COVID-19 und die Menschenrechte Die Krise trifft uns alle - APRIL 2020

Die Seite wird erstellt Stefan-Santiago Freund
 
WEITER LESEN
COVID-19 und
die Menschenrechte
       Die Krise trifft
             uns alle

            APRIL 2020
Deutsche Übersetzung: Deutscher Übersetzungsdienst der Vereinten Nationen, New York (DÜD-VN).

         Fragen zur Übersetzung sind an den DÜD-VN zu richten, der die Verantwortung
               für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Übersetzung übernimmt.

                                Copyright @ Vereinte Nationen
Die Menschenrechte als Dreh- und
  Angelpunkt der Krisenbewältigung

     Sie lenken den Fokus auf den Menschen und führen zu besseren Ergebnissen
  Die Menschenrechte spielen bei der Bekämpfung der Pandemie eine Schlüsselrolle, sowohl im
  Hinblick auf den Gesundheitsnotstand als auch hinsichtlich der weitreichenden Auswirkungen auf
  das Leben und die Existenzgrundlagen der Menschen. Bei den Menschenrechten steht der Mensch
  im Mittelpunkt. Konsequent an der Achtung der Menschenrechte ausgerichtete Maßnahmen zur
  Überwindung der Pandemie sind erfolgreicher, da sie die Gesundheitsversorgung aller sicherstellen
  und die Würde des Menschen wahren. Sie sensibilisieren uns dafür, wer am meisten leidet, warum
  das so ist und was dagegen getan werden kann. Sie ebnen heute den Weg dafür, dass Gesellschaften,
  Entwicklung und Frieden nach Bewältigung der Krise gerechter und nachhaltiger sind als zuvor.

     Warum sind die Menschenrechte                             Maßnahmen ergriffen werden, um solche unbe-
                                                               absichtigten Folgen abzumildern.
     bei den Maßnahmen gegen
     COVID-19 so wichtig?                                      Die Vereinten Nationen verfügen mit den Men-
                                                               schenrechten über ein mächtiges Instrumen-
  Die Welt erlebt derzeit eine beispiellose Krise.             tarium, das Staaten und ganze Gesellschaften in
  Im Mittelpunkt steht ein weltweiter Gesundheits-             die Lage versetzt, auf Bedrohungen und Krisen
  notstand, wie es ihn in diesem Ausmaß seit                   so zu reagieren, dass dabei die Menschen im
  einem Jahrhundert nicht gegeben hat und der                  Mittelpunkt stehen. Betrachten wir die Krise und
  weltweite Gegenmaßnahmen mit weitreichenden                  ihre Auswirkungen unter dem Aspekt der Men-
  Folgen für unser wirtschaftliches, gesellschaft-             schenrechte, rückt die Frage in den Mittelpunkt,
  liches und politisches Leben erfordert. Vorrang              wie sich die Krise auf die Menschen vor Ort aus-
  hat dabei das Ziel, Leben zu retten.                         wirkt, insbesondere auf die Schwächsten unter
                                                               uns, und was jetzt und langfristig dagegen getan
  Angesichts der Ausnahmesituation und um
                                                               werden kann. Auch wenn es sich in dieser
  Leben zu erhalten, bleibt den Ländern keine
                                                               Publikation um Empfehlungen handelt, ist zu
  andere Wahl, als außerordentliche Maßnahmen
                                                               betonen, dass die Staaten zur Einhaltung der
  zu ergreifen. Weitreichende Ausgangsbeschrän-
                                                               Menschenrechte verpflichtet sind.
  kungen, die die Übertragung des Virus verlang-
  samen sollen, schränken notwendigerweise die                 Die Gewährleistung der Menschenrechte für alle
  Bewegungsfreiheit ein und damit auch viele                   stellt jedes Land der Welt vor Herausforderungen
  andere Menschenrechte. Solche Maßnahmen                      unterschiedlichen Ausmaßes. Der Gesundheits-
  können unbeabsichtigt die Existenzgrundlagen                 notstand entwickelt sich zurzeit rasch zu einer
  und die Sicherheit der Menschen, ihren Zugang                Krise, in der alles zusammentrifft: wirtschaft-
  zu medizinischer Versorgung (nicht nur bei                   licher und sozialer Notstand, fehlender Schutz
  COVID-19), Nahrung, Trinkwasser, sanitären                   und Menschenrechtsmängel. In manchen Län-
  Anlagen, Arbeit, Bildung und auch zu Freizeit-               dern geraten die Menschenrechte und andere
  aktivitäten beeinträchtigen. Es müssen                       internationale Rechtsschutzsysteme aufgrund

