BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022

Die Seite wird erstellt Tizian Witt
 
WEITER LESEN
BULLETIN
                                DER
                          BUNDESREGIERUNG
                            Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

bei der Veranstaltung „Für Freiheit und Verantwortung“
in Erinnerung an Guido Westerwelle
am 25. Januar 2022 in Berlin:

Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein, hier in der Französischen Friedrichstadt­
kirche zu Berlin. Bei Ihnen, den Verwandten und Freunden, den ehemaligen Mitarbei­
tern und Weggefährten Guido Westerwelles, der am vergangenen 27. Dezember sei­
nen sechzigsten Geburtstag begangen hätte.

Ein sechzigster Geburtstag ist bei aktiven Politikern in der Regel kein so herausragen­
der Anlass, um ihn zu ausführlich zu feiern, fällt doch dieses Lebensalter bei vielen in
eine Zeit, in der ein Politiker gerade erst auf dem Höhepunkt einer Karriere angekom­
men ist oder in der er mit besonders wichtigen und verantwortungsvollen Aufgaben
betraut wurde. Für eine rückschauende Würdigung käme ein solcher Geburtstag in der
Regel zu früh.

Dass Guido Westerwelle jetzt erst sechzig geworden wäre und nun schon vor bald
sechs Jahren von uns gegangen ist, zeigt uns: Auf der einen Seite ist er sehr früh in
seinem Leben in herausragende politische Verantwortung gekommen. Und anderer­
seits ist er so unverhältnismäßig früh aus einem Leben gerissen worden, das immer
von politischer Leidenschaft und von großer öffentlicher Wirksamkeit geprägt wurde.

Ich freue mich, ihn heute würdigen zu können. Wir waren ja beide, und das gab es
bisher nur einmal, jeweils des anderen Vorgänger und Nachfolger im Amt des Bun­
desministers des Auswärtigen. So empfinde ich, das darf ich Ihnen versichern, auch
eine persönliche Nähe.
Bulletin Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022 / Bpräs. – zum Gedenken an Guido Westerwelle, Berlin

                                               -2-

Die Herausforderungen und Möglichkeiten, die das Amt des Außenministers mit sich
brachte und bringt und welche auch Guido Westerwelle dort erfahren hat, stehen mir
nur allzu deutlich vor Augen. Dass er 2009 genau jenes Amt antreten durfte, in dem
sein großes Vorbild Hans-Dietrich Genscher als der bis heute am längsten amtierende
Minister lange Zeit erfolgreich war, wird ihn mit großer Freude erfüllt haben. Und er
wird auch die Verpflichtung gespürt haben, in dessen Spur vor allem für eine friedens­
stiftende und friedenserhaltende Außenpolitik zu stehen.

Wir waren dazu immer wieder in Kontakt. Und ich habe in Erinnerung, wie sehr er sich
über manch vordergründige Kritik zum Beispiel an seiner Entscheidung zum militäri­
schen Vorgehen in Libyen geärgert hat. Aus der Sicht von heute wird manch einer
seiner Kritiker vielleicht noch mal in sich gehen und die erreichten Resultate und die
seither eingetretene Entwicklung in diesem geschundenen Land neu bewerten.

Und eines will ich aus jener Zeit besonders in Erinnerung rufen. Als es zu Beginn des
letzten Jahrzehnts auch in der FDP zu harten Debatten um den Euro kam, stand Guido
Westerwelle unbeirrbar zu Europa. Er hatte früh erkannt, dass es in Wirklichkeit um
mehr ging als um Schutzschirme oder Finanztechniken. Für ihn war es eine grundsätz­
liche Richtungsdebatte, in der er mit beispielloser Leidenschaft Stellung bezog: „Eu­
ropa hat einen Preis, Europa hat aber auch einen Wert. Und wer das vergisst, macht
einen historischen Fehler“, sagte er, viele werden sich erinnern, auf dem Sonderpar­
teitag in Frankfurt 2011. Er verhinderte so die verhängnisvolle Achsenverschiebung
einer liberalen Partei, wie sie anderswo in Europa leider stattgefunden hat. Das, denke
ich, bleibt Verpflichtung – nicht nur für deutsche Liberale.

