Buchbesprechungen Comptes rendus des livres - Seismo Verlag

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Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
         SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES
         118. JAHRGANG (2022), HEFT 1, S. 117–147, DOI10.33057/CHRONOS.1698/117-147

         Buchbesprechungen
         Comptes rendus des livres

         Black, Monica: A Demon-Haunted                          In diesem Klima trat der Wunderheiler
         Land. Witches, Wonder Doctors,                    Bruno Gröning (1906–1959) auf. Interes-
         and the Ghosts of the Past in Post-               sant ist nicht eigentlich Gröning, dessen
         WWII Germany.                                     Geschichte einigermassen gut dokumentiert
         New York: Metropolitan Books, 2020, 332 S, Ill.   ist, sondern die Mengen, die er zu mobili-
                                                           sieren wusste. Die (vermeintlichen) Wunder
         Die Historikerin Monica Black legt eine           von Gröning, die er mit dem von ihm aus-
         Studie vor zu den nach dem Ende des Zwei-         strahlenden «Heilstrom» und Stanniolkugeln
         ten Weltkriegs in der Bundesrepublik              bewirkt haben wollte, sorgten für einen
         Deutschland auftauchenden Hexenbezichti-          riesigen Zulauf, was den lokalen Behörden
         gungen und den zeitgleich regen Zulauf            im westfälischen Herford nicht gefiel, die
         erhaltenden Wunderheilern. Sie zeigt, wie         seine Aktivitäten verboten. Die lokale
         Hexereigerüchte als Möglichkeit der Ver-          Bevölkerung und die Heilsuchenden sahen
         handlung, vor allem aber auch der Externa-        dieses Verbot als Versuch der Obrigkeit, aus
         lisierung der Gräuel des Nationalsozialis-        politischen Gründen gegen die Wünsche der
         mus dienen, womit sie einen Gegenentwurf          Mehrheit der Bevölkerung vorzugehen. In-
         zur oftmals erzählten Erfolgsgeschichte der       teressanterweise war der damalige Bürger-
         Bundesrepublik als geprägt von Auf-               meister ein Sozialdemokrat, der 1933 von
         schwung und Prosperität formuliert. Das           den Nationalsozialisten aus allen Ämtern
         nach dem Zweiten Weltkrieg weitverbrei-           entlassen worden war.
         tete Schweigen über die zur Zeit der natio-             Gröning erklärte, nur gute Menschen
         nalsozialistischen Diktatur begangenen            heilen zu können. In seiner Lesart prüft
         Verbrechen bot die Möglichkeit, sich neu          Gott die Guten mit Leiden und straft die Bö-
         zu erfinden, aber niemand «forgot the             sen mit Unglück. Während Gröning für die
         ­demons Nazism has unleashed» (S. 13).            einen ein Wunderheiler war, sahen andere
          Nach dem Ende der nationalsozialistischen        ihn als Scharlatan. Wie Black herausarbei-
                                                                                                                 SAVk | ASTP 118:1 (2022)

          Diktatur kamen viele Gerüchte über Ver-          tet, ist Gröning als spezifisches Produkt der
          schwörungen und das Nahen des Weltun-            deutschen Nachkriegsgeschichte zu sehen.
          tergangs auf, die der Prähistoriker Alfred       Die mit der Zeit des Nationalsozialismus
          Dieck (1906–1989) aufzeichnete. Das ver-         verbundenen Erinnerungen an Verbrechen
          breitete apokalyptische Denken galt ihm          und Schuld versickern in der Tiefe der
          als Ausdruck der Krise.                          ­Gesellschaft und prägen aus dem Verbor-

                                                                                                             117

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Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
                                                    genen alle Aspekte des Lebens. Grönings              interpretierte der Volkskundler Leopold
                                                    Popularität zog sich bis in die 1950er-Jahre         Schmidt das Blühen des Übernatürlichen
                                                    hinein. 1957 wurde er wegen eines 1949               als Resultat sozialer Spannungen, wie
                                                    erfolgten Todesfalls eines weiblichen                Black rapportiert.
                                                    Teenagers vor Gericht gestellt. Die junge                 Neben Wunderheilern war auch der
                                                    Frau hatte an Tuberkulose gelitten und               Glaube an das Wirken von Hexen weit ver-
                                                    alle medizinische Behandlung verweigert,             breitet, in dem Bereich waren sogenannte
                                                    weil sie der Heilkraft Grönings vertraute.           Hexenbanner aktiv. Als typisch kann ein
                                                    Es erfolgte ein Freispruch, der angefochten          Fall in Schleswig-Holstein gelten, der vor
                                                    wurde. Bevor es zum Rekurs kam, starb                Gericht endete. Als von Hexerei bedroht
                                                    Gröning an Magenkrebs.                               verstand sich eine Familie von hochran-
                                                          Viele der Kranken, die Heilung bei             gigen ehemaligen Anhänger*innen des
                                                    Gröning suchten, hatten Kriegsverlet-                Nationalsozialismus, die während dieser
                                                    zungen oder Krankheiten, die mit dem                 Zeit wichtige Ämter im Dorf übernommen
                                                    Krieg in Verbindung standen, die aber                hatte. Nach ihrem Verständnis war das
                                                    eher soziale Konditionen widerspiegeln,              Ende des Dritten Reichs ein mit starken
                                                    wie im Falle von Stumm- oder Blindheit,              Verlustgefühlen verbundener Untergang.
                                                    die für ein Nichtsehen- beziehungsweise              Sie fühlten sich verfolgt und suchten Hilfe
                                                    Nichtsprechenwollen angesichts der Gräuel            beim Hexenbanner Waldemar Eberling,
                                                    des Krieges sowie einer kollektiven Schuld           der den Schuldigen zu erkennen meinte.
                                                    am Holocaust stehen können. Anders als               Die Anschuldigungen richteten sich gegen
                                                    die Schulmedizin, die vielfach durch ihre            den Bürgermeister, der dieses Amt nach
                                                    Verflechtungen mit dem Nationalsozia-                dem Krieg übernommen hatte und in die
                                                    lismus kompromittiert war, nahm die in               Entnazifizierungsprozesse eingebunden
                                                    Deutschland weitverbreitete Volks- und               war. Schleswig-Holstein war in den 1950er-­
                                                    ­Laienmedizin solche nicht ausgesproche-             Jahren das Gebiet mit der ausgeprägtesten
                                                     nen Punkte und Sorgen eher auf.                     Hexenfurcht in Deutschland, zugleich auch
                                                          Neben Marienerscheinungen wie der              das Gebiet mit der grössten Dichte ehe-
                                                     in Heroldsbach im Herbst 1949, auf die              maliger Mitglieder der NSDAP und natio­
                                                     Rudolf Kriss (1903–1973) in mehreren                nalsozialistischer Vereine. Dieser Befund
                                                     Aufsätzen in den 1950er-Jahren einging,1            passt zur Feststellung, dass der Glaube an
                                                     blühten in dem Klima auch Teufelsaus-               Hexen und Schadenzauber insbesondere
                                                     treibungen durch Gebetsheiler. In seinem            zu Zeiten sozialen Wandels virulent ist,
                                                     Buch Volksglaube und Volksbrauch (1966)             weil sich darin Konflikte und Unsicherheit
                                                                                                         ausdrücken: «In this sense, witchcraft fears
                                                      1 Zu Heroldsbach vgl. die zeitgenössischen Bei-
                                                                                                         can be seen as a cultural idiom of personal
                                                        träge von Schmidt, Leopold: Heroldsbach in       and communal conflict.» (S. 178)2
                                                        volkskundlicher Sicht: zum Wallfahrtswesen            Der Glaube an Hexen war nicht
                                                        der Gegenwart. In: Österreichische Zeitschrift   plötzlich nach dem Ende des Zweiten
                                                        für Volkskunde 55 (1952), S. 145–172; ders.:
                                                                                                         Weltkriegs auferstanden, vielmehr war
                                                        Heroldsbach. Eine verbotene Wallfahrt der
                                                                                                         er nie ganz verschwunden seit dem Ende
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                                                        Gegenwart. In: Schmidt, Leopold (Hg.): Kultur
                                                        und Volk. Beiträge zur Volkskunde aus Ös-
                                                        terreich, Bayern und der Schweiz. Festschrift
                                                        für Gustav Gugitz zum 80. Geburtstag. Wien         2 Hierzu beispielhaft der Klassiker der Hexen-
                                                        1954, S. 203–227, oder die neuere Darstel-           forschung Thomas, Keith: Religion and the
                                                        lung von Scheer, Monique: Rosenkranz und             Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in
                                                        Kriegsvision. Marienerscheinungskulte im             Sixteenth- and Seventeenth-Century England.
                                                        20. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 207–245.          London 2012 (1971).

