Basale Kommunikation in der Ergotherapie

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Basale Kommunikation
                                                                   in der Ergotherapie
                                                                    W infried M a ll

                                                                   Woher kommt die Hilflosig­                  mangel bei der Geburt eine deutli­
                                                                   keit?                                       che Tetraspastik, kann mühsam mit
                                                                                                               einem Gehwagen gehen, schaut sich
                                                                   Stellen Sie sich Anna1 vor. Sie ist         nach Personen und Geräuschen um.
                                                                   noch jung, erst 7 Jahre alt, aber           Er ist sehr schreckhaft, schlägt sich
                                                                   schon jetzt wird kaum noch jemand           dann die Hände gegen die Zähne und
                                                                   mit ihr fertig. Die meiste Zeit will sie    schreit. Am liebsten hockt er im Fer­
                                                                   für sich sein, hockt schaukelnd in          sensitz auf dem Boden, wühlt mit den
                                                                   einer Ecke, in jedem Arm ein Plüsch­        Händen in Steinen, Klötzen oder
                                                                   tier. Sobald jemand etwas von ihr will      Sand, oder wedelt ein Brett oder Bil­
                                                                   - vor allem, wenn man sie berührt -         derbuch vor dem Gesicht auf und ab,
                                                                   kann es passieren, daß sie in Erre­         lautiert dazu. Darüber hinaus gibt es
                                                                   gung ausbricht, schreit, ihren Kopf         kaum etwas, was ihm offensichtlich
                                                                   nach hinten an die Wand schlägt.            Spaß macht, aber er läßt vieles ein­
                                                                   Scheinbar ohne Anlaß geht sie im­           fach über sich ergehen.
                                                                   mer wieder auf andere behinderte
                                                                   Gruppenmitglieder in der Tagesein­          Dann vielleicht noch Rolf: Nach ei­
                                                                   richtung zu, zwickt sie oder reißt sie      nem Herzstillstand durch Ertrinken
                                                                   an den Haaren.                              schwerst mehrfachbehindert, 12 Jah­
                                                                                                               re alt: Er ist vollständig auf Pflege
                                                                   In ihrer Akte ist erwähnt, sie sei zu
                                                                                                               angewiesen, kann sich nicht einmal
                                                                   früh geboren worden, vermutlich läge
                                                                                                               drehen. Schon die Nahrungsaufnah­
                                                                   ein frühkindlicher Hirnschaden vor,
                                                                                                               me, das Trinken, die Verdauung
                                                                   auch wenn er sich diagnostisch nicht
                                                                                                               machen ihm große Mühe, einen fe­
                                                                   eindeutig nachweisen ließe. Wenn die
                                                                                                               sten Schlaf-Wach-Rhythmus hat er
                                                                   Mutter oder Großmutter sie nachmit­
                                                                                                               auch nicht. Durch seine starke, spa­
                                                                   tags abholt, fällt auf, daß es zwischen
                                                                                                               stische Verspannung scheint er oft
                                                                   beiden kaum zu einem K ontakt
                                                                                                               Schmerzen zu haben.
                                                                   kommt. Auch in Elterngesprächen
                                                                   gewinnt man den Eindruck, daß die           Wie weit ihm seine Sinnesorgane -
                                                                   Mutter mit ihrem Kind eigentlich nicht      vor allem Sehen und Hören - noch
                                                                   viel anzufangen weiß. Sie erzählt, sie      dazu dienen, Informationen aus der
                                                                   sei bei der Geburt noch sehr jung           Umwelt aufzunehmen, läßt sich fast
                                                                   gewesen, kurz vor Abschluß ihrer            gar nicht sagen. Manchmal wirkt er
                                                                   Lehre, und meist habe sich die Groß­        wie blind und taub. Er liegt da, wo
                                                                   mutter um das Kind gekümmert.               man ihn lagert, hat manchmal die
                                                                   Oder Karl: 16 Jahre alt, ist er schon       Finger im Mund, produziert manch­
                                                                                                               mal sanfte Laute.