Apropos Verpflichtung: Ich finde es gut, dass Sie dieses Gedenken nicht nur als eine
Erinnerungsstunde gestalten, sondern, durch das gleich anschließende Gespräch
über Möglichkeiten und Notwendigkeiten konkreter internationaler Zusammenarbeit,
auch als eine aktive Fortführung des Vermächtnisses, das uns Guido Westerwelle hin­
terlassen hat. Nämlich mit dem Engagement, das besonders in seinen letzten Jahren
der aktiven und nachhaltigen Zusammenarbeit mit außereuropäischen Ländern galt,
besonders mit Afrika.
Bulletin Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022 / Bpräs. – zum Gedenken an Guido Westerwelle, Berlin

                                               -3-

Ich kann mich im Folgenden daher, mit Blick auf den Schwerpunkt der anschließenden
Gesprächsrunde, eher seinem innen- und parteipolitischen Wirken widmen. Als Bun­
despräsident liegt mir die Entwicklung unserer Demokratie am Herzen, die ja ganz
besonders von lebendigen Parteien lebt – von Parteien, die dem konstruktiven Streit
und der verantwortungsvollen Gestaltung unseres Gemeinwesens verpflichtetet sind.
Wir erinnern uns wohl alle, wenn wir an Guido Westerwelle denken, ganz besonders
an sein unermüdliches und kämpferisches parteipolitisches Engagement.

Guido Westerwelle war in seiner aktiven Zeit wie nur wenige andere das Gesicht seiner
Partei. Wie kaum jemand sonst schien er selber die Ideen und Überzeugungen, für die
er einstand, ja das im positiven Sinne „Parteiliche“ seiner Partei zu verkörpern. Auch
mit vielen guten Mitstreitern an seiner Seite war er eine lange Zeit sozusagen die FDP
in Person.

Wir sind eine Republik, deren Werte sich aus verschiedenen Traditionen speisen. Un­
ser plurales Gemeinwesen braucht zu seinem Gelingen überzeugungsstarke Liberale,
die die Freiheit der Person, die Freiheit der Lebensführung und damit verbunden auch
die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit besonders betonen. Und diese liberalen
Grundüberzeugungen brauchen, wie andere Grundüberzeugungen auch, in unserer
repräsentativen Demokratie eine funktionierende, eine lebendige, eine diskussions­
freudige liberale Partei. Verschiedene Parteien haben ihren Sinn nur dann, wenn sie
genau das sind: verschieden – und also unterscheidbar. Dafür, dass seine Partei das
wieder werden und bleiben konnte: identifizierbar und unterscheidbar, dafür hat Guido
Westerwelle unermüdlich gearbeitet. Und damit hat er dem ganzen Gemeinwesen ei­
nen Dienst geleistet.

Er tat das vor allem mit einem großen Talent zur politischen Rede, ja mit einer sicht­
baren Lust an geschliffener Formulierung, auch am scharf geführten Disput. Es gibt
sicher sehr verschiedene politische Begabungen – aber für den Beruf des Politikers in
einer liberalen Demokratie schadet es gewiss auch nicht, die Freude an der Auseinan­
dersetzung, die Lust am Streit und die Findigkeit für öffentlich wirksame Formulierun­
gen zu besitzen. Seine Reden als Politiker der Opposition im Deutschen Bundestag
sind zu Dokumenten unserer Zeitgeschichte geworden.
Bulletin Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022 / Bpräs. – zum Gedenken an Guido Westerwelle, Berlin

                                               -4-

Die Zeiten, in denen diese Reden gehalten wurden, waren geprägt von der Notwen­
digkeit und dem Willen zu Reformen. Der Staat sollte kleiner werden, die Eigenverant­
wortung der Bürger größer. Deutschland hatte eine hohe Arbeitslosigkeit und defizitäre
Sozialversicherungen. Sie dürfen mir glauben, dass ich weiß, wovon ich spreche.

Und am Rande, weil es auch zu meinem persönlichen Verhältnis zu Guido Westerwelle
gehört: Als wir 2009 den Staffelstab im Auswärtigen Amt übergeben haben, sagte er
mir mal mit einem Schmunzeln: „Übrigens: In der Opposition habe ich zwar oft gegen
eure Reformen und auch gegen Sie reden müssen. Aber ich weiß natürlich: Über den
Ruck zu reden, ist einfacher, als ihn zu organisieren und Mehrheiten dafür zu gewin­
nen.“ Auch das war Guido Westerwelle. Das hat mich gefreut.

