Coup de foudre - Ich liebe dich - Diskurswandel in dramatischen liebes-erklärungen zwischen Barock und romantik

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karlheinz fingerhut

              Coup de foudre – Ich liebe dich
                                      Diskurswandel in dramatischen Liebes-
                                      erklärungen zwischen Barock und Romantik

                                      „Ich liebe dich“ – polyseme Formel              Beide beziehen sich dabei auf Luhmanns
                                      zwischen Bekenntnis und Appell                  These, Liebe sei nicht in erster Linie ein
                                                                                      „Gefühl“, das zu allen Zeiten bei allen Men-
                                      Historische Epochen sind weder in der Ge-       schen gleich sei und – ähnlich wie das Ge-
                                      samtrealität noch in deren semantischer         rechtigkeitsgefühl – seinen Ursprung im
                                      Verarbeitung durch klare Zäsuren getrennt,      Unterbewusstsein habe, sondern letztend-
                                      sondern – so Niklas Luhmann in seiner Un-       lich ein Kommunikationscode, der histo-
                                      tersuchung der historischen Veränderung         rische Veränderungen der Liebessemantik
                                      von ‚Passion‘ zu ‚Liebe‘ – durch „zentrale      aufnehme und der es allererst ermögliche,
                                      Momente der Sinngebung“. Er findet in der       so etwas wie ein Gefühl der Liebe zu ent-
                                      Liebessemantik Schwerpunktverschiebungen        wickeln und sich entsprechend zu verhal-
                                      zwischen der aristokratischen Gesellschaft,     ten. Seine Frage lautet: Wie bezeugt und
                                      die Wert darauf legt, sich „von der vulgären,   befördert die Literatur die Entwicklung der
                                      gemeinen, direkten Befriedigung sinnlicher      Liebe als Kommunikation in dem sich neu
                                      Bedürfnisse distanzieren zu können“, und die    konstituierenden Intimbereich des Ich? In
                                      darum auf eine „Verlagerung der Liebe ins       diesem Beitrag sollen epochale Verschie-
                                      Ideale, ins Unwahrscheinliche, ins nur durch    bungen der Sinngebung im Intim-System
                                      besondere Verdienste Erreichbare“ setzt, und    zwischen Barock und Romantik dingfest
                                      der modernen Gesellschaft, der es um den        gemacht werden.
                                      Bezug zur Person, ihrer Leidenschaft (amour
                                      passion) oder ihren Fantasiewelten (roman-
                                      tische Liebe) zu tun ist und die darum Liebe    Der klassizistisch-barocke Liebes-
                                      und innige Freundschaft als Bausteine des       diskurs – Tragödien an den Höfen,
                                      Nahbereichs eines Individuums sieht. (Luh-      glückliches Leben in Arkadien
                                      mann 1994, 50 f.)
                                      Eines der letzten Marbacher Magazine be-        Liebe ist in klassizistisch-barocken Tragö-
                                      legt mit zahlreichen Autografen eindrucks-      dien ein Störelement in der von Menschen
                                      voll die semantische Polyvalenz der Aus-        geschaffenen gesellschaftlichen Ordnung.
                                      sage „Ich liebe dich“. In einem Gespräch        Über ihre Entstehung und ihre Auswirkun-
                                      versuchen der Lyriker Michael Lentz und         gen werden Mythen erzählt. Die Liebe ist
                                      die Romanautorin Sibylle Lewitscharoff          göttlichen Ursprungs, aber sie beglückt die
                                      Ordnung in diese Vielfalt zu bringen. Der       Menschen nicht immer.
                                      Satz sei zuerst einmal eine „neue, strahlen-    Die „Phädra“ des französischen Klassikers
                                      de Selbstdarstellung“, ein Sich-neu-Erfin-      Jean Racine (Racine 1677, übersetzt von
                                      den. Die Literatur habe dabei die Aufgabe,      Friedrich Schiller 1805), Gattin des Helden
                                      „Codes, Verhaltensweisen, Maßregelun-           Theseus, ist Opfer eines Streits zwischen
                                      gen, Schemata“ zur Verfügung zu stellen,        Göttern. Aus Rache dafür, dass Apoll das
                                      an deren Muster sich die Leute halten kön-      Verhältnis der Venus zu Mars ausgeplau-
                                      nen, „eine große Hülle oder Stanzform für       dert hat, verfolgt Venus dessen weibliche
                                      Tausende von Liebenden, die sich darin zu-      Nachfahren. Nun liebt und begehrt Phäd-
                                      rechtfinden.“ (Lentz/Lewitscharoff 2011,11)     ra, die Strahlende, ihren Stiefsohn Hippo-

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© ullstein bild – The Granger Collection
            Abb. 1: Phädra und Hippolytos, Kupferstich nach Guérin, 19. Jh. Pierre Narcisse Guérin stellt
            die Verbannung des Hippolytos durch Theseus dar, die Phädra betrieben hatte, um ihre Lei-
            denschaft beherrschen und verheimlichen zu können, im Stil des Napoleonischen Klassizismus
            als heroische Szene.

           lyt und fühlt sich selbst durch diese Leiden-    Dann macht sich die Raserei Luft in einem
           schaft erniedrigt und entwürdigt. Als sie das    Bekenntnis, das zugleich Verzweiflung und
           ihr aufoktroyierte „Ich liebe dich“ so äu-       Drohung ist (aus Szene II. 5):
           ßert, als sei es eine nachträgliche Liebeser-
           klärung an ihren vermissten Gatten, Hippo-           Grausamer, du verstandst mich nur zu gut.
           lyts Vater, wendet der so Verehrte sich voll         Genug sagt’ ich, die Augen dir zu öffnen.
           Grausen ab, er verachtet diese blutschände-          So sei es denn! So lerne Phädra kennen
           rische Leidenschaft. Das verletzt Phädra ein         Und ihre ganze Raserei. Ich liebe,
           zweites Mal. Getrieben von Liebe als „fu-            Und denke ja nicht, dass ich dies Gefühl
           reur“ – tötet sie sich selbst, nachdem sie den       Vor mir entschuld’ge und mir selbst vergebe,
           Stiefsohn der Liebe, die sie an sich selbst          Dass ich mit feiger Schonung gegen mich
           ohnmächtig hasst, beschuldigt hat (Abb. 1).          Das Gift genährt, das mich wahnsinnig macht:
           Hippolyt wird von seinem Vater Theseus               Dem ganzen Zorn der Himmlischen ein Ziel,
           verflucht und von dem Gott Poseidon ge-              Hass’ ich mich selbst noch mehr, als du mich hassest.
           tötet. Phädra erinnert sich (aus Szene I. 3):
                                                            Während die Höflinge Ludwigs XIV. sich
       Mein Friede schien so sicher mir gegründet,          in arkadischen Gefilden eine „natürliche“
       Mein Glück mir so gewiss, da zeigte mir              und „ursprüngliche“ erotische Freiheit er-
       Zuerst Athenä meinen stolzen Feind.                  träumten, ließen sie sich vom tragischen
       Ich sah ihn, ich errötete, verblasste                Verlauf der Leidenschaftsexzesse anti-
       Bei seinem Anblick, meinen Geist ergriff             ker Heldinnen erschüttern. Wichtig war
       Unendliche Verwirrung, finster ward’s                dabei, dass diese Liebesleidenschaft das
       Vor meinen Augen, mir versagte die Stimme,           Maß des „Natürlichen“ überschritt und der
       Ich fühlte mich durchschauert und durchflammt,       von der Liebe Geschlagene in seinem tie-
       Der Venus furchtbare Gewalt erkannt’ ich,            fen Fall als heroisches Opfer gesehen wer-
       Und alle Qualen, die sie zürnend sendet.             den konnte.

