Buchbesprechungen Comptes rendus des livres - Seismo Verlag
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Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 118. JAHRGANG (2022), HEFT 1, S. 117–147, DOI10.33057/CHRONOS.1698/117-147 Buchbesprechungen Comptes rendus des livres Black, Monica: A Demon-Haunted In diesem Klima trat der Wunderheiler Land. Witches, Wonder Doctors, Bruno Gröning (1906–1959) auf. Interes- and the Ghosts of the Past in Post- sant ist nicht eigentlich Gröning, dessen WWII Germany. Geschichte einigermassen gut dokumentiert New York: Metropolitan Books, 2020, 332 S, Ill. ist, sondern die Mengen, die er zu mobili- sieren wusste. Die (vermeintlichen) Wunder Die Historikerin Monica Black legt eine von Gröning, die er mit dem von ihm aus- Studie vor zu den nach dem Ende des Zwei- strahlenden «Heilstrom» und Stanniolkugeln ten Weltkriegs in der Bundesrepublik bewirkt haben wollte, sorgten für einen Deutschland auftauchenden Hexenbezichti- riesigen Zulauf, was den lokalen Behörden gungen und den zeitgleich regen Zulauf im westfälischen Herford nicht gefiel, die erhaltenden Wunderheilern. Sie zeigt, wie seine Aktivitäten verboten. Die lokale Hexereigerüchte als Möglichkeit der Ver- Bevölkerung und die Heilsuchenden sahen handlung, vor allem aber auch der Externa- dieses Verbot als Versuch der Obrigkeit, aus lisierung der Gräuel des Nationalsozialis- politischen Gründen gegen die Wünsche der mus dienen, womit sie einen Gegenentwurf Mehrheit der Bevölkerung vorzugehen. In- zur oftmals erzählten Erfolgsgeschichte der teressanterweise war der damalige Bürger- Bundesrepublik als geprägt von Auf- meister ein Sozialdemokrat, der 1933 von schwung und Prosperität formuliert. Das den Nationalsozialisten aus allen Ämtern nach dem Zweiten Weltkrieg weitverbrei- entlassen worden war. tete Schweigen über die zur Zeit der natio- Gröning erklärte, nur gute Menschen nalsozialistischen Diktatur begangenen heilen zu können. In seiner Lesart prüft Verbrechen bot die Möglichkeit, sich neu Gott die Guten mit Leiden und straft die Bö- zu erfinden, aber niemand «forgot the sen mit Unglück. Während Gröning für die demons Nazism has unleashed» (S. 13). einen ein Wunderheiler war, sahen andere Nach dem Ende der nationalsozialistischen ihn als Scharlatan. Wie Black herausarbei- SAVk | ASTP 118:1 (2022) Diktatur kamen viele Gerüchte über Ver- tet, ist Gröning als spezifisches Produkt der schwörungen und das Nahen des Weltun- deutschen Nachkriegsgeschichte zu sehen. tergangs auf, die der Prähistoriker Alfred Die mit der Zeit des Nationalsozialismus Dieck (1906–1989) aufzeichnete. Das ver- verbundenen Erinnerungen an Verbrechen breitete apokalyptische Denken galt ihm und Schuld versickern in der Tiefe der als Ausdruck der Krise. Gesellschaft und prägen aus dem Verbor- 117 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 117 27.06.22 09:16
Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres genen alle Aspekte des Lebens. Grönings interpretierte der Volkskundler Leopold Popularität zog sich bis in die 1950er-Jahre Schmidt das Blühen des Übernatürlichen hinein. 1957 wurde er wegen eines 1949 als Resultat sozialer Spannungen, wie erfolgten Todesfalls eines weiblichen Black rapportiert. Teenagers vor Gericht gestellt. Die junge Neben Wunderheilern war auch der Frau hatte an Tuberkulose gelitten und Glaube an das Wirken von Hexen weit ver- alle medizinische Behandlung verweigert, breitet, in dem Bereich waren sogenannte weil sie der Heilkraft Grönings vertraute. Hexenbanner aktiv. Als typisch kann ein Es erfolgte ein Freispruch, der angefochten Fall in Schleswig-Holstein gelten, der vor wurde. Bevor es zum Rekurs kam, starb Gericht endete. Als von Hexerei bedroht Gröning an Magenkrebs. verstand sich eine Familie von hochran- Viele der Kranken, die Heilung bei gigen ehemaligen Anhänger*innen des Gröning suchten, hatten Kriegsverlet- Nationalsozialismus, die während dieser zungen oder Krankheiten, die mit dem Zeit wichtige Ämter im Dorf übernommen Krieg in Verbindung standen, die aber hatte. Nach ihrem Verständnis war das eher soziale Konditionen widerspiegeln, Ende des Dritten Reichs ein mit starken wie im Falle von Stumm- oder Blindheit, Verlustgefühlen verbundener Untergang. die für ein Nichtsehen- beziehungsweise Sie fühlten sich verfolgt und suchten Hilfe Nichtsprechenwollen angesichts der Gräuel beim Hexenbanner Waldemar Eberling, des Krieges sowie einer kollektiven Schuld der den Schuldigen zu erkennen meinte. am Holocaust stehen können. Anders als Die Anschuldigungen richteten sich gegen die Schulmedizin, die vielfach durch ihre den Bürgermeister, der dieses Amt nach Verflechtungen mit dem Nationalsozia- dem Krieg übernommen hatte und in die lismus kompromittiert war, nahm die in Entnazifizierungsprozesse eingebunden Deutschland weitverbreitete Volks- und war. Schleswig-Holstein war in den 1950er- Laienmedizin solche nicht ausgesproche- Jahren das Gebiet mit der ausgeprägtesten nen Punkte und Sorgen eher auf. Hexenfurcht in Deutschland, zugleich auch Neben Marienerscheinungen wie der das Gebiet mit der grössten Dichte ehe- in Heroldsbach im Herbst 1949, auf die maliger Mitglieder der NSDAP und natio Rudolf Kriss (1903–1973) in mehreren nalsozialistischer Vereine. Dieser Befund Aufsätzen in den 1950er-Jahren einging,1 passt zur Feststellung, dass der Glaube an blühten in dem Klima auch Teufelsaus- Hexen und Schadenzauber insbesondere treibungen durch Gebetsheiler. In seinem zu Zeiten sozialen Wandels virulent ist, Buch Volksglaube und Volksbrauch (1966) weil sich darin Konflikte und Unsicherheit ausdrücken: «In this sense, witchcraft fears 1 Zu Heroldsbach vgl. die zeitgenössischen Bei- can be seen as a cultural idiom of personal träge von Schmidt, Leopold: Heroldsbach in and communal conflict.» (S. 178)2 volkskundlicher Sicht: zum Wallfahrtswesen Der Glaube an Hexen war nicht der Gegenwart. In: Österreichische Zeitschrift plötzlich nach dem Ende des Zweiten für Volkskunde 55 (1952), S. 145–172; ders.: Weltkriegs auferstanden, vielmehr war Heroldsbach. Eine verbotene Wallfahrt der er nie ganz verschwunden seit dem Ende SAVk | ASTP 118:1 (2022) Gegenwart. In: Schmidt, Leopold (Hg.): Kultur und Volk. Beiträge zur Volkskunde aus Ös- terreich, Bayern und der Schweiz. Festschrift für Gustav Gugitz zum 80. Geburtstag. Wien 2 Hierzu beispielhaft der Klassiker der Hexen- 1954, S. 203–227, oder die neuere Darstel- forschung Thomas, Keith: Religion and the lung von Scheer, Monique: Rosenkranz und Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Kriegsvision. Marienerscheinungskulte im Sixteenth- and Seventeenth-Century England. 20. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 207–245. London 2012 (1971). 118 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 118 27.06.22 09:16
Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres der Hexenverfolgungen.3 In Deutschland derart Verleumdeten traumatisierte. Er war stammten entsprechende Berichte aus ein unverstandener, ja missverstandener dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Rufer. Die Behörden wollten teilweise nicht hauptsächlich aus Kirchenkreisen, die sich verstehen, wogegen Kruse kämpfte, sie über das Fortbestehen dieses Aberglaubens meinten, er richte sich gegen das Hand besorgt zeigten. Insgesamt wurde wenig lesen, das gesetzlich geregelt sei. von Hexerei gesprochen, Verwendung In Erinnerung geblieben ist Kruse fanden alternative Begriffe. Generell wurde durch den von ihm angestrebten Prozess der Hexenglaube in den 1950er-Jahren von gegen den Planet-Verlag mit seinen sich als aufgeklärt verstehenden, gebildeten günstigen Taschenbuchausgaben des Kreisen als überholter Aberglaube abgetan. Sechsten und Siebten Buchs Mose, ein in der Der Hauptthese von Black folgend, mani- deutschsprachigen Welt im 20. Jahrhundert festiert sich in ihm aber nicht etwas Altes, äusserst erfolgreiches und in zahlreichen sondern er ist Ausdruck einer gesamtgesell- Auflagen verbreitetes Zauberbuch. Kruse schaftlichen Malaise: «[…] witchcraft acted betrachtete derartige Bücher als «promoting as a language of social conflict.» (S. 198) witchcraft beliefs and violence against Johannes Kruse (1889–1983) zog eine those labeled witches» (S. 211) und strebte Parallele zwischen Antisemitismus und ein generelles Verbot von Magiebüchern an. Hexenmanie. Er veröffentlichte in den Anders die Behörden, die überzeugt waren, frühen 1920er-Jahren ein Buch gegen den dass niemand Zauberbücher für bare Hexenglauben, worin er die wachsende Münze nehme. Einer solchen Einschätzung Judenhetze mit der historischen Hexen- hielt er entgegen, dass ein Zauberbuch verfolgung in Verbindung brachte. Diese immer auch eine Anleitung zum Handeln Gleichsetzung findet sich nicht in seinen sei, da es Wissen um Rituale, Beschwörun- Schriften und Aktionen der 1950er-Jahre gen etc. enthalte. wie Hexen unter uns (1951). Kruse sah Die postulierte Abstammung der Zau- eine Parallele zwischen der Nachkriegsge- berbücher von König Salomon vertiefte die schichte der Hexenanschuldigung und der im deutschen Aberglauben weitverbreitete Verunglimpfung der Juden in den Jahrzehn- Vorstellung, dass Juden magische Fähigkei- ten davor. Seine Botschaft war, dass das ten hätten. Die Zuschreibung taucht bereits Suchen nach Sündenböcken (Hexen) die im Titel der Clavicula Salomonis, eines bekannten Grimoires des 15. Jahrhunderts, 3 Abgesehen von Jeanne Favret-Saadas ethno- auf.4 Die Verbindung von Judentum und logischer Studie in der ländlichen Normandie Magie findet sich auch in der Ausgabe des Les mots, la mort, les sorts. La sorcellerie dans le Planet-Verlags des Sechsten und Siebten Bocage (1979), die die Welt der Hexen und He- xenbanner der Gegenwart in den Vordergrund Buchs Mose. Zugleich sind wohl in der rückte, sind in den letzten zwanzig Jahren Vorstellung der Lesenden das Hebräische Studien erschienen, die sich des Hexenglau- und Magie eine so enge Verbindung einge- bens in Europa nach dem Ende der gerichtlich gangen, dass das Hebräische als magisch, sanktionierten Hexenverfolgungen angenom- aber nicht als jüdisch erkannt wurde. men haben, darunter de Blécourt, Willem; Kruse strebte einen Prozess gegen die SAVk | ASTP 118:1 (2022) Davies, Owen (Hg.): Witchcraft Continued. Popular Magic in Modern Europe. Manchester, Herausgeber des Buches an, dieser fand New York 2004, oder Barry, Jonathan und an drei Tagen im Spätherbst 1956 statt. Owen Davies: Palgrave Advances in Witchcraft Zur Verteidigung war kein Geringerer Historiography. Basingstoke: Palgrave Macmil- lan, 2007, oder auch Harmening, Dieter (Hg.): Hexen heute. Magische Traditionen und neue 4 Davies, Owen: Grimories. A History of Magic Zutaten. Würzburg 1991. Books. Oxford 2009, S. 15. 119 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 119 27.06.22 09:16
Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres als Will-Erich Peuckert (1895–1969) Deutschland der Nachkriegszeit für regen aufgeboten, der das Buch als ein Beispiel Zuwachs bei Wunderheilern sorgten, die als sogenannter Hausväterliteratur deutete, Retterfiguren verehrt wurden; auch Formen weil es Rat biete gegen Krankheiten, für die der Volksfrömmigkeit wie Marienerschei- Haushaltsführung, die Tierzucht etc. Das nungen und Wallfahrten erfuhren eine Gericht in Braunschweig folgte Kruse und Renaissance. Ebenfalls im Zusammenhang dem Zeugen der Anklage, dem Gerichts mit der nicht durchgehenden Verarbeitung mediziner Otto Prokop (1921–2009). Das der Schrecken der nazistischen Vergangen- Buch wurde verboten. heit nahm der Hexenglaube zu, weil Hexe- Peuckert verfasste für das berühmt- reigerüchte ein Mittel der Kanalisation von berüchtigte Handwörterbuch des deutschen Konflikten und Ängsten in Gemeinschaften Aberglaubens (1927–1942) den von waren und sind. Das mag mit erklären, antisemitischen Tönen durchdrungenen warum der Hexenwahn in den frühen Eintrag zu Jude/Jüdin.5 Es ist bis heute 1960er-Jahren abflaute. Dieser Befund darf eine Ironie der Fachgeschichte, dass der aber nicht mit einer Bedeutungslosigkeit von den Nationalsozialisten aus Amt und von Hexenglauben und Okkultismus ver- Würden entlassene Peuckert weit über wechselt werden, denn diese blühten in den die nationalsozialistische Zeit hinaus 1960er-Jahren auch in Deutschland unter völkisch inspiriertes Gedankengut über veränderten Vorzeichen wieder auf. Dafür die Existenz verschiedener Kulturkreise spricht das zeitgleich auszumachende vertrat. In diesen Kontext bettete er auch ausgeprägte wissenschaftliche Interesse an das Hexenwesen ein.6 Nur am Rande parapsychologischen Themen. Ein Produkt erwähnt sei, dass unser Fach bis heute an davon ist 1950 die Gründung des Instituts der Langlebigkeit des Handwörterbuchs des für Grenzgebiete der Psychologie und Psy- deutschen Aberglaubens leidet, wenn nicht chohygiene in Freiburg im Breisgau. Alles sogar verzweifelt, weil es immer wieder als in allem hat Monica Black ein anregendes Beleg für alte Bräuche und abergläubische Buch geschrieben, das einen alternativen Praktiken ins Feld geführt wird.7 Blick auf die Nachkriegsgeschichte der Nun zurück zum zu besprechenden Bundesrepublik Deutschland wirft, indem Buch: Es gelingt Monica Black auf über- sie den Zuwachs des Glaubens an die zeugende Weise zu zeigen, wie die der Zeit Macht von Wunderheilern und Hexenban- des Nationalsozialismus entstammenden nern und an den Schadenzauber von Hexen Spannungen in der Gesellschaft im in den Kontext unverarbeiteter Kriegstrau- mata und Schuldgefühle einbettet. 5 Peuckert, Will-Erich: Jude/Jüdin. In: Hanns MERET FEHLMANN Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 4. Nachdruck. Berlin 2000 (Erstausgabe 1932), S. 808–833, hier besonders S. 811–816. 6 Vgl. Peuckert, Will-Erich: Geheimkulte. Hei- delberg 1951, S. 266–269; Fehlmann, Meret: Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchs- SAVk | ASTP 118:1 (2022) geschichte eines Arguments. Zürich 2011, S. 217–220. 7 Vgl. hierzu die Erläuterungen von Christoph Daxelmüller zur Neuauflage des Werks. Da- xelmüller, Christoph: Vom HDA zum HEV. Die Neukonzeption eines umstrittenen Klassikers. In: Bayerische Blätter für Volkskunde 15 (1988), S. 65–76. 120 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 120 27.06.22 09:16
