DIE AMBIVALENZ DES NEUEN - Sozialer Fortschritt durch Plattformen, Blockchain und KI? 03/ 2020
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D I S K U R S 03/ 2020 Verena Bader, Daniel Buhr DIE AMBIVALENZ DES NEUEN Sozialer Fortschritt durch Plattformen, Blockchain und KI?
WISO DISKURS 03/ 2020 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die FES ist die älteste politische Stiftung Deutschlands. Benannt ist sie nach Friedrich Ebert, dem ersten demokratisch gewählten Reichspräsidenten. Als parteinahe Stiftung orientieren wir unsere Arbeit an den Grundwerten der Sozialen Demokratie: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Als gemeinnützige Institution agieren wir unabhängig und möchten den pluralistischen gesellschaftlichen Dialog zu den politischen Herausforderungen der Gegenwart befördern. Wir verstehen uns als Teil der sozialdemokratischen Wertegemeinschaft und der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und der Welt. Mit unserer Arbeit im In- und Ausland tragen wir dazu bei, dass Menschen an der Gestaltung ihrer Gesellschaften teilhaben und für Soziale Demokratie eintreten. Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit, um Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und Sozial- politik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden. WISO Diskurs WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische Handlungsempfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich basierten Politikberatung leisten. Über die Autoren dieser Ausgabe Verena Bader ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Personalmanagement und Organisation an der Universität der Bundeswehr München. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit digitaler Technik, insbesondere Algorithmen, in ihrem Verhältnis zu menschlichen Akteur_innen sowie deren Implikationen für Arbeit und Organisation. Außerdem arbeitet sie aktuell in einem von der Hans-Böckler- Stiftung geförderten Forschungsprojekt zum Thema „Mitbestimmung 4.0“. Prof. Dr. Daniel Buhr ist Leiter des Steinbeis Transferzentrums Soziale und Tech- nische Innovation und außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Max Ostermayer ist in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik für den Arbeits- bereich Klima-, Energie- und Strukturpolitik verantwortlich und leitet den Arbeitskreis Nachhaltige Strukturpolitik.
03/ 2020 WISO DISKURS Verena Bader, Daniel Buhr DIE AMBIVALENZ DES NEUEN Sozialer Fortschritt durch Plattformen, Blockchain und KI? 2 VORWORT 3 1 ZUSAMMENFASSUNG 4 2 EINLEITUNG 6 3 WIE ENTSTEHT NEUES IM ZEITALTER DER DIGITALISIERUNG? 8 4 DIE AMBIVALENZ DES NEUEN 9 5 DER EUROPÄISCHE WEG DER DIGITALISIERUNG: ZWISCHEN MARKT UND STAAT? 11 6 KÜNSTLICHE INTELLIGENZ, BLOCKCHAIN UND DIGITALE PLATTFORMEN 11 6.1 Künstliche Intelligenz 12 6.2 Blockchain 13 6.3 Digitale Plattformen 15 7 AUS MEHRDEUTIGKEIT WIRD EINDEUTIGKEIT: DIGITALISIERUNG GESTALTEN 16 7.1 Politikfeld Gesundheit 22 7.2 Politikfeld Arbeit 24 7.3 Politikfeld Sicherheit 26 8 EMPFEHLUNGEN FÜR DIE POLITISCHE GESTALTUNG 26 8.1 Arbeitswelt 27 8.2 Infrastruktur 28 8.3 Partizipation und Teilhabe 29 8.4 Sicherheit und Schutz 30 Abbildungsverzeichnis 30 Tabellenverzeichnis 31 Abkürzungsverzeichnis 31 Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 2 VORWORT In den letzten Jahren ist der Blick auf die Digitalisierung Sie arbeitet die Ambivalenz der Digitalisierung in den unter- differenzierter geworden. Die Digitalisierung wird heute nicht suchten Politikbereichen heraus und identifiziert erste konkrete nur als ein technologischer, sondern immer stärker als ein Handlungsempfehlungen. Dabei wird deutlich, dass wir in gesellschaftlicher Prozess diskutiert. Zwar sind technische Deutschland auf gewachsene Strukturen zurückgreifen können, Neuerungen die Keimzelle für viele der Umwälzungen, die die sich bei der partizipativen Gestaltung sozialer Transforma- wir aktuell beobachten: in der Wirtschaft, in der Arbeitswelt, tionsprozesse bewährt haben. Die Sozialpartnerschaft und in unseren Konsummustern oder in der Art, wie politische auch die betriebliche Mitbestimmung sind zwei besonders Debatten verlaufen. Wie diese technischen Neuerungen wichtige Institutionen. Diese Stärke müssen wir aktiv nutzen gesellschaftlich eingebettet werden, gilt es jedoch, verstärkt und für die Zukunft ausbauen. in den Blick zunehmen. Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Die Art und Weise, wie wir mit der Digitalisierung als Referent_innen und Teilnehmenden der Reihe bedanken. technischem und sozialem Innovationsprozess umgehen, wird Besonderer Dank gebührt auch Prof. Dr. Daniel Buhr und letztlich darüber entscheiden, ob wir deren Potenzial für die Verena Bader für deren wissenschaftliche Begleitung und die Gesellschaft als Ganzes nutzbar machen können, oder ob sie Erarbeitung der vorliegenden Studie. Unseren Leser_innen als Katalysator für wirtschaftliche und soziale Polarisierungs- wünschen wir eine interessante Lektüre. prozesse wirkt. Um die Chancen der Digitalisierung für sozialen Fortschritt zu heben, muss man sich zunächst mit der Frage beschäf- tigen, welche positiven und negativen Auswirkungen digitale MAX OSTERMAYER Technologien auf zentrale Lebens- und Politikbereiche haben. Friedrich-Ebert-Stiftung Auf dieser Grundlage lässt sich ableiten, unter welchen Be - dingungen und mit welcher politischen Rahmensetzung der DR. MARC SCHIETINGER Einsatz dieser digitalen Technologien auch zu sozialem Fort- Hans-Böckler-Stiftung schritt führt. Dabei muss ein Koordinatensystem für einen europäischen Weg im Umgang mit der Digitalisierung gefunden werden: Die Vorteile und Gewinne durch die Digitalisierung müssen möglichst alle Menschen spüren – die Verbesserung von Teilhabechancen sowie die Reduzierung sozialer Un- gleichheit sind z. B. wichtige Gradmesser dafür. In den Jahren 2018 und 2019 haben die Friedrich-Ebert- Stiftung und die Hans-Böckler-Stiftung vor diesem Hinter- grund die Fachgesprächsreihe „Digitalisierung erfolgreich gestalten – Wie können technische Innovationen zu sozialem Fortschritt führen?“ organisiert. Im Rahmen von vier Veran- staltungen wurden drei zentrale digitale Technologien diskutiert: Blockchain, Künstliche Intelligenz und digitale Plattformen. Dabei standen die Auswirkungen – positiv wie negativ – auf die Politikbereiche Gesundheit, Arbeit und Sicherheit im Zentrum der Betrachtung. Die vorliegende Studie ist das Ergebnis der Diskussionen, die wir im Rahmen der Veranstaltungsreihe geführt haben.