            Der Deutschunterricht 1/2013                                                                                                               13

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Aussichtslose und immerwährende Vereh-                           Zinober quillt auß Milch / Blutt auß den
                                            rung der unerreichbaren Geliebten in der                            Marmel-Ballen /
                                            Lyrik des barocken Petrarkismus1 und Ver-                        Der Augen schwartze Nacht läßt tausend
                                            nichtung des oder der Geliebten in der Tra-                         Blitze fallen /
                                            gödie sind zwei Kehrseiten derselben Me-                         Di kein behertzter Geist nicht ohne Brand
                                            daille. Die Liebeserfahrung ist ein das                             empfind’t.
                                            Leben bestimmender Blitzschlag, eine Fas-                        […]
                                            zination, die andere das Ich konstituieren-                      Sosius. Gedult / Vernunfft und Zeit schaff‘t
                                            de Kräfte, z. B. den Verstand, ausschaltet.                         endlich Heil und Rath.
                                            In beiden Fällen ist die Liebe als eine psy-                     Antonius. Nicht / wo Vernunfft und Zeit kein
                                            chische Energie außerhalb des Ichs gedacht,                         Regiment nicht hat.
                                            die in es eingreift, sei es als Amors Pfeil,                     Di Libe läß’t ihr Reich durch Klugheit nicht
                                            als Fluch der Venus oder aber als unzivili-                         verwirren;
                                            sierte Natur. Die Katharsis der Tragödie ist                     Der Vogel siht den Leim und läßt sich dennoch
                                            gleichbedeutend mit der wiederhergestell-                           kirren /
                                            ten Ordnung. Interessant für heutige Leser                       Di Mutte schaut das Licht / in dem sie sich
                                            ist auch, worüber nichts gesagt wird: über                          versängt /
                                            die Nachhaltigkeit der Liebesleidenschaft,                       Das schnelle Reh das Garn in welchem es
                                            über deren Unverträglichkeit mit anderen                            sich fängt […]2
                                            Regelungen des Nahbereichs, zum Beispiel
                                            über Freundschaft oder Ehe.
                                            Von der barocken Tragödie wissen wir, dass               Puder, Schminke, Spiegel, Insignien der
                                            die tragischen Helden hoch stehen, damit                 Schönheitspflege, verkehren – nach Ansicht
                                            sie tief fallen und die Zuschauer über die-              der Männer – die Liebe in Geilheit, die „gold-
                                            sen tiefen Fall erschrecken. In Daniel Cas-              gestickten Purpur-Betten in Mordgruben und
                                            per von Lohensteins „Cleopatra. Ein Trau-                knecht’sche Ketten“. Die Liebe ist in dieser
                                            er-Spiel“ (1661) sind es die ägyptische                  Umgebung eine „Mißgeburth“, die das „Lie-
                                            Königin Cleopatra und ihr Geliebter, der rö-             bes-Oel verknippfter Seelen“ Schiffbruch er-
                                            mische Feldherr Marcus Antonius, die die-                leiden lässt. Liebe regelt im barocken Trauer-
                                            ses Schicksal erleiden. Die Liebe zwischen               spiel nicht den Intimbereich der Individuen
                                            ihnen ist einer der Auslöser der ,Staatsak-              Cleopatra und Antonius, sondern sie ist Teil
                                            tion‘. Antonius hat die Seeschlacht gegen                von deren öffentlicher Existenz und somit ei-
                                            seinen ehemaligen Verbündeten Octavian,                  ne politische Angelegenheit. Nur Hirtinnen
                                            den späteren Kaiser Augustus, verloren. Er               und Hirten in einem utopischen Arcadien,
                                            ist in Alexandria eingeschlossen, erhält das             das als idyllisches Gegenbild zur höfischen
                                            Angebot freien Abzugs, wenn er Cleopatra                 Welt in einem Zwischenspiel (Ende des vier-
                                            ausliefert. Mit seinen Räten überlegt er (in             ten Akts) vorgestellt wird, kennen so etwas
                                            der ‚ersten Abhandlung‘), was zu tun sei.                wie die Harmonie zweier Seelen (Abb. 2).

                                                                                                          1. Satz der Schäfer
                                      Sosius. Das schönste Weib der Welt ist keines                       Wie selig sind / die den Schmaragd der Auen /
                                          Zepters wehrt. […]                                                    Für der Paläste Gold erwehln!
                                      Antonius.Was habt ihr? daß der Neid auch                            Die nicht auf’s Eiß der glatten Ehrsucht
                                          tadeln kan an ihr?                                                    bauen / Und sich mit eig’nen Lastern quäln!
                                      Canidius. Anton / daß minste nicht. Di holden                       Die in den Kummer-freien Wiesen /
                                          Wangen lachen /                                                       Umb einen Kristallinen Fluß /
                                      Auf denen Schnee und Glutt zusammen                                 Die Hürden für den Thron erkiesen /
                                          Hochzeit machen /                                                     Ein frey Gemütte für Verdruß;
                                      Ihr Himmlisch Antlitz ist ein Paradiß der Lust /                    Die ausser schönen Schäferinnen /
                                      Der Adern blauer Türcks durch flicht di zarte Brust /                     Sonst keine Ab-gott libgewinnen.

                                            (1) Vgl. den Beitrag von Meinolf Schumacher in diesem Heft.
                                            (2) Dieser Textauszug wurde in der originalen Schreibweise belassen, um einen Eindruck vom Abstand der Texte zum
                                            heutigen Stand der Sprache und der Mentalität anschaulich zu machen.