Frizzoni, Brigitte (Hg.): Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres schwörungserzählungen» (in Anlehnung an Verschwörungserzählungen. Beiträge David Kelman) ist Programm und schlägt der interdisziplinären Tagung den Bogen zur DGV-Kommission für Erzähl- «Verschwörungserzählungen» der DGV- forschung, in deren Rahmen die Tagung Kommission Erzählforschung in Zäziwil, veranstaltet wurde, sowie zur früheren 5.–8. 9. 2018. historisch-vergleichenden Erzählforschung, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020. etwa im Bereich der urban legends. Gleichzeitig wird schon in der Einleitung Als 2018 die Tagung zu Verschwörungs von Brigitte Frizzoni auf die notwendigen erzählungen, organisiert von Brigitte terminologischen Unterscheidungen Frizzoni mit Unterstützung des Instituts hingewiesen zwischen Verschwörung, für Sozialanthropologie und Empirische Verschwörungstheorie als Masternarrativ Kulturwissenschaft – Populäre Kulturen und Verschwörungserzählung als spezi der Universität Zürich, durchgeführt fische narrative Ausgestaltung – mit jeweils wurde, war Donald Trump seit einem guten fliessenden Übergängen. Genau dieses Jahr Präsident der Vereinigten Staaten von Changieren an den unscharfen Begriffsrän- Amerika – und gefühlt boomten Verschwö- dern, verbunden mit der potenziellen Mög- rungstheorien, die unter anderem gezielt lichkeit, dass «die Dinge nicht so sind, wie aus dem US-amerikanischen Machtzen sie scheinen» (in Anlehnung an Michael trum verbreitet wurden. Hatte man solche Butter), sind sowohl Merkmal als auch schon vorher wahrgenommen, etwa in pop- narrativer Reiz – «Verschwörungen [sind] kultureller Ausarbeitung in den Büchern immer auch großartige Geschichten» (S. 10) von Dan Brown und Robert Anton Wilson, und damit ist zu fragen, welche Funktionen in den kopfschüttelnd wahrgenommenen und Strukturelemente Verschwörungs Erzählungen von «Chemtrails» und «Repti- erzählungen haben, welche individuellen loiden» oder den Verlautbarungen von und gesellschaftlichen Bedürfnisse hierbei «Reichsbürgern», so bekamen sie mit angesprochen werden und was die damit «Q-Anon» und anderen zentralen Akteuren verbundenen gesellschaftlichen Herausfor- eine teils erschreckende Präsenz und medi- derungen sind. ale Aufmerksamkeit. Seit dem Erscheinen Das Buch ist in drei Teile mit je des Tagungsbandes 2020 ist die Situation acht Beiträgen aufgeteilt. Diese decken nicht unbedingt besser geworden. Mit der ein breites, interdisziplinäres Spektrum Covid-19-Pandemie traten erneut verschwö- an Themen und Zugängen ab. Der erste rungstheoretische Akteure auf, in und um Teil, «Verschwörungserzählungen verste- die sogenannte Querdenker-Szene – Stich- hen – Theoretische und narratologische wort «Coronadiktatur». Beruhigend mag in Perspektiven», definiert verschiedene diesem Zusammenhang sein, wenn Mi- Zugangsweisen, wobei auch der konkreten chael Butter, ein ausgewiesener Fachmann Verschwörung und dem Erzählen darüber für Verschwörungstheorien, konstatiert, epistemischer Raum gegeben wird. Der dass sich eine quantitative Zunahme nicht zweite Teil, «Verschwörungserzählungen feststellen lässt, wohl aber eine deutlich im Alltag», untersucht über (auto)ethnogra SAVk | ASTP 118:1 (2022) stärkere mediale Wahrnehmung und fische Zugänge die Ver- und Einflechtungen Diskussion. der Narrative in lebensweltliche Kontexte, Gerade vor diesem Hintergrund Praktiken und Sinnzuschreibungen. Der bekommt der gehaltvolle und lesenswerte dritte Teil, «Verschwörungserzählungen Tagungsband eine Relevanz, die für längere in populären Literaturen und Medien», Zeit wirksam bleiben wird. Der Titel «Ver- schliesslich bietet mehrere fundierte 121 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 121 27.06.22 09:16
narratologische und populärkulturelle (S. 100) Zwei Beiträge betrachten die Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Fallstudien, die sichtbar machen, wie tief Verschwörungserzählungen unter dem die Narrationen und Narrative in den me- Aspekt von Wirklichkeitskonstruktionen dialen Alltag verwoben sind. Dem Umfang («Die verschwörungstheoretische [De-] des Sammelbandes ist geschuldet, dass Konstruktion der Wirklichkeit. Zur hier nur ein paar Beiträge angesprochen Wissenssoziologie von Verschwörungs werden können, für die Lektüre seien aber theorien» von Andreas Anton) und als mar- ausdrücklich auch die anderen Beiträge ginalisierte Wissenspraktiken («‹Verschwö- empfohlen. rungstheorien›. Ein Streifzug mit Bourdieu Harm-Peer Zimmermann fragt in durch geächtete Sinn- und Heilsangebote» «Zur Theorie der Verschwörungstheorie: von Julian Genner und Ina Dietzsch). Beide Politische, narrative und epistemische zeigen zum einen die Nähe zur und die Aspekte» nach der Bedeutung von Ver- Ähnlichkeit mit «etablierten» Wissenssys- schwörungen als politische, als narrative temen auf, wobei auch die damit verbun- und als epistemische Form. Ausgehend denen Konkurrenzen und Abgrenzungen von den ambivalenten Aussagen in und sowie Autoritätsverluste deutlich werden. um den Rütlischwur (und dessen poetische Damit werden die sozialen Verflechtungen Ausgestaltung) geht er über zu narrativen ebenso wie die individuelle Suche nach Aspekten der Verschwörung als handlungs- Sinn und das Ordnungsbedürfnis bei der leitendes Moment im klassischen Drama, Weltwahrnehmung angesprochen. um schliesslich nach dem narratologischen Neben den quasireligiösen und «Funktionieren» zu fragen, indem die pseudoepistemischen werden die psycholo- «verschwörerische[n] plots […] eine ‹in gischen Aspekte von Verschwörungstheo sich geschlossene Handlung› darstellen, rien aufgegriffen («Zwischen Zweifel und die folgerichtig aufgebaut ist und plausibel Dogma. Philosophische und psychologische erscheint» (S. 28). Mit der Erweiterung Zugänge zum Verständnis von Verschwö- zu Religion und Mythos werden weitere rungstheorien» von Bernd Rieken und «Der Mechanismen und Narrative einer «invi- tragische Fall des Walter G. oder wie das sible hand» (S. 29) aufgezeigt, was wiede- Erleben einer Verschwörung in den Tod rum mit dem Befund einer quasireligiösen führt. Vertiefende psychologische Betrach- Funktion von Verschwörungstheorien tungen zum Verständnis von Verschwörun- korreliert. Abschliessend verdeutlicht gen» von Anna Jank). Kann der Vorwurf der Zimmermann die methodologischen Paranoia auch als Abwehr beziehungsweise Probleme und Fehler sowie die totalitäre Delegitimation wirken und sollte daher Geschlossenheit und Autopoiesis von nur mit grösster Vorsicht erhoben werden, Verschwörungserzählungen (S. 32). Eben- so zeigt sich doch die Problematik dort, falls von Tell ausgehend arbeitet Sebastian wo Regulierungsmechanismen nicht mehr Dümling in «Der Tell, das Dieselverbot und funktionieren und Zweifel beziehungsweise das Blackwashing Europas. Überlegungen Kontingenzwahrnehmungen ins Wilde zu einer Grammatik der Verschwö- laufen. Verschwörungswahrnehmungen rungsbeobachtung» die narrativen und sind nicht per se paranoid, können aber SAVk | ASTP 118:1 (2022) semantischen Binnenstrukturen h eraus: bei entsprechender Disposition eine fatale «Die Aufgabe einer solchen Grammatik Wirkung entfalten. besteht darin, die notwendigen Ordnungen Auf die politische Brisanz von bereitzuhalten, die erfüllt sein müssen, Verschwörungserzählungen und die damit eine Verschwörungsbeobachtung damit verbundenen Legitimationsstra- überhaupt als solche verstanden wird.» tegien machen Alice Blum und Michael 122 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 122 27.06.22 09:16