DIE AMBIVALENZ DES NEUEN WISO DISKURS 3 1 ZUSAMMENFASSUNG Große Transformationsprozesse wie die Digitalisierung weisen gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe bietet? Zweifels- ein hohes Maß an Ambivalenz auf. Die Auswirkungen und ohne ermöglichen gerade Institutionen wie Mitbestimmung Effekte sind entgegen erster, oberflächlicher Betrachtungen und Sozialpartnerschaft die Teilhabe, könnten Vertrauen schaf- weder pauschal als positiv zu bewerten und Anlass für wider- fen und damit auch die entsprechende Sicherheit im Wandel spruchsfreie Euphorie noch sind sie per se schlecht und negativ. bieten. Allerdings sinken seit Jahren der Organisationsgrad so- Das macht die Analyse einerseits aufwändig und kompliziert, wie die Tariftreue, womit die einstigen Stärken des rheinischen bietet andererseits aber viele Gestaltungsmöglichkeiten. Denn Kapitalismus mehr und mehr erodieren, obwohl sie gerade in der Pfad technischer Innovationen ist keineswegs vorgezeich- Zeiten von Krisen (siehe letzte Finanz- und Wirtschaftskrise) net. Im Gegenteil: Ihr Einsatz und ihre Verbreitung werden lagerübergreifend als Erfolgsmodell gepriesen werden. Das ist von Geboten und Verboten, finanziellen Förderungen, Infor- mit Sorge zu betrachten. Denn vor dem Hintergrund diverser mationskampagnen, Schulungsangeboten und gesetzlichen aktueller politischer und ökonomischer Spannungen (z. B. Han- Regelungen beeinflusst, und ihre Auswirkungen entfalten sich delskonflikt zwischen USA und China) entfalten die zentralen erst in den Dynamiken, die sich durch ihre Nutzung im all- Elemente dieses europäischen Weges noch mehr Strahlkraft. täglichen (Arbeits-)Leben entwickeln. Den Einsatz und die So scheinen sich dort auch wesentliche Leitplanken der poli- Verbreitung von technischen Innovationen gilt es nun in einem tischen Gestaltung digitaler Transformation zu finden. Dazu gesellschaftlichen Diskurs und mit demokratischen Mitteln zählen Kohäsion und Inklusion statt Spaltung, verbunden mit gemeinsam zu entwickeln. Hier zeigt sich gerade in Zeiten dem Ziel des sozialen und gesellschaftlichen Fortschritts. Dazu populistischer Regierungen und autokratischer Systeme der gehört das Primat der Politik ebenso wie der Multi-Stake- Vorteil stabiler politischer Verhältnisse vieler europäischer holder-Ansatz oder die Mitbestimmung und Beteiligung von Demokratien. Sie bieten Institutionen und etablierte Aushand- Bürger_innen, aber auch der Einsatz gesetzlicher Regulierung lungsplattformen, die Konsens und Kompromiss fördern und und Elemente staatlicher Steuerung sowie gezielte Investitio- die nachhaltige Akzeptanz für konkrete Lösungen erleichtern. nen in die digitale Infrastruktur und in die Modernisierung des Sowohl in der Fachgesprächsreihe als auch in der hier Wohlfahrtsstaats. In der vorliegenden Studie widmen wir uns vorliegenden Studie haben wir diese Herausforderungen, aber der Fragestellung, wie Digitalisierung in Europa zu sozialen auch mögliche Lösungen und Handlungsempfehlungen vor Innovationen beitragen kann und wie sich Digitalisierung für allem mit Blick auf die drei Politikfelder Arbeit, Gesundheit soziale Innovationen politisch gestalten lässt. Wir adressieren und Sicherheit intensiv diskutiert. Unter dem Strich bleibt die (1) drei aktuell viel und widersprüchlich diskutierte Techniken, Erkenntnis, dass öffentlich wie privat mehr investiert werden Blockchain, Künstliche Intelligenz (KI) und digitale Plattformen, muss: in Infrastruktur, die Modernisierung des Wohlfahrts- und (2) deren Potenzial in drei großen Bereichen: Gesundheit, staats, in Bildung und Weiterbildung, aber auch in Forschung Arbeit und Sicherheit – also drei für den sozialen Fortschritt und Innovation. Zudem gilt es an den bestehenden Stärken vielversprechende digitale Techniken in drei Bereichen, die die anzuknüpfen: etablierte Wohlfahrtssysteme, eine im internati- Mehrheit der Bürger_innen in Europa betreffen und deshalb onalen Vergleich gut ausgebaute medizinische Versorgung, so- nach politischer Gestaltung verlangen. Wie diese politische ziale Standards, ein etablierter Daten- und Verbraucherschutz Gestaltung aussehen kann, soll im Rahmen dieser Studie disku- sowie wichtige Institutionen wie politische Partizipation und tiert werden. Mitbestimmung in den Betrieben. All das sorgt für eine hohe Innovationsfähigkeit von Organisationen und Gesellschaften. Liegen hier auch die Chancen eines dritten, europäischen Weges, der im Unterschied zur chinesischen (staatlich, auto- kratisch, top-down) oder US-amerikanischen Variante (Markt, Wettbewerb, Kontrolle) vielerlei Anknüpfungspunkte für diese
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 4 2 EINLEITUNG Klimawandel, demografischer Wandel, Ungleichheit – die eine neue Idee, ein neues Produkt, einen neuen Prozess, eine großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit neue Dienstleistung. Es geht damit aber immer auch um die verlangen nach Innovationen. Diese werden von vielen auch Frage, wie es diese von einem Menschen zum anderen schaf- in der Digitalisierung gesucht. Industrie 4.0, Blockchain, KI, fen, wie sie sich also im Markt bzw. in weiten Teilen der Ge- Internet of Things, digitale Plattformen, E-Health oder Smart sellschaft durchsetzen und diffundieren. Damit spielen nicht Grids versprechen ein großes Chancenpotenzial für wirt- nur die Anbieter von neuen Lösungen, also beispielsweise schaftlichen wie sozialen Fortschritt. Schon heute zeigen sich Unternehmen oder Verwaltungen, sondern auch die Nachfra- vielversprechende Einsatzgebiete der Künstlichen Intelligenz: ger_innen eine wesentliche Rolle. Gerade hier bedarf es einer Früherkennung von Krebserkrankungen, präzise Wettervor- frühzeitigen Einbindung und Partizipation der Nutzer_innen hersagen, kostengünstige Wartung von Autobahnbrücken, und Anwender_innen, d. h. sowohl der Kund_innen bzw. effiziente Verbrechensbekämpfung und vieles mehr. Doch Patient_innen und Bürger_innen als auch der Beschäftigten. Technik allein wird diese Potenziale nicht schöpfen können. Auch dafür bietet die Digitalisierung ein großes Chancenpo- Denn auch die Digitalisierung verursacht neue Herausfor- tenzial. Nur dann kann es gelingen, die Entwicklungen in und derungen: digitale Spaltung, die wiederum oft einhergeht um die digitale Transformation so zu nutzen, dass möglichst mit sozialer Ungleichheit, Verlust von Tätigkeiten, der Ent- viele Menschen davon profitieren können. wertung von Wissen, einem wachsenden Bedarf an Bildung, Denn Innovationen sind stets eingebunden in soziale permanenter Qualifizierung und sozialer wie rechtlicher Prozesse. Gabriel Tarde (2009) zufolge beruht wiederum jegli- Absicherung gegen neue Risiken des digitalen Arbeitens und che gesellschaftliche Veränderung auf inhärent innovativen Wirtschaftens (Datensicherheit, Datenschutz, Privatsphäre, Nachahmungsprozessen und einem breiten Spektrum an geistiges Eigentum, Mitbestimmung, Sozialversicherung für Wechselwirkungen. Dazu zählen