Bevölkerungsdichte von nur 4,5 Einwohnern pro Quadratki- lometer in Brasiliens Nordregion besteht lokal kaum Bedarf an einer dichten Ver- kehrsinfrastruktur. Lediglich zwei transkontinentale Ach- Quelle: Eigener Entwurf. sen durchqueren den Subkontinent: der Interozeanische Highway vom Süden Pe- men Handels sogar bei 63,2 Prozent.3 Dies ist we- rus über Rio Branco nach Cuiabá und der Paname gen der Küstenlage der brasilianischen Ballungs- rikanische Highway von der kolumbianisch-pana räume, die wie beschrieben durch Distanzen und maischen Grenze über Santiago de Chile und Buenos physische Barrieren vom Hinterland getrennt sind, Aires bis nach Feuerland. Sie befinden sich teils in nicht überraschend. Doch auch der maritime Han- miserablem Zustand, insbesondere in den An- del, soweit er über Argentinien und Uruguay hi- den. Generell ist das Straßennetz der südamerika- nausgeht, muss enorme Entfernungen überbrü- nischen Länder dünn: Brasilien kommt auf 19 Ki- cken: Vom größten brasilianischen Hafen, Santos, lometer Straße pro 100 Quadratkilometer Landes- bis nach Callao in Peru muss man mehr nautische fläche, in Bolivien sind es sieben, acht in Paraguay Meilen zurücklegen als nach Miami in den Ver- und zehn in Peru. Die Vereinigten Staaten, zu de- einigten Staaten. Guayaquil in Ecuador liegt wei- ren Territorium ebenfalls dünn besiedelte Regionen ter von Santos entfernt als Le Havre in Frankreich. gehören, erreichen demgegenüber einen Wert von Die Karibikhäfen Kolumbiens und Venezuelas sind 67. Zudem ist das Eisenbahnnetz nur wenig ausge- deutlich näher am Süden der Vereinigten Staaten baut. Die Spurweiten variieren sowohl von Land zu als an Brasiliens Südosten. In Abbildung 1 sind Land als auch innerhalb einzelner Länder. Ecuador, die verschiedenen räumlichen Hemmnisse regio- Kolumbien, Peru und Venezuela sind miteinander überhaupt nicht per Eisenbahn verbunden (Schol- vin und Malamud 2014). 3 Eigene Berechnungen auf Grundlage von Daten, die im Juni 2014 von AliceWeb2 () abgerufen wurden. tion Südamerikas (Iniciativa para la Integración de GIGA Focus Lateinamerika 10/2014 -4-
la Infraestructura Regional Suramericana, IIRSA) den Tourismus fördern. Auch möchte man das an. IIRSA zielt darauf ab, durch verbesserte Infra- argentinische und das chilenische Stromnetz struktur (vor allem Verkehr, aber auch Energiever- besser miteinander verknüpfen. sorgung) regionale wirtschaftliche Dynamiken zu • Die Achse Mercosur-Chile zielt darauf, die Bal- fördern. Im Norden des Subkontinents geht es da- lungszentren Buenos Aires, Rio de Janeiro, São bei primär um die petrochemische Industrie. Im Pa- Paulo und Santiago de Chile besser miteinander raná-Becken steht die industrialisierte Landwirt- zu verbinden. Bereits vorhandene Eisenbahnli- schaft, der großflächige und exportorientierte An- nien sollen erneuert, Überlandstraßen zu Auto- bau von Mais, Soja und Zuckerrohr, im Fokus. In bahnen ausgebaut werden. Bolivien und Peru soll die industrielle Verarbeitung • Die Zentrale Interozeanische Achse schließt sich von Bergbauerzeugnissen gefördert werden. IIRSA hier an und ist auf Transportrouten durch Boli- sieht acht Entwicklungsachsen vor, die zwar detail- vien und Paraguay ausgerichtet. Häfen in Brasi- liert geplant, aber bisher kaum umgesetzt sind:4 lien, Chile und Peru sollen ausgebaut, die Eisen- • Die Andenachse setzt sich aus zwei von Nord bahnlinien von São Paulo bis zu den Anden in nach Süd laufenden Korridoren zusammen: Bolivien erneuert werden. dem Panamerikanischen Highway und der öst- Doch in der Praxis bietet IIRSA eher einen Rahmen, lich des Hochgebirges gelegenen Carretera Mar- in dem die südamerikanischen Staaten individu- ginal de la Selva. Vor allem Grenzstationen und elle wirtschaftspolitische Ziele verfolgen. Geför- Überlandstraßen, aber auch das Stromnetz sol- dert werden zahllose, zumeist punktuelle Einzel- len hier ausgebaut werden. projekte. Die IDB (2008) kritisiert zu Recht, dass • Eine nach dem Wendekreis des Steinbocks (Spa- die IIRSA Einzelprojekte gar nicht nach ihrem nisch: Capricornio) benannte Achse verbindet die Beitrag zur regionalen Integration bewertet. 