Coup de foudre - Ich liebe dich - Diskurswandel in dramatischen liebes-erklärungen zwischen Barock und romantik
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karlheinz fingerhut Coup de foudre – Ich liebe dich Diskurswandel in dramatischen Liebes- erklärungen zwischen Barock und Romantik „Ich liebe dich“ – polyseme Formel Beide beziehen sich dabei auf Luhmanns zwischen Bekenntnis und Appell These, Liebe sei nicht in erster Linie ein „Gefühl“, das zu allen Zeiten bei allen Men- Historische Epochen sind weder in der Ge- schen gleich sei und – ähnlich wie das Ge- samtrealität noch in deren semantischer rechtigkeitsgefühl – seinen Ursprung im Verarbeitung durch klare Zäsuren getrennt, Unterbewusstsein habe, sondern letztend- sondern – so Niklas Luhmann in seiner Un- lich ein Kommunikationscode, der histo- tersuchung der historischen Veränderung rische Veränderungen der Liebessemantik von ‚Passion‘ zu ‚Liebe‘ – durch „zentrale aufnehme und der es allererst ermögliche, Momente der Sinngebung“. Er findet in der so etwas wie ein Gefühl der Liebe zu ent- Liebessemantik Schwerpunktverschiebungen wickeln und sich entsprechend zu verhal- zwischen der aristokratischen Gesellschaft, ten. Seine Frage lautet: Wie bezeugt und die Wert darauf legt, sich „von der vulgären, befördert die Literatur die Entwicklung der gemeinen, direkten Befriedigung sinnlicher Liebe als Kommunikation in dem sich neu Bedürfnisse distanzieren zu können“, und die konstituierenden Intimbereich des Ich? In darum auf eine „Verlagerung der Liebe ins diesem Beitrag sollen epochale Verschie- Ideale, ins Unwahrscheinliche, ins nur durch bungen der Sinngebung im Intim-System besondere Verdienste Erreichbare“ setzt, und zwischen Barock und Romantik dingfest der modernen Gesellschaft, der es um den gemacht werden. Bezug zur Person, ihrer Leidenschaft (amour passion) oder ihren Fantasiewelten (roman- tische Liebe) zu tun ist und die darum Liebe Der klassizistisch-barocke Liebes- und innige Freundschaft als Bausteine des diskurs – Tragödien an den Höfen, Nahbereichs eines Individuums sieht. (Luh- glückliches Leben in Arkadien mann 1994, 50 f.) Eines der letzten Marbacher Magazine be- Liebe ist in klassizistisch-barocken Tragö- legt mit zahlreichen Autografen eindrucks- dien ein Störelement in der von Menschen voll die semantische Polyvalenz der Aus- geschaffenen gesellschaftlichen Ordnung. sage „Ich liebe dich“. In einem Gespräch Über ihre Entstehung und ihre Auswirkun- versuchen der Lyriker Michael Lentz und gen werden Mythen erzählt. Die Liebe ist die Romanautorin Sibylle Lewitscharoff göttlichen Ursprungs, aber sie beglückt die Ordnung in diese Vielfalt zu bringen. Der Menschen nicht immer. Satz sei zuerst einmal eine „neue, strahlen- Die „Phädra“ des französischen Klassikers de Selbstdarstellung“, ein Sich-neu-Erfin- Jean Racine (Racine 1677, übersetzt von den. Die Literatur habe dabei die Aufgabe, Friedrich Schiller 1805), Gattin des Helden „Codes, Verhaltensweisen, Maßregelun- Theseus, ist Opfer eines Streits zwischen gen, Schemata“ zur Verfügung zu stellen, Göttern. Aus Rache dafür, dass Apoll das an deren Muster sich die Leute halten kön- Verhältnis der Venus zu Mars ausgeplau- nen, „eine große Hülle oder Stanzform für dert hat, verfolgt Venus dessen weibliche Tausende von Liebenden, die sich darin zu- Nachfahren. Nun liebt und begehrt Phäd- rechtfinden.“ (Lentz/Lewitscharoff 2011,11) ra, die Strahlende, ihren Stiefsohn Hippo- 12 Der Deutschunterricht 1/2013 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 12 29.01.13 08:34
© ullstein bild – The Granger Collection Abb. 1: Phädra und Hippolytos, Kupferstich nach Guérin, 19. Jh. Pierre Narcisse Guérin stellt die Verbannung des Hippolytos durch Theseus dar, die Phädra betrieben hatte, um ihre Lei- denschaft beherrschen und verheimlichen zu können, im Stil des Napoleonischen Klassizismus als heroische Szene. lyt und fühlt sich selbst durch diese Leiden- Dann macht sich die Raserei Luft in einem schaft erniedrigt und entwürdigt. Als sie das Bekenntnis, das zugleich Verzweiflung und ihr aufoktroyierte „Ich liebe dich“ so äu- Drohung ist (aus Szene II. 5): ßert, als sei es eine nachträgliche Liebeser- klärung an ihren vermissten Gatten, Hippo- Grausamer, du verstandst mich nur zu gut. lyts Vater, wendet der so Verehrte sich voll Genug sagt’ ich, die Augen dir zu öffnen. Grausen ab, er verachtet diese blutschände- So sei es denn! So lerne Phädra kennen rische Leidenschaft. Das verletzt Phädra ein Und ihre ganze Raserei. Ich liebe, zweites Mal. Getrieben von Liebe als „fu- Und denke ja nicht, dass ich dies Gefühl reur“ – tötet sie sich selbst, nachdem sie den Vor mir entschuld’ge und mir selbst vergebe, Stiefsohn der Liebe, die sie an sich selbst Dass ich mit feiger Schonung gegen mich ohnmächtig hasst, beschuldigt hat (Abb. 1). Das Gift genährt, das mich wahnsinnig macht: Hippolyt wird von seinem Vater Theseus Dem ganzen Zorn der