Urmoneit («Verschwörungsideologie als Gossip als misogyne Verschwörungserzäh- Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres konstitutives M oment in der extremen lung» herausgehoben werden, die von einer Rechten») und Marion Näser-Lather («Die Gegenstrategie, einem «Counter-narrative ‹Gender-Agenda›. Verschwörungserzählun- als Bewältigungs- und Ermächtigungspra- gen rund um die Gender Studies») deutlich. xis» (S. 165), berichtet und damit vielleicht Auch wenn diese Narrative inhaltlich de- einen Ausblick ermöglicht für den Umgang konstruiert werden können, wird sichtbar, mit destruktiven Narrativen. Wenn die wie stark darüber lebensweltliche Identi- Dekonstruktion nicht ausreicht oder nicht täten und Selbstverständnisse konstruiert ankommt, dann helfen unter Umständen und stabilisiert werden. Damit verbunden Gegenerzählungen. Die Untersuchung eines ist die Gefahr einer Instrumentalisierung «Kampfs der Narrative» oder der Entwick- und des Verlustes der epistemischen Basis lung ironischer Verschwörungserzählungen von Wissenschaft, die delegitimiert werden wie der Bielefeld- oder der neueren «Birds soll. Deutlich wird dies auch in der Aus aren’t real»-Verschwörung wäre eine mög einandersetzung mit einem «Klassiker» der liche Fortsetzung des Themas. Verschwörungstheorien: «Die Protokolle Der vorliegende Tagungsband bietet der Weisen von Zion als negative Utopie ein breites Spektrum an theoretischen und die Persistenz der narrativen Logik am und epistemologischen Zugängen, an gut Beispiel des Berner Prozesses 1933–1937» analysierten Fallbeispielen und macht die (Alfred Messerli). Sind die «Protokolle» Vielschichtigkeit von Verschwörungserzäh- schon längst als Fake und Fälschung dekon- lungen, ihre Strategien und Grammatiken struiert, so bleiben sie doch wirkmächtig, sowie die Einbindung in alltägliche Zusam- indem sie immer wieder neu in Rezep menhänge und politische Legitimationen tionskreise und politische Strategien einge- sichtbar. Es ist den Autor*innen hoch anzu- bunden werden. Weniger die nachweisbare rechnen, dass nicht nur die Dekonstruktion Substanz als vielmehr die narrative Logik im Mittelpunkt steht, wie dies häufig in der machen die Anschlussfähigkeit aus, was Auseinandersetzung mit Verschwörungs- auch die «Hilflosigkeit der Aufklärung» theorien geschieht, sondern dass auch die (S. 251) sichtbar macht. strukturellen Ähnlichkeiten mit Religion Gegenstrategien bei Verschwörungs- und Mythos, mit wissenschaftlichen Metho- erzählungen sind schwierig, wirkt das dologien und individuellen Strategien der autopoietische System doch in der Regel Ordnung von Welterleben kritisch einbezo- immunisierend, indem eine Dekonstruktion gen werden, dass auch nach den Motiven oder Offenlegung nur wieder als «Beweis» und Bewältigungsstrategien der Akteur*in- für das Narrativ interpretiert werden kann. nen gefragt wird. Bei allem Verständnis für Eben dies macht den wissenschaftlichen den Reiz der narrativen Qualitäten mancher Zugang, der auch diesem Tagungsband eig- Verschwörungserzählungen führen die net, teilweise wirkungslos – auch wenn er Beiträge aber letztlich dazu, die Bedeutung höchst nötig ist, indem die Strategien und der wissenschaftlichen Methodik, eine Logiken offengelegt werden. Ein Gefühl von gewissenhafte Quellenkritik, die Nachvoll- Hilflosigkeit mag aufkommen, liest man ziehbarkeit der Wissensproduktion, die SAVk | ASTP 118:1 (2022) die weiteren, gut analysierten Beispiele, offene Hinterfragung der Ergebnisse, die durch die die intensive Durchdringung des Reflexion des eigenen Standpunkts und das (medialen) Alltags mit Verschwörungs- Akzeptieren der prinzipiellen Vorläufigkeit narrativen deutlich wird. Es soll deshalb von Wissen sichtbar zu machen. abschliessend noch der Beitrag von Fatma HELMUT GROSCHWITZ Sagir «‹Taylor Swift is a Snake!› Celebrity 123 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 123 27.06.22 09:16
Jagla, Nicolas: Steckbriefe und Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Das Malefizamt versandte die Steckbriefe Diebeslisten als Quellen der historischen an andere Behörden für den Fall, dass die Kleidungsforschung. Ein kritischer gesuchten Personen sich immer noch im Vergleich. selben Landkreis aufhielten. In den meisten Bamberg: Veröffentlichungen zur Volkskunde und Fällen sind es Personen mit einer sesshaf- Kulturgeschichte, 2021 (Veröffentlichungen zur ten Lebensweise und einer sozialen Einbin- Volkskunde und Kulturgeschichte, 108), 115 S., Ill. dung in ihre Umwelt. Bei den Diebeslisten handelt es sich um die Zusammenstellung Nicolas Jagla erarbeitet in seiner 2021 an der Mitglieder von Banden, die nicht sess- der Universität Bamberg verfassten Master- haft sind und sich mehr schlecht als recht arbeit die Brauchbarkeit zweier Quellen über Wasser halten. Zwar werden Diebe mit typen für die historische Kleidungsfor- einer Straftat in Verbindung gebracht, die schung. Die beiden Quellentypen Listen machen aber in erster Linie Angaben Steckbriefe und Diebeslisten wurden bis zu weiteren möglichen Tätern. Das heisst, anhin in der Kleidungsforschung kaum die Listen sind weitgehend Dokumente zu beachtet, da dieser Forschungszweig sich Händen des Inquisitionsgerichts. Dieses weitgehend auf überlieferte und archivierte versucht, möglichst vieler Bandenmitglie- Nachlassinventare stützt. Solche Inventare der habhaft zu werden, denn ohne Verhör beinhalten ein breites Spektrum an ver- und ohne Geständnis kann die damalige schiedenen Arten von Kleidung für Mann Gerichtsbarkeit kein Urteil fällen. Erst in- und Frau: Festtagskleidung, Alltagsklei- folge der Aufklärung kommt es im 19. Jahr- dung, Haus- und Schlafgewänder sowie hundert zu einem Paradigmenwechsel vom Kleider für verschiedene Altersstufen. Auf- Inquisitionsgericht zum Indizienprozess. listungen von Dekorationen, modischen Der Autor untersucht sodann das Ar- Accessoires und Wertsachen spielen eine chivmaterial zur Männer- beziehungsweise Rolle und erlauben Einblicke vor allem in Frauenbekleidung. Von der Kopfbedeckung begüterte Haushalte. Inventare sagen aber geht er systematisch bis zur Fussbeklei- nichts über die tatsächliche Anwendung dung