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Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
         der Hexenverfolgungen.3 In Deutschland                     derart Verleumdeten traumatisierte. Er war
         stammten entsprechende Berichte aus                        ein unverstandener, ja missverstandener
         dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts                    Rufer. Die Behörden wollten teilweise nicht
         hauptsächlich aus Kirchenkreisen, die sich                 verstehen, wogegen Kruse kämpfte, sie
         über das Fortbestehen dieses Aberglaubens                  meinten, er richte sich gegen das Hand­
         besorgt zeigten. Insgesamt wurde wenig                     lesen, das gesetzlich geregelt sei.
         von Hexerei gesprochen, Verwendung                              In Erinnerung geblieben ist Kruse
         fanden alternative Begriffe. Generell wurde                durch den von ihm angestrebten Prozess
         der Hexenglaube in den 1950er-Jahren von                   gegen den Planet-Verlag mit seinen
         sich als aufgeklärt verstehenden, gebildeten               günstigen Taschenbuchausgaben des
         Kreisen als überholter Aberglaube abgetan.                 Sechsten und Siebten Buchs Mose, ein in der
         Der Hauptthese von Black folgend, mani-                    deutschsprachigen Welt im 20. Jahrhundert
         festiert sich in ihm aber nicht etwas Altes,               äusserst erfolgreiches und in zahlreichen
         sondern er ist Ausdruck einer gesamtgesell-                Auflagen verbreitetes Zauberbuch. Kruse
         schaftlichen Malaise: «[…] witchcraft acted                betrachtete derartige Bücher als «promoting
         as a language of social conflict.» (S. 198)                witchcraft beliefs and violence against
              Johannes Kruse (1889–1983) zog eine                   those labeled witches» (S. 211) und strebte
         Parallele zwischen Antisemitismus und                      ein generelles Verbot von Magiebüchern an.
         Hexenmanie. Er veröffentlichte in den                      Anders die Behörden, die überzeugt waren,
         frühen 1920er-Jahren ein Buch gegen den                    dass niemand Zauberbücher für bare
         Hexenglauben, worin er die wachsende                       Münze nehme. Einer solchen Einschätzung
         Judenhetze mit der historischen Hexen-                     hielt er entgegen, dass ein Zauberbuch
         verfolgung in Verbindung brachte. Diese                    immer auch eine Anleitung zum Handeln
         Gleichsetzung findet sich nicht in seinen                  sei, da es Wissen um Rituale, Beschwörun-
         Schriften und Aktionen der 1950er-Jahre                    gen etc. enthalte.
         wie Hexen unter uns (1951). Kruse sah                           Die postulierte Abstammung der Zau-
         eine Parallele zwischen der Nachkriegsge-                  berbücher von König Salomon vertiefte die
         schichte der Hexenanschuldigung und der                    im deutschen Aberglauben weitverbreitete
         Verunglimpfung der Juden in den Jahrzehn-                  Vorstellung, dass Juden magische Fähigkei-
         ten davor. Seine Botschaft war, dass das                   ten hätten. Die Zuschreibung taucht bereits
         Suchen nach Sündenböcken (Hexen) die                       im Titel der Clavicula Salomonis, eines
                                                                    bekannten Grimoires des 15. Jahrhunderts,
           3 Abgesehen von Jeanne Favret-Saadas ethno-              auf.4 Die Verbindung von Judentum und
             logischer Studie in der ländlichen Normandie           Magie findet sich auch in der Ausgabe des
             Les mots, la mort, les sorts. La sorcellerie dans le   Planet-Verlags des Sechsten und Siebten
             Bocage (1979), die die Welt der Hexen und He-
             xenbanner der Gegenwart in den Vordergrund
                                                                    Buchs Mose. Zugleich sind wohl in der
             rückte, sind in den letzten zwanzig Jahren             Vorstellung der Lesenden das Hebräische
             Studien erschienen, die sich des Hexenglau-            und Magie eine so enge Verbindung einge-
             bens in Europa nach dem Ende der gerichtlich           gangen, dass das Hebräische als magisch,
             sanktionierten Hexenverfolgungen angenom-
                                                                    aber nicht als jüdisch erkannt wurde.
             men haben, darunter de Blécourt, Willem;
                                                                         Kruse strebte einen Prozess gegen die
                                                                                                                           SAVk | ASTP 118:1 (2022)

             Davies, Owen (Hg.): Witchcraft Continued.
             Popular Magic in Modern Europe. Manchester,            Herausgeber des Buches an, dieser fand
             New York 2004, oder Barry, Jonathan und                an drei Tagen im Spätherbst 1956 statt.
             Owen Davies: Palgrave Advances in Witchcraft           Zur Verteidigung war kein Geringerer
             Historiography. Basingstoke: Palgrave Macmil-
             lan, 2007, oder auch Harmening, Dieter (Hg.):
             Hexen heute. Magische Traditionen und neue              4 Davies, Owen: Grimories. A History of Magic
             Zutaten. Würzburg 1991.                                   Books. Oxford 2009, S. 15.

                                                                                                                       119

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Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
                                                    als Will-Erich Peuckert (1895–1969)               Deutschland der Nachkriegszeit für regen
                                                    aufgeboten, der das Buch als ein Beispiel         Zuwachs bei Wunderheilern sorgten, die als
                                                    sogenannter Hausväterliteratur deutete,           Retterfiguren verehrt wurden; auch Formen
                                                    weil es Rat biete gegen Krankheiten, für die      der Volksfrömmigkeit wie Marienerschei-
                                                    Haushaltsführung, die Tierzucht etc. Das          nungen und Wallfahrten erfuhren eine
                                                    Gericht in Braunschweig folgte Kruse und          Renaissance. Ebenfalls im Zusammenhang
                                                    dem Zeugen der Anklage, dem Gerichts­             mit der nicht durchgehenden Verarbeitung
                                                    mediziner Otto Prokop (1921–2009). Das            der Schrecken der nazistischen Vergangen-
                                                    Buch wurde verboten.                              heit nahm der Hexenglaube zu, weil Hexe-
                                                         Peuckert verfasste für das berühmt-­         reigerüchte ein Mittel der Kanalisation von
                                                    berüchtigte Handwörterbuch des deutschen          Konflikten und Ängsten in Gemeinschaften
                                                    Aberglaubens (1927–1942) den von                  waren und sind. Das mag mit erklären,
                                                    antisemitischen Tönen durchdrungenen              warum der Hexenwahn in den frühen
                                                    Eintrag zu Jude/Jüdin.5 Es ist bis heute          1960er-Jahren abflaute. Dieser Befund darf
                                                    eine Ironie der Fachgeschichte, dass der          aber nicht mit einer Bedeutungslosigkeit
                                                    von den Nationalsozialisten aus Amt und           von Hexenglauben und Okkultismus ver-
                                                    Würden entlassene Peuckert weit über              wechselt werden, denn diese blühten in den
                                                    die nationalsozialistische Zeit hinaus            1960er-Jahren auch in Deutschland unter
                                                    völkisch inspiriertes Gedankengut über            veränderten Vorzeichen wieder auf. Dafür
                                                    die Existenz verschiedener Kulturkreise           spricht das zeitgleich auszumachende
                                                    vertrat. In diesen Kontext bettete er auch        ausgeprägte wissenschaftliche Interesse an
                                                    das Hexenwesen ein.6 Nur am Rande                 parapsychologischen Themen. Ein Produkt
                                                    erwähnt sei, dass unser Fach bis heute an         davon ist 1950 die Gründung des Instituts
                                                    der Langlebigkeit des Handwörterbuchs des         für Grenzgebiete der Psychologie und Psy-
                                                    deutschen Aberglaubens leidet, wenn nicht         chohygiene in Freiburg im Breisgau. Alles
                                                    sogar verzweifelt, weil es immer wieder als       in allem hat Monica Black ein anregendes
                                                    Beleg für alte Bräuche und abergläubische         Buch geschrieben, das einen alternativen
                                                    Praktiken ins Feld geführt wird.7                 Blick auf die Nachkriegsgeschichte der
                                                         Nun zurück zum zu besprechenden              Bundesrepublik Deutschland wirft, indem
                                                    Buch: Es gelingt Monica Black auf über-           sie den Zuwachs des Glaubens an die
                                                    zeugende Weise zu zeigen, wie die der Zeit        Macht von Wunderheilern und Hexenban-
                                                    des Nationalsozialismus entstammenden             nern und an den Schadenzauber von Hexen
                                                    Spannungen in der Gesellschaft im                 in den Kontext unverarbeiteter Kriegstrau-
                                                                                                      mata und Schuldgefühle einbettet.
                                                     5 Peuckert, Will-Erich: Jude/Jüdin. In: Hanns                             MERET FEHLMANN
                                                       Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des
                                                       deutschen Aberglaubens. Bd. 4. Nachdruck.
                                                       Berlin 2000 (Erstausgabe 1932), S. 808–833,
                                                       hier besonders S. 811–816.
                                                     6 Vgl. Peuckert, Will-Erich: Geheimkulte. Hei-
                                                       delberg 1951, S. 266–269; Fehlmann, Meret:
                                                       Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchs-
     SAVk | ASTP 118:1 (2022)

                                                       geschichte eines Arguments. Zürich 2011,
                                                       S. 217–220.
                                                     7 Vgl. hierzu die Erläuterungen von Christoph
                                                       Daxelmüller zur Neuauflage des Werks. Da-
                                                       xelmüller, Christoph: Vom HDA zum HEV. Die
                                                       Neukonzeption eines umstrittenen Klassikers.
                                                       In: Bayerische Blätter für Volkskunde 15
                                                       (1988), S. 65–76.