                                                                   seit fast 6 Jahren im Heim, weil sei­
                                                                   ne Mutter die Pflege nicht mehr lei­        Wenn Sie in Einrichtungen für Men­
                                                                   sten konnte. Er hat nach Sauerstoff­        schen mit geistiger Behinderung ar­
                                                                                                               beiten, werden Sie Kinder und Ju­
                                                                                                               gendliche wie Anna, Karl oder Rolf
                                                                                                               kennen. Vielleicht kennen Sie dann
                                                                   1 Die beschriebenen Personen sind fiktiv.
                                                                   Ähnliche Personen und Schicksale sind       auch das Gefühl der Lähmung, das
                                                                   aber sicher jedem in diesem Feld Tätigen    einen angesichts dieser Menschen
                                                                   bekannt.                                    überkommen kann, wenn man sich

372   p r a x is e r g o th e r a p ie • Jg. 1 2 (5 ) • O ktober 1999
Praxis
                                                                                                      Er/Sie erlebt eine
                                                Ihr/e Partner/in
                                                                                                         Antwort auf
                                               tut irgend etwas
vornimmt, ihnen zu helfen, sie zu
                                                                                                         sein/ihr Tun
fördern oder zu therapieren. Ich habe
zwar ein breites Repertoire an För­
der- und Therapieansätzen, aber es
kommt irgendwie nie zu dem Erleb­
nis: „Ja, das ist es, damit kann ich
ihn/sie erreichen, das hilft ihr/ihm
weiter!“ Entweder verfalle ich dann
in Resignation und breche den Be­
handlungsversuch früher oder spä­                Sie nehmen                                             Sie antworten
ter wieder ab, oder ich „ziehe“ halt
meine Übungen „durch“ und stelle               sein/ihr Tun als                                           mit einem
mich darauf ein, daß sich wohl kei­
                                               Äußerung wahr                                           passenden Tun
ne größeren Verbesserungen erge­
ben werden.
Dann gehe ich auf die Suche nach
einem „noch besseren“ Förderansatz,
nur um nach einigen Monaten wie­           Sensomotorische Phase seiner Ent­            takt und Kommunikation fort - der
der am selben Punkt zu stehen. Um          wicklung die Balance zu finden zwi­          Mensch lebt in ständiger Ambivalenz,
uns zu trösten, versichern wir uns im      schen - wie P ia g e t es nennt - Assimi­    in immer neu wiederholter Frustrati­
Team gegenseitig, daß es sich eben         lation und Akkommodation, zwischen           on und Enttäuschung.
um sehr schwer beeinträchtigte Men­        „Ich passe die Welt mir an.“ und „Ich
                                                                                        Kommunikation, so verstanden, setzt
schen handelt, bei denen Verbesse­         passe mich der Welt an.“ Wenn wir
                                                                                        keine Kompetenz meines Partners
rungen kaum zu erwarten sind.              von Urvertrauen sprechen, meinen wir
                                                                                        voraus. Es ist nicht so, daß ein
Worauf ich hinaus will: Es müssen          eben diese tief liegende Sicherheit,
                                                                                        Mensch erst etwas lernen muß, be­
nicht die Förderansätze sein, die          daß unsere Äußerungen beantwortet,
                                                                                        vor er zu Kommunikation fähig ist.
falsch oder unangemessen wären. Es         unser Bedürfnis befriedigt, unsere Not
                                                                                        Im Gegenteil, erst in der Kommuni­
kommt auch nicht in erster Linie dar­      erkannt und gestillt wird.
                                                                                        kation erfährt er von ihrer Möglich­
auf an, noch bessere Ansätze zu fin­                                                    keit und lernt damit umzugehen, so
                                           Kreislauf der Kommunikation
den. Sondern - ich habe die Grund­                                                      daß er eine immer selbstbestimmte­
lage außer Acht gelassen, auf der          Es ist wohl erforscht, welche zentra­        re Rolle darin übernehmen kann.