Nachdem unser Land dann die Periode der Massenarbeitslosigkeit nach und nach hin­
ter sich lassen konnte und nachdem die Finanzierung des Sozialstaates wieder auf
bessere Grundlagen gestellt worden war, hatten sich die Zeitumstände gewandelt.
Auch die Finanzmarktkrise veränderte das Bewusstsein für die Notwendigkeit staatli­
chen Handelns. Für den politischen Liberalismus waren das erneut Jahre der Heraus­
forderung – und auch Jahre der Selbstbefragung. Dass sozialer Zusammenhalt und
Liberalismus keine Gegensätze sein sollten, zählt vermutlich zu den Einsichten dieser
Jahre.

Wenn ich richtig sehe, sind die Aufgaben, vor der Liberale und eine liberale Partei
heute stehen, ganz neu und doch auch ähnlich wie zu Zeiten Guido Westerwelles.
Auch wenn es stimmt, dass die Herausforderungen ungleich größer geworden sind,
geht es wieder darum, die Zukunft zu gestalten und zu gewinnen. Und wieder geht es
um das vernünftige Austarieren zwischen dem freien Handeln selbständiger, selbstbe­
wusster Bürger und Unternehmen und der Notwendigkeit und dem Maß staatlicher
Regelung.

Fortschritt und Innovation sind meist Ergebnis des Handelns findiger Köpfe, die die
Fähigkeit haben und die sich die Freiheit nehmen, Ideen zu entwickeln, und sie um­
setzen in erfolgreiche Produkte. Die Marktchancen erkennen und nutzen. Die mit ihrem
eigenen unternehmerischen Erfolg sogar kommunalen und staatlichen Haushalten zu
ungeahnten Reichtümern verhelfen. Man frage nach bei der Stadt Mainz oder beim
Bulletin Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022 / Bpräs. – zum Gedenken an Guido Westerwelle, Berlin

                                               -5-

Finanzministerium von Rheinland-Pfalz, das, wie die FAZ schreibt, nach dem Erfolg
von Biontech nun unversehens zu den Geberländern gehört.

Gute Perspektiven für eine Zukunft in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit können nur
gewonnen werden, wenn die liberale Perspektive stark ist, die den Einzelnen, den pri­
vaten Unternehmergeist, den Erfolg von produktiven Ideen stark macht und ihnen den
verdienten Erfolg lässt. Das gilt auch für die Herausforderungen in den Bereichen Di­
gitalisierung oder Klimawandel, in denen sich die Zukunft für uns alle entscheidet. Die
liberale Perspektive für die Zukunft ist auf diesen und ähnlichen Feldern unabdingbar
– aber sie ist vielleicht dann am stärksten und fruchtbarsten, wenn sie nicht die einzige
ist. So viel darf ich als gelernter, wenn auch „suspendierter“ Sozialdemokrat vielleicht
sagen.

Freiheit, das große Motto und das große Motiv in Guido Westerwelles politischem Le­
ben, ist gegenwärtig auch ein eminent politisches Thema. Der immer schwierige Akt
des rechtsstaatlichen Ausbalancierens von Freiheit und Sicherheit geht sicher beson­
ders auch die FDP an, die in der jetzigen Regierung das Justizministerium besetzt.

Manche Maßnahmen gegen die Pandemie greifen empfindlich in bürgerliche Grund­
rechte ein. Für nicht wenige ist das offenbar der Grund, sich radikal gegen alle ent­
sprechenden Maßnahmen zu stellen. Nicht wenige beziehen sich dabei auf eine Pas­
sage aus einer der letzten Reden Guido Westerwelles als Parteivorsitzender. Er ver­
teidigte damals vehement die Freiheitsrechte im Angesicht von Maßnahmen gegen
terroristische Gewalt. Er sah zwar keine Gefahr in dramatischen staatlichen Zwangs­
maßnahmen, beklagte aber eine in seinen Augen schleichende Gefahr der Freiheits­
bedrohung. Und er formulierte in Anlehnung an Karl-Hermann Flach suggestiv: „Frei­
heit stirbt immer zentimeterweise.“