Himmlischen ein Ziel, verflucht und von dem Gott Poseidon ge- Hass’ ich mich selbst noch mehr, als du mich hassest. tötet. Phädra erinnert sich (aus Szene I. 3): Während die Höflinge Ludwigs XIV. sich Mein Friede schien so sicher mir gegründet, in arkadischen Gefilden eine „natürliche“ Mein Glück mir so gewiss, da zeigte mir und „ursprüngliche“ erotische Freiheit er- Zuerst Athenä meinen stolzen Feind. träumten, ließen sie sich vom tragischen Ich sah ihn, ich errötete, verblasste Verlauf der Leidenschaftsexzesse anti- Bei seinem Anblick, meinen Geist ergriff ker Heldinnen erschüttern. Wichtig war Unendliche Verwirrung, finster ward’s dabei, dass diese Liebesleidenschaft das Vor meinen Augen, mir versagte die Stimme, Maß des „Natürlichen“ überschritt und der Ich fühlte mich durchschauert und durchflammt, von der Liebe Geschlagene in seinem tie- Der Venus furchtbare Gewalt erkannt’ ich, fen Fall als heroisches Opfer gesehen wer- Und alle Qualen, die sie zürnend sendet. den konnte. Der Deutschunterricht 1/2013 13 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 13 29.01.13 08:34
Aussichtslose und immerwährende Vereh- Zinober quillt auß Milch / Blutt auß den rung der unerreichbaren Geliebten in der Marmel-Ballen / Lyrik des barocken Petrarkismus1 und Ver- Der Augen schwartze Nacht läßt tausend nichtung des oder der Geliebten in der Tra- Blitze fallen / gödie sind zwei Kehrseiten derselben Me- Di kein behertzter Geist nicht ohne Brand daille. Die Liebeserfahrung ist ein das empfind’t. Leben bestimmender Blitzschlag, eine Fas- […] zination, die andere das Ich konstituieren- Sosius. Gedult / Vernunfft und Zeit schaff‘t de Kräfte, z. B. den Verstand, ausschaltet. endlich Heil und Rath. In beiden Fällen ist die Liebe als eine psy- Antonius. Nicht / wo Vernunfft und Zeit kein chische Energie außerhalb des Ichs gedacht, Regiment nicht hat. die in es eingreift, sei es als Amors Pfeil, Di Libe läß’t ihr Reich durch Klugheit nicht als Fluch der Venus oder aber als unzivili- verwirren; sierte Natur. Die Katharsis der Tragödie ist Der Vogel siht den Leim und läßt sich dennoch gleichbedeutend mit der wiederhergestell- kirren / ten Ordnung. Interessant für heutige Leser Di Mutte schaut das Licht / in dem sie sich ist auch, worüber nichts gesagt wird: über versängt / die Nachhaltigkeit der Liebesleidenschaft, Das schnelle Reh das Garn in welchem es über deren Unverträglichkeit mit anderen sich fängt […]2 Regelungen des Nahbereichs, zum Beispiel über Freundschaft oder Ehe. Von der barocken Tragödie wissen wir, dass Puder, Schminke, Spiegel, Insignien der die tragischen Helden hoch stehen, damit Schönheitspflege, verkehren – nach Ansicht sie tief fallen und die Zuschauer über die- der Männer – die Liebe in Geilheit, die „gold- sen tiefen Fall erschrecken. In Daniel Cas- gestickten Purpur-Betten in Mordgruben und per von Lohensteins „Cleopatra. Ein Trau- knecht’sche Ketten“. Die Liebe ist in dieser er-Spiel“ (1661) sind es die ägyptische Umgebung eine „Mißgeburth“, die das „Lie- Königin Cleopatra und ihr Geliebter, der rö- bes-Oel verknippfter Seelen“ Schiffbruch er- mische Feldherr Marcus Antonius, die die- leiden lässt. Liebe regelt im barocken Trauer- ses Schicksal erleiden. Die Liebe zwischen spiel nicht den Intimbereich der Individuen ihnen ist einer der Auslöser der ,Staatsak- Cleopatra und Antonius, sondern sie ist Teil tion‘. Antonius hat die Seeschlacht gegen von deren öffentlicher Existenz und somit ei- seinen ehemaligen Verbündeten Octavian, ne politische Angelegenheit. Nur Hirtinnen den späteren Kaiser Augustus, verloren. Er und Hirten in einem utopischen Arcadien, ist in Alexandria eingeschlossen, erhält das das als idyllisches Gegenbild zur höfischen Angebot freien Abzugs, wenn er Cleopatra Welt in einem Zwischenspiel (Ende des vier- ausliefert. Mit seinen Räten überlegt er (in ten Akts) vorgestellt wird, kennen so etwas der ‚ersten Abhandlung‘), was zu tun sei. wie die Harmonie zweier Seelen (Abb. 2). 1. Satz der Schäfer Sosius. Das schönste Weib der Welt ist keines Wie selig sind / die den Schmaragd der Auen / Zepters wehrt. […] Für der Paläste Gold erwehln! Antonius.Was habt ihr? daß der Neid auch Die nicht auf’s Eiß der glatten Ehrsucht tadeln kan an ihr? bauen / Und sich mit eig’nen Lastern quäln! Canidius. Anton / daß minste nicht. Di holden Die in den Kummer-freien Wiesen / Wangen lachen / Umb einen Kristallinen Fluß / Auf denen Schnee und Glutt zusammen Die Hürden für den Thron erkiesen / Hochzeit machen / Ein frey Gemütte für Verdruß; Ihr Himmlisch Antlitz ist ein Paradiß der Lust / Die ausser schönen Schäferinnen / Der Adern blauer Türcks durch flicht di zarte Brust / Sonst keine Ab-gott libgewinnen. (1) Vgl. den Beitrag von Meinolf Schumacher in diesem Heft. (2) Dieser Textauszug wurde in der originalen Schreibweise belassen, um einen Eindruck vom Abstand der Texte zum heutigen Stand der Sprache und der Mentalität anschaulich zu machen. 14 Der Deutschunterricht 1/2013 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 14 29.01.13 08:34