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Frizzoni, Brigitte (Hg.):

                                                                                                           Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
                                                        schwörungserzählungen» (in Anlehnung an
         Verschwörungserzählungen. Beiträge             David Kelman) ist Programm und schlägt
         der interdisziplinären Tagung                  den Bogen zur DGV-Kommission für Erzähl-
         «Verschwörungserzählungen» der DGV-            forschung, in deren Rahmen die Tagung
         Kommission Erzählforschung in Zäziwil,         veranstaltet wurde, sowie zur früheren
         5.–8. 9. 2018.                                 historisch-vergleichenden Erzählforschung,
         Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.        etwa im Bereich der urban legends.
                                                        Gleichzeitig wird schon in der Einleitung
         Als 2018 die Tagung zu Verschwörungs­          von Brigitte Frizzoni auf die notwendigen
         erzählungen, organisiert von Brigitte          terminologischen Unterscheidungen
         ­Frizzoni mit Unterstützung des Instituts      hingewiesen zwischen Verschwörung,
          für Sozialanthropologie und Empirische        Verschwörungstheorie als Masternarrativ
          Kulturwissenschaft – Populäre Kulturen        und Verschwörungserzählung als spezi­
          der Universität Zürich, durchgeführt          fische narrative Ausgestaltung – mit jeweils
          wurde, war Donald Trump seit einem guten      fliessenden Übergängen. Genau dieses
          Jahr Präsident der Vereinigten Staaten von    Changieren an den unscharfen Begriffsrän-
          Amerika – und gefühlt boomten Verschwö-       dern, verbunden mit der potenziellen Mög-
          rungstheorien, die unter anderem gezielt      lichkeit, dass «die Dinge nicht so sind, wie
          aus dem US-amerikanischen Machtzen­           sie scheinen» (in Anlehnung an Michael
          trum verbreitet wurden. Hatte man solche      Butter), sind sowohl Merkmal als auch
          schon vorher wahrgenommen, etwa in pop-       narrativer Reiz – «Verschwörungen [sind]
          kultureller Ausarbeitung in den Büchern       immer auch großartige Geschichten» (S. 10)
          von Dan Brown und Robert Anton Wilson,        und damit ist zu fragen, welche Funktionen
          in den kopfschüttelnd wahrgenommenen          und Strukturelemente Verschwörungs­
          Erzählungen von «Chemtrails» und «Repti-      erzählungen haben, welche individuellen
          loiden» oder den Verlautbarungen von          und gesellschaftlichen Bedürfnisse hierbei
          «Reichsbürgern», so bekamen sie mit           angesprochen werden und was die damit
          «Q-Anon» und anderen zentralen Akteuren       verbundenen gesellschaftlichen Herausfor-
          eine teils erschreckende Präsenz und medi-    derungen sind.
          ale Aufmerksamkeit. Seit dem Erscheinen             Das Buch ist in drei Teile mit je
          des Tagungsbandes 2020 ist die Situation      acht Beiträgen aufgeteilt. Diese decken
          nicht unbedingt besser geworden. Mit der      ein breites, interdisziplinäres Spektrum
          Covid-19-Pandemie traten erneut verschwö-     an Themen und Zugängen ab. Der erste
          rungstheoretische Akteure auf, in und um      Teil, «Verschwörungserzählungen verste-
          die sogenannte Querdenker-Szene – Stich-      hen – Theoretische und narratologische
          wort «Coronadiktatur». Beruhigend mag in      Perspektiven», definiert verschiedene
          diesem Zusammenhang sein, wenn Mi-            Zugangsweisen, wobei auch der konkreten
          chael Butter, ein ausgewiesener Fachmann      Verschwörung und dem Erzählen darüber
          für Verschwörungstheorien, konstatiert,       epistemischer Raum gegeben wird. Der
          dass sich eine quantitative Zunahme nicht     zweite Teil, «Verschwörungserzählungen
          feststellen lässt, wohl aber eine deutlich    im Alltag», untersucht über (auto)ethnogra­
                                                                                                             SAVk | ASTP 118:1 (2022)

          stärkere mediale Wahrnehmung und              fische Zugänge die Ver- und Einflechtungen
          ­Diskussion.                                  der Narrative in lebensweltliche Kontexte,
                Gerade vor diesem Hintergrund           Praktiken und Sinnzuschreibungen. Der
           bekommt der gehaltvolle und lesenswerte      dritte Teil, «Verschwörungserzählungen
           Tagungsband eine Relevanz, die für längere   in populären Literaturen und Medien»,
           Zeit wirksam bleiben wird. Der Titel «Ver-   schliesslich bietet mehrere fundierte

                                                                                                         121

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narratologische und populärkulturelle           (S. 100) Zwei Beiträge betrachten die
     Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres

                                                    Fallstudien, die sichtbar machen, wie tief      Verschwörungserzählungen unter dem
                                                    die Narrationen und Narrative in den me-        Aspekt von Wirklichkeitskonstruktionen
                                                    dialen Alltag verwoben sind. Dem Umfang         («Die ­verschwörungstheoretische [De-]
                                                    des Sammelbandes ist geschuldet, dass           Konstruktion der Wirklichkeit. Zur
                                                    hier nur ein paar Beiträge angesprochen         ­Wissenssoziologie von Verschwörungs­
                                                    werden können, für die Lektüre seien aber        theorien» von Andreas Anton) und als mar-
                                                    ausdrücklich auch die anderen Beiträge           ginalisierte Wissenspraktiken («‹Verschwö-
                                                    empfohlen.                                       rungstheorien›. Ein Streifzug mit Bourdieu
                                                            Harm-Peer Zimmermann fragt in            durch geächtete Sinn- und Heilsangebote»
                                                    «Zur Theorie der Verschwörungstheorie:           von Julian Genner und Ina Dietzsch). Beide
                                                    Politische, narrative und epistemische           zeigen zum einen die Nähe zur und die
                                                    Aspekte» nach der Bedeutung von Ver-             Ähnlichkeit mit «etablierten» Wissenssys-
                                                    schwörungen als politische, als narrative        temen auf, wobei auch die damit verbun-
                                                    und als epistemische Form. Ausgehend             denen Konkurrenzen und Abgrenzungen
                                                    von den ambivalenten Aussagen in und             sowie Autoritätsverluste deutlich werden.
                                                    um den Rütlischwur (und dessen poetische         Damit werden die sozialen Verflechtungen
                                                    Ausgestaltung) geht er über zu narrativen        ebenso wie die individuelle Suche nach
                                                    Aspekten der Verschwörung als handlungs-         Sinn und das Ordnungsbedürfnis bei der
                                                    leitendes Moment im klassischen Drama,           Weltwahrnehmung angesprochen.
                                                    um schliesslich nach dem narratologischen             Neben den quasireligiösen und
                                                    «Funktionieren» zu fragen, indem die             pseudo­epistemischen werden die psycholo-
                                                    «verschwörerische[n] plots […] eine ‹in          gischen Aspekte von Verschwörungstheo­
                                                    sich geschlossene Handlung› darstellen,          rien aufgegriffen («Zwischen Zweifel und
                                                    die folgerichtig aufgebaut ist und plausibel     Dogma. Philosophische und psychologische
                                                    erscheint» (S. 28). Mit der Erweiterung          Zugänge zum Verständnis von Verschwö-
                                                    zu Religion und Mythos werden weitere            rungstheorien» von Bernd Rieken und «Der
                                                    ­Mechanismen und Narrative einer «invi-          tragische Fall des Walter G. oder wie das
                                                     sible hand» (S. 29) aufgezeigt, was wiede-      Erleben einer Verschwörung in den Tod
                                                     rum mit dem Befund einer quasireligiösen        führt. Vertiefende psychologische Betrach-
                                                     Funktion von Verschwörungstheorien              tungen zum Verständnis von Verschwörun-
                                                     korreliert. Abschliessend verdeutlicht          gen» von Anna Jank). Kann der Vorwurf der
                                                     Zimmermann die methodologischen                 Paranoia auch als Abwehr beziehungsweise
                                                     Probleme und Fehler sowie die totalitäre        Delegitimation wirken und sollte daher
                                                     Geschlossenheit und Autopoiesis von             nur mit grösster Vorsicht erhoben werden,
                                                     ­Verschwörungserzählungen (S. 32). Eben-        so zeigt sich doch die Problematik dort,
                                                      falls von Tell ausgehend arbeitet Sebastian    wo Regulierungsmechanismen nicht mehr
                                                      Dümling in «Der Tell, das Dieselverbot und     funktionieren und Zweifel beziehungsweise
                                                      das Blackwashing Europas. Überlegungen         Kontingenzwahrnehmungen ins Wilde
                                                      zu einer Grammatik der Verschwö-               laufen. Verschwörungswahrnehmungen
                                                      rungsbeobachtung» die narrativen und           sind nicht per se paranoid, können aber
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                                                      semantischen Binnenstrukturen h   ­ eraus:     bei entsprechender Disposition eine fatale
                                                      «Die Aufgabe einer solchen Grammatik           Wirkung entfalten.
                                                      besteht darin, die notwendigen Ordnungen            Auf die politische Brisanz von
                                                      bereitzuhalten, die erfüllt sein müssen,       Verschwörungserzählungen und die
                                                      damit eine Verschwörungsbeobachtung            damit verbundenen Legitimationsstra-
                                                      überhaupt als solche verstanden wird.»         tegien machen Alice Blum und Michael