Das ist eine ernste und ernstzunehmende Mahnung. Aber die daraus plakativ gefol­
gerte Gegenüberstellung: hier der freiheitsbedrohende Staat auf der einen Seite, dort
die der Freiheit schleichend beraubten Bürger auf der anderen, diese Gegenüberstel­
lung ist aus meiner Sicht zumindest schief. Ein Staat, dem die Bürger wie etwas Frem­
dem gegenüberstehen, ist nicht der Staat unseres Grundgesetzes, nicht der Staat,
dessen Bundespräsident ich bin.
Bulletin Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022 / Bpräs. – zum Gedenken an Guido Westerwelle, Berlin

                                               -6-

Man sollte die Rede Guido Westerwelles noch ein paar Sätze weiterlesen und weiter­
hören. Dann heißt es nämlich: „Wir wollen ein Volk von selbstbewussten Staatsbür­
gern, nicht Staatskunden.“ Damit hat Westerwelle die, auch von ihm selber gelegent­
lich formulierte, Gegenüberstellung von Staat und Bürgern schon aufgehoben.

Wer Kunde ist, der steht einem Dienstleister gegenüber, er nimmt sich, was er gebrau­
chen kann, und ist entweder zufrieden oder gekränkt. Anforderungen der Gemein­
schaft an einen selber werden entsprechend als unzulässige Einschränkung von Frei­
heit, als Bevormundung denunziert. Wer aber selbstbewusster Staatsbürger ist, der
mischt sich ein, der gestaltet mit – und der lässt sich auch in die Pflicht und in die
Verantwortung nehmen.

Die vielleicht wirkmächtigste und leider meist unhinterfragte ethische Haltung der Ge­
genwart drückt sich in Sätzen aus wie diesem: „Das muss ja jeder selber wissen.“
Oder: „Das muss halt jeder für sich selbst entscheiden.“ Eine Rechtfertigungspflicht
vor anderen für das eigene Handeln scheint in dieser Haltung überflüssig, ja geradezu
ausgeschlossen zu sein. Dieser – ich nenne es bewusst einmal so – Vulgärliberalis­
mus ist sicher nicht im Sinne wahrhaft liberaler Vorbilder wie etwa Friedrich Naumann,
Karl-Hermann Flach oder Theodor Heuss. Und er wäre sicher auch nicht im Sinne des
liberalen Staatsbürgers Guido Westerwelle.

Freiheit und die praktische Wahrnehmung von Freiheit schließen immer Verantwor­
tung mit ein. Wer sich die Freiheit nimmt, so oder anders zu denken, zu handeln und
zu leben, der übernimmt Verantwortung für sich selber und ist vor anderen, die dieser
praktische Gebrauch der Freiheit immer mitbetrifft, rechenschafts- und verantwor­
tungspflichtig.

Klar, der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung ist wahrhaftig keine neue
Idee, und jeder klar Denkende wird ihn auch theoretisch immer bejahen. Aber was
dieser Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung konkret bedeutet, ist nicht mit
Ewigkeitsgarantie festgeschrieben; er muss in jeder neuen politischen Situation, auch
in der Pandemie, die uns jetzt seit mehr als zwei Jahren täglich beschäftigt und be­
droht, neu bedacht, neu ausbuchstabiert und neu ausgehandelt werden.
Bulletin Nr. 12-2 vom 31. Januar 2022 / Bpräs. – zum Gedenken an Guido Westerwelle, Berlin

                                               -7-

Dazu gehören Kommunikation und ein vernunftgeleiteter Dialog. Einen solchen Dialog
führt man nicht, um den jeweils anderen inquisitorisch in die Ecke der Ungezogenen
zu stellen oder argumentativ zum Schweigen zu bringen, sondern mit dem Ziel, aus
unterschiedlichen Ausgangspositionen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und mit un­
terschiedlichen Wertvorstellungen sich am Ende hoffentlich gemeinsam auf das
Rechte und auf das im buchstäblichen Sinne Not-Wendende zu verständigen. Das ist
in meinen Augen verantwortliche, liberale Haltung. Und auch das gehört insofern zum
Vermächtnis Guido Westerwelles.

Ich denke, den nächsten Satz, mit dem ich schließen möchte, hätte er unterschrieben:
Dem Willen zur Freiheit muss der Mut zur Verantwortung entsprechen, die uns durch
genau diese Freiheit aufgegeben ist. Freiheit und Verantwortung – der unauflösbare
Kern der liberalen Demokratie des Westens. Das war das Lebensthema von Guido
Westerwelle. Wir werden ihn nicht vergessen.

                                         * * * * *
Sie können auch lesen