© ullstein bild - Heritage Images/Art Media Abb. 2: Nicolas Poussin: Et in Arcadia Ego, um 1638. Hier entziffern Hirten und Hirtinnen ge- meinsam eine antike Grabinschrift (in Arcadia Ego). Das Motiv des natürlichen und glückli- chen Lebens ist mit dem barocken des Memento mori verknüpft. 1. Gegen-Satz der Schäferinnen kann literarisch zur Identifikation angeboten Ja! Seelig sind di reine Tugend lieben! werden. ‚Heroisch‘ und bewundernswert ist Die aller Heuchelei sind feind! dann nicht die Liebe als Leidenschaft, son- Wo reiner Schertz ohn Argwohn wird dern deren gesellschaftliche Zähmung. getrieben / Wo man den schimpft / In diesem Sinne äußert sich Georg Chris- ders übel meint. toph Lichtenberg 1777 in seinem Essay Auch libt der nicht / der todte Steine liebet / „Über die Macht der Liebe“ (Lichtenberg Der sich nur zu erhöhn begehrt / 1967, 363). Der Satz, die Macht der Lie- Durch falsche Gunst / di nicht Vergnügen be sei unwiderstehlich, der von vielen mit giebet./ Di Seelen sind nur Liebens werth: tiefster Überzeugung geäußert werde, sei Nicht aber die geschmückten Gaben / pure Ideologie: Di keine Gegen-Liebe haben. Die unwiderstehliche Gewalt der Liebe, uns durch einen Gegenstand entweder höchst Der aufklärerische Diskurs: Liebe ist glücklich oder höchst unglücklich zu ma- ein Wagnis des Ich. Selbstfindung chen, ist poetische Faselei junger Leute, bei erlangt es durch Selbstkontrolle denen der Kopf noch im Wachsen begriffen ist, die im Rat der Menschen über Wahrheit Der Aufklärung ist das Erotische als Ein- noch keine Stimme haben und meistens so griff der Götter ein Ärgernis. Liebe ist für beschaffen sind, dass sie keine bekommen sie ein Humanum in dem Sinne, dass Geist können. und Verstand im Spiel sind, auch wenn es um Emotionen geht. Die Sitte garantiert Schon zwei Generationen zuvor hatte der auch dem Liebenden Freiheit. Setzt sich Leipziger Poetik-Professor Johann Chris- jemand der Liebe aus, so geht er das Risi- toph Gottsched (Abb. 3) diesen Leitsatz auf- ko ein, getäuscht oder verlassen zu werden, geklärten Denkens in seinem Drama „Der weil das Hauptproblem der Liebe ihre Un- sterbende Cato“ (1732) poetisch vorformu- beständigkeit ist. Verzicht und ‚Entsagung‘ liert: Die Tochter Arsene/Portia des Repu- Der Deutschunterricht 1/2013 15 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 15 29.01.13 08:34
© Kunstbesitz der Universität Leipzig, Kustodie Cato: Ich bin dein Vater nicht, wo Cäsars Liebe noch / In deiner Seelen brennt. Ersticke solche Flammen! Portia: […] Sagt, muss ein Römer denn, um Rom getreu zu scheinen, In seiner Seelen gar die Menschlichkeit verneinen / Und unempfindlich sein? Cato (aus tiefen Gedanken erwachend): Was sagst du? Rede nun!/ Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun? Portia (beweglich): Und muß die Tugend denn Natur und Trieb ersticken? Portia stellt die Liebe als Naturtrieb und Herzbrennen vor. Aber die Liebe ist der Idee von Pflicht, Familienrücksicht und po- litischer Gesinnung wie selbstverständlich untergeordnet. Der coup de foudre muss diszipliniert werden. Der Rigorismus, mit dem diese Position vertreten wird, ist Indiz für den Rigorismus, mit dem im Menschen- bild der frühen Aufklärung die Identität ei- ner Person als animal rationale festgestellt wurde. Die Liebesempfindungen gehören, wie die Elternliebe, zu den Trieben, und diese sind – in einer moralisch gedachten Weltordnung – der Ratio unter- und nach- Abb. 3: Leonhard Schorer: Bildnis des Theater- und Sprachreformers geordnet. Die ‚heroische‘ Entscheidung der Johann Christoph Gottsched, 1744. Gottsched war Professor für Poe- Tochter ist Gehorsam aus Überzeugung. tik, Logik und Metaphysik in Leipzig. Sein Drama „Der sterbende Ca- to“ verstand er als Muster für deren praktische ‚Anwendung‘. Emotionsbetonte Aufklärung: Erotikliebe und Empfindungsliebe blikaners Cato hat sich, ohne ihn zu ken- im Diskurswettbewerb nen, in Cäsar verliebt, der die Kaiserwürde in Rom anstrebt, also Cato als seinen Feind In Lessings erstem Bürgerlichen Trauer- bekämpft. Liebe und politisches Konzept ge- spiel „Miss Sara Sampson“ (1755) dominiert raten in Konflikt. Gottscheds Prinzip, dass nicht mehr der Verstand das Verhalten der die Literatur vorbildhaftes Verhalten und den Person, sondern deren emotionale Grund- Sieg der Ratio über das Begehren zeigen soll, struktur. Die ist nicht genetisch festgelegt, hört sich in den Dramendialogen so an. sondern entwickelt sich in Abhängigkeit von Arsene bekennt ihrer Vertrauten Phenice der geschlechtsspezifischen Erziehung, von (Szene I.1): Vorbildern oder Verführern. Lessing macht diese Problematik zum Gegenstand öffentli- Arsene: Ich habe freilich mich bisher vor dir verstecket / cher Reflexion und theatralischer Belehrung. Und meine Schwachheit noch kein einzig Mal entdecket […] Er nutzt den Appell an das moralische Ge- Wie grausam pflegt man nicht mit Fürsten umzugehn! / wissen der Zuschauer als Mittel der Sym- Man ist in Wahrheit nicht sein eigner Herr zu nennen. / pathielenkung. Geworben wird für die auf Ein unschuldvoller Trieb, davon die Herzen brennen, / Korrespondenz der Gefühle und für eine auf Muß ein Verbrechen sein. Man opfert uns dem Staat, / Dauer hin angelegte Liebe. Und wer aus Sehnsucht liebt, begeht den Hochverrat. Die junge und schwärmerische Sara Samp- son hat sich in Mellefont verliebt, ist mit Cato verdammt die Liebe seiner Tochter zu ihm ‚durchgebrannt‘. Sie hofft darauf, dass einem Feind der Republik (Szene IV.2): Mellefont ihr sein Eheversprechen einlöst. 