Therapie und Förderung überhaupt           le Rolle in der Entwicklung diese Er­        Konkret: Damit es nach der Geburt
erst stattfinden können, und diese         fahrung des Verstandenwerdens ein­           zur Kommunikation zwischen Mutter
heißt Kommunikation.                       nimmt. Ohne sie fehlt dem Menschen           und Baby kommt, ist nur die Präsenz
                                           eine wichtige Voraussetzung für je­          und die Kommunikationsbereitschaft
Kommunikation steht am                     des Lernen, für die Bereitschaft, sich       der Mutter nötig. Sie macht den
Anfang!                                    relativ angstfrei Neuem öffnen zu            Schritt, das Schreien ihres Kindes
                                           können, und anstatt den Ausgleich zu         nicht als reflexhaftes Lungentraining
Die erste Erfahrung nach der Geburt
                                           finden zwischen Assimilation und             abzutun, sondern es als Äußerung
ist Kommunikation: Das Baby schreit.
                                           Akkommodation, bleibt er der Assi­           wahrzunehmen und sich davon be­
- Für die Mutter heißt sein Schrei­
                                           milation verhaftet.                          treffen zu lassen. Sie trifft die Ent­
en: „Ich bin allein, zeig’ mir deine
Nähe!“ - Sie „antwortet“, indem sie        Er wird sich in sich verschließen,           scheidung, auf sein Schreien zu rea­
ihr Kind am Körper hält, es streichelt,    nichts an sich heran lassen, alles           gieren und nicht abzulassen, bis sie
zu ihm spricht, es „stillt“. - Das Kind,   Neue abwehren und zu Panik neigen.           an der Reaktion des Kindes merkt:
kaum geboren, erlebt sich „verstan­        Seine Aktivität wird sich in Stereoty­       „Ja, jetzt haben wir uns verstanden!“
den“, beruhigt sich, entspannt sich,       pien und Selbststimulation erschöp­
saugt, schläft, schaut herum. - Die        fen, da alles, was von außen kommt,          Abbruch von Kommunikati­
Mutter, gerade erst Mutter geworden,       keinen positiven Sinn ergibt, keinen         on verursacht Behinderung
erlebt sich als kompetent, ihr Kind        Neugierimpuls auslöst, sondern nur
                                                                                        Um es gleich klarzustellen: Es geht
zu verstehen und zu „stillen“.             Angst macht.
                                                                                        hier nicht um Schuld, schon gar nicht
Dieser Kreislauf der Kommunikation         Da in der Folge die Umwelt weiter            um die Schuld von Müttern. Weder
ist der Schlüssel, der dem Kind den        unverständlich bleibt, wird sich diese       Annas Mutter, noch die von Karl oder
Zugang zur Welt eröffnet. Vermittelt       Entwicklung im Sinn eines Teufels­           Rolf haben es verdient, Vorwürfe
über die erste, zuverlässige Bezugs­       kreises selbst verstärken. Gleichzei­        gemacht zu bekommen. Wer das tut,
person findet es den Weg, über die         tig besteht das Bedürfnis nach Kon­          soll erst einmal sich selbst in der Si­

                                                                                  p r a x is e r g o th e r a p ie • Jg. 12 (5 ) • O ktober 1999   373
tuation erleben, daß sein Kind nicht                       schon gerne mit einem Kind, das je­      kennen, sind Sie erst einmal offen
      so ist wie erträumt, und daß dessen                        desmal steif wird wie ein Brett?         für das, was kommt. Vor allem ha­
      Versorgung und Pflege ihn über den                                                                  ben Sie nicht vor, Ihr Gegenüber zu
                                              Und für Rolf war nach seinem Unfall
      Rand seiner Kräfte hinaus fordert. Es                                                               verändern, sondern wollen ihm erst
                                              das Leben einfach zu schwer, um
      kann aber andererseits auch nicht                                                                   einmal da begegnen, wo er ist, wol­
                                              sich ihm wieder öffnen zu können.