die nachahmende Wieder- Cloud- und Crowdworker_innen, Besteuerung und Regu- holung, der Gegensatz wie auch Prozesse der Anpassung lierung transnationaler Plattformanbieter und vieles mehr). (Howaldt et al. 2019). Wir verändern beispielsweise unser Auch hier wird nach neuen Lösungen gesucht, nach neuen Mobilitäts- und Kommunikationsverhalten oder führen einen Organisationsformen und Arbeitsweisen, neuen Geschäfts- bewussteren Lebenswandel, um Krankheiten vorzubeugen modellen und Dienstleistungen: nach sozialen Innovationen. oder unseren individuellen ökologischen Fußabdruck zu Soziale Innovationen sind neue soziale Praktiken und verringern. Neue Applikationen (z. B. Mobilitätsplattformen, Techniken, deren Ziel es ist, bestehende gesellschaftliche Gesundheits-Apps, Smart-Meter etc.) unterstützen uns dabei Probleme im Vergleich zu den bisherigen Ansätzen besser und fördern das Entstehen neuer Dienstleistungen und Ge- zu lösen, und die sich schließlich in weiten Teilen der Ge- schäftsmodelle. Damit geraten die mitunter komplexen Varia- sellschaft institutionalisiert und routinisiert bzw. erfolgreich tionen sozialer Praktiken unterschiedlichster Akteure und ihre durchgesetzt haben (Buhr et al. 2018; Howaldt et al. 2008; Lernprozesse verstärkt in den Fokus – aber auch das große Zapf 1989). Beispiele gibt es viele: angefangen bei der Sozial- Potenzial der Digitalisierung für die Entdeckung und Verbrei- versicherung über die duale Ausbildung, das Wahlrecht und tung sozialer Innovationen, zum Beispiel durch Information die Mitbestimmung bis hin zum Energiesparen. und Kollaboration, Vernetzung und Kommunikation. Damit schaffen gerade soziale Innovationen die zentrale In dieser menschenzentrierten Betrachtung des digitalen Basis für den sozialen Fortschritt. Zudem haben soziale Inno- Wandels stellen sich zwangsläufig vielerlei ethische und vationen Einfluss darauf, ob eine technische Invention (Erfin- gesellschaftspolitische Fragen. Auch hier hilft eine Diskussion dung) zur verbreiteten Innovation wird, auf welchen Wegen an konkreten Fragestellungen mehr als der oberflächliche Dis- und Kanälen sie sich ausbreitet (diffundiert) und welche Wir- kurs im Abstrakten. Wem nutzt der Einsatz einer spezifischen kung sie dabei entfaltet. Denn eine Innovation muss immer (digitalen) Lösung? Wo liegen die Schwierigkeiten? Sind die beides umfassen: Invention und Diffusion. Es geht also um Betroffenen – auch vor dem Hintergrund eines immer
DIE AMBIVALENZ DES NEUEN WISO DISKURS 5 verbleibenden Restrisikos (z. B. Datenschutz, Datensicherheit) – 1. Wie entsteht Neues im Zeitalter der Digitalisierung, und trotzdem dafür, diese Lösung in diesem konkreten Fall anzu- wo finden sich Chancen für soziale Innovationen? wenden? Denn gerade in jenen spezifischen Entscheidungs- 2. Was ist bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, situationen zeigt sich häufig, dass viele Menschen gegenüber Blockchain und digitalen Plattformen zu erwarten? Neuerungen und Wandel sehr viel positiver eingestellt sind, 3. Welche Chancen ergeben sich daraus? weil sie den konkreten Mehrwert und Nutzen besser ein- 4. Wie müssen wir die Digitalisierung dafür politisch schätzen und gegenüber den Nachteilen präziser abwägen gestalten? können (Rogers 2003). Gerade im Bereich der Gesundheits- politik wandelt sich dann die abstrakte Ablehnung einer Wir wollen im Folgenden also zunächst den grundsätzlichen zunehmend digital gestützten medizinischen Versorgung Analyserahmen vorstellen und klären, wie überhaupt Neues in ganz konkrete Zustimmung, wenn sich beispielsweise entsteht und welche Bedingungen dafür herrschen müssen. durch die Nutzung von Tele-Sprechstunden bei der Nachsorge Dann widmen wir uns den Chancen von KI, Blockchain und stundenlange Anfahrten und Wartezeiten bei dem Facharzt digitalen Plattformen anhand konkreter Beispiele in den drei bzw. der Fachärztin oder bei dem Spezialisten/der Spezialistin Politikfeldern Arbeit, Gesundheit sowie Sicherheit, ehe wir vermeiden lassen. Dann erkennen auch viele Bürger_innen auf Basis unserer Literaturanalyse, der Vorträge, Diskussionen vermutlich eher den Vorteil einer digitalen Patientenakte und Expertengespräche erste Handlungsempfehlungen für bzw. den digitalen Austausch von medizinischen Daten in der eine gesellschaftsdienende Gestaltung der digitalen Trans- Zusammenarbeit multiprofessioneller Teams in der Pflege (z. B. formation entwickeln. Dabei konzentrieren wir uns neben Patient_innen sowie Hausärzt_innen, Apotheker_innen, Pfle- dem besonderen Fokus auf die Veränderung der Arbeitswelt gedienst, Physiotherapeut_innen, An- und Zugehörige etc.). insbesondere auf die Bereiche Infrastruktur, Partizipation und Doch bei allem Plädoyer für Konkretheit gilt es, bestimm- Teilhabe sowie Sicherheit und Schutz. Dementsprechend sind te übergeordnete Prinzipien, Normen und Werte zu achten. unsere Handlungsempfehlungen gegliedert. Weil von der Digitalisierung vielfach unterschiedliche und mitunter auch gegenläufige Interessen betroffen und dabei häufig erhebliche Machtasymmetrien zu beobachten sind, bedarf es wirksamer rechtlicher Regelungen (z. B. als Expe- rimentierräume mit speziellen Klauseln), die einerseits Freiräu- me schaffen, andererseits aber auch angemessenen Schutz für die Rechte und Interessen aller Betroffenen gewährleisten (Buhr 2015; Leopoldina 2018). Hier zeigt sich das ganze Aus- maß der Ambivalenz digitaler Transformation. Denn während gerade die KI in der Tat die Möglichkeit zu umfassender Kontrolle bietet, schafft die Digitalisierung eben auch neue Spielräume, die für intelligente Mobilitätskonzepte, einen gesünderen Lebensstil, mehr Transparenz, Beteiligung und mehr Arbeitsqualität („Gute Arbeit“) genutzt werden können. Daher ist ihre politische Gestaltung umso wichtiger. Schon bei der Konzeption der Fachgesprächsreihe, auf deren Vorträgen, Diskussionen und Erkenntnissen die vorlie- gende Publikation basiert, wurde bewusst von den Chancen ausgegangen und der Mensch in den Mittelpunkt dieser Entwicklungen gestellt. Daher wurden auch drei Politikfelder ausgewählt, die uns als Bürger_innen jeden Tag und sehr konkret betreffen: Gesundheit, Arbeit, Sicherheit. Diese Politikfelder tangieren zudem die größten Budgets in den Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen. Sie bieten damit auch das größte Gestaltungspotenzial. Wir danken allen Teilnehmenden der Fachgesprächsreihe für ihre vielen klugen Beiträge, Referate und Kommentare.1 Die einzelnen Workshops folgten dabei einer einheitlichen Gliederung, die auch diesen Beitrag strukturiert: 1 Wir danken hier ausdrücklich: Dr. Philipp Fink, Dr. Marc Schietinger, Max Ostermayer, Christina Schildmann, StS Björn Böhning, Thomas Fischer, Jens Zimmermann MdB, Falko Mohrs MdB, Jan Kuhlen, Prof. Dr. Beate Ehret, Prof. Dr. Svenja Falk, Dr. Kajsa Borgnäs, Prof. Dr. Thomas Gegenhuber, Claus Cremers, Magdalena Ziomek-Frackowiak, Christina Kampmann MdL, Ariane Hellinger, Prof. Dr. Andranik Tumasjan, Karsten Stampa, Dieter Rehfeld, Karl-Heinz Brandl.