16 Der Deutschunterricht 1/2013 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 16 29.01.13 08:34
Das Paar wird von Marwood (Abb. 4), der © ullstein bild – Roger-Viollet ehemaligen Geliebten Mellefonts, in ei- nem Gasthof nahe der Grenze gefunden. Marwood will Mellefont zurückgewinnen und glaubt, das könne sie am besten errei- chen, wenn sie Sara über Mellefonts Cha- rakter aufklärt. Die empfindsame Sara hält das für tückisch, sie ist überzeugt, dass ih- re ‚wahre‘ Liebe Mellefont auf ewig an sie binden wird. Sie schließt auch die Toch- ter, die Mellefont mit der Marwood hat, in diese Liebe ein. Denn ihr Ideal ist die auf Liebe gegründete Kleinfamilie. Ihr Verhal- ten ist das provozierend Innovative im Lie- besdiskurs: Sara Sampson geht ein Lie- besverhältnis auf ‚Vorschuss‘ ein, weil der Blitzschlag, der sie getroffen hat, sie die Familienregeln, denen sie als tugendhafte Tochter unterliegt, negieren ließ (Abb. 5). Ihr Wunsch ist, ihre Liebe durch die Ehe vor ihrem Vater und vor Gott zu legitimieren. Als die Vertreterin des überkommenen Ero- tikdiskurses Marwood erkennt, dass Melle- font nun ganz auf Saras Empfindungsliebe eingeschworen ist, vergiftet sie Sara. Melle- font verabscheut sie und tötet sich. Das ist ein programmatisches Ende: Die empfind- sam und ganz aus dem Gefühl heraus lie- Abb. 4: Porträt der Madame de Pompadour nach Maurice Quentin bende Sara ist das Opfer, dem die Sympa- de La Tour, um 1740. Mme de Pompadour, die Mätresse des französi- thie des Autors und des Publikums gehört, schen Königs Ludwig XV., galt als Musterbeispiel der einflussreichen, Marwood muss am Ende als Vertreterin ei- eleganten Hofdame der Rokokogesellschaft. ner unmoralischen Liebesauffassung abtre- ten. Marwood und Mellefont sprechen sich aus (Szene II.3): das den „Unterschied von Liebe und Wol- lust“ als Maßstab nimmt. Marwood (vertraulich): Höre nur, mein lie- Mellefonts Selbstanalyse (Szene IV.2): ber Mellefont; ich merke wohl, wie es itzt mit dir steht. Deine Begierden und dein Ge- Mellefont (nachdem er einigemal tiefsinnig schmack sind itzt deine Tyrannen. Lass es auf und nieder gegangen). Was für ein Rätsel gut sein; man muss sie austoben lassen. Sich bin ich mir selbst! Wofür soll ich mich halten? ihnen widersetzen, ist Torheit. Sie werden Für einen Toren? oder für einen Bösewicht? am sichersten eingeschläfert und endlich – oder für beides? – […] Warum muss ich gar überwunden, wenn man ihnen freies eingeschmiedet werden und auch sogar den Feld lässt. […] elenden Schatten der Freiheit entbehren? – Mellefont: Marwood, Sie reden vollkommen Eingeschmiedet? Nichts anders! – Sara Sam- Ihrem Charakter gemäß, dessen Hässlichkeit pson, meine Geliebte! Wieviel Seligkeiten lie- ich nie so gekannt habe, als seitdem ich in gen in diesen Worten! Sara Sampson, meine dem Umgange mit einer tugendhaften Freun- Ehegattin! – Die Hälfte dieser Seligkeiten ist din die Liebe von der Wollust unterschei- verschwunden! und die andre Hälfte – wird den gelernt. verschwinden. – Ich Ungeheuer! Die Rede der Marwood verfängt weder Noch ist Mellefont nicht so weit, dass er beim Adressaten, der die empfindsame Lie- empfindsame Liebe und Ehe zusammen- be kennengelernt hat, noch beim Publikum, bringen kann. Und das wird von ihm selbst Der Deutschunterricht 1/2013 17 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 17 29.01.13 08:34
reichbaren bürgerlichen Ideals der Liebe als Familienfundament‘. Liebesdiskurs im Sturm und Drang – Missverhältnisse zwischen Begeiste- rung und Empfindung In Friedrich Schillers: „Kabale und Liebe“ (1784) sehen und lieben Ferdinand, adeli- ger Offizier, und Luise, Tochter einer klein- bürgerlichen Familie, einander. Sie werden Opfer einer Intrige, die darauf setzt, dass Ferdinand Eifersucht empfindet, wenn er die Exklusivität seiner Liebesbeziehung infrage gestellt sieht. Ferdinands „Ich lie- be dich“ schlägt um in den Gedanken „Ich hasse dich“, weil er, blind durch Argwohn, nicht ertragen kann, dass seine leidenschaft- liche Liebe ein zu schwaches Echo bei sei- ner Partnerin erzeugt habe. Abb. 5: Porträt von Caroline Schelling-Schle- Luises Liebe wird dem Zuschauer zuerst als gel, Kupferstich nach Johann Friedrich Au- ein gesteigertes Lebensgefühl vorgeführt. gust