      darum gehen, die Augen vor einem                                                                    len ein Gespür dafür bekommen, wie
                                              Jeder Atemzug, jeder Schluck, jede
      der - für Mutter und Kind - schmerz­                                                                es ihm geht, was seine Bedürfnisse
                                              B ew egung, a lle s w ar Kam pf,
      haftesten Aspekte im Umgang mit                                                                     sein könnten, um sich dann vielleicht
                                              Schmerz und Mühe, nichts ging mit
      dem Problemkomplex „Behinderung“                                                                    gemeinsam auf den Weg zu machen.
                                              Lust. Seine Mutter trug weiter die
      zu schließen, gerade weil er so zen­                                                                Das bedeutet, der Partner muß kei­
                                              Erinnerung in sich, wie er vor dem
      trale Bedeutung hat.                                                                                ne Voraussetzungen mitbringen, da­
                                              Unfall war, und so war sie eigentlich
                                                                                                          mit Sie mit ihm in Kontakt treten kön­
      Annas Mutter war hoffnungslos da­ nur noch traurig, wenn sie sich um
                                                                                                          nen.
      mit überfordert,                                           ihn küm m erte.
      mit 17 Jahren,                                             Hätte sie es ge­                         Als Ausdruck können Sie alles wahr­
      mitten in der Leh­        „ . . . spüren zu lassen,        wagt, ehrlich vor                        nehmen, was an Verhalten vom Part­
      re, ein Kind zu           wie schön es sein kann,          sich se lb st zu                         ner kommt: Seine Laute, seine Be­
      bekommen, zu­                                              sein, hätte sie oft                      wegungsrhythmen, seine „stereoty­
      mal als es dann
                                    da zu sein . . . “           den Impuls ge­                           pen Verhaltensweisen“, sein Spiel.
      noch viel zu früh                                          spürt, diesem                            Ähnlich wie Sie es ganz intuitiv bei
      zur Welt kam. Um nicht selbst dar­ Leiden ein Ende zu machen. Es ist                                einem Kleinkind machen würden,
      über verrückt zu werden, mußte sie gut vorstellbar, daß Rolf in ihrer Art,                          können Sie diese Äußerungen auf­
      sich vor dieser Überforderung ab­ mit ihm umzugehen, etwas davon                                    greifen, nachahmen, kommentieren,
      schirmen, indem sie innerlich gar spürte.                                                           damit spielen. Auch seine Körperhal­
      nicht erst zu Anna in Kontakt trat Das                                                              tung, Muskelspannung, Körpertem­
                                              Alle drei Kinder hatten vielfältige
      w urde noch durch den langen                                                                        peratur und Hautfeuchtigkeit gibt Ih­
                                              Förderbemühungen erlebt: Kranken­
      Krankenhausaufenthalt begünstigt,                                                                   nen Hinweise, wie er sich fühlen
                                              gymnastik, Frühförderung, Förderung
      der für Anna sofort nach der Geburt                                                                 könnte, so daß Sie sich auf ihn ein­
                                              in Kindergarten und Schule, auch
      nötig war, bis die Vitalfunktionen sich                                                             stellen können. Sogar sein Atem­
                                              Ergotherapie. Doch waren die Fach­
      stabilisiert hatten.                                                                                rhythmus spiegelt unmittelbar, wie es
                                              leute vor allem von ihren Defiziten -
                                                                                                          ihm geht.