vor. Die Ergebnisse werden in 20 Ta- durch Trägerinnen und Träger aus und bellen und 24 Grafiken erfasst. Jede Person wirken deshalb leicht museal. erhält eine Zeile. So können Steckbriefe Im Gegenzug sprechen Steckbriefe und Diebeslisten quantitativ verglichen und Diebeslisten von Menschen, die mit werden. Es zeigt sich überraschend deut- konkreten Straftaten in Zusammenhang lich, dass der unterschiedliche Charakter stehen, von Menschen auf der Flucht, deren der beiden Quellentypen verschiedene Beschreibung inklusive der Kleidung als Ergebnisse zur Folge hat. Denn die Signalement diente. Jagla arbeitet zuerst Steckbriefe liefern ein Bild der Kleidung, den Unterschied zwischen den beiden das man umgangssprachlich als gut bür- Quellentypen heraus, da sie in der Vergan- gerlich bezeichnen könnte, während die genheit oft unterschiedslos ausgewertet Diebeslisten einfachere, praktischere und und beurteilt werden. Er begibt sich damit buntere Kleidung enthalten. Es zeigt sich auf das Terrain der Rechtsprechung im aber in beiden Dokumentengruppen, dass SAVk | ASTP 118:1 (2022) 18. Jahrhundert in Ober- und in Unter- der starke Einfluss der französischen Roko- franken. Es besteht ein fundamentaler komode gegen Ende des 18. Jahrhunderts Unterschied zwischen Steckbriefen und dem englischen Einfluss weicht. Gelbe Diebeslisten. Steckbriefe betreffen flüchtige Lederhosen bei der Männerbekleidung Personen, die einer Straftat bezichtigt wur- verschwinden langsam und machen Hosen den. Meist ist die Strafe der Landesverweis. aus Tuch Platz. Ebenso verschwinden der 124 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 124 27.06.22 09:16
Lauterbach, Burkhart: «Die Ferien sind Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Justaucorps, der Dreispitz, die Perücken, das Wams und seine leichtere Variante, das vorbei». Überlegungen zur Kulturanalyse Kamisol. In den Steckbriefen herrschen bei touristischer Reisefolgen. Männern und Frauen die Farben Schwarz (Kulturtransfer, 11). und Braun vor, in den Diebeslisten kom- Würzburg: Königshausen & Neumann, 2021. 301 S. men neben diesen Farben auch Rot, Blau, Gelb und Grün vor. Qualitative Vergleiche Burkhart Lauterbach, emeritierter Profes- zieht der Autor bei den Knöpfen («Detail: sor für Volkskunde/Europäische Ethnolo- Knopfmaterialien», S. 51–53) und bei den gie an der Universität München, legt sein Schürzen (S. 95 f.). Nota bene: Metallknöpfe neuestes Werk vor. Es handelt von Touris- aus Zinn oder Messing dienten oft als musforschung und Reisefolgen; es reicht Zahlungsmittel, und Schürzen wurden als mit dem letzten Kapitel bis ins Jahr 2020, dekorative Überbekleidung auch an Sonn- das von der Coronapandemie geprägt war. und Feiertagen getragen. Der 300 Seiten starke Band hat die Aus- Die Arbeit von Jagla richtet sich an ein wertung von dreissig Fragebögen im Fo- wissenschaftliches Publikum. Das zeigt kus, die bei einer Umfrage zurückgesandt sich nicht nur in der systematischen Vor wurden. Die Umfrage richtete sich an gehensweise, sondern auch in der Tatsache, Reisende, die zwischen 1972 und 2019 dass er zwar mit Tabellen und Grafiken ar- Reisen unternommen hatten. Sie sollten beitet, aber keine einzige Abbildung eines die für sie wichtigste Reise bewerten und Kleidungsstückes präsentiert. Das ist zwar ausführen, inwiefern die Reise nachhaltig berechtigt, da es ja nicht um Einzelstücke war und sich auf ihr späteres Leben aus- geht, ist aber trotzdem bedauerlich, da hier- wirkte. mit die Aufmerksamkeit und die Neugier Der Band beginnt mit einer Einbettung der Lesenden nicht nur geweckt, sondern des Themas in eine historische Perspektive. auch gestillt worden wäre. Sehr nützlich Erste Reisen mit Reisefolgen in Form von sind die Verweise in den Anmerkungen auf Reliquien waren die mittelalterlichen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, die Kreuzzüge. Später folgte in der frühen durch längst vergangene Moden genau be- Neuzeit die Grand Tour der europäischen schreiben und Materialien und Techniken Adligen, gefolgt von den Bildungsreisen der erklären. Auch weiterführende Literatur ist bürgerlichen Schicht während und nach der im Anhang sorgfältig aufgelistet. Es steckt Aufklärung. Das 20. Jahrhundert brachte eine Fülle von Informationen in dem A5-for- der Arbeiterschaft den vierzehntägigen matigen 115 Seiten starken Buch. Es kann Urlaub als vorbeugende Massnahme gegen für zukünftige Forschungsarbeit dienlich Erkrankungen. Das Ende des Zweiten Welt- sein. Gerade deshalb wäre eine Glättung kriegs veränderte die Reisegewohnheiten, der Sprache wünschenswert gewesen. indem grenzübergreifende Reisen zur PAULA KÜNG-HEFTI Normalität wurden. Der Massentourismus aber setzte erst in den 1970er-Jahren richtig ein. Mitbringsel, «Souvenirs», gehörten dazu. Lauterbach widmet dem Eiffelturm, in SAVk | ASTP 118:1 (2022) mannigfacher Ausführung, zum Beispiel als Miniatur, zu erwerben, eine vertiefte Studie, ist er doch das beliebteste Souvenir über- haupt und wurde vom verachteten Unding zum zugkräftigsten Ferienanimator und zur Symbolfigur moderner Urbanität. Bei diesem 125 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 125 27.06.22 09:16
Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Thema verweist Lauterbach mehrmals auf der Verweigerung. Denn diese kann im seinen Berufskollegen Ueli Gyr, emeritierter Umkehrverfahren Antworten geben auf Professor der Universität Zürich. die Frage, wann Veränderung eintritt und Das Forschungsanliegen des Autors wozu. Schliesslich fragt sich Lauterbach, ist die ungelöste Frage, ob Reisen unser welche Spuren die Pandemie von 2020 Leben verändern könne. Unter welchen hinterlassen wird. Er gibt aber zu, dass Bedingungen ist das möglich? Und wäre dieses Thema für spätere Forschungen dies ein Vorteil oder ein Nachteil für die und für spätere Forscher sein wird. Er ist Betroffenen und ihr Umfeld? Tatsache ist, überzeugt, dass Reisen zur Europäisierung dass nach einer Reise der Alltag uns innert beiträgt, und sieht darin eine wichtige weniger Tage wieder fest im Griff hat. Die positive Entwicklung. Er schliesst mit ei- Arbeit wartet und verlangt von uns, dass nem Erich-Kästner-Gedicht: «Es gibt nichts wir funktionieren. Will man aber doch eine Gutes / Ausser: Man tut es.» Änderung, die man sich in den Ferien vor- PAULA KÜNG-HEFTI genommen hat, durchsetzen, lohnt es sich, nicht im letzten Moment anzukommen, sondern etwas Zeit zu haben, die Änderung Lüthi, Eva: Blicke auf das Dazwischen. vorzunehmen, bevor der berufliche Alltag Foto-Ethnografien zu Transformationen nur noch Routine zulässt. Die Heimkehr, in Zürich. die Phase danach wollen genauso geplant Dissertation, Universität Zürich, 2018. Zürich: sein wie die Vorbereitungen zur Reise. Seismo, 2021, 440 S., Ill. Ohne Heimkehr ist die Reise gar keine Reise, sondern etwas anderes: Wegzug, «Frischi Biofrücht für Züri» ist klar und Auswanderung, Migration, Exil. Die Frage- deutlich auf einer kleinen Fahne zu lesen. bögen gaben keine eindeutige