Tischbein, um 1798. Caroline Schelling- Die Sprache, die das bürgerliche Mädchen Schlegel (1763–1809) war das Muster einer dazu benutzt, ist die des angelesenen En- gebildeten, emanzipierten, empfindungs- thusiasmus. starken jungen Frau. Sie hat den ‚coup de Liebesenthusiasmus weiblich (Szene I.3): foudre‘ mehrfach erfahren. Caroline wurde ihrer selbstbestimmten Lebensweise wegen Luise: Dies bisschen Leben – dürft’ ich es von ihren Zeitgenossen teils geschätzt (Goe- hinhauchen in ein leises, schmeichelndes the), teils gemieden (Schiller). An ihrer Bio- Lüftchen, sein Gesicht abzukühlen. – Dies grafie lässt sich der Übergang von der Gene- Blümchen Jugend – wär’ es ein Veilchen, ration der empfindsamen zur romantischen und er träte drauf, und es dürfte bescheiden Frau erkennen. unter ihm sterben! – Damit genügte mir, Va- ter! Wenn die Mücke in ihren Strahlen sich sonnt – kann sie das strafen, die stolze ma- und auch von dem Publikum als Charakter- jestätische Sonne? fehler empfunden. Mit dem Heiligenschein der Tugendhaften versehen wird hingegen Der Vater ist skeptisch. Er billigt diese Lie- die empfindsam Liebende. Merkmale dieser be nicht. Das stimuliert eine weitere Über- Verbindung von Geschlechter- und Famili- zeugungsrede. Diese ist eine empfindsame enliebe ist das Verzeihen und die Fürsorge Rede über den von Gott gesandten coup de für Mellefonts und Marwoods Tochter Ara- foudre: bella. Eros geht eine Allianz mit Caritas ein. Lessings Trauerspiel lässt keinen Zweifel Luise: Nein! er meint es anders, der gute daran: Sara, ihre Bemühung um eine Ver- Vater. Er wird nicht wissen, dass Ferdinand bindung von empfindsamer Liebe und Ehe, mein ist, mir geschaffen, mir zur Freude ist die literarische Kodierung eines Ideals. vom Vater der Liebenden. (Sie steht nach- Die Wirklichkeit der bürgerlichen Familie denkend.) Als ich ihn das erste Mal sah – bleibt zunächst davon unberührt. Es blei- (rascher) und mir das Blut in die Wangen ben die selbstzerstörerischen Schuldgefüh- stieg, froher jagten alle Pulse, jede Wallung le, wenn der coup de foudre Familienregeln sprach, jeder Atem lispelte: Er ist’s! – und verletzt. Bürgerliches Trauerspiel kann hier mein Herz den Immermangelnden erkannte, übersetzt werden als ‚Trauerspiel des uner- bekräftigte: Er ist's! und wie das widerklang 18 Der Deutschunterricht 1/2013 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 18 29.01.13 08:34
durch die ganze mitfreuende Welt! Damals hin in Luisens Arme fliegen. Die Stürme des – o damals ging in meiner Seele der erste widrigen Schicksals sollen meine Empfin- Morgen auf. Tausend junge Gefühle schos- dung emporblasen, Gefahren werden mei- sen aus meinem Herzen, wie die Blumen aus ne Luise nur reizender machen. dem Erdreich, wenn’s Frühling wird. Ich sah keine Welt mehr, und doch besinn’ ich mich, Es treffen zwei Liebeskonzepte aufeinan- dass sie niemals so schön war. Ich wusste der. Ferdinand berauscht sich am eigenen von keinem Gott mehr, und doch hatt’ ich Gefühlsüberschwang. Seine Liebe fordert ihn nie so geliebt. die Planungen seines Vaters in die Schran- ken. Aber sein Liebes-Enthusiasmus hat ei- Die männliche Liebesbegeisterung artiku- ne schwache Seite: Liebe und Eifersucht ge- liert sich anders. Das zeigt sich eine Sze- hören im Diskurs über Leidenschafts-Liebe ne später (I.4), als Ferdinand auftritt. Die eng zusammen. Der Liebende kann nie si- Liebe ist hier nicht mit Opfer-, sondern mit cher sein, dass das, was er fühlt, das Echo, Herrschaftsdenken verbunden. Der Lieben- auf das er bei seiner Partnerin hofft, findet. de verfügt, dank seiner Leidenschaft, über Verzweiflung entsteht aus Unsicherheit. die Partnerin: „Ich liebe dich“ ist die Holophrase,3 die in einer Beziehung alles sagt, aber uneindeutig Ferdinand: Du bist blass, Luise? bleibt. Für Luise bedeutet ‚ich liebe dich‘ Luise (steht auf und fällt ihm um den Hals): Hingabe und Opferbereitschaft, für Ferdi- Es ist nichts! nichts! Du bist ja da. Es ist nand ist die gleiche Aussage ein Appell ‚lie- vorüber. be mich, wie ich dich‘. Ferdinand (ihre Hand nehmend und zum Luises Liebe ist die der Sara Sampson ver- Munde führend): Und liebt mich meine Lu- wandte Empfindungsliebe. Luise hält sie für ise noch? Mein Herz ist das gestrige, ist's stark, aber nicht berechtigt und in der Lage, auch das deine noch? Ich fliege nur her, will gesellschaftliche Widerstände zu brechen. sehen, ob du heiter bist, und gehn und es Neben der Liebe zu Ferdinand kennt sie die auch sein – Du bist's nicht. […] Liebe zu ihrer Familie, vor allen zu ihrem Wärest du ganz nur Liebe für mich, wann Vater, und die Liebe zu Gott. Sie stellt sich hättest du Zeit gehabt, eine Vergleichung zu die Liebesbeziehung zu Ferdinand als in- machen? Wenn ich bei dir bin, zerschmilzt nig und ewig vor, aber auch als vereinbar meine Vernunft in einen Blick – in einen mit der Liebe zum Vater. Selbst im Jenseits, Traum von dir, wenn ich weg bin, und du denkt