240 Atlantik- mit der Pazifikküste zwischen dem 20. der 335 bei Gründung der Initiative im Jahr 2000 und 30. Grad südlicher Breite. Schlüsselprojekte beschlossenen Projekte haben nationale Reichweite sind Gebirgspässe in den Anden und Brücken und können ohne zwischenstaatliche Kooperation über die Flüsse Paraguay und Paraná. Eisen- umgesetzt werden. bahnlinien spielen hierbei eine große Rolle. • Eine weitere Achse ist speziell auf die Flüsse Paraguay, Paraná, Tieté und Uruguay als oft Wirtschaftsstrukturelle Hemmnisse noch schiffbar zu machende Verkehrswege aus- gerichtet. Auch die Außenhandelsstrukturen der südameri- • Auch bei der Amazonasachse kommt der Bin- kanischen Länder trüben Brasiliens Perspektive als nenschifffahrt große Bedeutung zu. Über Fluss- geoökonomischer Knoten. Anfang dieses Jahrtau- läufe von 20.000 Kilometern sollen brasilianische sends bestand über die Hälfte der Exporte der Regi- Atlantikhäfen mit Küstenstädten am Pazifischen onalstaaten, mit Ausnahme Brasiliens, aus weni- Ozean in Ecuador, Kolumbien und Peru verbun- ger als zehn unterschiedlichen Gütern; in Bolivien, den werden. Lokale Flughäfen und Überland- Ecuador, Paraguay und Venezuela waren es sogar straßen kommen als unterstützende Verkehrs- drei Viertel (Burges 2005). Daran hat sich bis heute infrastruktur hinzu. wenig geändert: Einzelne Produkte – wie Gas in • Die Achse des Hochlands von Guyana zielt auf Bolivien (41 Prozent), Kupfer in Chile (36 Prozent), einen Ausbau der Häfen in Guyana und Suri- Erdöl in Ecuador, Kolumbien und Venezuela (57, nam. Die beiden Länder sollen durch Straßen 25 bzw. 94 Prozent), Gold in Guyana (23 Prozent) besser mit Brasilien und Venezuela verbunden und Aluminium in Surinam (56 Prozent) – errei- werden. Ein weiteres Schlüsselprojekt ist die chen hohe Anteile an den Gesamtexporten. Abneh- Straßenverbindung von Caracas nach Manaus. mer für unverarbeitete Erzeugnisse des Agrar- und • Die sogenannte Südachse soll im argentinisch- Bergbausektors finden sich in Europa, Fernost und chilenischen Grenzgebiet, in der Region der Sie- Nordamerika. Selbst bei den Exporten aus Brasi- ben Seen, durch Eisenbahnlinien und Überland- lien hat der Anteil von Fertig- und Halbfertigpro- straßen, Grenzübergänge sowie Häfen vor allem dukten seit Beginn dieses Jahrtausends zugunsten unverarbeiteter Agrar- und Bergbaugüter abge- 4 Umfangreiche Informationen zu IIRSA sind online unter nommen. abrufbar. Zu den lokalen Konflikten, zu denen es im Zusammenhang mit IIRSA-Projekten gekommen Wie Tabelle 2 zeigt, machen die regionalen Ex- ist, siehe Garzón und Schilling-Vacaflor (2012). porte für die meisten südamerikanischen Länder, al- GIGA Focus Lateinamerika 10/2014 -5-