      Auch die Großmutter hatte eigentlich ihrer „Behinderung“ - geblendet und
      „keinen Nerv“ mehr für das Enkelkind, sahen nicht, daß dahinter eine Per­                           Bei Anna stelle ich mir vor, ich halte
      das so unpassend zur Welt gekom­ son darauf wartete, endlich „wahr­                                 mich erst einmal sehr zurück und
      men war. Sie versuchte zwar zu tun, genommen“, als Partner ernst- und                               beobachte sie. Nimmt sie mit mir
      was sie als ihre Pflicht ansah, aber angenommen zu werden, endlich                                  Kontakt auf, lasse ich ihr Verhalten
      als Anna auch noch so schwierig „Antwort“ - das passende „Gegen-                                    auf mich wirken, kommentiere viel­
      wurde, war sie am Ende ihrer Mög­ Wort“ - auf ihre Äußerungen zu er­                                leicht, was ich erlebe, versuche, vor­
      lichkeiten.                             leben.                                                      sichtig zu antworten. Wenn sie mich
                                                                                                          berührt, fasse ich sie vielleicht auch
      Auch Karls Mutter konnte erst nach                         Stattdessen waren Annas Aggressi­
                                                                                                          kurz an; wenn ich spüre, wie sie wie­
      Wochen ihr Kind zu sich nehmen, und                        onsausbrüche „Verhaltensstörungen“,
                                                                                                          der weg strebt, halte ich sie vielleicht
      obwohl sie sich so sehr darauf ge­                         die mit Zuwendungsentzug „gelöscht“
                                                                                                          ganz kurz und gebe dann ihrem Im­
      freut hatte, blieb es ihr fremd. Sie                       werden sollten, Karls stereotypes We­
                                                                                                          puls zum Rückzug nach. Ich kann
      hatte bald gespürt, daß etwas nicht                        deln war sinnloses Verhalten, das
                                                                                                          ihren Schaukelrhythmus mit einigen
      in Ordnung war, aber Ärzte und Fach­                       Förderbemühungen im Weg war, und
                                                                                                          Tönen untermalen, vielleicht sogar
      leute verweigerten ihr die Aufklärung.                     Rolfs sanfte Laute verhallten unge­
                                                                                                          mitschaukeln. Vielleicht gefällt es ihr,
      Ihr Mann zog sich von ihr zurück und                       hört unter dem Lärm der anderen Kin­
                                                                                                          wenn ich ihren Namen in ihren Rhyth­
      ließ sie mit dem Kind allein, ihr Kin­                     der.
                                                                                                          mus hinein singe - „Lie-be, klei-ne
      derarzt vertröstete sie.                                                                            An-na.“ (sicher hat sie noch nicht oft
                                                                  Kommunikation - Sie kön­                gehört, daß sie lieb sei ...).
      Von keiner Seite erhielt sie Unterstüt­
      zung. Dazu kam, daß bei Karl das
                                                                  nen den ersten Schritt tun!             Dabei beobachte ich ständig ihr Ver­
      instinktive Verhalten einer Mutter ins                     Basale Kommunikation heißt, Sie          halten, registriere jedes Anzeichen für
      Leere lief. Zum Beispiel waren kei­                        gehen auf Ihren Partner/Ihre Partnerin   Interesse, Ablehnung oder Angst.
      ne spontanen Zärtlichkeiten möglich,                       zu und nehmen sie/ihn wahr, so wie       Gleichzeitig mute ich ihr auch immer
      da seine Spastik ihn daran hinderte,                       er/sie ist. Wie in jeder Begegnung mit   wieder kleine Annäherungen meiner­
      passend zu reagieren. Wer schmust                          einem Menschen, den Sie noch nicht       seits zu, immer wach für Signale von

374   p r a x is e r g o th e r a p ie • Jg. 12 (5) • O ktober 1999
Überforderung. Gelingt es mir, mich für sie interessant
zu machen, werde ich vielleicht „mutiger“ und nehme
Anna ganz kurz mal auf den Schoß, halte sie eventuell
sogar mit recht viel Kraft. Beginnt sie, sich zu wehren,
lasse ich wieder nach. Das nächste Mal bleibt sie viel­
leicht schon länger. Ich kann dabei Massage-ähnliche
Bewegungen über ihren Körper fließen lassen. - In
meinem Beobachten werde ich auch immer wieder auf
ihren Atemrhythmus achten, einen der Grundrhythmen
unseres Lebens. Wenn sie auf meinem Schoß sitzt, werde
ich versuchen, sie an meinem Körper ganz unterschwellig
meinen Ausatem spüren zu lassen, eingepaßt in ihren
eigenen Atemrhythmus.