sie, wird sie fortbestehen, weil sie ja hast noch eine Klugheit neben deiner Lie- göttliches Geschenk ist. Auch das ist ein be? – Schäme dich! Jeder Augenblick, den Traum, der der Realität nicht Stand hält. Lu- du an diesen Kummer verlorst, war deinem ises Wirklichkeit ist geprägt durch diskur- Jüngling gestohlen. sive Widersprüche. In der Welt Ferdinands, sieht sie, gelten die Standesregeln, die Ero- Für Luise ist die Rede Ferdinands adelige tik und Familienbindung auseinanderhalten, Liebes-Rhetorik, für ihn selbst ist sie Be- in ihrer eigenen Welt die Regeln der emp- kenntnis: amor vincit omnia. Das hat Aus- findsamen Kleinfamilie (mit der besonderen wirkungen auf ihre Einschätzung der Le- Bindung der Tochter an den Vater). benswirklichkeit: Die Liebessemantik hat sich verschoben. Nicht Leidenschaft und Verführung, son- Luise: O wie sehr fürcht' ich ihn – diesen dern Enthusiasmus und zärtliche Anhäng- Vater! lichkeit sind Trumpf. Luises Tragik ist, dass Ferdinand: Ich fürchte nichts – nichts – als ihre eigene Liebe keinen Platz in der Welt die Grenzen deiner Liebe. Lass auch Hin- findet zwischen dem Liebesanspruch Ferdi- dernisse wie Gebirge zwischen uns treten, nands einerseits und der besitzergreifenden ich will sie für Treppen nehmen und drüber Liebe der Familie andererseits. (3) Holophrase: eine Formel (Folge von Wörtern), die wie ein Wort verwendet wird. Der Ausdruck wird durch diesen Begriff auf die Ebene des frühkindlichen Spracherwerbs gestellt. Der Deutschunterricht 1/2013 19 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 19 29.01.13 08:34
Klassik: Leidenschaft – gedämpft O könntest du ein Weib sein und empfinden! / durch Pflicht und Sitte Leg diese Rüstung ab, kein Krieg ist mehr, Bekenne dich zum sanfteren Geschlechte! / In den klassischen Werken geht es im Sin- Mein liebend Herz flieht scheu vor dir zurück, ne Lichtenbergs um einen Kompromiss So lange du der strengen Pallas gleichst. zwischen Liebe als Leidenschaft und freier Johanna. Was foderst du von mir! Entscheidung als konstitutiver Struktur der Sorel. Entwaffne dich! Person. Die ‚klassische Dämpfung‘ exzes- Leg diese Rüstung ab, die Liebe fürchtet, / siver Leidenschaft, der Prozess der Subli- Sich dieser stahlbedeckten Brust zu nahn. / mierung durch Selbstkontrolle, macht aus O sei ein Weib und du wirst Liebe fühlen! den klassisch Liebenden reflektierende Per- sonen. In Schillers Romantischer Tragödie Das heißt, in diesem Diskurs wird sponta- „Die Jungfrau von Orleans“ (1801) erlebt nes Liebesempfinden der weiblichen ‚Na- Johanna den Blitzschlag der Liebe als Verrat tur‘ zugesprochen, deren Unterdrückung an ihrer Sendung. Schiller versteckt ihn in im Dienste einer ‚Aufgabe‘ oder ‚Sen- einer Regieanmerkung. Johanna, die ihren dung‘ ist heroisch und ‚unnatürlich‘ zu- englischen Gegner Lionel im Zweikampf gleich. Die Unterordnung einer Emotion besiegt hat, holt zum Todesstoß aus (Sze- unter ein geistiges Prinzip indes ist für ne III.10): Schiller Zeichen der geistigen Freiheit, also – im Sinne der Aufklärungstradition Johanna: Erleide, was du suchtest. / – ein Humanum. Die heilge Jungfrau opfert dich durch mich! (In diesem Augenblicke sieht sie ihm ins Gesicht, sein Anblick ergreift sie, sie bleibt unbeweglich stehen und lässt dann Irritation im romantischen Diskurs: langsam den Arm sinken) Kosmische Herrschaft der Liebe Lionel: Was zauderst du und hemmst den Todesstreich? / Nimm mir das Leben auch, du nahmst den Ruhm, / Die heroische Aufopferung der Liebe auf Ich bin in deiner Hand, ich will nicht Schonung. dem ‚Altar der Sendung‘ widerstreitet fun- (Sie gibt ihm ein Zeichen mit der Hand, sich zu entfernen) damental der romantischen Sicht. Der ro- Entfliehen soll ich? Dir soll ich mein Leben / mantische Liebesdiskurs greift auf Konzep- Verdanken? – Eher sterben! te der neuplatonischen Liebeslehre zurück. Johanna (mit abgewandtem Gesicht): Rette dich! Liebe wurzelt in einem numinosen Unter- Ich will nichts davon wissen, dass dein Leben / grund der Welt, vereinzelt sich in den Lie- In meine Macht gegeben war. benden, die streben zurück zur Einheit mit- einander und mit dem Urgrund der Welt. Später nennt Johanna ihre Erfahrung „Mein Eros ist das kosmisch schöpferische Prin- Unglück, meine Schande, mein Entsetzen“. zip. Das romantische Ego ist über Eros mit Da ihre Mission, Frankreich zu retten, gött- einem zweiten Individuum verbunden. Es lich ist, kann der coup de foudre, der die ist ganz es selbst, wenn es sich mit seiner Tötung des Engländers Lionel verhinder- Leidenschaft, die es zu Alter hinzieht, iden- te, nur ein Werk des Versuchers sein. Sie tifiziert. Dabei muss Liebe zwischen ein- klagt sich in einem Monolog (Szene IV.1) zelnen menschlichen Individuen nicht nur an: „Arglistig Herz! Du lügst dem ewgen ihrem jeweiligen Selbst entsprechend und Licht“. Gleichzeitig wird von den Figuren also beglückend, sie kann auch ‚oktroyiert‘ um Johanna herum die Liebe als ein Huma- sein. Das ist dann der Fall, wenn der coup num und die Haltung der Johanna als un- de foudre in Desorientierung, etwa in einen weiblich und befremdlich empfunden. So- wahnhaften Zustand führt oder in das Ge- rel, die Geliebte des französischen Königs, genteil, in blinden Hass, umschlägt (Abb. 6). sagt (Szene IV.2): In Heinrich von Kleists „Penthesilea“ (4) Kleist hatte die achte von Schuberts Vorlesungen „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Phöbus (1. Jg. 4./5. Stück 1808, 67 f.) abgedruckt. Von der menschlichen Seele heißt es dort, in ihr seien geistige und sinnliche Regungen miteinander zu einem „gefahrvollen und unsicheren Gemisch“ gebracht. 