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Urmoneit («Verschwörungsideologie als          Gossip als misogyne Verschwörungserzäh-

                                                                                                            Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
         konstitutives M­ oment in der extremen         lung» herausgehoben werden, die von einer
         Rechten») und Marion Näser-Lather («Die        Gegenstrategie, einem «Counter-narrative
         ‹­Gender-Agenda›. Verschwörungserzählun-       als Bewältigungs- und Ermächtigungspra-
         gen rund um die Gender Studies») deutlich.     xis» (S. 165), berichtet und damit vielleicht
         Auch wenn diese Narrative inhaltlich de-       einen Ausblick ermöglicht für den Umgang
         konstruiert werden können, wird sichtbar,      mit destruktiven Narrativen. Wenn die
         wie stark darüber lebensweltliche Identi-      Dekonstruktion nicht ausreicht oder nicht
         täten und Selbstverständnisse konstruiert      ankommt, dann helfen unter Umständen
         und stabilisiert werden. Damit verbunden       Gegenerzählungen. Die Untersuchung eines
         ist die Gefahr einer Instrumentalisierung      «Kampfs der Narrative» oder der Entwick-
         und des Verlustes der epistemischen Basis      lung ironischer Verschwörungserzählungen
         von Wissenschaft, die delegitimiert werden     wie der Bielefeld- oder der neueren «Birds
         soll. Deutlich wird dies auch in der Aus­      aren’t real»-Verschwörung wäre eine mög­
         einandersetzung mit einem «Klassiker» der      liche Fortsetzung des Themas.
         Verschwörungstheorien: «Die Protokolle              Der vorliegende Tagungsband bietet
         der Weisen von Zion als negative Utopie        ein breites Spektrum an theoretischen
         und die Persistenz der narrativen Logik am     und epistemologischen Zugängen, an gut
         Beispiel des Berner Prozesses 1933–1937»       analysierten Fallbeispielen und macht die
         (Alfred Messerli). Sind die «Protokolle»       Vielschichtigkeit von Verschwörungserzäh-
         schon längst als Fake und Fälschung dekon-     lungen, ihre Strategien und Grammatiken
         struiert, so bleiben sie doch wirkmächtig,     sowie die Einbindung in alltägliche Zusam-
         indem sie immer wieder neu in Rezep­           menhänge und politische Legitimationen
         tionskreise und politische Strategien einge-   sichtbar. Es ist den Autor*innen hoch anzu-
         bunden werden. Weniger die nachweisbare        rechnen, dass nicht nur die Dekonstruktion
         Substanz als vielmehr die narrative Logik      im Mittelpunkt steht, wie dies häufig in der
         machen die Anschlussfähigkeit aus, was         Auseinandersetzung mit Verschwörungs-
         auch die «Hilflosigkeit der Aufklärung»        theorien geschieht, sondern dass auch die
         (S. 251) sichtbar macht.                       strukturellen Ähnlichkeiten mit Religion
               Gegenstrategien bei Verschwörungs-       und Mythos, mit wissenschaftlichen Metho-
         erzählungen sind schwierig, wirkt das          dologien und individuellen Strategien der
         autopoietische System doch in der Regel        Ordnung von Welterleben kritisch einbezo-
         immunisierend, indem eine Dekonstruktion       gen werden, dass auch nach den Motiven
         oder Offenlegung nur wieder als «Beweis»       und Bewältigungsstrategien der Akteur*in-
         für das Narrativ interpretiert werden kann.    nen gefragt wird. Bei allem Verständnis für
         Eben dies macht den wissenschaftlichen         den Reiz der narrativen Qualitäten mancher
         Zugang, der auch diesem Tagungsband eig-       Verschwörungserzählungen führen die
         net, teilweise wirkungslos – auch wenn er      Beiträge aber letztlich dazu, die Bedeutung
         höchst nötig ist, indem die Strategien und     der wissenschaftlichen Methodik, eine
         Logiken offengelegt werden. Ein Gefühl von     gewissenhafte Quellenkritik, die Nachvoll-
         Hilflosigkeit mag aufkommen, liest man         ziehbarkeit der Wissensproduktion, die
                                                                                                              SAVk | ASTP 118:1 (2022)

         die weiteren, gut analysierten Beispiele,      offene Hinterfragung der Ergebnisse, die
         durch die die intensive Durchdringung des      Reflexion des eigenen Standpunkts und das
         (medialen) Alltags mit Verschwörungs-          Akzeptieren der prinzipiellen Vorläufigkeit
         narrativen deutlich wird. Es soll deshalb      von Wissen sichtbar zu machen.
         abschliessend noch der Beitrag von Fatma                              HELMUT GROSCHWITZ
         Sagir «‹Taylor Swift is a Snake!› Celebrity

                                                                                                         123

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Jagla, Nicolas: Steckbriefe und
     Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
                                                                                                          Das Malefizamt versandte die Steckbriefe
                                                    Diebeslisten als Quellen der historischen             an andere Behörden für den Fall, dass die
                                                    Kleidungsforschung. Ein kritischer                    gesuchten Personen sich immer noch im
                                                    Vergleich.                                            selben Landkreis aufhielten. In den meisten
                                                    Bamberg: Veröffentlichungen zur Volkskunde und        Fällen sind es Personen mit einer sesshaf-
                                                    Kulturgeschichte, 2021 (Veröffentlichungen zur        ten Lebensweise und einer sozialen Einbin-
                                                    Volkskunde und Kulturgeschichte, 108), 115 S., Ill.   dung in ihre Umwelt. Bei den Diebeslisten
                                                                                                          handelt es sich um die Zusammenstellung
                                                    Nicolas Jagla erarbeitet in seiner 2021 an            der Mitglieder von Banden, die nicht sess-
                                                    der Universität Bamberg verfassten Master-            haft sind und sich mehr schlecht als recht
                                                    arbeit die Brauchbarkeit zweier Quellen­              über Wasser halten. Zwar werden Diebe mit
                                                    typen für die historische Kleidungsfor-               einer Straftat in Verbindung gebracht, die
                                                    schung. Die beiden Quellentypen                       Listen machen aber in erster Linie Angaben
                                                    Steckbriefe und Diebeslisten wurden bis               zu weiteren möglichen Tätern. Das heisst,
                                                    anhin in der Kleidungsforschung kaum                  die Listen sind weitgehend Dokumente zu
                                                    beachtet, da dieser Forschungszweig sich              Händen des Inquisitionsgerichts. Dieses
                                                    weitgehend auf überlieferte und archivierte           versucht, möglichst vieler Bandenmitglie-
                                                    Nachlass­inventare stützt. Solche Inventare           der habhaft zu werden, denn ohne Verhör
                                                    beinhalten ein breites Spektrum an ver-               und ohne Geständnis kann die damalige
                                                    schiedenen Arten von Kleidung für Mann                Gerichtsbarkeit kein Urteil fällen. Erst in-
                                                    und Frau: Festtagskleidung, Alltagsklei-              folge der Aufklärung kommt es im 19. Jahr-
                                                    dung, Haus- und Schlafgewänder sowie                  hundert zu einem Paradigmenwechsel vom
                                                    Kleider für verschiedene Altersstufen. Auf-           Inquisitionsgericht zum Indizienprozess.
                                                    listungen von Dekorationen, modischen                       Der Autor untersucht sodann das Ar-
                                                    Accessoires und Wertsachen spielen eine               chivmaterial zur Männer- beziehungsweise
                                                    Rolle und erlauben Einblicke vor allem in             Frauenbekleidung. Von der Kopfbedeckung
                                                    begüterte Haushalte. Inventare sagen aber             geht er systematisch bis zur Fussbeklei-
                                                    nichts über die tatsächliche Anwendung                dung vor. Die Ergebnisse werden in 20 Ta-
                                                    durch Trägerinnen und Träger aus und                  bellen und 24 Grafiken erfasst. Jede Person
                                                    wirken deshalb leicht museal.                         erhält eine Zeile. So können Steckbriefe
                                                         Im Gegenzug sprechen Steckbriefe                 und Diebeslisten quantitativ verglichen
                                                    und Diebeslisten von Menschen, die mit                werden. Es zeigt sich überraschend deut-
                                                    konkreten Straftaten in Zusammenhang                  lich, dass der unterschiedliche Charakter
                                                    stehen, von Menschen auf der Flucht, deren            der beiden Quellentypen verschiedene
                                                    Beschreibung inklusive der Kleidung als               Ergebnisse zur Folge hat. Denn die
                                                    Signalement diente. Jagla arbeitet zuerst             Steckbriefe liefern ein Bild der Kleidung,
                                                    den Unterschied zwischen den beiden                   das man umgangssprachlich als gut bür-
                                                    Quellentypen heraus, da sie in der Vergan-            gerlich bezeichnen könnte, während die
                                                    genheit oft unterschiedslos ausgewertet               Diebeslisten einfachere, praktischere und
                                                    und beurteilt werden. Er begibt sich damit            buntere Kleidung enthalten. Es zeigt sich
                                                    auf das Terrain der Rechtsprechung im                 aber in beiden Dokumentengruppen, dass
     SAVk | ASTP 118:1 (2022)