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 6 3 WIE ENTSTEHT NEUES IM ZEITALTER DER DIGITALISIERUNG? Innovation wird oft (und damit fälschlicherweise) als Ergeb- diesen Wandel zu konzeptualisieren. Es betont zum einen die nis eines einmaligen Aktes beziehungsweise als eindeutig Endlichkeit und Beschränktheit der Ressourcen (z. B. Wissen) abgrenzbares Phänomen verstanden: ein neu eingeführtes einzelner Organisationen und zum anderen die dadurch not- Produkt, eine neue Dienstleistung, ein neues Produktionsver- wendige Kollaboration mit anderen. Denn auch in großen, fahren oder eine neue Organisationsform. Dieses Verständnis multinationalen Unternehmen reicht das interne Wissen für suggeriert, man könne Innovationen klar erkennen und ein- komplexer werdende Innovationsprozesse nicht mehr aus. Es deutig identifizieren. Bei genauerer Analyse werden jedoch muss Wissen anderer, externer Akteure aktiviert werden: von die Lücken dieser Interpretation sichtbar. Innovationen durch- Universitäten und Forschungslaboren, aber eben auch von laufen einen Prozess: Phasen des Suchens, des Forschens, der anderen Unternehmen, die möglicherweise im Wettbewerb Kooperation und Arbeitsteilung, Testläufe und Prototypen, stehen. Dazu gehört, die Anwender_innen, Kund_innen und die Markteinführung und Diffusion – viele unterschiedliche Nutzer_innen frühzeitig einzubinden. Denn mitunter stellen Phasen, die sich oft überschneiden und die sich zumindest die Kund_innen nicht nur die Probleminformationen, sondern nicht klar – und schon gar nicht linear – voneinander abgren- als sogenannte Prosument_innen beispielsweise auch die zen lassen. Innovationen sind somit das Ergebnis eines kom- Lösungsinformationen zur Verfügung. Sie werden zu wesent- plexen sozialen Prozesses, der spontan und situativ, in festen lichen Treibern der Innovation. hierarchischen Strukturen, vielleicht aber auch sehr flexibel Open Innovation ist demnach die Öffnung des Innovati- innerhalb vernetzter Strukturen ablaufen kann. onsprozesses von Unternehmen und die aktive strategische Vor allem mit der zunehmenden Digitalisierung und Ver- Nutzung der Außenwelt zur Vergrößerung des eigenen netzung von Wirtschaft und Gesellschaft verändern sich die- Innovationspotenzials. Open Innovation verlangt von Orga- se Strukturen mitunter massiv. Innovationen wie zum Beispiel nisationen die Fähigkeit, externes Wissen zu internalisieren digitale Plattformen entstehen vermehrt in Netzwerken vieler (Outside-in-Prozess), aber eben auch internes Wissen zu unterschiedlicher Akteure – und in Koproduktion mit den externalisieren (Inside-out-Prozess). Durch die Kombination Anwender_innen und Nutzer_innen. Das heißt: Innovations- dieser beiden Prozesse sollen die Lieferanten, Kund_innen prozesse öffnen sich („Open Innovation“) und binden immer und Universitäten aktiv bei der Entwicklung von Innovatio- mehr, unterschiedliche Akteure ein. Daher hat die Innovati- nen integriert werden. Durch die gleichzeitige Externalisie- onspolitik in jüngerer Vergangenheit ihr Spektrum sukzessive rung dieser Innovation soll sich ein Markt um die Innovation verbreitert, hin zum Konzept der „Quadruple Helix“. Dieser herum aufbauen (siehe Open-Source-Entwicklung im Soft- Ansatz hebt die zunehmende Bedeutung der Endnutzer_in- warebereich oder die App-Entwicklung über Plattformen). nen für den Erfolg eines Innovationsprozesses hervor. Dem- Open Innovation grenzt sich damit von Closed Innovation nach besteht ein funktionierendes Innovationssystem aus vier ab, also dem Innovationsverständnis, das nach Schumpeter sogenannten Helices, die (1) Wissenschaft und (2) Wirtschaft die Exklusivität einer Innovation als wesentliche Ursache für sowie (3) Politik und (4) Zivilgesellschaft umfassen. Diesen Rentengewinne des Innovators und damit als Dynamo für Quadruple-Helix-Ansatz gilt es, in Zukunft konsequent auszu- den/die Pionierunternehmer_in erkennt. bauen, zumal etablierte Innovationsmodelle mehr und mehr Daher hat sich in Teilen der Wissenschaft die Einsicht zu erodieren drohen. Während der „klassische“ Innovations- verfestigt, dass es nicht ausreicht, nur die einzelne Orga- prozess der „Closed Innovation“ (nach Schumpeter) vor allem nisation bzw. – im Schumpeterschen Sinne – die einzelnen nach innen gerichtet war – Kundenwünsche (Probleminfor- Entrepreneur_innen in den Blick zu nehmen (Buhr/Stehnken mation) werden dabei durchaus aufgenommen, aber die 2018). Es gilt auch, die sie umformenden Strukturen und Lösung wird intern, innerhalb des Unternehmens, erarbeitet –, Institutionen zu analysieren (Buhr et al. 2016): das (Aus-) verlangen gerade die Innovationen einer digitalen Ökonomie Bildungs- und Weiterbildungssystem, das Produktionsre gime nach anderen Modellen. Das Open-Innovation-Modell versucht, beziehungsweise spezifische Kapitalismusmodell (z. B.
DIE AMBIVALENZ DES NEUEN WISO DISKURS 7 ko ordinierte Marktwirtschaft, liberale Marktwirtschaft, schaft)? Die Antworten zu diesen Fragen bzw. die jeweiligen inkorporierter Kapitalismus), aber eben auch den jeweiligen Institutionengefüge der Innovationssysteme beeinflussen Wohlfahrtsstaatstyp (z. B. konservativ, sozialdemokratisch, damit sowohl die Nachfrage nach Innovationen als auch das mediterran, post-sozialistisch, liberal). Denn diese Strukturen Angebot. Sie bestimmen den Input (z .B. Aufwendungen bestimmen ganz wesentlich das Angebot sowie den Bedarf für Forschung und Entwicklung, Anzahl Studienplätze oder und die Nachfrage nach Innovationen: Werden bestimmte Hochschulprofessuren etc.) und den Output (z. B. Patente, pflegerische Leistungen, Kinderbetreuung oder andere Sozial- neue Produkte oder Dienstleistungen) sowie den Outcome leistungen vom Staat bereitgestellt (wie z. B. im skandinavi- (z. B. weniger Ressourcenverbrauch, mehr qualitatives Wachs- schen Modell)? Oder müssen diese beispielsweise Familien- tum etc.) eines Innovationssystems. Sie bestimmen damit angehörige erbringen (z. B. konservativer oder mediterraner auch die Innovationsfähigkeit auf der Mikro- (z. B. Unterneh- Wohlfahrtsstaat)? Beteiligen sich auch die Unternehmen bzw. men), Meso- (z. B. Branchen und Sektoren) und Makroebene Arbeitgeber_innen an Aus- und Weiterbildung (wie in der (z. B. ganze Staaten, Volkswirtschaften bzw. Gesellschaften). sogenannten koordinierten Marktwirtschaft)? Oder sind allein Damit bieten sie aber auch enormes Gestaltungspotenzial. die Beschäftigten dafür verantwortlich (liberale Marktwirt-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 8 4 DIE AMBIVALENZ DES NEUEN Häufig werden Innovationen mit technischen Erneuerungen Revolution“. Diese Frames 2 (Entman 1993) spielen gerade gleichgesetzt, die durch visionäre Unternehmer_innen sowie im öffentlichen Diskurs eine entscheidende Rolle und leiten vielversprechende, bahnbrechende und revolutionäre Techni- damit auch den Gestaltungsprozess ganz entscheidend. ken und Produkte ganz wesentlich zum