              14                                                                                                             Der Deutschunterricht 1/2013

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            Abb. 2: Nicolas Poussin: Et in Arcadia Ego, um 1638. Hier entziffern Hirten und Hirtinnen ge-
            meinsam  eine antike Grabinschrift (in Arcadia Ego).  Das Motiv des natürlichen und glückli-
            chen Lebens ist mit dem barocken des Memento mori verknüpft.

            1. Gegen-Satz der Schäferinnen                    kann literarisch zur Identifikation angeboten
            Ja! Seelig sind di reine Tugend lieben!           werden. ‚Heroisch‘ und bewundernswert ist
                Die aller Heuchelei sind feind!               dann nicht die Liebe als Leidenschaft, son-
            Wo reiner Schertz ohn Argwohn wird                dern deren gesellschaftliche Zähmung.
                getrieben / Wo man den schimpft /             In diesem Sinne äußert sich Georg Chris-
                ders übel meint.                              toph Lichtenberg 1777 in seinem Essay
            Auch libt der nicht / der todte Steine liebet /   „Über die Macht der Liebe“ (Lichtenberg
                Der sich nur zu erhöhn begehrt /              1967, 363). Der Satz, die Macht der Lie-
            Durch falsche Gunst / di nicht Vergnügen          be sei unwiderstehlich, der von vielen mit
               giebet./ Di Seelen sind nur Liebens werth:     tiefster Überzeugung geäußert werde, sei
            Nicht aber die geschmückten Gaben /               pure Ideologie:
               Di keine Gegen-Liebe haben.
                                                                 Die unwiderstehliche Gewalt der Liebe, uns
                                                                 durch einen Gegenstand entweder höchst
            Der aufklärerische Diskurs: Liebe ist                glücklich oder höchst unglücklich zu ma-
            ein Wagnis des Ich. Selbstfindung                    chen, ist poetische Faselei junger Leute, bei
            erlangt es durch Selbstkontrolle                     denen der Kopf noch im Wachsen begriffen
                                                                 ist, die im Rat der Menschen über Wahrheit
            Der Aufklärung ist das Erotische als Ein-            noch keine Stimme haben und meistens so
            griff der Götter ein Ärgernis. Liebe ist für         beschaffen sind, dass sie keine bekommen
            sie ein Humanum in dem Sinne, dass Geist             können.
            und Verstand im Spiel sind, auch wenn es
            um Emotionen geht. Die Sitte garantiert           Schon zwei Generationen zuvor hatte der
            auch dem Liebenden Freiheit. Setzt sich           Leipziger Poetik-Professor Johann Chris-
            jemand der Liebe aus, so geht er das Risi-        toph Gottsched (Abb. 3) diesen Leitsatz auf-
            ko ein, getäuscht oder verlassen zu werden,       geklärten Denkens in seinem Drama „Der
            weil das Hauptproblem der Liebe ihre Un-          sterbende Cato“ (1732) poetisch vorformu-
            beständigkeit ist. Verzicht und ‚Entsagung‘       liert: Die Tochter Arsene/Portia des Repu-

            Der Deutschunterricht 1/2013                                                                                                                       15

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                                                                                                                                          In deiner Seelen brennt. Ersticke solche Flammen!
                                                                                                                                       Portia: […] Sagt, muss ein Römer denn, um Rom
                                                                                                                                          getreu zu scheinen,
                                                                                                                                          In seiner Seelen gar die Menschlichkeit verneinen /
                                                                                                                                          Und unempfindlich sein?
                                                                                                                                       Cato (aus tiefen Gedanken erwachend):
                                                                                                                                          Was sagst du? Rede nun!/
                                                                                                                                          Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?
                                                                                                                                       Portia (beweglich): Und muß die Tugend denn Natur
                                                                                                                                          und Trieb ersticken?

                                                                                                                                       Portia stellt die Liebe als Naturtrieb und
                                                                                                                                       Herzbrennen vor. Aber die Liebe ist der
                                                                                                                                       Idee von Pflicht, Familienrücksicht und po-
                                                                                                                                       litischer Gesinnung wie selbstverständlich
                                                                                                                                       untergeordnet. Der coup de foudre muss
                                                                                                                                       diszipliniert werden. Der Rigorismus, mit
                                                                                                                                       dem diese Position vertreten wird, ist Indiz
                                                                                                                                       für den Rigorismus, mit dem im Menschen-
                                                                                                                                       bild der frühen Aufklärung die Identität ei-
                                                                                                                                       ner Person als animal rationale festgestellt
                                                                                                                                       wurde. Die Liebesempfindungen gehören,
                                                                                                                                       wie die Elternliebe, zu den Trieben, und
                                                                                                                                       diese sind – in einer moralisch gedachten
                                                                                                                                       Weltordnung – der Ratio unter- und nach-
                                                                Abb. 3: Leonhard Schorer: Bildnis des Theater- und Sprachreformers     geordnet. Die ‚heroische‘ Entscheidung der
                                                                Johann Christoph Gottsched, 1744. Gottsched war Professor für Poe-     Tochter ist Gehorsam aus Überzeugung.
                                                                tik, Logik und Metaphysik in Leipzig. Sein Drama „Der sterbende Ca-
                                                                to“ verstand er als Muster für deren praktische ‚Anwendung‘.
                                                                                                                                       Emotionsbetonte Aufklärung:
                                                                                                                                       Erotikliebe und Empfindungsliebe
                                                                                       blikaners Cato hat sich, ohne ihn zu ken-       im Diskurswettbewerb
                                                                                       nen, in Cäsar verliebt, der die Kaiserwürde
                                                                                       in Rom anstrebt, also Cato als seinen Feind     In Lessings erstem Bürgerlichen Trauer-
                                                                                       bekämpft. Liebe und politisches Konzept ge-     spiel „Miss Sara Sampson“ (1755) dominiert
                                                                                       raten in Konflikt. Gottscheds Prinzip, dass     nicht mehr der Verstand das Verhalten der
                                                                                       die Literatur vorbildhaftes Verhalten und den   Person, sondern deren emotionale Grund-
                                                                                       Sieg der Ratio über das Begehren zeigen soll,   struktur. Die ist nicht genetisch festgelegt,
                                                                                       hört sich in den Dramendialogen so an.          sondern entwickelt sich in Abhängigkeit von
                                                                                       Arsene bekennt ihrer Vertrauten Phenice         der geschlechtsspezifischen Erziehung, von
                                                                                       (Szene I.1):                                    Vorbildern oder Verführern. Lessing macht
                                                                                                                                       diese Problematik zum Gegenstand öffentli-
                                                                         Arsene: Ich habe freilich mich bisher vor dir verstecket /    cher Reflexion und theatralischer Belehrung.
                                                                         Und meine Schwachheit noch kein einzig Mal entdecket […]      Er nutzt den Appell an das moralische Ge-
                                                                         Wie grausam pflegt man nicht mit Fürsten umzugehn! /          wissen der Zuschauer als Mittel der Sym-
                                                                         Man ist in Wahrheit nicht sein eigner Herr zu nennen. /       pathielenkung. Geworben wird für die auf
                                                                         Ein unschuldvoller Trieb, davon die Herzen brennen, /         Korrespondenz der Gefühle und für eine auf
                                                                         Muß ein Verbrechen sein. Man opfert uns dem Staat, /          Dauer hin angelegte Liebe.
                                                                         Und wer aus Sehnsucht liebt, begeht den Hochverrat.           Die junge und schwärmerische Sara Samp-
                                                                                                                                       son hat sich in Mellefont verliebt, ist mit
                                                                                       Cato verdammt die Liebe seiner Tochter zu       ihm ‚durchgebrannt‘. Sie hofft darauf, dass
                                                                                       einem Feind der Republik (Szene IV.2):          Mellefont ihr sein Eheversprechen einlöst.