                                                    18. Jahrhundert in Ober- und in Unter-                der starke Einfluss der französischen Roko-
                                                    franken. Es besteht ein fundamentaler                 komode gegen Ende des 18. Jahrhunderts
                                                    Unterschied zwischen Steckbriefen und                 dem englischen Einfluss weicht. Gelbe
                                                    Diebeslisten. Steckbriefe betreffen flüchtige         Lederhosen bei der Männerbekleidung
                                                    Personen, die einer Straftat bezichtigt wur-          verschwinden langsam und machen Hosen
                                                    den. Meist ist die Strafe der Landesverweis.          aus Tuch Platz. Ebenso verschwinden der

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Lauterbach, Burkhart: «Die Ferien sind

                                                                                                              Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
         Justaucorps, der Dreispitz, die Perücken,
         das Wams und seine leichtere Variante, das      vorbei». Überlegungen zur Kulturanalyse
         Kamisol. In den Steckbriefen herrschen bei      touristischer Reisefolgen.
         Männern und Frauen die Farben Schwarz           (Kulturtransfer, 11).
         und Braun vor, in den Diebeslisten kom-         Würzburg: Königshausen & Neumann, 2021. 301 S.
         men neben diesen Farben auch Rot, Blau,
         Gelb und Grün vor. Qualitative Vergleiche       Burkhart Lauterbach, emeritierter Profes-
         zieht der Autor bei den Knöpfen («Detail:       sor für Volkskunde/Europäische Ethnolo-
         Knopfmaterialien», S. 51–53) und bei den        gie an der Universität München, legt sein
         Schürzen (S. 95 f.). Nota bene: Metallknöpfe    neuestes Werk vor. Es handelt von Touris-
         aus Zinn oder Messing dienten oft als           musforschung und Reisefolgen; es reicht
         Zahlungsmittel, und Schürzen wurden als         mit dem letzten Kapitel bis ins Jahr 2020,
         dekorative Überbekleidung auch an Sonn-         das von der Coronapandemie geprägt war.
         und Feiertagen getragen.                        Der 300 Seiten starke Band hat die Aus-
              Die Arbeit von Jagla richtet sich an ein   wertung von dreissig Fragebögen im Fo-
         wissenschaftliches Publikum. Das zeigt          kus, die bei einer Umfrage zurück­gesandt
         sich nicht nur in der systematischen Vor­       wurden. Die Umfrage richtete sich an
         gehensweise, sondern auch in der Tatsache,      ­Reisende, die zwischen 1972 und 2019
         dass er zwar mit Tabellen und Grafiken ar-       Reisen unternommen hatten. Sie sollten
         beitet, aber keine einzige Abbildung eines       die für sie wichtigste Reise bewerten und
         Kleidungsstückes präsentiert. Das ist zwar       ausführen, inwiefern die Reise nachhaltig
         berechtigt, da es ja nicht um Einzelstücke       war und sich auf ihr späteres Leben aus-
         geht, ist aber trotzdem bedauerlich, da hier-    wirkte.
         mit die Aufmerksamkeit und die Neugier                 Der Band beginnt mit einer Einbettung
         der Lesenden nicht nur geweckt, sondern          des Themas in eine historische Perspektive.
         auch gestillt worden wäre. Sehr nützlich         Erste Reisen mit Reisefolgen in Form von
         sind die Verweise in den Anmerkungen auf         Reliquien waren die mittelalterlichen
         Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, die          Kreuzzüge. Später folgte in der frühen
         durch längst vergangene Moden genau be-          Neuzeit die Grand Tour der europäischen
         schreiben und Materialien und Techniken          Adligen, gefolgt von den Bildungsreisen der
         erklären. Auch weiterführende Literatur ist      bürgerlichen Schicht während und nach der
         im Anhang sorgfältig aufgelistet. Es steckt      Aufklärung. Das 20. Jahrhundert brachte
         eine Fülle von Informationen in dem A5-for-      der Arbeiterschaft den vierzehntägigen
         matigen 115 Seiten starken Buch. Es kann         Urlaub als vorbeugende Massnahme gegen
         für zukünftige Forschungsarbeit dienlich         Erkrankungen. Das Ende des Zweiten Welt-
         sein. Gerade deshalb wäre eine Glättung          kriegs veränderte die Reisegewohnheiten,
         der Sprache wünschenswert gewesen.               indem grenzübergreifende Reisen zur
                                  PAULA KÜNG-HEFTI        Normalität wurden. Der Massentourismus
                                                          aber setzte erst in den 1970er-Jahren richtig
                                                          ein. Mitbringsel, «Souvenirs», gehörten
                                                          dazu. Lauterbach widmet dem Eiffelturm, in
                                                                                                                SAVk | ASTP 118:1 (2022)

                                                          mannigfacher Ausführung, zum Beispiel als
                                                          Miniatur, zu erwerben, eine vertiefte Studie,
                                                          ist er doch das beliebteste Souvenir über-
                                                          haupt und wurde vom verachteten Unding
                                                          zum zugkräftigsten Ferienanimator und zur
                                                          Symbolfigur moderner Urbanität. Bei diesem

                                                                                                           125

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Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
                                                    Thema verweist Lauterbach mehrmals auf         der Verweigerung. Denn diese kann im
                                                    seinen Berufskollegen Ueli Gyr, emeritierter   Umkehrverfahren Antworten geben auf
                                                    Professor der Universität Zürich.              die Frage, wann Veränderung eintritt und
                                                         Das Forschungsanliegen des Autors         wozu. Schliesslich fragt sich Lauterbach,
                                                    ist die ungelöste Frage, ob Reisen unser       welche Spuren die Pandemie von 2020
                                                    Leben verändern könne. Unter welchen           hinterlassen wird. Er gibt aber zu, dass
                                                    Bedingungen ist das möglich? Und wäre          dieses Thema für spätere Forschungen
                                                    dies ein Vorteil oder ein Nachteil für die     und für spätere Forscher sein wird. Er ist
                                                    Betroffenen und ihr Umfeld? Tatsache ist,      überzeugt, dass Reisen zur Europäisierung
                                                    dass nach einer Reise der Alltag uns innert    beiträgt, und sieht darin eine wichtige
                                                    weniger Tage wieder fest im Griff hat. Die     positive Entwicklung. Er schliesst mit ei-
                                                    Arbeit wartet und verlangt von uns, dass       nem Erich-Kästner-Gedicht: «Es gibt nichts
                                                    wir funktionieren. Will man aber doch eine     Gutes / Ausser: Man tut es.»
                                                    Änderung, die man sich in den Ferien vor-                                    PAULA KÜNG-HEFTI
                                                    genommen hat, durchsetzen, lohnt es sich,
                                                    nicht im letzten Moment anzukommen,
                                                    sondern etwas Zeit zu haben, die Änderung      Lüthi, Eva: Blicke auf das Dazwischen.
                                                    vorzunehmen, bevor der berufliche Alltag       Foto-Ethnografien zu Transformationen
                                                    nur noch Routine zulässt. Die Heimkehr,        in Zürich.
                                                    die Phase danach wollen genauso geplant        Dissertation, Universität Zürich, 2018. Zürich:
                                                    sein wie die Vorbereitungen zur Reise.         Seismo, 2021, 440 S., Ill.
                                                    Ohne Heimkehr ist die Reise gar keine
                                                    Reise, sondern etwas anderes: Wegzug,          «Frischi Biofrücht für Züri» ist klar und
                                                    Auswanderung, Migration, Exil. Die Frage-      deutlich auf einer kleinen Fahne zu lesen.
                                                    bögen gaben keine eindeutige Auskunft.         Gekonnt ist sie um einen Fahrradanhänger
                                                    Es besteht die Gefahr, dass zu viele Erwar-    samt Ladung – ganze zehn grüne Gemüse-
                                                    tungen mit einer Reise verknüpft werden.       kisten – gebunden. Vom Gelb der Fahne
                                                    Der Autor ist trotzdem überzeugt, dass das     wandert das Auge zur gelben Jacke der
                                                    Gefühl, ein anderer zu sein, etwas Wahres      Person, die auf der Ladung eine
                                                    ausdrückt. Das Reisen erweitert den            auseinander­gefaltete Karte ausgebreitet
                                                    Horizont, erlaubt neue Sichtweisen, neue       hat und sich zu orientieren scheint, in
                                                    Freundschaften und bildet. Nicht umsonst       digitalisierten Zeiten ein ungewohnter
                                                    heisst es: Wenn einer eine Reise tut, kann     Anblick. Den Helm trägt sie noch auf dem
                                                    er was erzählen. Aber ganz offensichtlich      Kopf, das Fahrrad lehnt an etwas ausser-
                                                    handelt es sich bei dieser dritten Phase um    halb des Bild­randes. Alles deutet auf einen
                                                    ein komplexes Forschungsfeld, wo die Zu-       schnellen Stopp hin, ein kurzes Pausieren,
                                                    sammenhänge noch im Dunkeln liegen. Es         um die Karte hervorzuholen. Im Hinter-
                                                    ist kein Zufall, dass Lauterbach wiederholt    grund macht ein Tram Tempo. Es zieht an
                                                    auf die Dissertation von Jessica de Bloom      den laubfreien Bäumen vorbei. Die Um­
                                                    hinweist (Universität Nijmegen, 2012). In      gebung lässt niedrige T­ emperaturen ver-
                                                    ihrer Arbeit wirft sie sieben weiterführende   muten. Welche frischen Früchte da wohl
     SAVk | ASTP 118:1 (2022)