3 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
anhaltender Krisen, insbesondere bewaffneter                Ausmaß und eine Schwere erreicht, die
Konflikte, zusätzlich unter Druck. Die COVID-19-            Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen
Krise hat die Verwundbarkeit derjenigen in der              Gesundheit rechtfertigen. Diese Publikation stellt
Gesellschaft, die am wenigsten geschützt sind,              in keiner Weise einen Versuch dar, den Staaten
weiter verschärft. Sie lässt tiefgreifende wirt-            bei der Festlegung eines wirksamen Vorgehens
schaftliche und soziale Ungleichheiten sowie                gegen die Pandemie die Hände zu binden. Ziel
unzulängliche Gesundheits- und Sozialschutz-                ist es vielmehr, ihnen mögliche Fallen bei der
systeme allzu deutlich hervortreten – Probleme,             Reaktion auf die Krise aufzuzeigen und Möglich-
die im Rahmen der öffentlichen Gesundheits-                 keiten vorzuschlagen, wie aus der Fokussierung
maßnahmen dringend angegangen werden                        auf die Menschenrechte bessere Maßnahmen
müssen. Frauen und Männer, Kinder, Jugend-                  erwachsen können.
liche und ältere Menschen, Flüchtlinge, Migran-
ten und Migrantinnen, arme Menschen, Men-                   Dabei gibt es drei Ziele: die Wirksamkeit der
schen mit Behinderungen, Menschen in Haft,                  Maßnahmen gegen die unmittelbare globale
Minderheiten, Lesben, Schwule, Bisexuelle,                  Gesundheitsbedrohung zu erhöhen; die weit-
trans- und intergeschlechtliche Menschen und                reichenden Folgen der Krise für das Leben
andere sind alle in der einen oder anderen Weise            der Menschen abzumildern und die Schaffung
betroffen. Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen,          neuer sowie die Verschärfung bestehender
dass alle geschützt und in die Maßnahmen zur                Probleme zu verhindern. Dieses Dreierbündel
Bewältigung dieser Krise einbezogen werden.                 wird uns in die Lage versetzen, die Zeit danach
                                                            für alle Menschen besser zu gestalten.
Die staatlichen Behörden müssen die Ausbreitung
der Krankheit mit allen zur Verfügung stehenden             Vor dem Hintergrund eines zunehmenden
Mitteln bekämpfen und Leben schützen. Entschei-             Ethnonationalismus, Populismus, Autoritarismus
dungen fallen schnell, und einige davon können              und der Missachtung von Menschenrechten in
trotz guter Intention ungewollte nachteilige Folgen         manchen Ländern kann die Krise einen Vorwand
haben. Die Gegenmaßnahmen müssen in einem                   für Unterdrückungsmaßnahmen bieten, die mit
angemessenen Verhältnis zur Pandemie stehen,                der Pandemie in keinerlei Zusammenhang
um das Vertrauen zu erhalten, das insbesondere              stehen. Durch die Instabilität und die Angst, die
während einer Krise zwischen der Bevölkerung und            die Pandemie hervorruft, werden bestehende
ihrer Regierung bestehen muss.                              Men-schenrechtsprobleme verschärft, darunter
                                                            die Diskriminierung bestimmter Gruppen, Hetz-
Die Menschenrechte bieten den Staaten
                                                            parolen, Fremdenfeindlichkeit, Angriffe und die
Orientierung für die Ausübung ihrer Macht zum
                                                            erzwungene Rückkehr von Flüchtlingen und
Wohle der Bevölkerung, statt Schaden anzurich-
                                                            Asylsuchenden, Misshandlung von Migrantinnen
ten. In der gegenwärtigen Krise können die
                                                            und Migranten, sexuelle und geschlechtsspezifi-
Menschenrechte den Staaten helfen, ihre
                                                            sche Gewalt und der eingeschränkte Zugang zu
Gegenmaßnahmen neu auszurichten, um deren
                                                            sexueller und reproduktiver Gesundheit und
Wirksamkeit bei der Bekämpfung der Krankheit
                                                            Rechten.
zu maximieren und die nachteiligen Folgen zu
minimieren. Dadurch, dass wie bei allen humani-             Jetzt ist nicht die Zeit, die Menschenrechte
tären Einsätzen der Schutz an erster Stelle steht,          zu vernachlässigen; es ist eine Zeit, in der die
wird sichergestellt, dass wir gemeinschaftlich
                                                            Menschenrechte mehr denn je gebraucht wer-
unser aller Menschlichkeit und Würde bewahren.
                                                            den, damit wir so aus dieser Krise hervorgehen,
                                                            dass wir uns so bald wie möglich wieder auf
Im Recht der Menschenrechte wird anerkannt,
                                                            die Herbeiführung einer gerechten, nachhal-
dass die Ausübung bestimmter Menschenrechte
                                                            tigen Entwicklung und die Aufrechterhaltung
in nationalen Notsituationen möglicherweise
                                                            des Friedens konzentrieren können.
eingeschränkt werden muss. COVID-19 hat ein