                                                                16                                                                                         Der Deutschunterricht 1/2013

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Das Paar wird von Marwood (Abb. 4), der

                                                                                                                                       © ullstein bild – Roger-Viollet
            ehemaligen Geliebten Mellefonts, in ei-
            nem Gasthof nahe der Grenze gefunden.
            Marwood will Mellefont zurückgewinnen
            und glaubt, das könne sie am besten errei-
            chen, wenn sie Sara über Mellefonts Cha-
            rakter aufklärt. Die empfindsame Sara hält
            das für tückisch, sie ist überzeugt, dass ih-
            re ‚wahre‘ Liebe Mellefont auf ewig an sie
            binden wird. Sie schließt auch die Toch-
            ter, die Mellefont mit der Marwood hat, in
            diese Liebe ein. Denn ihr Ideal ist die auf
            Liebe gegründete Kleinfamilie. Ihr Verhal-
            ten ist das provozierend Innovative im Lie-
            besdiskurs: Sara Sampson geht ein Lie-
            besverhältnis auf ‚Vorschuss‘ ein, weil der
            Blitzschlag, der sie getroffen hat, sie die
            Familienregeln, denen sie als tugendhafte
            Tochter unterliegt, negieren ließ (Abb. 5).
            Ihr Wunsch ist, ihre Liebe durch die Ehe vor
            ihrem Vater und vor Gott zu legitimieren.
            Als die Vertreterin des überkommenen Ero-
            tikdiskurses Marwood erkennt, dass Melle-
            font nun ganz auf Saras Empfindungsliebe
            eingeschworen ist, vergiftet sie Sara. Melle-
            font verabscheut sie und tötet sich. Das ist
            ein programmatisches Ende: Die empfind-
            sam und ganz aus dem Gefühl heraus lie-            Abb. 4: Porträt der Madame de Pompadour nach Maurice Quentin
            bende Sara ist das Opfer, dem die Sympa-           de La Tour, um 1740. Mme de Pompadour, die Mätresse des französi-
            thie des Autors und des Publikums gehört,          schen Königs Ludwig XV., galt als Musterbeispiel der einflussreichen,
            Marwood muss am Ende als Vertreterin ei-           eleganten Hofdame der Rokokogesellschaft.
            ner unmoralischen Liebesauffassung abtre-
            ten. Marwood und Mellefont sprechen sich
            aus (Szene II.3):                                  das den „Unterschied von Liebe und Wol-
                                                               lust“ als Maßstab nimmt.
                Marwood (vertraulich): Höre nur, mein lie-     Mellefonts Selbstanalyse (Szene IV.2):
                ber Mellefont; ich merke wohl, wie es itzt
                mit dir steht. Deine Begierden und dein Ge-       Mellefont (nachdem er einigemal tiefsinnig
                schmack sind itzt deine Tyrannen. Lass es         auf und nieder gegangen). Was für ein Rätsel
                gut sein; man muss sie austoben lassen. Sich      bin ich mir selbst! Wofür soll ich mich halten?
                ihnen widersetzen, ist Torheit. Sie werden        Für einen Toren? oder für einen Bösewicht?
                am sichersten eingeschläfert und endlich          – oder für beides? – […] Warum muss ich
                gar überwunden, wenn man ihnen freies             eingeschmiedet werden und auch sogar den
                Feld lässt. […]                                   elenden Schatten der Freiheit entbehren? –
                Mellefont: Marwood, Sie reden vollkommen          Eingeschmiedet? Nichts anders! – Sara Sam-
                Ihrem Charakter gemäß, dessen Hässlichkeit        pson, meine Geliebte! Wieviel Seligkeiten lie-
                ich nie so gekannt habe, als seitdem ich in       gen in diesen Worten! Sara Sampson, meine
                dem Umgange mit einer tugendhaften Freun-         Ehegattin! – Die Hälfte dieser Seligkeiten ist
                din die Liebe von der Wollust unterschei-         verschwunden! und die andre Hälfte – wird
                den gelernt.                                      verschwinden. – Ich Ungeheuer!

            Die Rede der Marwood verfängt weder                Noch ist Mellefont nicht so weit, dass er
            beim Adressaten, der die empfindsame Lie-          empfindsame Liebe und Ehe zusammen-
            be kennengelernt hat, noch beim Publikum,          bringen kann. Und das wird von ihm selbst

            Der Deutschunterricht 1/2013                                                                                         17

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reichbaren bürgerlichen Ideals der Liebe als
                                                                                       Familienfundament‘.

                                                                                       Liebesdiskurs im Sturm und Drang –
                                                                                       Missverhältnisse zwischen Begeiste-
                                                                                       rung und Empfindung