Auskunft. Gekonnt ist sie um einen Fahrradanhänger Es besteht die Gefahr, dass zu viele Erwar- samt Ladung – ganze zehn grüne Gemüse- tungen mit einer Reise verknüpft werden. kisten – gebunden. Vom Gelb der Fahne Der Autor ist trotzdem überzeugt, dass das wandert das Auge zur gelben Jacke der Gefühl, ein anderer zu sein, etwas Wahres Person, die auf der Ladung eine ausdrückt. Das Reisen erweitert den auseinandergefaltete Karte ausgebreitet Horizont, erlaubt neue Sichtweisen, neue hat und sich zu orientieren scheint, in Freundschaften und bildet. Nicht umsonst digitalisierten Zeiten ein ungewohnter heisst es: Wenn einer eine Reise tut, kann Anblick. Den Helm trägt sie noch auf dem er was erzählen. Aber ganz offensichtlich Kopf, das Fahrrad lehnt an etwas ausser- handelt es sich bei dieser dritten Phase um halb des Bildrandes. Alles deutet auf einen ein komplexes Forschungsfeld, wo die Zu- schnellen Stopp hin, ein kurzes Pausieren, sammenhänge noch im Dunkeln liegen. Es um die Karte hervorzuholen. Im Hinter- ist kein Zufall, dass Lauterbach wiederholt grund macht ein Tram Tempo. Es zieht an auf die Dissertation von Jessica de Bloom den laubfreien Bäumen vorbei. Die Um hinweist (Universität Nijmegen, 2012). In gebung lässt niedrige T emperaturen ver- ihrer Arbeit wirft sie sieben weiterführende muten. Welche frischen Früchte da wohl SAVk | ASTP 118:1 (2022) Fragen auf, die neue Forschungsgebiete transportiert werden? Oder handelt es sich eröffnen. Es braucht mehr Feldarbeit, mehr vielleicht eher um lagerfähiges Winter Interviews, auch teilnehmende Beobach- gemüse? tung, um an die Gründe für Veränderung Die Szene wurde im Februar 2014 in dieser dritten Phase heranzukommen. von Eva Lüthi fotografiert und ist in ihrem Es geht aber auch um das Phänomen «Foto- und Lesebuch» Blicke auf das Dazwi 126 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 126 27.06.22 09:16
schen. Foto-Ethnografien zu Transformatio Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Die Kombination von Dunkelheit, nen in Zürich (2021) zu entdecken. Winternebel und Licht kreiert in den Von der gelben Jacke wandert der Blick fotografischen Aufnahmen eine sicht- und weiter zu den gelben Details der Truckbe- nahezu erlebbare Aura. Der Aussage «die schriftung in der Fotografie gleich daneben. lokale Atmosphäre [wird] nicht einfach Mit «Gipfeli, Sandwiches, Süssigkeiten» erkennbar, sondern spürbar» (S. 233) bleibt und anderem verspricht der Aufdruck nichts hinzuzufügen. Von den riesigen des fotografierten «Znüni-Mobils» das Gebäuden der Versicherungskonzerne, Gegenprogramm zu den frischen Früchten. Banken und Co. weggerückt, richtet die Hier ist es also kein Fahrradkurier, sondern Fotografin und Kulturwissenschaftlerin den ein motorisierter Foodtruck, der Esswaren Blick auf die Neben- und Gleichzeitigkeiten zu den Menschen bringt. Protagonist der im sich transformierenden Gebiet, wenn sie Szene ist ein junger Mann, der in der Waschanlagen, Zulieferdienste und Kleinst geöffneten Türe des Mobils steht und im unternehmen fotografiert, die alle einen fotografierten Moment seine Anwesenheit bedeutenden Anteil an urbanen Orten im im Quartier mit dem Signalhorn des Wandel einnehmen – gerade auch nachts. 21. Jahrhunderts, einer knallroten Vuvu- Die beschriebenen Eindrücke gehören zela, verkündet. Kurzweilige Momente, zur Fotoethnografie mit dem Titel Kamera rasche Tätigkeiten und Bewegungen, die fahrt zu den Werkhöfen der Spätmoderne abseits der Aufmerksamkeit, aber dennoch und stammen aus einem Korpus von 520 mittendrin im treibenden Alltag passieren, Aufnahmen, die in 18 kürzeren Fotoaufent- sind auch in Lüthis anderen Fotografien zu halten zwischen Dezember 2013 und März entdecken. Es handelt sich um Momentauf- 2014 aufgenommen wurden – stadtaus- nahmen des Treibens und «Formen urbaner wärts von Zürich, von Oerlikon in Richtung Lebendigkeit» (S. 233) an Orten der Trans- Flughafen entlang der damals neuen formation in Zürich. Tramlinie Nr. 10. In anderen Fotografien: Schnelle Beine Orte der Transformationen in Zürich in dunkler Anzugshose und im ausgebeul- nahm Lüthi in drei weiteren Fotoethnogra- ten Handwerkertenue steigen in Trams ein, fien in den Blick. Die Publikation vereint überqueren Gleise und Strassen. Sie bah- diese und thematisiert damit die im Fach nen sich ihren Weg durch urbane Gebiete, untervertretene Methode des ethnografi- die sich ständig verändern. Für einen kur- schen Forschens mit der fotografischen zen Moment werden sie von der Fotografin Kamera sowie Fotoessays als erkenntnis eingefroren. Danach sind sie bereits wieder generierende Formate. Die Autorin verbin- weg und machen Platz für die nächsten det Stadtforschung und Fotografie auf ergie- schnellen Schritte und Rollkoffer. bige Art und Weise. So verfolgt sie «erhöhte In der vorliegenden Publikation werden Transformationen» explorativ auch in die Aufnahmen vom geschäftigen Treiben anderen Randgebieten der Limmatstadt: im des Tages durch Langzeitbelichtungen in Einkaufszentrum Letzipark (Fotografische ruhiger Nacht kontrastiert. Dunkle, neblige Aneignung einer Shopping Mall), anlässlich Szenen sind von langen, hellen und gelben der Verschiebung des Direktionsgebäudes SAVk | ASTP 118:1 (2022) Lichtspuren durchzogen. Nur wenige Fort- der Maschinenfabrik Oerlikon (Kamera bewegungsmittel sind noch unterwegs, hin- blicke zur Wahrnehmung einer Hausverschie terlassen dafür umso leuchtendere Spuren. bung) sowie beim Rück- und Neubau der Auch die Fensterfronten der Grosskonzerne Siedlung Altwiesen in Schwamendingen sind hell erleuchtet, während es draussen (Foto-Bilder einer Wohnorttransformation). dunkle Nacht ist. In den insgesamt vier Ethnografien werden 127 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 127 27.06.22 09:16
unterschiedliche Fokussierungen vorge- graphy oder multisensorischen Anthropo- Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres nommen und verschiedene Bildkonzepte logie) und mit der Fotografie ein Medium angewandt und auf diese Weise die Aufnah- zur Hand nimmt, das es schafft, komplexes men auch für die Betrachter*in des Buches Wissen zu zeigen. Sprechend hierfür ist die in eine Rahmung gesetzt. in der dritten Fotoethnografie wiederholte, In der Erforschung der Shopping-Mall persönliche Erzählung der «magischen wird beispielsweise die Figur der Flaneuse Anziehung» des Lichts. respektive des Flaneurs eingeführt, wie sie Die vierte Fotoethnografie kann als bereits bei Baudelaire, Benjamin oder auch Herzstück der Forschung gesehen werden. Kracauer skizziert wird. Mit dem Fokus Die Erhebungszeit und die Verdichtung auf das Situative, das in der fotografischen der Forschungsmaterialien überschreiten Begleitung durch kameratechnische die der anderen drei fotoethnografischen Überlegungen reflektiert wird, thematisiert Arbeiten um ein Vielfaches. Das über Jahre Lüthi den Raum (sowie dessen Erforschung andauernde Langzeitprojekt schafft es mit visuellen Mitteln) als leiblich-sinnlich dadurch, auf