Wirtschaftswachstum Erkennen wir zuvorderst die Risiken und Gefahren oder sehen beitragen. Innovationen sind jedoch mehr als nur Techniken, wir zunächst die Chancen? Und welchen Fortschrittsbegriff die dafür sorgen, dass neue Produkte auf neu entstehenden verwenden wir dabei? Märkten verkauft werden können – auf Märkten, die nicht Ganz im Sinne des Schumpeterschen Bilds der „schöpfe- selten erst durch diese Neuerungen entstehen (Buhr/Stehn- rischen Zerstörung“ bedeuten Innovationen vielerorts auch ken 2018). Innovationen in der Telekommunikation (Telegraf, technischen, ökonomischen und sozialen Fortschritt. Sie Telefon, Radio, Fernsehen, Internet), Verkehrsmittel (Züge, können nämlich auch dazu genutzt werden, gesellschaftliche Autos, Flugzeuge) sowie Gesundheit und Hygiene (Penicillin, Herausforderungen anzugehen. In dem Fall werden aus tech- Röntgenstrahlen) haben nicht nur neue Produktmärkte nischen Innovationen „soziale Innovationen“. geschaffen, sondern auch oft zur Lösung gesellschaftlicher Die Auswirkungen der technischen Innovationen auf die Probleme beigetragen. Gleichzeitig sind Innovationen aber Gesellschaft hängen jedoch davon ab, wie diese mit ihnen immer auch zwiespältig und ihre Deutung unterliegt einer umgeht. Und das wiederum ist zwangsläufig mit politischen hohen Ambivalenz. Denn aufgrund ihrer revolutionären Natur Maßnahmen verbunden, die den Kurs technischer Innovati- können Innovationen grundsätzlich auch nachteilige Auswir- onen steuern sollen. Damit kommt den politischen Akteuren kungen haben – angefangen von Natur- und Umweltkatas- von der kommunalen bis zur Bundesebene (und darüber hinaus) trophen bzw. wachsendem Ressourcenverbrauch, über den eine wesentliche Gestaltungsaufgabe zu (Alaja et al. 2016). Verlust der Privatsphäre und Freiheitsrechten, Arbeitslosigkeit bis hin zu Phänomenen wie Cyber-Terrorismus und Drohnen- bzw. Roboterkriege. Dies gilt es, gerade auch mit Blick auf die Digitalisierung und all die damit verbundenen enormen Chancen zu bedenken. Hier lauern in großen Teilen der Bevöl- kerung entsprechende Ängste. So kann ein durch Produktivi- tätssteigerungen verursachter struktureller Wandel sich eben auch negativ auf Beschäftigung und Arbeitsbeziehungen auswirken – in einigen Fällen auch auf das soziale Gefüge. Es ist vermutlich kein Zufall, dass eine einzelne Maschine (die Dampfmaschine) das Symbol der gesamten industriellen Re- volution und der Herausbildung eines neuen Systems sozialer Beziehungen ist (Alaja et al. 2016). Diese Ambivalenz zeigt sich auch in unterschiedlichen Deutungsmustern zentraler Begrifflichkeiten. So interpre- tieren viele Akteure die Chiffre „4.0“ vor allem als radikalen Wandel, Revolution und Disruption, während andere den evolutorischen Charakter erkennen und die digitale Trans- 2 Framing bezeichnet das Einbetten eines Themas in einen Bedeutungszu- formation als Versionierungsprozess beziehungsweise das sammenhang. Frames sind dementsprechend Sinnhorizonte von Akteuren, die bestimmte Informationen und Positionen hervorheben – und andere ausblen- „4.0“ als schrittweisen Wandel deuten: Vor der vierten gab den. Sie definieren Probleme, Akteure und Handlungsoptionen. Das bedeu- es eben auch schon die dritte, zweite und erste „industrielle tet, der jeweilige Frame bestimmt, welche Aspekte relevant sind und welche nicht. Damit reduziert ein Frame Komplexität und bietet Orientierung an.
DIE AMBIVALENZ DES NEUEN WISO DISKURS 9 5 DER EUROPÄISCHE WEG DER DIGITALI- SIERUNG: ZWISCHEN MARKT UND STAAT? Im politischen Diskurs in Deutschland setzen sich häufig jene dem Markt. Politische Gestaltung hat sich diesem Prinzip Frames durch, welche die Chancen der Digitalisierung für unterzuordnen. Daher folgt dieser Weg der Maxime: „AI Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft betonen (Buhr/Franken- for winners“. Getreu dem Motto „The winner takes it all“ berger 2019). Bessere Gesundheitsversorgung, mehr Produk- setzen sich hier rasch neue und radikale, mitunter auch tivität bei weniger Ressourcenverbrauch, mehr Sicherheit und disruptive, Innovationen durch. Das zeigt sich auch in den gute Arbeit sind dafür Beispiele. Diese sozialen Innovationen einschlägigen Rankings zu Innovations- und Wettbe- entstehen jedoch nicht isoliert, sondern in Systemen – im Zu- werbsfähigkeit (z. B. des World Economic Forum). Hierzu sammenspiel vieler verschiedener Akteure, auch jenseits von passt ein Arbeitsmarkt, der einer „Hire and Fire“-Men- Betriebs- und Branchen- sowie Markt- und Landesgrenzen. talität folgt, um ebenso schnell auf sich rasch ändernde Das gilt gerade für Innovationen, die auf digitale Technik fu- Marktsignale reagieren zu können. Langfristige Arbeits- ßen, weil diese Entwicklungen eine Vielzahl von Themen tan- beziehungen sind eher selten zu finden – und um Aus- gieren: Datenschutz und Datensicherheit (Safety & Security), und Weiterbildung bzw. entsprechende Qualifikationen rechtliche, soziale und technische Standards, Geschäftsmo- müssen sich die Arbeitnehmer_innen selber kümmern. delle, Arbeitsorganisation. Nicht zuletzt werden diese auch Industrielle Beziehungen und Kooperationen zwischen ganz wesentlich von der Architektur des Wohlfahrtsstaats (z. B. Unternehmen sind eher schwach ausgeprägt. Hier setzt im Gesundheits- und Pflegebereich) sowie der politischen sich nicht unbedingt der beste technische Standard durch, Kultur (z. B. Sicherheit versus Freiheit) geprägt. sondern jener, der den Markt mit seinen Betriebssyste- Betrachten wir die globalen Entwicklungen der zuneh- men, Schnittstellen oder Plattformen dominiert (z. B. Ap- menden Digitalisierung und deren politische Gestaltung, ple, Facebook, Google, Microsoft etc.), woraufhin es wie- lassen sich diese grob in drei unterschiedliche „Ideal-Typen“ derum zu Netzwerkeffekten kommt und sich schließlich einteilen: ein erfolgreiches Ökosystem um diese „Player“ formiert. Allerdings kann es dabei im nächsten Schritt zunächst – Ein staatszentrierter Weg, der häufig in autokratischen auch zu klassischem Marktversagen kommen: zu mächti- Systemen anzutreffen ist (z. B. China) und meist einer gen Monopolen bzw. Oligopolen in bestimmten Märkten, entsprechenden hierarchischen Top-down-Strategie sowie die sich dann mitunter relativ erfolgreich staatlicher der Maxime zu folgen scheint: „AI (Artificial Intelligence) Kontrolle und Besteuerung entziehen können, was häufig for us“. Dabei wird die Digitalisierung sehr wohl auch für heftige Gegenreaktionen hervorruft. Daher funktioniert sozialen Fortschritt eingesetzt (z. B. bessere Bildungs- und ein freier Markt in der liberalen Marktwirtschaft nur in Mobilitätsangebote sowie Gesundheitsversorgung), aber Verbindung mit Kontrolle, die für Informationen (z. B. eben auf Kosten von Privatheit und Freiheit und durchaus Quartalszahlen) und Transparenz sorgen und Konzentrati- für staatliche Zwecke politischer Verfolgung und Denun- on sowie Exzesse verhindern muss. Die Umsetzung dieser ziation genutzt. Hier werden dementsprechend auch Kontrolle ist jedoch schwierig – und teuer. zentrale innovationspolitische und ökonomische Akteure – Ein koordinierter Weg, der stärker auf korporatistische staatlich inkorporiert (Buhr/Frankenberger 2014) und Strukturen und konsensuale Lösungen setzt und sich vor- stützen so auch die Stabilität des (autokratischen) Systems nehmlich in Europa findet. Spielt im staatszentrierten und insgesamt. im liberalen Typus Kontrolle eine wichtige Rolle, setzen – Ein marktgetriebener Weg, der häufig in sogenannten Akteure in der „koordinierten Marktwirtschaft“ (Hall/ „liberalen Marktwirtschaften“ (Hall/Soskice 2001) anzu- Soskice 2001) eher auf Vertrauen, das durch zentrale for- treffen ist (z. B. in den USA). Hier wird, ganz im Hayek- male wie informale Institutionen flankiert wird, die für alle schen Sinne, auf den Markt als das „beste Entdeckungs- Beteiligten gleichermaßen Erwartungssicherheit erzeugen verfahren“ gesetzt. Das Primat liegt bei Ökonomie bzw. sollen: z. B. Kündigungsschutz, Mitbestimmung, duale