                                                                                       In Friedrich Schillers: „Kabale und Liebe“
                                                                                       (1784) sehen und lieben Ferdinand, adeli-
                                                                                       ger Offizier, und Luise, Tochter einer klein-
                                                                                       bürgerlichen Familie, einander. Sie werden
                                                                                       Opfer einer Intrige, die darauf setzt, dass
                                                                                       Ferdinand Eifersucht empfindet, wenn er
                                                                                       die Exklusivität seiner Liebesbeziehung
                                                                                       infrage gestellt sieht. Ferdinands „Ich lie-
                                                                                       be dich“ schlägt um in den Gedanken „Ich
                                                                                       hasse dich“, weil er, blind durch Argwohn,
                                                                                       nicht ertragen kann, dass seine leidenschaft-
                                                                                       liche Liebe ein zu schwaches Echo bei sei-
                                                                                       ner Partnerin erzeugt habe.
                                      Abb. 5: Porträt von Caroline Schelling-Schle-    Luises Liebe wird dem Zuschauer zuerst als
                                      gel, Kupferstich nach Johann Friedrich Au-       ein gesteigertes Lebensgefühl vorgeführt.
                                      gust Tischbein, um 1798. Caroline Schelling-     Die Sprache, die das bürgerliche Mädchen
                                      Schlegel (1763–1809) war das Muster einer        dazu benutzt, ist die des angelesenen En-
                                      gebildeten, emanzipierten, empfindungs-          thusiasmus.
                                      starken  jungen Frau. Sie hat den ‚coup de       Liebesenthusiasmus weiblich (Szene I.3):
                                      foudre‘ mehrfach erfahren. Caroline wurde
                                      ihrer selbstbestimmten Lebensweise wegen            Luise: Dies bisschen Leben – dürft’ ich es
                                      von ihren Zeitgenossen teils geschätzt (Goe-        hinhauchen in ein leises, schmeichelndes
                                      the), teils gemieden (Schiller). An ihrer Bio-      Lüftchen, sein Gesicht abzukühlen. – Dies
                                      grafie lässt sich der Übergang von der Gene-        Blümchen Jugend – wär’ es ein Veilchen,
                                      ration der empfindsamen zur romantischen            und er träte drauf, und es dürfte bescheiden
                                      Frau erkennen.                                      unter ihm sterben! – Damit genügte mir, Va-
                                                                                          ter! Wenn die Mücke in ihren Strahlen sich
                                                                                          sonnt – kann sie das strafen, die stolze ma-
                                      und auch von dem Publikum als Charakter-            jestätische Sonne?
                                      fehler empfunden. Mit dem Heiligenschein
                                      der Tugendhaften versehen wird hingegen          Der Vater ist skeptisch. Er billigt diese Lie-
                                      die empfindsam Liebende. Merkmale dieser         be nicht. Das stimuliert eine weitere Über-
                                      Verbindung von Geschlechter- und Famili-         zeugungsrede. Diese ist eine empfindsame
                                      enliebe ist das Verzeihen und die Fürsorge       Rede über den von Gott gesandten coup de
                                      für Mellefonts und Marwoods Tochter Ara-         foudre:
                                      bella. Eros geht eine Allianz mit Caritas ein.
                                      Lessings Trauerspiel lässt keinen Zweifel           Luise: Nein! er meint es anders, der gute
                                      daran: Sara, ihre Bemühung um eine Ver-             Vater. Er wird nicht wissen, dass Ferdinand
                                      bindung von empfindsamer Liebe und Ehe,             mein ist, mir geschaffen, mir zur Freude
                                      ist die literarische Kodierung eines Ideals.        vom Vater der Liebenden. (Sie steht nach-
                                      Die Wirklichkeit der bürgerlichen Familie           denkend.) Als ich ihn das erste Mal sah –
                                      bleibt zunächst davon unberührt. Es blei-           (rascher) und mir das Blut in die Wangen
                                      ben die selbstzerstörerischen Schuldgefüh-          stieg, froher jagten alle Pulse, jede Wallung
                                      le, wenn der coup de foudre Familienregeln          sprach, jeder Atem lispelte: Er ist’s! – und
                                      verletzt. Bürgerliches Trauerspiel kann hier        mein Herz den Immermangelnden erkannte,
                                      übersetzt werden als ‚Trauerspiel des uner-         bekräftigte: Er ist's! und wie das widerklang

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durch die ganze mitfreuende Welt! Damals                  hin in Luisens Arme fliegen. Die Stürme des
                – o damals ging in meiner Seele der erste                 widrigen Schicksals sollen meine Empfin-
                Morgen auf. Tausend junge Gefühle schos-                  dung emporblasen, Gefahren werden mei-
                sen aus meinem Herzen, wie die Blumen aus                 ne Luise nur reizender machen.
                dem Erdreich, wenn’s Frühling wird. Ich sah
                keine Welt mehr, und doch besinn’ ich mich,          Es treffen zwei Liebeskonzepte aufeinan-
                dass sie niemals so schön war. Ich wusste            der. Ferdinand berauscht sich am eigenen
                von keinem Gott mehr, und doch hatt’ ich             Gefühlsüberschwang. Seine Liebe fordert
                ihn nie so geliebt.                                  die Planungen seines Vaters in die Schran-
                                                                     ken. Aber sein Liebes-Enthusiasmus hat ei-
            Die männliche Liebesbegeisterung artiku-                 ne schwache Seite: Liebe und Eifersucht ge-
            liert sich anders. Das zeigt sich eine Sze-              hören im Diskurs über Leidenschafts-Liebe
            ne später (I.4), als Ferdinand auftritt. Die             eng zusammen. Der Liebende kann nie si-
            Liebe ist hier nicht mit Opfer-, sondern mit             cher sein, dass das, was er fühlt, das Echo,
            Herrschaftsdenken verbunden. Der Lieben-                 auf das er bei seiner Partnerin hofft, findet.
            de verfügt, dank seiner Leidenschaft, über               Verzweiflung entsteht aus Unsicherheit.
            die Partnerin:                                           „Ich liebe dich“ ist die Holophrase,3 die in
                                                                     einer Beziehung alles sagt, aber uneindeutig
                Ferdinand: Du bist blass, Luise?                     bleibt. Für Luise bedeutet ‚ich liebe dich‘
                Luise (steht auf und fällt ihm um den Hals):         Hingabe und Opferbereitschaft, für Ferdi-
                Es ist nichts! nichts! Du bist ja da. Es ist         nand ist die gleiche Aussage ein Appell ‚lie-
                vorüber.                                             be mich, wie ich dich‘.
                Ferdinand (ihre Hand nehmend und zum                 Luises Liebe ist die der Sara Sampson ver-
                Munde führend): Und liebt mich meine Lu-             wandte Empfindungsliebe. Luise hält sie für
                ise noch? Mein Herz ist das gestrige, ist's          stark, aber nicht berechtigt und in der Lage,
                auch das deine noch? Ich fliege nur her, will        gesellschaftliche Widerstände zu brechen.
                sehen, ob du heiter bist, und gehn und es            Neben der Liebe zu Ferdinand kennt sie die
                auch sein – Du bist's nicht. […]                     Liebe zu ihrer Familie, vor allen zu ihrem
                Wärest du ganz nur Liebe für mich, wann              Vater, und die Liebe zu Gott. Sie stellt sich
                hättest du Zeit gehabt, eine Vergleichung zu         die Liebesbeziehung zu Ferdinand als in-
                machen? Wenn ich bei dir bin, zerschmilzt            nig und ewig vor, aber auch als vereinbar
                meine Vernunft in einen Blick – in einen             mit der Liebe zum Vater. Selbst im Jenseits,
                Traum von dir, wenn ich weg bin, und du              denkt sie, wird sie fortbestehen, weil sie ja
                hast noch eine Klugheit neben deiner Lie-            göttliches Geschenk ist. Auch das ist ein
                be? – Schäme dich! Jeder Augenblick, den             Traum, der der Realität nicht Stand hält. Lu-
                du an diesen Kummer verlorst, war deinem             ises Wirklichkeit ist geprägt durch diskur-
                Jüngling gestohlen.                                  sive Widersprüche. In der Welt Ferdinands,
                                                                     sieht sie, gelten die Standesregeln, die Ero-
            Für Luise ist die Rede Ferdinands adelige                tik und Familienbindung auseinanderhalten,
            Liebes-Rhetorik, für ihn selbst ist sie Be-              in ihrer eigenen Welt die Regeln der emp-
            kenntnis: amor vincit omnia. Das hat Aus-                findsamen Kleinfamilie (mit der besonderen
            wirkungen auf ihre Einschätzung der Le-                  Bindung der Tochter an den Vater).
            benswirklichkeit:                                        Die Liebessemantik hat sich verschoben.
                                                                     Nicht Leidenschaft und Verführung, son-
                Luise: O wie sehr fürcht' ich ihn – diesen           dern Enthusiasmus und zärtliche Anhäng-
                Vater!                                               lichkeit sind Trumpf. Luises Tragik ist, dass
                Ferdinand: Ich fürchte nichts – nichts – als         ihre eigene Liebe keinen Platz in der Welt
                die Grenzen deiner Liebe. Lass auch Hin-             findet zwischen dem Liebesanspruch Ferdi-
                dernisse wie Gebirge zwischen uns treten,            nands einerseits und der besitzergreifenden
                ich will sie für Treppen nehmen und drüber           Liebe der Familie andererseits.