Da sie direkte Berührung nicht gern hat, werde ich sie
so wenig wie möglich mit den Händen berühren, son­
dern eher die Arme, die Beine, den Körper einsetzen.
Gelingt es ihr - sicher nicht beim ersten Mal - sich län­
ger auf meine Nähe einzulassen, werde ich versuchen,
ihr meine Ruhe und Zentriertheit zu vermitteln, ohne mich
ihr aufzudrängen. Wenn sie so drei Minuten bei mir sit­
zen bliebe, wäre das für mich ein großes Erfolgserleb­
nis.
Bei Karl finden Sie vielleicht den Einstieg, indem Sie
sein Wedeln und seine begleitenden Laute nachahmen.
Sie können sich dazu vor ihn in sein Blickfeld oder auch
direkt neben ihn setzen. Je nach seiner Reaktion wer­
den Sie merken, was ihm gefällt, und wie Sie für ihn
interessant werden. Wenn er Vertrauen gefaßt hat, wer­
den Sie vielleicht auch in Körperkontakt gehen, sich z.B.
hinter ihn setzen, mit ihrem Bauch an seinem Rücken.
Sie können ihm anbieten, sich bei Ihnen anzulehnen,
suchen sich selbst dafür eine gute Stütze im Rücken.
Sind seine Impulse, sich weiter zu bewegen, sehr stark,
könnte es ihm helfen, wenn Sie Ihre Arme über seine
Schultern legen und ihn sanft zu sich her drücken. Wird
sein Widerstand größer, geben Sie wieder nach. Auch
hier beginnen Sie vorsichtig, ihn Ihren Atemrhythmus
spüren zu lassen, abgestimmt auf seinen Rhythmus.
Dabei ist Ihnen wichtig, sehr bewußt bei sich selbst zu
sein, den eigenen Halt an Boden und Wand, das eige­
ne Gleichgewicht, die eigene Ruhe wahrzunehmen. Läßt
Karl es zu und lehnt sich an Sie an, sind vielleicht ganz
feine Schwingungen aus Ihrem Körp e r - von Schultern,
Becken, Beinen - hilfreich, um Verspannungen aufzulö­
sen und Karl zu helfen, zur Ruhe zu kommen. Vielleicht
erleben Sie - eventuell erst nach einer Reihe von Be­
gegnungen - wie er sich vertrauensvoll an Sie lehnen
und seine Angst und Spannung ablegen kann. Dann ist
Ihnen ein ganz wichtiger Schritt hin zu einer wechsel­
seitigen Beziehung gelungen.
Auch Rolf würden Sie sich sehr vorsichtig nähern. Sie
würden alles vermeiden, was ihn erschrecken könnte.
Sie könnten ihn sanft ansprechen, mit Ihren Lauten sei­
ne Bewegungen und Laute begleiten, ihn zwar deutlich,
doch sehr behutsam berühren. Liegt er auf einer schwin­

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gungsfähigen Unterlage wie z.B. ei­     Erst wenn Sie merken, daß er Ver­       sen entfalten sie jedoch erst, wenn
      nem Wasserbett, könnten Sie ihn         trauen faßt, würden Sie auch mal        Therapeutin und Kind eine gemein­
      auch über Vibrationen ansprechen,       lebhafter werden, vielleicht sogar -    same Basis gefunden haben, auf der
      wenn möglich in seinen Atemrhyth­       ihn ständig beobachtend - ein we­       das Kind die Angebote angstfrei an­
      mus - sein Ausatmen - eingepaßt.        nig mit ihm herumtollen. Ihr erstes     nehmen kann, und auf der die The­
      Wenn Sie ihn an Ihren Körper neh­       Ziel wäre, ihn spüren zu lassen, wie    rapeutin die Sicherheit hat zu spü­
      men wollen, würden Sie sich Zeit        schön es sein kann, da zu sein, in      ren, wie ihre Angebote beim Gegen­
      lassen, Möglichkeiten des handling      Kontakt zu sein. Sein erstes Lachen     über ankommen - wenn sie in Kom­
      zu entwickeln, die ihm angemessen       auf einen interessanten Reiz, den Sie   munikation sind.