                                                      COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 4
Der Generalsekretär forderte in seinem jüngsten
                                                                        SCHLAGLICHT: MENSCHENRECHTE
  Aufruf zum Handeln für die Menschenrechte,
                                                                        STEHEN BEIM KAMPF GEGEN
  diese auch in Krisenzeiten in den Mittelpunkt
                                                                        COVID-19 AN OBERSTER STELLE
  der Maßnahmen der Vereinten Nationen
  zu stellen, und unterstrich Folgendes:
                                                                        Bei der aktuellen Pandemie stehen drei Rechte
                                                                        an oberster Stelle:
  Unsere gemeinsame menschliche
  Existenz und unsere gemeinsamen                                          Das Recht auf Leben und die Pflicht
  Werte müssen uns einen, nicht spalten.                                   zum Schutz des Lebens
  Wir müssen den Menschen Hoffnung                                      Wir kämpfen gegen COVID-19, um das Leben
  geben und eine Vision dessen,                                         aller Menschen zu schützen. Die Berufung auf
  was die Zukunft bringen kann. Das                                     das Recht auf Leben erinnert uns daran, dass
  Menschenrechtssystem hilft uns, den                                   alle Staaten die Pflicht haben, das menschliche
  Herausforderungen, Chancen und                                        Leben zu schützen, auch indem sie gegen
                                                                        grundlegende gesellschaftliche Bedingungen
  Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts
                                                                        vorgehen, die zu einer direkten Bedrohung des
  gerecht zu werden, die Beziehungen
                                                                        Lebens führen. Dafür unternehmen die Staaten
  zwischen Bevölkerungen und                                            außerordentliche Anstrengungen, und dies muss
  Regierenden wiederherzustellen                                        ihr Hauptanliegen bleiben.
  und weltweit die Stabilität und
  Solidarität, den Pluralismus und die                                     Das Recht auf Gesundheit und auf Zugang
  Inklusion herbeizuführen, auf die wir                                    zu gesundheitlicher Versorgung
  alle angewiesen sind. Es zeigt Wege                                   Das Recht auf Gesundheit ist mit dem Recht
  auf, wie wir Hoffnung in konkrete                                     auf Leben untrennbar verbunden. COVID-19
  Maßnahmen mit realen Auswirkungen                                     stellt die Fähigkeit der Staaten auf eine harte
  auf das Leben der Menschen                                            Probe, das Recht auf Gesundheit zu schützen.
  umsetzen können. Es darf niemals                                      Jeder Mensch hat das Recht auf das individuell
                                                                        erreichbare Höchstmaß an Gesundheit, das
  ein Vorwand für Macht oder Politik
                                                                        ein Leben in Würde ermöglicht. Jeder Mensch
  sein, es steht vielmehr darüber.
                                                                        sollte ungeachtet seines sozialen oder wirt-
                                                                        schaftlichen Status Zugang zu der jeweils benö-
  Ziel der vorliegenden Publikation ist es, diesen                      tigten gesundheitlichen Versorgung haben.
  Aufruf in konkretes Handeln umzusetzen, um
  bei den Maßnahmen gegen die Pandemie zu                               Aufgrund eines seit Langem bestehenden
  helfen. Sie enthält sechs Kernaussagen, die im                        Mangels an Investitionen in die Gesundheits-
  Zentrum eines wirksamen Vorgehens gegen                               systeme ist die Fähigkeit, auf diese Pandemie zu
  die COVID-19-Pandemie stehen müssen.                                  reagieren und andere grundlegende Gesund-
                                                                        heitsdienste bereitzustellen, beeinträchtigt.
                                                                        COVID-19 macht deutlich, dass eine allgemeine
                                                                        Gesundheitsversorgung zwingend geboten ist.
                                                                        Staaten, die über leistungs- und widerstandsfä-
                                                                        hige Gesundheitssysteme verfügen, sind besser
                                                                        aufgestellt, um auf Krisen zu reagieren. Überall