20 Der Deutschunterricht 1/2013 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 20 29.01.13 08:34
(1808) hatte die Heldin schon bei der ersten © ullstein bild – Archiv Gerstenberg Begegnung mit Achill ihre Selbstkontrolle verloren. Odysseus beobachtet, wie sie er- rötet, „als schlüge ringsum ihr / Die Welt in hellen Flammenlohen auf“. Sie selbst sagt (15. Auftritt), wie ihre Gedanken um Achill kreisen, Den Lieben, Wilden, Süßen, Schrecklichen./ Den Überwinder Hektors! O Pelide! Mein ewiger Gedanke, wenn ich wachte, Mein ew’ger Traum warst du! Auch das Bild des Blitzschlags verwendet Kleist in ihrer Rede: Geblendet stand ich, als du jetzt entwichen, Von der Erscheinung da – wie wenn zur Nachtzeit Der Blitz vor einen Wandrer fällt, die Pforten Elisiums, des glanzerfüllten, rasselnd, Vor einem Geist sich öffnen und verschließen. Im Augenblick, Pelid’, errieth ich es, Von wo mir das Gefühl zum Busen rauschte; Der Gott der Liebe hatte mich ereilt. Im Verlaufe des Dramas wird klar, dass der Status der Amazonenkönigin durch die Liebesleidenschaft für den Feind Achill das gesamte System des Amazonenstaa- tes bedroht. Auch Penthesileas Selbstkon- zept steht auf dem Spiel. Sie formuliert ih- rer „Seele Donnersturz“ nach Achills Tod in Abb. 6: Achilleus tötet Penthesilea. Halsamphora des Exekias, spätar- ihren letzten Worten (23. Auftritt): chaisch um 530 v. Chr. Die Vasenmalerei zeigt die bei Homer erzähl- te Geschichte. Danach tötet Achilleus die Amazone im Zweikampf, Prothoe: Gib her. nimmt ihr den Helm ab, und der ‚coup de foudre‘ trifft ihn beim vol- Penthesilea: Denn jetzt steig ich in meinen len Anblick der Toten. Busen nieder / Gleich einem Schacht und grabe, kalt wie Erz, vergleichbar. Wie in einem Mesmer’schen Mir ein vernichtendes Gefühl hervor. Experiment, in dem Anziehung und Ab- Dies Erz, dies läutr’ ich in der Glut stoßung in der Seele als Naturkräfte wir- des J ammers / ken, ist diese Hassliebe ebenso elementar Hart mir zu Stahl, tränk es mit Gift sodann, wie „unerhört“ (Daiber 2005, 59). Sie reißt Heißätzendem, der Reue, durch und durch; die Liebenden aus den bisherigen Bindun- Trag es der Hoffnung ew’gem Amboss zu, gen und negiert deren bislang gültige Ich- Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch; Konzepte. Penthesilea kann das sie über- Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust; fallende Befremdliche ihres verwirrenden So! So! So! So! und wieder! – Nun ist’s gut. Zustandes nur in einer metaphorischen Be- (Sie fällt und stirbt) schreibung erfassen. Sie vergleicht ihr Ich mit einem Erzbergwerk. In den untersten Eros ist hier ganz eng mit Thanatos ver- Schichten liegt das vernichtende kosmische bunden. Das „vernichtende Gefühl“ selbst Gefühl des Eros als das Erz; es wird durch ist sprachlos, einer elektrischen Ladung die Begegnung mit Achill geschürft und ge- Der Deutschunterricht 1/2013 21 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 21 29.01.13 08:34
fördert, in der Esse des Jammers (gemeint in doppeldeutiger und rätselhafter poeti- sein kann die Erfahrung des coup de foudre scher Sprache, dass das Lebensprinzip Eros als Verlust ihrer Entscheidungsfreiheit) ge- in diesem Kontext kein glückverheißendes, schmolzen, durch Reue (gemeint sind of- humanes, sondern ein kosmisches ist. Und fenbar ihre Reaktion auf die Konflikte mit als solches über den Glücksanspruch des den Regeln der Amazonengesellschaft) ge- einzelnen Menschen hinweggeht. härtet und auf dem Amboss der Hoffnung (dass Gegenliebe zu einer ‚Lösung‘ im Sin- ne der Amazonenregeln führen könne) ge- Fazit schmiedet, zu einem Dolch verarbeitet, mit dem sie sich nun selbst töten wird. Die me- Wie ist es möglich, dass Dramenfiguren taphorische Umschreibung der Liebe als dem Publikum Liebesempfindungen so Stationen der Metallverarbeitung, bezogen kommunizieren, dass sie verstanden wer- auf Kernbegriffe aus der christlichen Leh- den? Wir haben es „schlicht gesellschaftlich re von Seele und Ewigkeit (Jammer, Reue, gelernt“, sagt Luhmann. (Luhmann 1994, Hoffnung), betont nicht nur das Gewaltsa- 76 ff.) Das Modell, nach dem Phädra in Ra- me des psychischen Vorgangs, sie belegt cines oder Antonius in Lohensteins Tragö- auch, dass in einer solchen Verschmelzung die agieren, besagt: Liebe ist