      sind und keine spastischen Reflexe      ihm vermitteln, wäre Ihre Belohnung,
                                                                                      Überraschungen sind dabei wahr­
      auslösen.                               oder auch, wenn er entspannt in Ih­
                                                                                      scheinlich. Erlebt sich der Partner
                                              ren Armen einschliefe.
      Ist es von seinem Gewicht her mög­                                              nämlich wirklich wahr- und angenom­
      lich, würden Sie ihn vielleicht sogar                                           men, wird er auch frei, seine Impul­
      tragen und auf dem Arm wiegen. Ih­      Den Weg zusammen gehen                  se und Bedürfnisse nach außen tre­
      nen wäre ständig bewußt, daß Sie        Es geht mir als Heilpädagogen sicher    ten zu lassen. Dabei kann es sein,
      es mit einem sehr verletzlichen - und   nicht darum, ein neues Konzept vor­     daß er ganz andere Prioritäten setzt
      schon viel zu oft verletzten - Men­     zustellen und zu sagen: „So müssen      als seine Therapeutin. Vielleicht ist
      schen zu tun haben, bei dem alles       Sie es jetzt machen!“ Was Ergothe­      es ihm wichtiger, seine Durchset­
      auf Ihre Einfühlung ankommt. Ent­       rapeuten, Krankengymnasten, Logo­       zungsfähigkeit zu entwickeln, als dif­
      sprechend würden Sie sich meist         päden und andere Fachleute an Kon­      ferenzierter greifen zu lernen. Oder
      langsam, fast wie in Zeitlupe bewe­     zepten entwickelt haben, hat selbst­    er zeigt deutlicher seine Vorlieben
      gen.                                    verständlich seinen guten Sinn. Die­    und Abneigungen, was bestimmte

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Materialien angeht. Dann bedarf es            Mall, W.: Basale Kommunikation - ein Weg           Zum Autor:
des Respekts der Therapeutin vor der          zum andern. In: Geistige Behinderung 23.           Nach Studium der Heilpädagogik (Kath. FHS
                                              Jg./1984 Heft 1, Innenteil.                        Freiburg/Br.) ca. 10 Jahre Tätigkeit in Fach­
Persönlichkeit des Gegenübers, was
                                              Mall, W.: Die Wiederaufnahme der primä­            diensten größerer Einrichtungen für Men­
es diesem wieder leichter machen              ren Kommunikationssituation als Basis zur          schen mit geistiger Behinderung. Zusatz­
dürfte, schließlich doch auf ihre An­         Förderung schwer geistig behinderter Men­          ausbildung in Gestalttherapie für Menschen
gebote einzugehen.                            schen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 36.       mit Behinderung (Besems/Institut heel, NL-
                                              Jg./1985 Beiheft 12, S. 24-32.                     Megen) und in Praxisberatung in Einrich­
Am schönsten aber ist es, wenn beim           Mall, W.: Heilpädagogische Partnerschaft           tungen der Behindertenhilfe (Haisch/Diako-
Partner - sogar ganz ungeplant -              mit schwerstbehinderten Menschen. In: An­          nische Akademie Stuttgart).