Tabelle 2: Bedeutung des intraregionalen Handels tieren, laut einer CEPAL-Studie (2006) in erster für die südamerikanischen Länder Linie für Märkte und Ressourcen. Oftmals wer- Land Anteil der Anteil der Anteil der den Produktionsanlagen in Nachbarländern nur regionalen Industrie Industrie errichtet beziehungsweise gekauft, um Import- Exporte güterexporte güterexporte beschränkungen zu umgehen. Nur selten wer- am BIP an den an den den brasilianische Investitionen in den Nachbar- regionalen Gesamt ländern mit der Steigerung der eigenen Effizienz Exporten exporten oder dem Zugriff auf strategisch relevante Pro- Argentinien 6,8% 55,4% 36,7% duktkomponenten, also zwei Kernbestandteilen Bolivien 19,7% 3,3% 14,5% regionaler Güterketten, begründet. Beispielhaft Brasilien 1,9% 74,7% 35,9% für die rein marktorientierten Investitionen sind Chile 3,9% 63,5% 52,8% die zahlreichen Übernahmen argentinischer Un- Ecuador 7,7% 25,9% ./. ternehmen durch brasilianische Konkurrenten Guyana 3,2% 5,0% ./. im Zuge der argentinischen Wirtschafts- und Fi- Kolumbien 2,5% 55,4% 22,5% nanzkrise des Jahres 2001. Paraguay 13,8% 13,9% 11,3% Peru 3,3% 57,1% 42,7% Politische Hemmnisse Surinam ./. ./. ./. Venezuela ./. ./. ./. Einer Rolle Brasiliens als geoökonomischer Uruguay 6,4% 47,2% 29,2% Knoten stehen letztendlich auch politische Ent- Quelle: Eigene Berechnung auf Grundlage von Daten der IDB, wicklungen entgegen, die die Staaten des Sub- online: , Abruf kontinents auseinanderdividieren. Zwar gibt der Daten im Juni 2014 (./. = unzureichende Datenlage). es mit der Union Südamerikanischer Staaten (Unión de Naciones Suramericanas, UNASUR) len voran Brasilien, einen sehr geringen Anteil des und dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mer- BIP aus. Rationale Wirtschaftsstrategien, so könnte cado Común del Sur, Mercosur) zwei ambitionierte man meinen, sollten deswegen nicht auf den intrare- Integrationsprojekte, in denen Brasilien eine füh- gionalen Handel fokussieren. Tatsächlich war auch rende Rolle einnimmt. Der Mercosur hat sich ver- Brasilien als Regionalmacht in der Vergangenheit traglich zum Ziel gesetzt, den freien Verkehr von nicht bereit, einen überproportionalen Anteil der Gütern und Dienstleistungen zwischen seinen Mit- Kosten der Integration zu tragen (Malamud 2005). gliedern zu ermöglichen, eine Zollunion zu bilden Anscheinend hat der Regionalismus in Südamerika sowie die makroökonomischen und wirtschafts- seinen Höhepunkt erreicht und bringt nur noch sin- sektoralen Politiken seiner Mitglieder zu koordi- kende Erträge (Malamud und Gardini 2012). nieren. Die UNASUR möchte bis 2025 ein mit der Für eine gewisse strategische Bedeutung des in- Europäischen Union vergleichbares Niveau regio- traregionalen Handels spricht allerdings, dass der naler Integration erreichen und bildet den überge- Anteil der Industriegüter an den regionalen Expor- ordneten Rahmen für IIRSA. Diesen hochgesteck- ten für fast alle Länder größer ist als der Anteil ten Zielen stehen bis heute aber nur wenige kon- der Industriegüter an den Gesamtexporten. Daher krete Fortschritte gegenüber. könnte eine exportbasierte Industrialisierung nicht Demgegenüber spricht die Verstaatlichung von zuletzt für Brasilien auf intraregionalem Handel Ressourcen beziehungsweise der sie ausbeutenden basieren, weil die südamerikanischen Märkte zu- Unternehmen in Argentinien und Bolivien aus bra- gänglicher für brasilianische Industriegüter sind silianischer Sicht gegen engere Verbindungen mit als globale Märkte. Allerdings stellt sich die Fra- den Nachbarländern. So könnte Petrobras durch- ge, ob die Nachbarländer interessantere Abnehmer aus weiter in die Förderung von Erdgas in Bolivien für brasilianische Industrieprodukte sind als der investieren, das bereits heute per Pipeline direkt heimische Markt. Durch eine Steigerung der natio in den Großraum São Paulo geleitet wird. Doch nalen Kaufkraft dürfte sich die Industrialisierung als im Zuge der Renationalisierung der bolivia- in Brasilien besser fördern lassen als durch regio- nischen Öl- und Gasressourcen von Petrobas um nale Integration. 32 Prozent höhere Royalties und Steuern verlangt Ungeachtet dieser Chancen interessieren sich wurden, entschied die brasilianische Regierung, brasilianische Firmen, die in Südamerika inves die Offshore-Förderung von Öl und Gas nahe Rio GIGA Focus Lateinamerika 10/2014 -6-