                                                    Fragen auf, die neue Forschungsgebiete         transportiert werden? Oder handelt es sich
                                                    eröffnen. Es braucht mehr Feldarbeit, mehr     vielleicht eher um lagerfähiges Winter­
                                                    Interviews, auch teilnehmende Beobach-         gemüse?
                                                    tung, um an die Gründe für Veränderung              Die Szene wurde im Februar 2014
                                                    in dieser dritten Phase heranzukommen.         von Eva Lüthi fotografiert und ist in ihrem
                                                    Es geht aber auch um das Phänomen              «Foto- und Lesebuch» Blicke auf das Dazwi­

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schen. Foto-Ethnografien zu Transformatio­

                                                                                                           Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
                                                             Die Kombination von Dunkelheit,
         nen in Zürich (2021) zu entdecken.             Winternebel und Licht kreiert in den
              Von der gelben Jacke wandert der Blick    fotografischen Aufnahmen eine sicht- und
         weiter zu den gelben Details der Truckbe-      nahezu erlebbare Aura. Der Aussage «die
         schriftung in der Fotografie gleich daneben.   lokale Atmosphäre [wird] nicht einfach
         Mit «Gipfeli, Sandwiches, Süssigkeiten»        erkennbar, sondern spürbar» (S. 233) bleibt
         und anderem verspricht der Aufdruck            nichts hinzuzufügen. Von den riesigen
         des fotografierten «Znüni-Mobils» das          Gebäuden der Versicherungskonzerne,
         Gegenprogramm zu den frischen Früchten.        Banken und Co. weggerückt, richtet die
         Hier ist es also kein Fahrradkurier, sondern   Fotografin und Kulturwissenschaftlerin den
         ein motorisierter Foodtruck, der Esswaren      Blick auf die Neben- und Gleichzeitigkeiten
         zu den Menschen bringt. Protagonist der        im sich transformierenden Gebiet, wenn sie
         Szene ist ein junger Mann, der in der          Waschanlagen, Zulieferdienste und Kleinst­
         geöffneten Türe des Mobils steht und im        unternehmen fotografiert, die alle einen
         fotografierten Moment seine Anwesenheit        bedeutenden Anteil an urbanen Orten im
         im Quartier mit dem Signalhorn des             Wandel einnehmen – gerade auch nachts.
         21. Jahrhunderts, einer knallroten Vuvu-            Die beschriebenen Eindrücke gehören
         zela, verkündet. Kurzweilige Momente,          zur Fotoethnografie mit dem Titel Kamera­
         rasche Tätigkeiten und Bewegungen, die         fahrt zu den Werkhöfen der Spätmoderne
         abseits der Aufmerksamkeit, aber dennoch       und stammen aus einem Korpus von 520
         mittendrin im treibenden Alltag passieren,     Aufnahmen, die in 18 kürzeren Fotoaufent-
         sind auch in Lüthis anderen Fotografien zu     halten zwischen Dezember 2013 und März
         entdecken. Es handelt sich um Momentauf-       2014 aufgenommen wurden – stadtaus-
         nahmen des Treibens und «Formen urbaner        wärts von Zürich, von Oerlikon in Richtung
         Lebendigkeit» (S. 233) an Orten der Trans-     Flughafen entlang der damals neuen
         formation in Zürich.                           Tramlinie Nr. 10.
              In anderen Fotografien: Schnelle Beine         Orte der Transformationen in Zürich
         in dunkler Anzugshose und im ausgebeul-        nahm Lüthi in drei weiteren Fotoethnogra-
         ten Handwerkertenue steigen in Trams ein,      fien in den Blick. Die Publikation vereint
         überqueren Gleise und Strassen. Sie bah-       diese und thematisiert damit die im Fach
         nen sich ihren Weg durch urbane Gebiete,       untervertretene Methode des ethnografi-
         die sich ständig verändern. Für einen kur-     schen Forschens mit der fotografischen
         zen Moment werden sie von der Fotografin       Kamera sowie Fotoessays als erkenntnis­
         eingefroren. Danach sind sie bereits wieder    generierende Formate. Die Autorin verbin-
         weg und machen Platz für die nächsten          det Stadtforschung und Fotografie auf ergie-
         schnellen Schritte und Rollkoffer.             bige Art und Weise. So verfolgt sie «erhöhte
              In der vorliegenden Publikation werden    Transformationen» explorativ auch in
         die Aufnahmen vom geschäftigen Treiben         anderen Randgebieten der Limmatstadt: im
         des Tages durch Langzeitbelichtungen in        Einkaufszentrum Letzipark (Fotografische
         ruhiger Nacht kontrastiert. Dunkle, neblige    Aneignung einer Shopping Mall), anlässlich
         Szenen sind von langen, hellen und gelben      der Verschiebung des Direktionsgebäudes
                                                                                                             SAVk | ASTP 118:1 (2022)

         Lichtspuren durchzogen. Nur wenige Fort-       der Maschinenfabrik Oerlikon (Kamera­
         bewegungsmittel sind noch unterwegs, hin-      blicke zur Wahrnehmung einer Hausverschie­
         terlassen dafür umso leuchtendere Spuren.      bung) sowie beim Rück- und Neubau der
         Auch die Fensterfronten der Grosskonzerne      Siedlung Altwiesen in Schwamendingen
         sind hell erleuchtet, während es draussen      (Foto-Bilder einer Wohnorttransformation).
         dunkle Nacht ist.                              In den insgesamt vier Ethnografien werden

                                                                                                        127

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unterschiedliche Fokussierungen vorge-          graphy oder multisensorischen Anthropo-
     Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres