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 10 Ausbildung etc. Technische und soziale Standards werden besinnen. Es sollte aber zugleich an Tempo und Intensität in Gremien und (korporatistischen) Aushandlungsplattfor- zulegen, um als Pionierin die wichtigsten Felder frühzeitig men gemeinsam entwickelt (z. B. DIN, Plattform Industrie zu besetzen. Auch wenn es im öffentlichen Diskurs häufig 4.0 in Deutschland), was im Vergleich zu den beiden anders dargestellt wird: Die wirtschaftliche Integration, erstgenannten Typen deutlich länger dauert, dafür aber die gewachsenen Erfahrungen mit Aushandlungsprozes- eben meist auch deutlich länger Bestand hat. Dadurch sen und nicht zuletzt die hohe Kompromissfähigkeit vieler hat sich über die Jahre – und im Vergleich zum liberalen Akteure bleiben wesentliche Stärken Europas. Daran lässt und staatszentrierten Typus – eine Kultur von Kooperation sich anknüpfen, im Übrigen auch an die Größe des Marktes. und Partizipation etabliert, die vor allem Prozessinnova- Denn hier liegen enorme Vorteile, wenn es um das Setzen tionen begünstigt. Schritt für Schritt werden Produkte, von Normen und Standards geht. Doch häufig werden diese Dienste und Prozesse effizienter bzw. effektiver gemacht. Chancen nicht genutzt – die Akteure folgen noch zu oft Mit radikalen Pfadwechseln und disruptiven Innovationen ihren kurzfristigen, nationalen Interessen. Zudem lassen viele tut sich dieses Institutionengefüge jedoch zunächst eher EU-Richtlinien nach wie vor einen erheblichen nationalen schwer. Allerdings weist dieser Typus – nicht zuletzt durch Ermessensspielraum zu. Das führt zu Fragmentierung und viel seine ausgebauten Wohlfahrtsstaaten, politischen Institu- Klein-Klein. Gemeinsame soziale und technische Standards, tionen und politische Kultur – eine ausgeprägte Kompro- ethische Normen und Regeln könnten einen wichtigen Bei- missbereitschaft der meisten Akteure (z. B. in Koalitionsre- trag zu mehr positiver Integration und Kohäsion leisten (Buhr gierungen, Föderalismus, Korporatismus) sowie eine hohe 2015). Und damit auch zu mehr Wachstum und sozialem Stabilität des gesamten politischen Systems auf. Zudem Fortschritt. wird in den meisten europäischen Staaten ein gewisses Maß an Umverteilung organisiert sowie Ausgleich und Kohäsion angestrebt. Liegen hier Anknüpfungspunkte für die Maxime: „AI for all“? Dieser dritte Typus scheint nicht nur normativ am besten geeignet, die digitale Transformation mithilfe sozialer Innova- tionen und im Sinne eines gesellschaftlichen Fortschritts aktiv zu gestalten. Es könnte ein europäischer Weg sein, wenn sich die entscheidenden politischen Akteure wieder auf die vielen Gemeinsamkeiten, die großen Chancen und Potenziale eines geeinten Europas verständigen könnten und bereit wären, mit Verve dafür einzutreten. In Anbetracht vieler nationalis- tischer Töne in nahezu allen europäischen Mitgliedstaaten scheint dieser Weg aktuell jedoch weit entfernt und politöko- nomisch unwahrscheinlich bzw. ein gewagtes Unterfangen zu sein. Doch es gibt durchaus Ansätze, wo die Kollaboration nach wie vor funktioniert, beispielsweise bei Daten- bzw. Verbraucherschutz oder der Zusammenarbeit im Bereich von Industrie 4.0. Auch bei Gesundheit bzw. Medizin und Pflege zeigen sich schon heute vielerlei positive Beispiele (z. B. EIT Health, European Innovation Partnership Active and Healthy Ageing – EIP AHA, Joint Programming, Interreg etc.) innerhalb der Europäischen Union und seiner Nachbarn. Gerade hier werden die Vorteile und Unterschiede zu den beiden oben skizzierten anderen Gestaltungsrahmen deutlich sichtbar, existieren doch in den meisten europäischen Staaten hoch entwickelte Wohlfahrtssysteme mit einem gewissen Maß an Umverteilung, Partizipation und Inklusion. So ließe sich Europa zum Beispiel als Leitmarkt für die Digi- talisierung (1) sozialstaatlicher Medizin und Pflege, (2) frei- heitlich-demokratischer Sicherheitspolitik und (3) mitbestimm- ter Arbeit entwickeln. Ein Leitmarkt ist ein geografisch ab - ge grenzter Markt, der Innovationen durch günstige lokale Präferenzen und Rahmenbedingungen fördert. Erfolgreiche Anbieter treffen auf kritische Anwender_innen und unter- schiedliche Bedarfe. Im Zweifelsfall entscheidet dabei auch die Größe des Marktes. Hier leben aber auch fast 800 Millio- nen Menschen – allein die aktuell (noch) 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union umfassen eine halbe Milliarde Ein- wohner_innen. Deshalb sollte sich Europa auf seine Stärken
DIE AMBIVALENZ DES NEUEN WISO DISKURS 11 6 KÜNSTLICHE INTELLIGENZ, BLOCKCHAIN UND DIGITALE PLATTFORMEN Unter den digitalen Techniken, deren Funktionsweise stetig voranschreitet und deren Anwendungsbereiche sich immer agieren, indem sie ihre Umgebung durch Datenerfas- mehr ausweiten, sind KI, die Blockchaintechnik und digitale sung wahrnehmen, die gesammelten strukturierten oder Plattformen. unstrukturierten Daten interpretieren, aus diesen Daten Der Fortschritt in der Entwicklung digitaler Techniken Schlussfolgerungen ziehen und die besten Maßnahmen treibt mitunter deren Einsatz in Betrieben oder in der öffent- zur Erreichung des vorgegebenen Ziels festlegen. KI- lichen Verwaltung, und die prognostizierten Nutzen klingen Systeme können entweder symbolische Regeln verwenden vielversprechend. Bisherige Forschungen zeigten jedoch, dass oder ein numerisches Modell erlernen, und sie können mit einem vermehrten Einsatz von neuen Techniken Probleme auch ihr Verhalten anpassen, indem sie analysieren, wie nicht zwangsläufig gelöst wurden. Produktivitätsschübe blei- sich die Umwelt durch ihre früheren Aktionen verändert. ben beispielsweise durch die fortschreitende Digitalisierung Als wissenschaftliche Disziplin umfasst die KI mehrere aus. Ein erfolgreicher Einsatz neuer Technik zeichnet sich Ansätze und Techniken, wie z. B. Machine Learning (z. B. unter der Zielsetzung der Fachgesprächsreihe dadurch aus, Deep Learning und