de Janeiro und São Paulo zu forcieren. Zwar ist Literatur es technisch höchst kompliziert und daher ver- gleichsweise teuer, diese Vorkommen zu fördern, Adler, Gustavo, und Sebastián Sosa (2012), Intra- doch machen sie Brasilien von politisch schwer ein- Regional Spillovers in South America: Is Brazil Syste- schätzbaren Nachbarn unabhängig. Während die mic after All?, IMF Working Paper, 145, Washing- Gasimporte aus Bolivien mit 30 Mio. Kubikmetern ton, D.C.: IMF. pro Tag bis zum Jahr 2020 konstant bleiben sollen, Burges, Sean W. (2005), Bounded by the Reality of möchte Petrobras die heimische Förderung von 55 Trade: Practical Limits to a South American Re- auf 102 Mio. Kubikmeter täglich bis dahin fast ver- gion, in: Cambridge Review of International Affairs, doppeln. Flüssiggasimporte sollen schon 2015 die 18, 3, 437-454. Importe aus Bolivien mengenmäßig hinter sich las- CEPAL (2006), Foreign Direct Investment in Latin sen (Petrobas 2011). Dass die argentinische Regie- America and the Caribbean 2005, Santiago de Chi- rung in der Vergangenheit Exportbeschränkungen le: CEPAL. für Erdgas verhängt und dabei Verträge mit Chile Fundação Dom Cambral (2011), Transnationality gebrochen hat, um nationalen Versorgungsengpäs- Ranking of Brazilian Companies: Foreign Growth and sen zu begegnen, bestärkt die brasilianische Regie- Sustainability Management, Nova Lima: Fundação rung im Streben nach Energieautarkie. Dom Cambral. Diese Hürden bei der regionalen Kooperation Garzón, Jorge, und Almut Schilling-Vacaflor (2012), im Energiesektor stehen in einem größeren poli- Infrastrukturprojekte zwischen geopolitischen Inte- tischen Kontext. Vor allem Argentinien, Bolivien ressen und lokalen Konflikten, GIGA Focus Latein und Venezuela, bedingt auch Brasilien und Ecua- amerika, 10, online: (14. Dezember 2014) Staates in der Wirtschaft erheblich ausgedehnt. Re- IDB (2008), Evaluation of IDB Action in the I nitiative for gionaler Integration und somit einer Stärkung der Integration of Regional Infrastructure in South Ame- Rolle Brasiliens als geoökonomischer Knoten ste- rica (IIRSA), Washington, D.C.: IDB. hen diese Strategien entgegen, denn sie erschweren Malamud, Andrés (2005), Mercosur Turns 15: Be grenzüberschreitende Investitionen und internati- tween Rising Rhetoric and Declining Achieve- onalen Handel. Argentinien und Venezuela leiden ment, in: Cambridge Review of International Affairs, zudem unter einer extrem hohen Inflation und der 18, 3, 421-436. Überbewertung ihrer Währungen, was es für brasi- Malamud, Andrés, und Gian L. Gardini (2012), Has lianische Unternehmen unattraktiv macht, dort zu Regionalism Peaked? The Latin American Quag- investieren. Chile, Kolumbien und Peru verfolgen mire and its Lessons, in: The International Specta- demgegenüber wirtschaftsliberale Strategien. Mit tor, 47, 1, 116-133. der Pazifischen Allianz (Alianza del Pacífico), de- Petrobras (2011), Petrobras divulga plano de negócios ren Vollmitglieder Chile, Costa Rica, Kolumbien, 2011-2015, online: (17. November 2014). da und den Vereinigten Staaten haben unter ande- Sánchez, Ricardo J., und Georgina C. Tomassian rem Australien, China, Indien, Japan und die größ- (2003), Identificación de ostáculos al transporte ter- ten europäischen Volkswirtschaften dort Beobach- restre internacional de cargas en el Mercosur, Santi- terstatus. Brasilien beteiligt sich hingegen nicht. ago de Chile: CEPAL. Scholvin, Sören, und Andrés Malamud (2014), Is There a Geoeconomic Node in South America? Geo graphy, Politics and Brazil’s Role in Regional Eco- nomic Integration, ICS Working Paper, 2, Lissa- bon: ICS. GIGA Focus Lateinamerika 10/2014 -7-