                                                    nommen und verschiedene Bildkonzepte            logie) und mit der Fotografie ein Medium
                                                    angewandt und auf diese Weise die Aufnah-       zur Hand nimmt, das es schafft, komplexes
                                                    men auch für die Betrachter*in des Buches       Wissen zu zeigen. Sprechend hierfür ist die
                                                    in eine Rahmung gesetzt.                        in der dritten Fotoethnografie wiederholte,
                                                          In der Erforschung der Shopping-Mall      persönliche Erzählung der «magischen
                                                    wird beispielsweise die Figur der Flaneuse      Anziehung» des Lichts.
                                                    respektive des Flaneurs eingeführt, wie sie          Die vierte Fotoethnografie kann als
                                                    bereits bei Baudelaire, Benjamin oder auch      Herzstück der Forschung gesehen werden.
                                                    Kracauer skizziert wird. Mit dem Fokus          Die Erhebungszeit und die Verdichtung
                                                    auf das Situative, das in der fotografischen    der Forschungsmaterialien überschreiten
                                                    Begleitung durch kameratechnische               die der anderen drei fotoethnografischen
                                                    Überlegungen reflektiert wird, thematisiert     Arbeiten um ein Vielfaches. Das über Jahre
                                                    Lüthi den Raum (sowie dessen Erforschung        andauernde Langzeitprojekt schafft es
                                                    mit visuellen Mitteln) als leiblich-sinnlich    dadurch, auf andere Sachverhalte einzu-
                                                    erfahrbaren Ort des Sozialen.                   gehen, beispielsweise auf vorgefundene
                                                          Wie Blickfelder sich verändern und        Aneignungspraktiken im Feld der Wohn-
                                                    Blickverschiebungen durch Orte bedingt          orttransformation. Diese werden damit
                                                    werden können, ist Thema der im Buch als        über eine lange Dauer beobachtbar. Die
                                                    zweite Fotoethnografie aufgeführten Arbeit      Basis für die Erkenntnisgewinnung wird
                                                    zur Hausverschiebung. Die Autorin begeg-        nicht ausschliesslich durch fotografische
                                                    net diesem Moment mit dem Konzept der           Resultate geschaffen, sondern auch durch
                                                    Refotografie, welches sie zugleich kritisch     persönliche Beziehungen der Autorin zu
                                                    hinterfragt. Spätestens an diesem Punkt         einzelnen Akteuren, die über die Zeit
                                                    fällt auf, wie auf der Rezeptionsebene eine     hinweg zu Gefährten wurden und einen
                                                    Vielzahl von Anknüpfungspunkten und             vertieften Einblick ins Feld überhaupt erst
                                                    Momente der assoziativen Erkenntnisgene-        ermöglichten.
                                                    rierung angeboten werden.                            Die vier Fotoethnografien bestehen
                                                          In der dritten Fotoethnografie wird auf   aus Bild- und Textpassagen. In voran- und
                                                    das Verhältnis von Licht, Raum und Zeit         dazwischengeschobenen Textteilen werden
                                                    fokussiert. Damit wird eine grundlegende        nebst der Erhebungssituation auch die
                                                    Reflexion über das Medium der Fotografie        Bildkonzeptionen und spezifischen Fokus-
                                                    angestossen und Erkenntnisgewinnung             sierungen innerhalb der einzelnen Ethno-
                                                    anhand visueller Erfahrung hervorgehoben:       grafien beschrieben und reflektiert. Erst im
                                                    «Der Fokus auf das Licht in den Fotos           Gemeinsamen produzieren Text und Bild
                                                    verdeutlicht aber, dass die Erkenntnisse        einen Mehrwert. Thematisiert wird auch
                                                    nicht einfach an den Objekten und Figuren       der Einfluss des Buches als gedrucktes
                                                    haften, sondern dass sie über Empfindun-        Medium. Lüthi verwendete für einzelne
                                                    gen von (reflektierten) Lichtstrahlen, von      Teile ihrer fotoethnografischen Forschung
                                                    Formungen der Oberfläche durch Lichter          auch andere Publikationsformen, zum
                                                    gewonnen werden.» (S. 243)                      Beispiel Ausstellungen.
     SAVk | ASTP 118:1 (2022)

                                                          Zwischen den Zeilen kann dabei das             Das in der Forschung als Hybrid
                                                    grundlegende Argument für den Einsatz           bezeichnete Fotoessay wird in dieser
                                                    von fotoethnografischer Forschung als           Publikation zum Paradigma. Mit der Zu-
                                                    Methode herausgelesen werden, die zudem         sammensetzung von Text und Fotos soll es
                                                    leiblich-sinnlich erfahrbar wird (durchaus      nicht um das Zeigen und Erklären gehen,
                                                    mit dem Verständnis einer sensory ethno­        sondern um das Erfahren, wie Lüthi in

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Anknüpfung an Catharina Graf und deren        Zeichensysteme führen zu weiteren For-

                                                                                                          Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
         für diese Arbeit wegweisende Diskussion       schungsmaterialien und Vermittlungsange-
         über das Fotoessay erklärt (S. 138; Graf,     boten, zum Beispiel Interviewausschnitten,
         Catharina: Der fotografische Essay, 2013).    Klangbildern oder Songs. Durch das Einbe-
         Wort und Bild, aber auch deren Auswahl,       ziehen des Auditiven und das Verknüpfen
         Reihung, Layout, Grösse etc. bilden dabei     von Ton und Bild wird die Art der Erkennt-
         grundlegende Eigenschaften. Mit der Foto-     nisgenerierung um eine Ebene erweitert.
         ethnografie und dem Fotoessay setzt sie auf   Das «Foto- und Lesebuch» wandelt sich so
         Vorgehen und Repräsentationsformen, die       zu einem multimedialen Erlebnisraum, der
         Erkenntnisgewinnung und leiblich-sinn­        einer Ausstellung gleichkommt.
         liche Selbstreflexion zusammenführen und            Allen, die direkten und schnellen
         bisher nicht zu den etablierten Methoden      Zugriff beziehungsweise das Verfolgen
         des Fachs gehören. In dieser Arbeit hat       weiterer Narrationsstränge als wünschens-
         auch der*die Rezipient*in Anteil an der       wert ansehen, sei die digitale Version des
         Forschung und ist nicht blosse*r Empfän-      Buches empfohlen. Hyperlinks führen
         ger*in einer Botschaft.                       schnell zu Quellen oder angesprochenen
              Wer sich das «Foto- und Lesebuch»        Einzelfotos – natürlich mit der damit ein-
         geradlinig von Beginn bis Schluss vor-        hergehenden Auswirkung auf die Materia-
         nimmt, bewegt sich zunächst lange auf         lität der Publikation. Dies ist insbesondere
         einer abstrakten Ebene, der «mittelbaren      von Interesse, wenn man das Werk als
         Rahmung der Einzelfotos», bis der Bildteil    Fotobuch begreifen möchte.
         und somit die «visuelle Narration» mit den          Die Blicke auf das Dazwischen reflek-
         anschliessenden Schlussbetrachtungen          tieren den Umgang mit visuellen Mitteln
         klare Deutungen zulassen. Hier lässt sich     im Fach im Generellen wie auch als Form
         die kontextuelle Beziehung von Wort und       der Erkenntnisgewinnung und zeigen, dass
         Bild und deren erkenntnisgenerierende         die Vormachtstellung des Schriftlichen in
         Wirkung demnach gleich auf der Ebene          der Wissenschaft einmal mehr hinterfragt
         der Anwendung beobachten. In den reich        werden sollte. Die Publikation richtet sich
         ausformulierten Kapiteln zu Theorie           an die breite Öffentlichkeit und an ein aka-
         und Methode im vorderen Drittel der           demisches Publikum gleichermassen und
         Publikation verweist Lüthi oft auf einzelne   bietet unzählige Anknüpfungspunkte für
         Fotografien im hinteren, stark visuellen      neue Überlegungen und Forschungen. Eva
         Teil mit den vier fotoethnografischen         Lüthi spricht in diesem Zusammenhang
         Arbeiten. Damit entsteht ein Vor- und         beispielsweise auch vom «Reservoir der
         Zurückspringen, um Deutungsansätze            Geschichten» (S. 394) und verknüpft dieses
         sinnig zu vervollständigen. Dies sowie die    mit Fragen zur Präsenz beziehungsweise
         unvermeidliche Reflexion über Wort-Bild-      Absenz von Objekten. Insgesamt zeugt
         Bezüge seitens der Betrachter*innen wirft     die besprochene Publikation vom Mut zu
         die Frage auf, inwiefern ein anderer Aufbau   neuen Formen der Erkenntnisgewinnung
         der Publikation einen produktiven Weg zur     und Wissenschaftskommunikation. Auch
         Wissensgenerierung hätte bieten können.       in diesem methodischen Sinne ist sie also
                                                                                                            SAVk | ASTP 118:1 (2022)

         Dass sich die Kulturwissenschaftlerin nicht   eine Quelle für Inspiration und Anknüp-
         vor neuen Wegen der Vermittlung scheut,       fung.
         zeigt sich anhand der über das Buch                                       FABIENNE LÜTHI
         verteilten QR-Codes. Die in unserer Gesell-
         schaft spätestens seit der Covidpandemie
         breit bekannten und vielfach verwendeten