neue Interessen und Lernimpulse er­           nehmen und Verstehen - Perspektiven der            Schwerpunkte: Therapie und Förderung von
wachen: Wenn Anna sich plötzlich für          Förderung von Menschen mit sehr schwe­             Menschen mit schwerer geistiger Behinde­
                                              ren Behinderungen, Tagungsbericht des              rung, mit autistischem Verhalten, mit her­
andere Menschen interessiert und
                                              Fachkongresses am 3./4.9.1992 in Duis­             ausforderndem Verhalten; Teamberatung
Kontakt sucht, ohne zu verletzen;             burg. Hürth (Landesverband Nordrhein-              und -supervision; Fortbildung. Seit 11 Jah­
wenn Karl wirkliches Interesse an             Westfalen der Lebenshilfe für geistig Be­          ren ambulante Begleitung chronisch psy­
neuen Gegenständen entwickelt und             hinderte) 1992.                                    chisch kranker Menschen in einem Sozial­
sie nicht nur dann greift, wenn ihn           Mall, W.: Kommunikation - Basis der För­           psychiatrischen Dienst; freiberufliche Fort­
                                              derung. In: Frei, E.X., Merz, H.-P. (Hg.):         bildungs- und Supervisionstätigkeit.
die Ergotherapeutin dazu auffordert;
                                              Menschen mit schwerer geistiger Behinde­
wenn Rolf beginnt, wacher umher zu
                                              rung - Alltagswirklichkeit und Zukunft. Lu­
schauen, und die Sinnesanregungen,            zern (Schweiz. Zentralstelle für Heilpädago­       A nschrift des Verfassers:
denen man ihn aussetzt, mit Lust und          gik) 21993.                                        Winfried Mall
Interesse genießen kann.                      Mall, W.: Sensomotorische Lebensweisen             Hochburger Strasse 5
                                              - Wie erleben Menschen mit geistiger Be­           D-79312 Emmendingen
Dann verliert die Arbeit mit diesen                                                              Telefon: +49-7641-571877
                                              hinderung sich und ihre Umwelt? Heidel­
Menschen auch viel von ihrer berüch­          berg (Edition Schindele im Universitätsver­        Fax: +49-7641-571878
tigten Schwere, weil Sie als Thera­           lag C. Winter) 1997.                               eMail: kontakt@winfried-mall.de
peutin nicht ständig die Last spüren:                                                            www: gtto://www.w infried-mall.de
                                              Mall, W.: Kommunikation mit schwer gei­            Internet: Im Internet sind auch Texte von
„Ich muß ihn doch fördern, ich bin            stig behinderten Menschen - ein Werkheft.          Aufsätzen, sowie Angaben über Fortbil­
dafür verantwortlich - aber wie nur?“,        Heidelberg (Edition Schindele im Universi­         dungsmöglichkeiten zu finden.
sondern weil es zu einem echten Mit­          tätsverlag C. Winter) 4 .A
                                                                       1998.
                                                                       e
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einander kommt und Sie sicher sind,           Mall, W.: Wie kommt der Austausch in
daß Ihr Partner aus eigenem Inter­            Gang? In: Unterstützte Kommunikation -
                                              ISAAC’S Zeitung, Heft 2-3/98, S. 41 - 44.
esse lernt, begleitet von Ihrem fach­
lichen Können.                                Zwei weitere aktuelle Bücher zum Thema:
                                              Niedecken, D.: Namenlos. Geistig Behin­
                                              derte verstehen. Neuwied, Kriftel: Berlin
Literatur:                                    (Luchterhand) 3 .A
                                                               1998.
                                                               e
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Mall, W.: Entspannungstherapie mit Tho­       Nind, M., Hewett, D.: Access to Commu­
mas - erste Schritte auf einem neuen Weg.     nication. Developing the basics of commu­
In: Praxis der Kinderpsychologie und Kin­     nication with people with severe learning
derpsychiatrie 29. Jg./1980 Heft 8, S. 298-   difficulties through Intensive Interaction. Lon­
301.                                          don (David Fulton Pub.) 1994.

 © Therapie:

                                                                                            p r a x is e r g o th e r a p ie • Jg. 12 (5) • Oktober 1999   377
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