            (3) Holophrase: eine Formel (Folge von Wörtern), die wie ein Wort verwendet wird. Der Ausdruck wird durch diesen
            Begriff auf die Ebene des frühkindlichen Spracherwerbs gestellt.

            Der Deutschunterricht 1/2013                                                                                       19

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Klassik: Leidenschaft – gedämpft                                  O könntest du ein Weib sein und empfinden! /
                                        durch Pflicht und Sitte                                           Leg diese Rüstung ab, kein Krieg ist mehr,
                                                                                                          Bekenne dich zum sanfteren Geschlechte! /
                                        In den klassischen Werken geht es im Sin-                         Mein liebend Herz flieht scheu vor dir zurück,
                                        ne Lichtenbergs um einen Kompromiss                               So lange du der strengen Pallas gleichst.
                                        zwischen Liebe als Leidenschaft und freier                        Johanna. Was foderst du von mir!
                                        Entscheidung als konstitutiver Struktur der                       Sorel. Entwaffne dich!
                                        Person. Die ‚klassische Dämpfung‘ exzes-                          Leg diese Rüstung ab, die Liebe fürchtet, /
                                        siver Leidenschaft, der Prozess der Subli-                        Sich dieser stahlbedeckten Brust zu nahn. /
                                        mierung durch Selbstkontrolle, macht aus                          O sei ein Weib und du wirst Liebe fühlen!
                                        den klassisch Liebenden reflektierende Per-
                                        sonen. In Schillers Romantischer Tragödie                    Das heißt, in diesem Diskurs wird sponta-
                                        „Die Jungfrau von Orleans“ (1801) erlebt                     nes Liebesempfinden der weiblichen ‚Na-
                                        Johanna den Blitzschlag der Liebe als Verrat                 tur‘ zugesprochen, deren Unterdrückung
                                        an ihrer Sendung. Schiller versteckt ihn in                  im Dienste einer ‚Aufgabe‘ oder ‚Sen-
                                        einer Regieanmerkung. Johanna, die ihren                     dung‘ ist heroisch und ‚unnatürlich‘ zu-
                                        englischen Gegner Lionel im Zweikampf                        gleich. Die Unterordnung einer Emotion
                                        besiegt hat, holt zum Todesstoß aus (Sze-                    unter ein geistiges Prinzip indes ist für
                                        ne III.10):                                                  Schiller Zeichen der geistigen Freiheit,
                                                                                                     also – im Sinne der Aufklärungstradition
                          Johanna: Erleide, was du suchtest. /                                       – ein Humanum.
                          Die heilge Jungfrau opfert dich durch mich!
                          (In diesem Augenblicke sieht sie ihm ins Gesicht, sein Anblick
                          ergreift sie, sie bleibt unbeweglich stehen und lässt dann                 Irritation im romantischen Diskurs:
                          langsam den Arm sinken)                                                    Kosmische Herrschaft der Liebe
                          Lionel: Was zauderst du und hemmst den Todesstreich? /
                          Nimm mir das Leben auch, du nahmst den Ruhm, /                             Die heroische Aufopferung der Liebe auf
                          Ich bin in deiner Hand, ich will nicht Schonung.                           dem ‚Altar der Sendung‘ widerstreitet fun-
                          (Sie gibt ihm ein Zeichen mit der Hand, sich zu entfernen)                 damental der romantischen Sicht. Der ro-
                          Entfliehen soll ich? Dir soll ich mein Leben /                             mantische Liebesdiskurs greift auf Konzep-
                          Verdanken? – Eher sterben!                                                 te der neuplatonischen Liebeslehre zurück.
                          Johanna (mit abgewandtem Gesicht): Rette dich!                             Liebe wurzelt in einem numinosen Unter-
                          Ich will nichts davon wissen, dass dein Leben /                            grund der Welt, vereinzelt sich in den Lie-
                          In meine Macht gegeben war.                                                benden, die streben zurück zur Einheit mit-
                                                                                                     einander und mit dem Urgrund der Welt.
                                        Später nennt Johanna ihre Erfahrung „Mein                    Eros ist das kosmisch schöpferische Prin-
                                        Unglück, meine Schande, mein Entsetzen“.                     zip. Das romantische Ego ist über Eros mit
                                        Da ihre Mission, Frankreich zu retten, gött-                 einem zweiten Individuum verbunden. Es
                                        lich ist, kann der coup de foudre, der die                   ist ganz es selbst, wenn es sich mit seiner
                                        Tötung des Engländers Lionel verhinder-                      Leidenschaft, die es zu Alter hinzieht, iden-
                                        te, nur ein Werk des Versuchers sein. Sie                    tifiziert. Dabei muss Liebe zwischen ein-
                                        klagt sich in einem Monolog (Szene IV.1)                     zelnen menschlichen Individuen nicht nur
                                        an: „Arglistig Herz! Du lügst dem ewgen                      ihrem jeweiligen Selbst entsprechend und
                                        Licht“. Gleichzeitig wird von den Figuren                    also beglückend, sie kann auch ‚oktroyiert‘
                                        um Johanna herum die Liebe als ein Huma-                     sein. Das ist dann der Fall, wenn der coup
                                        num und die Haltung der Johanna als un-                      de foudre in Desorientierung, etwa in einen
                                        weiblich und befremdlich empfunden. So-                      wahnhaften Zustand führt oder in das Ge-
                                        rel, die Geliebte des französischen Königs,                  genteil, in blinden Hass, umschlägt (Abb. 6).
                                        sagt (Szene IV.2):                                           In Heinrich von Kleists „Penthesilea“