                                                                                                       129

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Margry, Peter Jan (Hg.): Cold War Mary.
     Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
                                                                                                    Anfang der 1940er-Jahre kam es dann
                                                    Ideologies, Politics, Marian Devotional         zu einer grundlegenden Neudefinition,
                                                    Culture.                                        einem «refashioning» von Fátima (S. 377):
                                                    Leuven: Leuven University Press, 2020, 399 S.   Die marianischen Botschaften und die
                                                                                                    Pilgerbewegung, die bisher in der Tradition
                                                    Die politik-, geschichts- und sozialwissen-     des 19. Jahrhunderts gestanden hatten,
                                                    schaftliche Forschung der letzten Jahr-         erhielten einen deutlich apokalyptischen,
                                                    zehnte hat gezeigt, dass der Kalte Krieg        antikommunistischen Drall, was sie im
                                                    vielerorts religiös aufgeladen war und auch     Kontext des beginnenden Kalten Kriegs
                                                    als Kampf zwischen «Christentum» (im            international anschlussfähig machte und
                                                    «kapitalistischen Westen») und «Atheis-         ihre Strahlkraft massiv erhöhte.
                                                    mus» (im «kommunistischen Osten») ver-               1941 schrieb die einzige noch lebende
                                                    standen wurde. Der anzuzeigende Sammel-         Seherin Lúcia Details ihrer Visionen von
                                                    band, der sich aus fünfzehn Kapiteln – in       1917 nieder, insbesondere die ersten zwei
                                                    der Mehrheit überarbeitete Konferenzbei-        von insgesamt drei «Geheimnissen», die
                                                    träge – zusammensetzt, untersucht die           1942 veröffentlicht wurden. Darin kündigt
                                                    religiöse Dimension des Kalten Kriegs           die Gottesmutter für den Fall, dass Gott
                                                    anhand der Figur der Gottesmutter Maria,        weiterhin beleidigt werde, ein «grosses
                                                    der ihr geltenden Frömmigkeit und der           Flammenmeer», einen noch «schlimmeren
                                                    «Welle» von Marienerscheinungen (S. 287),       Krieg» an und verlangt, dass «Russland»
                                                    die sich nach dem Ende des Zweiten Welt-        ihrem unbefleckten Herzen geweiht
                                                    kriegs zugetragen haben sollen, so in           werde; nur unter dieser Bedingung werde
                                                    Amsterdam (NL) 1945, Cuevas de Vinromá          sich «Russland» bekehren und Friede
                                                    (E) 1947, Assisi (I) 1948, Lipa (PH) 1948,      einkehren. Damit wurde der Bekämpfung
                                                    Mazury (PL) 1949, Heroldsbach (D) 1949,         des Atheismus und dem Sieg über den
                                                    Necedah (USA) 1949 und an Dutzenden, ja         Sowjetkommunismus eine heilsgeschicht-
                                                    Hunderten weiteren Orten in Europa und          liche Bedeutung zugeschrieben. Anlässlich
                                                    anderen Weltgegenden. Wie und weshalb           des 25-Jahr-Jubiläums von Fátima 1942
                                                    wurde die Gottesmutter in jenen Jahren          kam Papst Pius XII., der am Tag der
                                                    zur «militant Cold War Mary» (S. 15), zur       ersten dortigen Marienerscheinung zum
                                                    «Kalten Kriegerin» (S. 376), die nicht nur      Bischof geweiht worden war, der Auffor-
                                                    ihren Erscheinungen in diesen und den           derung nach und weihte gleich die ganze
                                                    darauffolgenden Jahren eine stark antikom-      Menschheit dem unbefleckten Herzen der
                                                    munistische Prägung verleihen, sondern          Gottesmutter – wobei in der einschlägigen
                                                    auch ihre vorangehenden Erscheinungen           Literatur umstritten ist, ob dieser und
                                                    nachträglich mit einer solchen Bedeutung        weitere Weiheakte «gültig» waren und
                                                    ausstatten konnte?                              die Bekehrung «Russlands» wirklich
                                                         Fokus und besonderes Verdienst             herbeizuführen vermochten. Explizit
                                                    des Buches ist es, die überragende Rolle        antikommunistisch, eine eigentliche vati-
                                                    herauszuarbeiten, die in diesem Zusam-          kanische «Atombombe» (Dennis J. Dunn,
                                                    menhang Fátima zukam. Maria soll den            zitiert S. 23), war das päpstliche Dekret
     SAVk | ASTP 118:1 (2022)

                                                    drei Hirtenkindern Lúcia, Jacinta und           Responsa ad dubia de communismo von
                                                    Francisco in diesem kleinen Ort in Portugal     1949, das allen Unterstützern des Kommu-
                                                    zwar schon 1917 erschienen sein, doch           nismus mit der Exkommunikation drohte.
                                                    bis in die 1930er-Jahre beschränkte sich        1950 verkündete Pius XII. das Dogma von
                                                    die Anziehungskraft des Wallfahrtsorts          der leiblichen Aufnahme Mariens in den
                                                    hauptsächlich auf die Iberische Halbinsel.      Himmel; 1953 rief er aus Anlass des Hun-

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Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres
         dert-Jahr-Jubiläums der Verkündigung des             Zweitens entfalteten Marienerschei­
         Dogmas von der unbefleckten Empfängnis          nungen und damit verbundene Bewe-
         Mariens (1854) ein marianisches Jahr            gungen im Kontext des Kalten Kriegs
         aus. Antikommunismus, apokalyptische            ein enormes Mobilisierungspotenzial.
         Marienverehrung und kirchlicher Anti-           Beispielsweise versammelten sich, wie Wil-
         modernismus wurden auf diese Weise              liam A. Christian Jr. und Marina Sanahuja
         miteinander verknüpft.                          Beltran auf der Grundlage von Archiv- und
              Im Folgenden werden einige zentrale        Oral-History-Forschung minutiös rekonstru-
         Erkenntnisse des Sammelbands aus Sicht          ieren (Kap. 6), am 1. Dezember 1947 in der
         des Rezensenten resümiert: Erstens wurden       Nähe des kleinen spanischen Städtchens
         neue wie auch bestehende Marienwall-            Cuevas de Vinromá mehrere Hunderttau-
         fahrtsorte und -bewegungen häufig mittels       send (!) Menschen, um einem himmlischen
         handfester Aktionen und spitzfindiger           Wunder beizuwohnen, das die Gottesmutter
         Apologetik mit symbolischen Bezügen zu          zuvor einem zehnjährigen Mädchen ange-
         Fátima versehen, sodass diesbezüglich von       kündigt hatte. Andere Beiträge im Buch
         einer «Fátimaisierung» (S. 34) gesprochen       verdeutlichen, dass diese Mobilisierung
         werden kann: «The Fátima apparitions            häufig auch politisch wirksam wurde, na-
         served as the template and anchoring            mentlich vor den ersten Parlamentswahlen
         frame­work for the Marian visitations du-       im Nachkriegsitalien (Robert Ventresca,
         ring the Cold War.» (Daniel Wojcik, S. 233)     Kap. 2), bei den Bemühungen um ein
         Und zwar sowohl mit prospektiver als auch       Verbot der Kommunistischen Partei in
         mit retrospektiver Wirkung, wie sich am         Australien Ende der 1940er-, Anfang der
         Beispiel von Necedah, Wisconsin (ab 1949),      1950er-Jahre (Katharine Massam, Kap. 10)
         und den «Bayside apparitions» in New York       oder im innerkatholischen «Kulturkampf»
         (ab 1970) einerseits, von Beauraing und         während des Kalten Kriegs in den USA
         Banneux in Belgien (1932/33) andererseits       (David Morgan, Kap. 4; Thomas Kselman,
         zeigen lässt. Resultat war nicht zuletzt eine   Kap. 8). Eine wichtige Rolle spielten die
         entsprechende antikommunistische «Imprä-        Massenmedien und die Populärkultur mit
         gnierung». Eine genealogische Verbindung        weltweit erfolgreichen Hollywood-Filmen
         zu anderen Erscheinungsorten – insbe-           wie The Song of Bernadette (1943) und The
         sondere Fátima – und deren marianischen         Miracle of Our Lady of Fatima (1952).
         Botschaften herzustellen, diente zudem der           Drittens entstanden etliche der
         Beglaubigung, der Rechtfertigung, oft auch      untersuchten Phänomene als Grassroots-Be-
         der Hierarchisierung der jeweils spezifi-       wegungen, was ihre Kontrolle erschwerte
         schen, «proprietären» Inhalte gegenüber         und in mehreren Fällen zu Konflikten
         denjenigen anderer Pilgerbewegungen.            mit der kirchlichen und/oder weltlichen
         Gleichzeitig offenbarten Promotoren             Hierarchie führte. In ihrer wegweisenden
         marianischer Bewegungen immer wieder            Studie Image and Pilgrimage in Christian
         eine erstaunliche Fähigkeit zu «interpreta-     Culture (1978) haben die Kulturanthropo-
         tiver Akrobatik» (S. 254), wenn es darum        logen Victor und Edith Turner bereits auf
         ging, solche Inhalte an sich verändernde        den potenziell subversiven Charakter, auf
                                                                                                             SAVk | ASTP 118:1 (2022)

         zeithistorische Kontexte anzupassen, um-        die populis­tische, anarchische, manchmal
         zuinterpretieren und neu zu bewerten, wie       offenkundig antiklerikale Stossrichtung
         unter anderem Michael Agnew in seinem           vieler Pilgerbewegungen hingewiesen. Ohne
         Beitrag über das «Fatima Center» und des-       sich explizit darauf zu beziehen, arbeiten
         sen Gründer Nicholas Gruner nachzeichnet        mehrere Autorinnen und Autoren des Sam-
         (Kap. 14).                                      melbands solche Konfliktlinien heraus, etwa

                                                                                                         131

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