Reinforcement Learning), Machine dass digitale Innovationen in ihrer Anwendung zu sozialen Reasoning (Planung, Festlegung, Wissensrepräsentation Innovationen reifen und bestehende Probleme besser lösen und Schlussfolgerung, Suche und Optimierung) und als bisherige Techniken. In der Fachgesprächsreihe stellten wir die Robotik (Steuerung, Wahrnehmung, Sensoren und die Frage, was von konkreten digitalen Techniken hinsichtlich Stellteile sowie Integration aller anderen Techniken in sozialer Innovationen zu erwarten ist. Wir fokussierten uns cyberphysikalischen Systemen)“ (EU-High-Level-Exper- auf drei digitale Techniken, deren Einsatz derzeit entweder tengruppe KI: 6). stark – und auch kontrovers – diskutiert wird oder die bereits vermehrt im Einsatz sind: (1) KI, (2) Blockchain und (3) digita- le Plattformen. Doch was ist bei der Entwicklung von Künst- Im Großen kann zwischen starker und schwacher KI unter- licher Intelligenz, Blockchain und digitalen Plattformen im schieden werden. Starke KI hat das Ziel, eine im Vergleich Hinblick auf soziale Innovationen zu erwarten? Im Folgenden zum Menschen ebenbürtige oder sogar stärkere kognitive soll jeweils kurz auf die Definition, Versprechen und Heraus- Leistungsfähigkeit aufzuweisen, intentional und situativ zu forderungen der drei neuen Techniken eingegangen werden. handeln. Die Entwicklung einer starken KI war bis dato noch nicht möglich. Bei schwacher KI werden Algorithmen zur Lö- sung eines vorher definierten Problembereichs programmiert. 6.1 KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Sie optimieren ihre Lösungswege zudem über den Zeitverlauf hinweg eigenständig. Während an ersten Formen schwacher KI beschreibt die Fähigkeit eines digitalen Computers oder KI bereits Ende der 1960er Jahre geforscht wurde, nehmen Roboters, Aufgaben auszuführen, die traditionellerweise ihre Produktion und Anwendung erst seit den vergangenen intelligenten Wesen (Menschen) vorbehalten waren. Die Jahren zu (acatech 2019). Laut von Krogh (2018) tragen drei High-Level-Expertengruppe der EU zu KI arbeitet mit der große Entwicklungen zur breitflächigeren Verwendung von folgenden erweiterten Definition: KI bei: (1) wissenschaftlicher und technischer Fortschritt über KI-Methoden, die breitflächig über Open-Source-Lizenzen „Künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet von Menschen verfügbar sind; (2) die fortlaufende Generierung von Daten entworfene Software- (und möglicherweise auch sowie deren Sammlung und Speicherung; (3) sinkende Kosten Hardware-)Systeme, die ein komplexes Ziel vorgegeben von KI-relevanter Hardware (z. B. Chips). KI-Anwendungen, bekommen und in der physischen oder digitalen Welt das heißt lernende Algorithmen, die menschliche (Wissens-) Arbeit ergänzen oder zum Teil auch ablösen können, versprechen
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 12 insbesondere Effizienz- und Produktivitätssteigerungen, Ver- beispielsweise gezwungen, sich nur mit komplexen Fällen zu einfachung und auch eine Humanisierung von Arbeit. Trotzdem beschäftigen, finden sich in starren durch Software vorgegebe- deuten erste Erfahrungen mit intelligenten Algorithmen auch nen Handlungsabläufen wieder oder verlieren ihr Gefühl für auf eine mögliche Enthumanisierung der Arbeit hin. So haben Selbstwirksamkeit, während sie dennoch die Verantwortung zum Beispiel erste Anwendungen in der öffentlichen Verwal- tragen, Fehler der KI ausgleichen zu müssen. tung, z. B. die automatisierte Bearbeitung von Steuererklärungen und die Vorauswahl auffälliger Fälle durch die Software, gezeigt, dass die Beschäftigten einen Autonomieverlust erleben (Zanker 6.2 BLOCKCHAIN 2019). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass trotz des positiven Potenzials der Software auch unerwünschte Nebeneffekte auftreten können, die bei der Arbeitsgestaltung berücksichtigt Die Blockchaintechnik, auch „Distributed Ledger Techno- werden sollten. Typische Anwendungsbereiche von KI in Un- logy (DLT)“ genannt, ist ein dezentralisiertes, verschlüs- ternehmen sind die Sprach- und Texterkennung, Autovervoll- seltes, digitales Transaktionsbuch, das zur Dokumentation ständigung, Navigationssysteme und Chatbots. Der Großteil (Record-Keeping) oder für Transaktionen Anwendung der angewendeten Systeme wird noch immer von den großen findet. Digitalkonzernen (z. B. IBM, Microsoft, Apple) produziert. Eine große Herausforderung sind KI-Systeme, die als In sogenannten verteilten Bestandsbüchern (Distributed Unterstützung von menschlichen Entscheidungen verwendet Ledgers) werden Dokumentationen und Informationen über werden, sogenannte Analysetools (Analytics). Hier kann Transaktionen auf alle im Netzwerk integrierten Computer grundsätzlich zwischen deskriptiven (beschreibend), prädik- verteilt (Albrecht et al. 2018). Dem Grundgedanken nach tiven (Vorhersagen anstellend) und präskriptiven Analytics dient DLT dazu, das „allgemeine Problem der Kooperation“ (Handlungsvorschläge bereitstellend) unterschieden werden zu lösen – nämlich, notwendiges Vertrauen in eine „dritte (Kaiser/Loscher 2017). Insbesondere prädiktive und präskrip- Instanz“ (wie zum Beispiel bei einem Währungsaustausch tive Analysetools haben großes Potenzial, menschliche Hand- das Vertrauen in eine Bank) überflüssig zu machen. Diese lungen zu beeinflussen (Bader/Kaiser 2019). dritte Instanz regelt typischerweise die Reputation der KI-Entscheidungssysteme sind also insofern widersprüch- kooperierenden Parteien und den Austausch von Waren und lich, als dass einerseits durch eine größere Verfügbarkeit, Dienstleistungen zwischen ihnen. In Form von DLT wird diese Sammlung, Speicherung und Auswertung von Daten eine dritte Instanz durch eine unabhängige und unparteiische größere Informiertheit entsteht. Durch die Automatisierung Technik ersetzt, und sowohl Macht als auch ein möglicher von Analysen durch Black-Box-Algorithmen und prädiktive so- Machtmissbrauch des Intermediärs werden überflüssig. wie insbesondere präskriptive Analysen resultiert andererseits Bekannt wurde die Blockchain in diesem postbürokratischen eine verringerte Entscheidungsautorität (Bader/Kaiser 2019). Sinne insbesondere im Zusammenhang mit der Kryptowäh- Zuletzt seien als Herausforderungen noch der bewusste Um- rung Bitcoin. Mittlerweile wird die Blockchaintechnik jedoch gang mit Wissensrepräsentationen (als rechnerischem Abbild auch in anderen Kontexten außerhalb des Währungsmarkts der Realität) sowie mit den Daten, welche als Basis für ma- angewendet. In diesem Zusammenhang ist es besonders schinelles Lernen und KI-gestützte Entscheidungen genutzt wichtig, zwischen drei im Moment existierenden Typen von werden, genannt. Gerade da KI rationale Entscheidungen auf DLT zu unterscheiden: (1) öffentliche, (2) private und (3) kon- Basis von Mustererkennung in Vergangenheitsdaten trifft, sortiale Blockchains (Albrecht et al. 2018). sind Verzerrungen (Bias) nicht nur in Algorithmen automa- Öffentliche Blockchaintechnik ist