ein von den physischer und psychischer Vorgänge Lie- Göttern verhängtes Begehren. Sie wird seit be nichts Persönliches ist. Eros gehört in Lessings und Schillers bürgerlichen Trau- eine Reihe mit religiösen und kosmischen erspielen mit dem Glauben verbunden, dass Kräften.4 Penthesileas ‚ich liebe dich‘ heißt sie – als ‚wahre‘ Liebe – dauerhaft ist, auch weder ‚ich begehre dich‘ noch ‚ich empfin- dann, wenn man weiß, dass das für die Lei- de innige Freundschaft für dich‘, sondern denschaft nicht gilt. Liebe ist Enthusiasmus ‚deine und meine Seelen sind auf Gedeih und Hingabe, insofern paradox, als sie die und Verderb aneinander gekettet‘. Demnach ganze Person erfüllt und fordert, dass es bei kann Penthesileas Selbsttötung auch als ein dem Geliebten ebenso sei, ohne sicher zu Akt der Befreiung des Ich aus den Fesseln sein, ob es wirklich so ist. In den Liebes- der kosmischen Leidenschaft gesehen wer- auffassungen, die in die Aufklärungstraditi- den. Das Paradox besteht darin, dass das on einzuordnen sind, besteht die Paradoxie (rohe) Erz des Gefühls ausgerechnet zu ei- darin, dass eine Wertehierarchie zur Dis- nem Werkzeug geschmiedet wird, mit dem ziplinierung der Leidenschaft existiert. Es das Ich in einem Akt der Entscheidung sich kann eine Sendung, ein Auftrag, eine mo- selbst vernichtet. ralische Norm sein, die die Liebe konter- Penthesilea sei ein „Produkt einer umfas- kariert. Erst in der Romantik entstehen die senden Phantasie“, sagt Friedrich Schle- Fantasien eines das gesamte Ich elementar gel. Er meint damit, dass diese Kunstfigur desorientierenden Eros, der nicht von außen den Eros als Liebesraserei in seiner Wider- in das Ich eingreift, sondern aus dessen In- sprüchlichkeit zeigt. Diese Verkettung ein neren herausbricht bzw. die individuelle Er- ander widerstreitender Facetten des Gefühls fahrung mit dem Ganzen des Weltprozesses scheint an der Oberfläche der „fureur“ der verknüpft. j Phädra zu gleichen. Der Epochenumbruch manifestiert sich in der Variation des Mus- ters: Nicht die Göttin Venus schickt eine Quellen verderbliche Leidenschaft, die sich dann Gottsched, Johann Christoph (1966) [1732]: wie eine Infektion im Bewusstsein der her- Sterbender Cato. Ein Trauerspiel. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart. ausgehobenen menschlichen Figur einnis- Kleist, Heinrich von (1964) [1808]: Penthesilea. tet, sondern Penthesileas Seele ist, wie die In: Ders.: Sämtl. Werke und Briefe. Hg. von Erzgrube, Teil des alles umfassenden tellu- Helmut Sembdner. 3. Aufl. München. Bd. 1, rischen Eros. Penthesilea entwickelt dann 321– 428. selbst – unter dem Einfluss psychisch wirk- Lessing, Gotthold Ephraim (o. J.) [1755]: Miss Sara Sampson. In: Ders.: Miss Sara Samp- samer Normen – ihre elementare Leiden- son. Stuttgart. schaft zu dem Instrument, das ihr physi- Lichtenberg, Georg Christoph (1967) [1777]: sches Leben zerstört. Kommuniziert wird Über die Macht der Liebe. In: Ders.: Wer- 22 Der Deutschunterricht 1/2013 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 22 29.01.13 08:34
ke in einem Band. Hg. von Peter Plett. Ham- Daiber, Jürgen (2005): „Nichts Drittes … in der burg, 363 – 367. Natur?“ Kleists Dichtung im Spiegel romanti- Lohenstein, Daniel Casper von (1965) [1661]: scher Selbstexperimentation. In: Kleist-Jahr- Cleopatra. Trauerspiel. Hg. von Ilse-Marie buch 2005, 45 – 66. Barth. Stuttgart. Firges, Jean (2008): Jean Racine. Phèdre. Die Schiller, Friedrich von (o. J.) [1784]: Kabale und Dämonie der Liebe. Exemplarische Reihe Li- Liebe. Stuttgart. teratur und Philosophie 23. Annweiler. Schiller, Friedrich von (o. J.) [1801]: Die Jung- Lentz, Michael/Lewitscharoff, Sibylle (2011): frau von Orleans. Stuttgart. Gespräch mit Heike Gfrereis über „Ich liebe Schiller, Friedrich von (1996) [1805]: Phädra. dich!“. In: Deutsche Schillergesellschaft (Hg.): Trauerspiel von Racine (1677). In: Schiller- Ich liebe dich! Marbacher Magazin 136. Nationalausgabe, Bd. 15.II [Übers. aus dem Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Französischen]. Hg. von W. Hirdt. Weimar, Codierung von Intimität. Frankfurt am Main. 274 – 387. Reinhardt-Becker, Elke (2004): Liebe als Ro- man? Skizzen zu ihrer Semantikgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. In: Frank Be- Literatur cker (Hg.): Geschichte und Systemtheorie. Böhm, Elisabeth (2011): Sollbruchstelle Roman- Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am tik? Ein wissenschaftsgeschichtlicher Blick Main, 246 – 277. auf die Leistungsfähigkeit der Systemtheo- Schubert, Gotthilf Heinrich (1808): Ansichten rie für die Literaturgeschichtsschreibung. In: von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Mitteilungen des Deutschen Germanistenver- Dresden [www.archive.org/details/ansichten- bandes 58, H. 4, 387– 398. vonder01schugoog] Der Deutschunterricht 1/2013 23 DU_1_2013_012-023_Fingerhut.indd 23 29.01.13 08:34
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