andere Sachverhalte einzu- erfahrbaren Ort des Sozialen. gehen, beispielsweise auf vorgefundene Wie Blickfelder sich verändern und Aneignungspraktiken im Feld der Wohn- Blickverschiebungen durch Orte bedingt orttransformation. Diese werden damit werden können, ist Thema der im Buch als über eine lange Dauer beobachtbar. Die zweite Fotoethnografie aufgeführten Arbeit Basis für die Erkenntnisgewinnung wird zur Hausverschiebung. Die Autorin begeg- nicht ausschliesslich durch fotografische net diesem Moment mit dem Konzept der Resultate geschaffen, sondern auch durch Refotografie, welches sie zugleich kritisch persönliche Beziehungen der Autorin zu hinterfragt. Spätestens an diesem Punkt einzelnen Akteuren, die über die Zeit fällt auf, wie auf der Rezeptionsebene eine hinweg zu Gefährten wurden und einen Vielzahl von Anknüpfungspunkten und vertieften Einblick ins Feld überhaupt erst Momente der assoziativen Erkenntnisgene- ermöglichten. rierung angeboten werden. Die vier Fotoethnografien bestehen In der dritten Fotoethnografie wird auf aus Bild- und Textpassagen. In voran- und das Verhältnis von Licht, Raum und Zeit dazwischengeschobenen Textteilen werden fokussiert. Damit wird eine grundlegende nebst der Erhebungssituation auch die Reflexion über das Medium der Fotografie Bildkonzeptionen und spezifischen Fokus- angestossen und Erkenntnisgewinnung sierungen innerhalb der einzelnen Ethno- anhand visueller Erfahrung hervorgehoben: grafien beschrieben und reflektiert. Erst im «Der Fokus auf das Licht in den Fotos Gemeinsamen produzieren Text und Bild verdeutlicht aber, dass die Erkenntnisse einen Mehrwert. Thematisiert wird auch nicht einfach an den Objekten und Figuren der Einfluss des Buches als gedrucktes haften, sondern dass sie über Empfindun- Medium. Lüthi verwendete für einzelne gen von (reflektierten) Lichtstrahlen, von Teile ihrer fotoethnografischen Forschung Formungen der Oberfläche durch Lichter auch andere Publikationsformen, zum gewonnen werden.» (S. 243) Beispiel Ausstellungen. SAVk | ASTP 118:1 (2022) Zwischen den Zeilen kann dabei das Das in der Forschung als Hybrid grundlegende Argument für den Einsatz bezeichnete Fotoessay wird in dieser von fotoethnografischer Forschung als Publikation zum Paradigma. Mit der Zu- Methode herausgelesen werden, die zudem sammensetzung von Text und Fotos soll es leiblich-sinnlich erfahrbar wird (durchaus nicht um das Zeigen und Erklären gehen, mit dem Verständnis einer sensory ethno sondern um das Erfahren, wie Lüthi in 128 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 128 27.06.22 09:16
Anknüpfung an Catharina Graf und deren Zeichensysteme führen zu weiteren For- Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres für diese Arbeit wegweisende Diskussion schungsmaterialien und Vermittlungsange- über das Fotoessay erklärt (S. 138; Graf, boten, zum Beispiel Interviewausschnitten, Catharina: Der fotografische Essay, 2013). Klangbildern oder Songs. Durch das Einbe- Wort und Bild, aber auch deren Auswahl, ziehen des Auditiven und das Verknüpfen Reihung, Layout, Grösse etc. bilden dabei von Ton und Bild wird die Art der Erkennt- grundlegende Eigenschaften. Mit der Foto- nisgenerierung um eine Ebene erweitert. ethnografie und dem Fotoessay setzt sie auf Das «Foto- und Lesebuch» wandelt sich so Vorgehen und Repräsentationsformen, die zu einem multimedialen Erlebnisraum, der Erkenntnisgewinnung und leiblich-sinn einer Ausstellung gleichkommt. liche Selbstreflexion zusammenführen und Allen, die direkten und schnellen bisher nicht zu den etablierten Methoden Zugriff beziehungsweise das Verfolgen des Fachs gehören. In dieser Arbeit hat weiterer Narrationsstränge als wünschens- auch der*die Rezipient*in Anteil an der wert ansehen, sei die digitale Version des Forschung und ist nicht blosse*r Empfän- Buches empfohlen. Hyperlinks führen ger*in einer Botschaft. schnell zu Quellen oder angesprochenen Wer sich das «Foto- und Lesebuch» Einzelfotos – natürlich mit der damit ein- geradlinig von Beginn bis Schluss vor- hergehenden Auswirkung auf die Materia- nimmt, bewegt sich zunächst lange auf lität der Publikation. Dies ist insbesondere einer abstrakten Ebene, der «mittelbaren von Interesse, wenn man das Werk als Rahmung der Einzelfotos», bis der Bildteil Fotobuch begreifen möchte. und somit die «visuelle Narration» mit den Die Blicke auf das Dazwischen reflek- anschliessenden Schlussbetrachtungen tieren den Umgang mit visuellen Mitteln klare Deutungen zulassen. Hier lässt sich im Fach im Generellen wie auch als Form die kontextuelle Beziehung von Wort und der Erkenntnisgewinnung und zeigen, dass Bild und deren erkenntnisgenerierende die Vormachtstellung des Schriftlichen in Wirkung demnach gleich auf der Ebene der Wissenschaft einmal mehr hinterfragt der Anwendung beobachten. In den reich werden sollte. Die Publikation richtet sich ausformulierten Kapiteln zu Theorie an die breite Öffentlichkeit und an ein aka- und Methode im vorderen Drittel der demisches Publikum gleichermassen und Publikation verweist Lüthi oft auf einzelne bietet unzählige Anknüpfungspunkte für Fotografien im hinteren, stark visuellen neue Überlegungen und Forschungen. Eva Teil mit den vier fotoethnografischen Lüthi spricht in diesem Zusammenhang Arbeiten. Damit entsteht ein Vor- und beispielsweise auch vom «Reservoir der Zurückspringen, um Deutungsansätze Geschichten» (S. 394) und verknüpft dieses sinnig zu vervollständigen. Dies sowie die mit Fragen zur Präsenz beziehungsweise unvermeidliche Reflexion über Wort-Bild- Absenz von Objekten. Insgesamt zeugt Bezüge seitens der Betrachter*innen wirft die besprochene Publikation vom Mut zu die Frage auf, inwiefern ein anderer Aufbau neuen Formen der Erkenntnisgewinnung der Publikation einen produktiven Weg zur und Wissenschaftskommunikation. Auch Wissensgenerierung hätte bieten können. in diesem methodischen Sinne ist sie also SAVk | ASTP 118:1 (2022) Dass sich die Kulturwissenschaftlerin nicht eine Quelle für Inspiration und Anknüp- vor neuen Wegen der Vermittlung scheut, fung. zeigt sich anhand der über das Buch FABIENNE LÜTHI verteilten QR-Codes. Die in unserer Gesell- schaft spätestens seit der Covidpandemie breit bekannten und vielfach verwendeten 129 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 129 27.06.22 09:16