unverifiziert und ohne tisiert, indem menschliche Vorurteile (bewusst oder unbe- Erlaubnis für alle zugänglich, und die Netzwerkmitglieder sind wusst) mitprogrammiert werden. Historische Daten selbst unter Pseudonymen gelistet. Transaktionen werden von allen können etablierte auf Stereotypen basierende Verhaltensmus- Mitgliedern oder randomisiert ausgewählten Mitgliedern validiert. ter beinhalten (z. B. Diskriminierung bei der Personalauswahl). In privaten Blockchains, hingegen, entscheiden die Block- Eine gepflegte Datenbasis ist deshalb essenziell, um etwaige chainbetreiber sowohl über die Zugangsbefugnis als auch über Bias und Fehlentscheidungen zu vermeiden. Transaktionsvalidierung. Im Vergleich zur öffentlichen Form von Insgesamt kann KI als eine Form immateriellen Kapitals DLT ist durch diese gesteuerte und kontrollierte Form der Aktivi- gesehen werden, dessen Wert nur voll ausgeschöpft wird, täten im Netzwerk ein geringerer Energieverbrauch notwendig. wenn weitere soziale Innovationen stattfinden, etwa gesell- Konsortiale Blockchains gelten als Zwischenlösung zwischen schaftliche und organisationale Veränderungen. So müsen öffentlichen und privaten Blockchains. Transaktionen werden zum Beispiel gegenwärtige Organisationsstrukturen adjustiert von verifizierten Mitgliedern validiert, und Funktionsweisen oder neue Kompetenzen aufgebaut werden (z. B. richtige In- und Berechtigungen können individuell – im Sinne des Zu- terpretation von KI-generierten Entscheidungen). KI hat also sammenschlusses – gehandhabt werden (z. B. Aufhebung von Potenzial, als Treiber von Innovationen zu fungieren, kann Anonymisierung) (Albrecht et al. 2018). dieses Potenzial aber nur entfalten, wenn zeitgleich organi- Als Chancen der Blockchain können beispielsweise Trans- sationale und strukturelle Veränderungen stattfinden. Sollten parenz, Datenintegrität, Risikoreduzierung, Postbürokratismus diese arbeitsorganisatorischen Anpassungen an KI nicht erfol- und Manipulationsverlust genannt werden. Deshalb finden gen, können sich die positiven Potenziale zur Humanisierung sie vorwiegend im Bereich von Zertifizierungen in der öffent- der Arbeitswelt, z. B. durch die Entlastung von Routineaufga- lichen Verwaltung oder in der Finanz- und Versicherungs- ben, ins Negative verkehren und zu einer beständigen Überfor- branche Anwendung. So kann die Blockchaintechnik in der derung menschlicher Mitarbeiter_innen führen. Sie sind dann kommunalen Verwaltung zum Beispiel zur Zeugnisvalidierung,
DIE AMBIVALENZ DES NEUEN WISO DISKURS 13 Tabelle 1 Innovationspotenzial der Blockchaintechnik Kriterien für Blockchaintechnik Innovationsdiffusion ... bietet das Potenzial für datenbasierte Produkte und Dienstleistungen, die günstiger, schneller und sicherer relativer Vorteil sind als bei bestehenden Techniken. ... impliziert einen Paradigmenwechsel durch die weiträumige Ermöglichung von Peer2Peer-Netzwerken, Kompatibilität und steht damit im Widerspruch zu gängigen Geschäftsmodellen und Mindsets. ... basiert auf konzeptuell und technisch komplexen und ambivalenten Pfeilern (z. B. Dezentralisierung, Krypto- Einfachheit grafie), die sie für ein breites Publikum schwer verständlich und zugänglich machen. ... wird derzeit in vielen Branchen und anhand von verschiedenen Produkten und Dienstleistungen testweise Erprobbarkeit pilotiert. ... und ihr Innovationspotenzial ist aufgrund des frühen Stadiums noch nicht in der Massenanwendung sichtbar Beobachtbarkeit und erlebbar. Quelle: übersetzt und leicht verändert übernommen aus Friedlmaier et al. 2018: 8. Führerscheinüberprüfung oder als „Datennotar“ verwendet werden (Rehfeld 2019). „‚Crowdsourcing‘ bezeichnet die Beschaffung mittels Darüber hinaus bietet die Blockchaintechnik einen Ansatz Sammelaufruf, das heißt, die mit der Lösung eines Pro- für Innovationen. Friedlmaier, Tumasjan und Welpe (2018) blems bzw. Erfüllung einer Aufgabe zu betrauenden Auf- fassten das Innovationspotenzial der Blockchaintechnik tabel- tragnehmer werden unter jenen ausgewählt, die auf den larisch zusammen (vgl. Tabelle 1). vorangegangenen Sammelaufruf an die Masse reagiert haben“ (Bauer/Gegenhuber 2015). 6.3 DIGITALE PLATTFORMEN Plattformarbeit kann in digitaler Form (Clickwork, z. B. Ama- zon Mechanical Turk) oder physischer Form (z. B. Deliveroo) Digitale Plattformen sind Intermediäre, die den dezen- erbracht werden. Daran gekoppelt ist die Reichweite der er- tralisierten Austausch unter zwei oder mehreren Teilneh- brachten Dienstleistungen, die über eine Internetverbindung menden eines Marktes ermöglichen. geografisch verteilt (weltweit) oder physisch lokal gebunden (regional) erfolgen kann (Ellmer et al. 2018). Die vorausge- gangenen Beschreibungen von Anwendungsformen digitaler Digitale Plattformen waren ursprünglich im B2C-Onlinehandel Plattformen zeigen unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten im Einsatz (z. B. Amazon). Mittlerweile nimmt der Markt an von Plattformen auf. So können sie dazu dienen, einen Markt digitalen B2B-Plattformen aber stetig zu (z. B. „Wer liefert für Anbieter_in und Nachfrager_in durch Bereitstellung einer was?“-Lieferantenverzeichnis), und durch die öffentliche technischen Infrastruktur zu erzeugen. Crowdsourcing bringt Zugänglichkeit verwischen die Grenzen zwischen B2B und zum Beispiel Arbeitskräfte mit potenziellen Auftraggeber_ B2C. Daneben findet sich die Idee von digitalen Plattformen innen zusammen. Hier wird ein Markt für Arbeit gestaltet. zunehmend in der Industrie im Bereich „Internet der Dinge“ Ein weiteres Beispiel sind Plattformen für Mikrokredite oder („Internet of Things“ – IoT), indem Geräte und technische An- Crowdfunding. Hier dienen Plattformen als Alternativen zu lagen mit der digitalen Plattform verknüpft sind und auf Basis Finanzmärkten. Eine weitere Möglichkeit sind vollkommen der Daten über verschiedene Applikationen, z. B. Vorhersagen neue Organisationsformen, in denen Plattformen als Inter- über Wartungsnotwendigkeiten (z. B. Predictive Maintenance), mediäre zwischen Unternehmer_innen und ihren Ange- eine bessere Wertschöpfung erwartet werden kann. stellten funktionieren. Dabei werden klassische Hierarchien Von besonderer gesellschaftlicher Durchdringung und überflüssig bzw. organisationale Grenzen verschwimmen Relevanz sind diejenigen Plattformen, über die Arbeitsleis- (Gegenhuber 2019). Grundsätzlich können sowohl unter- tung (sogenannte Plattformarbeit) vermittelt wird. Platt- nehmerische als auch soziale Zwecke verfolgt werden und formarbeit bringt neue Formen der Erwerbstätigkeit, neue entsprechend privatwirtschaftliche, gemeinwohlwirtschaft- Geschäftsmodelle sowie veränderte Wertschöpfungsprozesse liche und soziale Ziele in entsprechenden Betriebsformen für Plattformbetreiber, aber auch für Auftraggeber_innen verwirklicht werden. (Einzelpersonen oder Unternehmen), die Dienstleistungen der Masse anfordern (Crowdsourcing) (Bauer/Gegenhuber 2015).
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