                                        (4) Kleist hatte die achte von Schuberts Vorlesungen „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ in der von
                                        ihm herausgegebenen Zeitschrift Phöbus (1. Jg. 4./5. Stück 1808, 67 f.) abgedruckt. Von der menschlichen Seele heißt es
                                        dort, in ihr seien geistige und sinnliche Regungen miteinander zu einem „gefahrvollen und unsicheren Gemisch“ gebracht.

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(1808) hatte die Heldin schon bei der ersten

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            Begegnung mit Achill ihre Selbstkon­trolle
            verloren. Odysseus beobachtet, wie sie er-
            rötet, „als schlüge ringsum ihr / Die Welt in
            hellen Flammenlohen auf“. Sie selbst sagt
            (15. Auftritt), wie ihre Gedanken um Achill
            kreisen,

                Den Lieben, Wilden, Süßen, Schrecklichen./
                Den Überwinder Hektors! O Pelide!
                Mein ewiger Gedanke, wenn ich wachte,
                Mein ew’ger Traum warst du!

            Auch das Bild des Blitzschlags verwendet
            Kleist in ihrer Rede:

             Geblendet stand ich, als du jetzt entwichen,
             Von der Erscheinung da – wie wenn zur
                 Nachtzeit
             Der Blitz vor einen Wandrer fällt, die Pforten
             Elisiums, des glanzerfüllten, rasselnd,
             Vor einem Geist sich öffnen und verschließen.
             Im Augenblick, Pelid’, errieth ich es,
             Von wo mir das Gefühl zum Busen rauschte;
             Der Gott der Liebe hatte mich ereilt.

            Im Verlaufe des Dramas wird klar, dass
            der Status der Amazonenkönigin durch die
            Liebesleidenschaft für den Feind Achill
            das gesamte System des Amazonenstaa-
            tes bedroht. Auch Penthesileas Selbstkon-
            zept steht auf dem Spiel. Sie formuliert ih-
            rer „Seele Donnersturz“ nach Achills Tod in       Abb. 6: Achilleus tötet Penthesilea. Halsamphora des Exekias, spätar-
            ihren letzten Worten (23. Auftritt):              chaisch um 530 v. Chr. Die Vasenmalerei zeigt die bei Homer erzähl-
                                                              te Geschichte. Danach tötet Achilleus die Amazone im Zweikampf,
             Prothoe: Gib her.                                nimmt ihr den Helm ab, und der ‚coup de foudre‘ trifft ihn beim vol-
             Penthesilea: Denn jetzt steig ich in meinen      len Anblick der Toten.
                 Busen nieder /
             Gleich einem Schacht und grabe,
                 kalt wie Erz,                                vergleichbar. Wie in einem Mesmer’schen
             Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.             Experiment, in dem Anziehung und Ab-
             Dies Erz, dies läutr’ ich in der Glut            stoßung in der Seele als Naturkräfte wir-
                 des J­ ammers /                              ken, ist diese Hassliebe ebenso elementar
             Hart mir zu Stahl, tränk es mit Gift sodann,     wie „unerhört“ (Daiber 2005, 59). Sie reißt
             Heißätzendem, der Reue, durch und durch;         die Liebenden aus den bisherigen Bindun-
             Trag es der Hoffnung ew’gem Amboss zu,           gen und negiert deren bislang gültige Ich-
             Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch;      Konzepte. Penthesilea kann das sie über-
             Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust;    fallende Befremdliche ihres verwirrenden
             So! So! So! So! und wieder! – Nun ist’s gut.     Zustandes nur in einer metaphorischen Be-
             (Sie fällt und stirbt)                           schreibung erfassen. Sie vergleicht ihr Ich
                                                              mit einem Erzbergwerk. In den untersten
            Eros ist hier ganz eng mit Thanatos ver-          Schichten liegt das vernichtende kosmische
            bunden. Das „vernichtende Gefühl“ selbst          Gefühl des Eros als das Erz; es wird durch
            ist sprachlos, einer elektrischen Ladung          die Begegnung mit Achill geschürft und ge-

            Der Deutschunterricht 1/2013                                                                                        21