Margry, Peter Jan (Hg.): Cold War Mary. Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Anfang der 1940er-Jahre kam es dann Ideologies, Politics, Marian Devotional zu einer grundlegenden Neudefinition, Culture. einem «refashioning» von Fátima (S. 377): Leuven: Leuven University Press, 2020, 399 S. Die marianischen Botschaften und die Pilgerbewegung, die bisher in der Tradition Die politik-, geschichts- und sozialwissen- des 19. Jahrhunderts gestanden hatten, schaftliche Forschung der letzten Jahr- erhielten einen deutlich apokalyptischen, zehnte hat gezeigt, dass der Kalte Krieg antikommunistischen Drall, was sie im vielerorts religiös aufgeladen war und auch Kontext des beginnenden Kalten Kriegs als Kampf zwischen «Christentum» (im international anschlussfähig machte und «kapitalistischen Westen») und «Atheis- ihre Strahlkraft massiv erhöhte. mus» (im «kommunistischen Osten») ver- 1941 schrieb die einzige noch lebende standen wurde. Der anzuzeigende Sammel- Seherin Lúcia Details ihrer Visionen von band, der sich aus fünfzehn Kapiteln – in 1917 nieder, insbesondere die ersten zwei der Mehrheit überarbeitete Konferenzbei- von insgesamt drei «Geheimnissen», die träge – zusammensetzt, untersucht die 1942 veröffentlicht wurden. Darin kündigt religiöse Dimension des Kalten Kriegs die Gottesmutter für den Fall, dass Gott anhand der Figur der Gottesmutter Maria, weiterhin beleidigt werde, ein «grosses der ihr geltenden Frömmigkeit und der Flammenmeer», einen noch «schlimmeren «Welle» von Marienerscheinungen (S. 287), Krieg» an und verlangt, dass «Russland» die sich nach dem Ende des Zweiten Welt- ihrem unbefleckten Herzen geweiht kriegs zugetragen haben sollen, so in werde; nur unter dieser Bedingung werde Amsterdam (NL) 1945, Cuevas de Vinromá sich «Russland» bekehren und Friede (E) 1947, Assisi (I) 1948, Lipa (PH) 1948, einkehren. Damit wurde der Bekämpfung Mazury (PL) 1949, Heroldsbach (D) 1949, des Atheismus und dem Sieg über den Necedah (USA) 1949 und an Dutzenden, ja Sowjetkommunismus eine heilsgeschicht- Hunderten weiteren Orten in Europa und liche Bedeutung zugeschrieben. Anlässlich anderen Weltgegenden. Wie und weshalb des 25-Jahr-Jubiläums von Fátima 1942 wurde die Gottesmutter in jenen Jahren kam Papst Pius XII., der am Tag der zur «militant Cold War Mary» (S. 15), zur ersten dortigen Marienerscheinung zum «Kalten Kriegerin» (S. 376), die nicht nur Bischof geweiht worden war, der Auffor- ihren Erscheinungen in diesen und den derung nach und weihte gleich die ganze darauffolgenden Jahren eine stark antikom- Menschheit dem unbefleckten Herzen der munistische Prägung verleihen, sondern Gottesmutter – wobei in der einschlägigen auch ihre vorangehenden Erscheinungen Literatur umstritten ist, ob dieser und nachträglich mit einer solchen Bedeutung weitere Weiheakte «gültig» waren und ausstatten konnte? die Bekehrung «Russlands» wirklich Fokus und besonderes Verdienst herbeizuführen vermochten. Explizit des Buches ist es, die überragende Rolle antikommunistisch, eine eigentliche vati- herauszuarbeiten, die in diesem Zusam- kanische «Atombombe» (Dennis J. Dunn, menhang Fátima zukam. Maria soll den zitiert S. 23), war das päpstliche Dekret SAVk | ASTP 118:1 (2022) drei Hirtenkindern Lúcia, Jacinta und Responsa ad dubia de communismo von Francisco in diesem kleinen Ort in Portugal 1949, das allen Unterstützern des Kommu- zwar schon 1917 erschienen sein, doch nismus mit der Exkommunikation drohte. bis in die 1930er-Jahre beschränkte sich 1950 verkündete Pius XII. das Dogma von die Anziehungskraft des Wallfahrtsorts der leiblichen Aufnahme Mariens in den hauptsächlich auf die Iberische Halbinsel. Himmel; 1953 rief er aus Anlass des Hun- 130 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 130 27.06.22 09:16
Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres dert-Jahr-Jubiläums der Verkündigung des Zweitens entfalteten Marienerschei Dogmas von der unbefleckten Empfängnis nungen und damit verbundene Bewe- Mariens (1854) ein marianisches Jahr gungen im Kontext des Kalten Kriegs aus. Antikommunismus, apokalyptische ein enormes Mobilisierungspotenzial. Marienverehrung und kirchlicher Anti- Beispielsweise versammelten sich, wie Wil- modernismus wurden auf diese Weise liam A. Christian Jr. und Marina Sanahuja miteinander verknüpft. Beltran auf der Grundlage von Archiv- und Im Folgenden werden einige zentrale Oral-History-Forschung minutiös rekonstru- Erkenntnisse des Sammelbands aus Sicht ieren (Kap. 6), am 1. Dezember 1947 in der des Rezensenten resümiert: Erstens wurden Nähe des kleinen spanischen Städtchens neue wie auch bestehende Marienwall- Cuevas de Vinromá mehrere Hunderttau- fahrtsorte und -bewegungen häufig mittels send (!) Menschen, um einem himmlischen handfester Aktionen und spitzfindiger Wunder beizuwohnen, das die Gottesmutter Apologetik mit symbolischen Bezügen zu zuvor einem zehnjährigen Mädchen ange- Fátima versehen, sodass diesbezüglich von kündigt hatte. Andere Beiträge im Buch einer «Fátimaisierung» (S. 34) gesprochen verdeutlichen, dass diese Mobilisierung werden kann: «The Fátima apparitions häufig auch politisch wirksam wurde, na- served as the template and anchoring mentlich vor den ersten Parlamentswahlen framework for the Marian visitations du- im Nachkriegsitalien (Robert Ventresca, ring the Cold War.» (Daniel Wojcik, S. 233) Kap. 2), bei den Bemühungen um ein Und zwar sowohl mit prospektiver als auch Verbot der Kommunistischen Partei in mit retrospektiver Wirkung, wie sich am Australien Ende der 1940er-, Anfang der Beispiel von Necedah, Wisconsin (ab 1949), 1950er-Jahre (Katharine Massam, Kap. 10) und den «Bayside apparitions» in New York oder im innerkatholischen «Kulturkampf» (ab 1970) einerseits, von Beauraing und während des Kalten Kriegs in den USA Banneux in Belgien (1932/33) andererseits (David Morgan, Kap. 4; Thomas Kselman, zeigen lässt. Resultat war nicht zuletzt eine Kap. 8). Eine wichtige Rolle spielten die entsprechende antikommunistische «Imprä- Massenmedien und die Populärkultur mit gnierung». Eine genealogische Verbindung weltweit erfolgreichen Hollywood-Filmen zu anderen Erscheinungsorten – insbe- wie The Song of Bernadette (1943) und The sondere Fátima – und deren marianischen Miracle of Our Lady of Fatima (1952). Botschaften herzustellen, diente zudem der Drittens entstanden etliche der Beglaubigung, der Rechtfertigung, oft auch untersuchten Phänomene als Grassroots-Be- der Hierarchisierung der jeweils spezifi- wegungen, was ihre Kontrolle erschwerte schen, «proprietären» Inhalte gegenüber und in mehreren Fällen zu Konflikten denjenigen anderer Pilgerbewegungen. mit der kirchlichen und/oder weltlichen Gleichzeitig offenbarten Promotoren Hierarchie führte. In ihrer wegweisenden marianischer Bewegungen immer wieder Studie Image and Pilgrimage in Christian eine erstaunliche Fähigkeit zu «interpreta- Culture (1978) haben die Kulturanthropo- tiver Akrobatik» (S. 254), wenn es darum logen Victor und Edith Turner bereits auf ging, solche Inhalte an sich verändernde den potenziell subversiven Charakter, auf SAVk | ASTP 118:1 (2022) zeithistorische Kontexte anzupassen, um- die populistische, anarchische, manchmal zuinterpretieren und neu zu bewerten, wie offenkundig antiklerikale Stossrichtung unter anderem Michael Agnew in seinem vieler Pilgerbewegungen hingewiesen. Ohne Beitrag über das «Fatima Center» und des- sich explizit darauf zu beziehen, arbeiten sen Gründer Nicholas Gruner nachzeichnet mehrere Autorinnen und Autoren des Sam- (Kap. 14). melbands solche Konfliktlinien heraus, etwa 131 SAVk 2022_1_Satz 18.indd 131 27.06.22 09:16
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