Die Autoren Dr. Sören Scholvin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie der Leibniz Universität Hannover und assoziierter Mitarbeiter am GIGA Institut für Afrika-Studien. Er forscht zu Regionalmächten, wirtschaftlichen Verflechtungen und Infrastrukturprojekten in Subsahara- Afrika und Südamerika. E-Mail: , Webseite: Dr. Andrés Malamud ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Instituto de Ciências Sociais der Universität Lissabon und Mitglied im Forschungsnetzwerk „PRIMO – Power and Region in a Multipolar Order“. Sein Forschungsschwerpunkt ist die regionale Integration in Südamerika. E-Mail: , Webseite: GIGA-Forschung zum Thema Im GIGA Forschungsschwerpunkt 4 „Macht, Normen und Governance in den internationalen Bezie- hungen“ befasst sich das Forschungsteam „Außenpolitische Strategien im multipolaren System“ unter anderem mit den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Brasiliens zu seinen Nachbarstaaten. Das vom gleichen Forschungsteam durchgeführte Projekt „Colombia frente del ascenso de Brasil“ beinhaltet eine Fallstudie zur brasilianisch-kolumbianischen Zusammenarbeit im Infrastrukturbereich. GIGA-Publikationen zum Thema Flemes, Daniel, und Leslie Wehner (2012), Strategien südamerikanischer Sekundärmächte, GIGA Focus Latein- amerika, 4, online: . Flemes, Daniel, und Leslie Wehner (2012), Drivers of Strategic Contestation in South America, GIGA Working Papers, 207, online: . Garzón, Jorge, und Almut Schilling-Vacaflor (2012), Infrastrukturprojekte zwischen geopolitischen Interes- sen und lokalen Konflikten, GIGA Focus Lateinamerika, 10, online: . González Sánchez, Victor M. (2014), Mercosur oder Pazifik-Allianz: Konkurrierende Modelle lateinamerikanischer Integration, GIGA Focus Lateinamerika, 3, online: . Der GIGA Focus ist eine Open-Access-Publikation. Sie kann kostenfrei im Netz gelesen und heruntergeladen werden unter und darf gemäß den Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz Attribution-No Derivative Works 3.0 frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies umfasst insbesondere die korrekte Angabe der Erstveröffentli chung als GIGA Focus, keine Bearbeitung oder Kürzung. Das GIGA German Institute of Global and Area Studies – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg gibt Focus-Reihen zu Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost und zu globalen Fragen heraus. Ausgewählte Texte werden in der GIGA Focus International Edition auf Englisch und Chinesisch veröffentlicht. Der GIGA Focus Lateinamerika wird vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien redaktionell gestaltet. Die vertretenen Auffassungen stellen die der Autoren und nicht unbedingt die des Instituts dar. Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Beiträge ver- antwortlich. Irrtümer und Auslassungen bleiben vorbehalten. Das GIGA und die Autoren haften nicht für Richtigkeit und Vollständigkeit oder für Konsequenzen, die sich aus der Nutzung der bereitgestellten Informationen ergeben. Auf die Nennung der weiblichen Form von Personen und Funktionen wird ausschließlich aus Gründen der Lese- freundlichkeit verzichtet. Redaktion: Sabine Kurtenbach; Gesamtverantwortlicher der Reihe: Hanspeter Mattes; Lektorat: Ellen Baumann; Kontakt: ; GIGA, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg www.giga-hamburg.de/giga-focus
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