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fördert, in der Esse des Jammers (gemeint       in doppeldeutiger und rätselhafter poeti-
                                      sein kann die Erfahrung des coup de foudre      scher Sprache, dass das Lebensprinzip Eros
                                      als Verlust ihrer Entscheidungsfreiheit) ge-    in diesem Kontext kein glückverheißendes,
                                      schmolzen, durch Reue (gemeint sind of-         humanes, sondern ein kosmisches ist. Und
                                      fenbar ihre Reaktion auf die Konflikte mit      als solches über den Glücksanspruch des
                                      den Regeln der Amazonengesellschaft) ge-        einzelnen Menschen hinweggeht.
                                      härtet und auf dem Amboss der Hoffnung
                                      (dass Gegenliebe zu einer ‚Lösung‘ im Sin-
                                      ne der Amazonenregeln führen könne) ge-         Fazit
                                      schmiedet, zu einem Dolch verarbeitet, mit
                                      dem sie sich nun selbst töten wird. Die me-     Wie ist es möglich, dass Dramenfiguren
                                      taphorische Umschreibung der Liebe als          dem Publikum Liebesempfindungen so
                                      Stationen der Metallverarbeitung, bezogen       kommunizieren, dass sie verstanden wer-
                                      auf Kernbegriffe aus der christlichen Leh-      den? Wir haben es „schlicht gesellschaftlich
                                      re von Seele und Ewigkeit (Jammer, Reue,        gelernt“, sagt Luhmann. (Luhmann 1994,
                                      Hoffnung), betont nicht nur das Gewaltsa-       76 ff.) Das Modell, nach dem Phädra in Ra-
                                      me des psychischen Vorgangs, sie belegt         cines oder Antonius in Lohensteins Tragö-
                                      auch, dass in einer solchen Verschmelzung       die agieren, besagt: Liebe ist ein von den
                                      physischer und psychischer Vorgänge Lie-        Göttern verhängtes Begehren. Sie wird seit
                                      be nichts Persönliches ist. Eros gehört in      Lessings und Schillers bürgerlichen Trau-
                                      eine Reihe mit religiösen und kosmischen        erspielen mit dem Glauben verbunden, dass
                                      Kräften.4 Penthesileas ‚ich liebe dich‘ heißt   sie – als ‚wahre‘ Liebe – dauerhaft ist, auch
                                      weder ‚ich begehre dich‘ noch ‚ich empfin-      dann, wenn man weiß, dass das für die Lei-
                                      de innige Freundschaft für dich‘, sondern       denschaft nicht gilt. Liebe ist Enthusiasmus
                                      ‚deine und meine Seelen sind auf Gedeih         und Hingabe, insofern paradox, als sie die
                                      und Verderb aneinander gekettet‘. Demnach       ganze Person erfüllt und fordert, dass es bei
                                      kann Penthesileas Selbsttötung auch als ein     dem Geliebten ebenso sei, ohne sicher zu
                                      Akt der Befreiung des Ich aus den Fesseln       sein, ob es wirklich so ist. In den Liebes-
                                      der kosmischen Leidenschaft gesehen wer-        auffassungen, die in die Aufklärungstraditi-
                                      den. Das Paradox besteht darin, dass das        on einzuordnen sind, besteht die Paradoxie
                                      (rohe) Erz des Gefühls ausgerechnet zu ei-      darin, dass eine Wertehierarchie zur Dis-
                                      nem Werkzeug geschmiedet wird, mit dem          ziplinierung der Leidenschaft existiert. Es
                                      das Ich in einem Akt der Entscheidung sich      kann eine Sendung, ein Auftrag, eine mo-
                                      selbst vernichtet.                              ralische Norm sein, die die Liebe konter-
                                      Penthesilea sei ein „Produkt einer umfas-       kariert. Erst in der Romantik entstehen die
                                      senden Phantasie“, sagt Friedrich Schle-        Fantasien eines das gesamte Ich elementar
                                      gel. Er meint damit, dass diese Kunstfigur      desorientierenden Eros, der nicht von außen
                                      den Eros als Liebesraserei in seiner Wider-     in das Ich eingreift, sondern aus dessen In-
                                      sprüchlichkeit zeigt. Diese Verkettung ein­     neren herausbricht bzw. die individuelle Er-
                                      ander widerstreitender Facetten des Gefühls     fahrung mit dem Ganzen des Weltprozesses
                                      scheint an der Oberfläche der „fureur“ der      verknüpft.                                 j
                                      Phädra zu gleichen. Der Epochenumbruch
                                      manifestiert sich in der Variation des Mus-
                                      ters: Nicht die Göttin Venus schickt eine       Quellen
                                      verderbliche Leidenschaft, die sich dann        Gottsched, Johann Christoph (1966) [1732]:
                                      wie eine Infektion im Bewusstsein der her-         Sterbender Cato. Ein Trauerspiel. Hg. von
                                                                                         Horst Steinmetz. Stuttgart.
                                      ausgehobenen menschlichen Figur einnis-         Kleist, Heinrich von (1964) [1808]: Penthesilea.
                                      tet, sondern Penthesileas Seele ist, wie die       In: Ders.: Sämtl. Werke und Briefe. Hg. von
                                      Erzgrube, Teil des alles umfassenden tellu-        Helmut Sembdner. 3. Aufl. München. Bd. 1,
                                      rischen Eros. Penthesilea entwickelt dann          321– 428.
                                      selbst – unter dem Einfluss psychisch wirk-     Lessing, Gotthold Ephraim (o. J.) [1755]: Miss
                                                                                         Sara Sampson. In: Ders.: Miss Sara Samp-
                                      samer Normen – ihre elementare Leiden-             son. Stuttgart.
                                      schaft zu dem Instrument, das ihr physi-        Lichtenberg, Georg Christoph (1967) [1777]:
                                      sches Leben zerstört. Kommuniziert wird            Über die Macht der Liebe. In: Ders.: Wer-

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ke in einem Band. Hg. von Peter Plett. Ham-       Daiber, Jürgen (2005): „Nichts Drittes … in der
               burg, 363 – 367.                                     Natur?“ Kleists Dichtung im Spiegel romanti-
            Lohenstein, Daniel Casper von (1965) [1661]:            scher Selbstexperimentation. In: Kleist-Jahr-
               Cleopatra. Trauerspiel. Hg. von Ilse-Marie           buch 2005, 45 – 66.
               Barth. Stuttgart.                                 Firges, Jean (2008): Jean Racine. Phèdre. Die
            Schiller, Friedrich von (o. J.) [1784]: Kabale und      Dämonie der Liebe. Exemplarische Reihe Li-
               Liebe. Stuttgart.                                    teratur und Philosophie 23. Annweiler.
            Schiller, Friedrich von (o. J.) [1801]: Die Jung-    Lentz, Michael/Lewitscharoff, Sibylle (2011):
               frau von Orleans. Stuttgart.                         Gespräch mit Heike Gfrereis über „Ich liebe
            Schiller, Friedrich von (1996) [1805]: Phädra.          dich!“. In: Deutsche Schillergesellschaft (Hg.):
               Trauerspiel von Racine (1677). In: Schiller-         Ich liebe dich! Marbacher Magazin 136.
               Nationalausgabe, Bd. 15.II [Übers. aus dem        Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur
               Französischen]. Hg. von W. Hirdt. Weimar,            Codierung von Intimität. Frankfurt am Main.
               274 – 387.                                        Reinhardt-Becker, Elke (2004): Liebe als Ro-
                                                                    man? Skizzen zu ihrer Semantikgeschichte
                                                                    im 19. und 20. Jahrhundert. In: Frank Be-
            Literatur                                               cker (Hg.): Geschichte und Systemtheorie.
            Böhm, Elisabeth (2011): Sollbruchstelle Roman-          Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am
               tik? Ein wissenschaftsgeschichtlicher Blick          Main, 246 – 277.
               auf die Leistungsfähigkeit der Systemtheo-        Schubert, Gotthilf Heinrich (1808): Ansichten
               rie für die Literaturgeschichtsschreibung. In:       von der Nachtseite der Naturwissenschaft.
               Mitteilungen des Deutschen Germanistenver-           Dresden [www.archive.org/details/ansichten-
               bandes 58, H. 4, 387– 398.                           vonder01schugoog]

            Der Deutschunterricht 1/2013                                                                               23

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