  1   Das höchste Ziel: Ein Aufruf zum Handeln für die Menschenrechte

5 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
auf der Welt sind die Gesundheitssysteme stark           Gesundheitsdienste zu verhindern und auf diese
belastet, manche drohen zusammenzubrechen.               Weise Leben zu retten.
Eine allgemeine Gesundheitsversorgung fördert
leistungs- und widerstandsfähige Gesundheits-            Allerdings können die Auswirkungen von
systeme, erreicht die Schwachen und fördert die          Ausgangsbeschränkungen auf Arbeitsplätze,
Pandemievorsorge und -prävention. Ziel 3 der             Lebensgrundlagen, den Zugang zu Dienst-
Ziele für nachhaltige Entwicklung beinhaltet die         leistungen, einschließlich Gesundheitsversor-
Zielvorgabe, eine allgemeine Gesundheitsver-             gung, Nahrung, Wasser, Bildung und Sozial-
sorgung zu erreichen.                                    leistungen, die häusliche Sicherheit, einen
                                                         ausreichenden Lebensstandard und das
Allgemein zugängliche, erschwingliche                    Familienleben schwerwiegend sein. Wie die Welt
Gesundheitsversorgungssysteme helfen bei                 gerade feststellt, ist die Bewegungsfreiheit ein
der Bekämpfung der Pandemie, indem sie                   grundlegendes Recht, das zum Genuss vieler
allen Menschen diskriminierungsfreien Zugang             weiterer Rechte beiträgt.
zu grundlegenden Maßnahmen gegen die
Ausbreitung des Virus gewähren. Dazu gehören             Das Völkerrecht lässt zwar gewisse Ein-
Tests, fachärztliche Behandlung der am stärks-           schränkungen der Bewegungsfreiheit zu, auch
ten gefährdeten Personen, intensivmedizinische           aus Gründen der Sicherheit und im Fall eines
Versorgung bei Bedarf und, sobald verfügbar,             nationalen Notstands, beispielsweise eines
eine von der Zahlungsfähigkeit unabhängige               Gesundheitsnotstands, jedoch sollen solche
Impfung. Als Reaktion auf die Pandemie haben             Einschränkungen für den jeweiligen Zweck
einige Länder den Krankenversicherungsschutz             unbedingt notwendig, verhältnismäßig und
auf alle Menschen in ihrem Land ausgedehnt;              nicht diskriminierend sein. Die Verfügbarkeit
andere haben Vereinbarungen mit privaten                 wirksamer und allgemein zugänglicher Tests
Gesundheitsdienstleistern getroffen, damit               und die Kontaktnachverfolgung sowie gezielte
diese ihre Einrichtungen im Rahmen der                   Quarantänemaßnahmen können den Bedarf
Pandemiebekämpfung zur Verfügung stellen.                an weniger differenzierten Einschränkungen
                                                         senken.
   Bewegungsfreiheit als zentrale
   Herausforderung

Um das Virus einzudämmen und das Recht auf
Leben zu schützen, muss die Infektionskette
unterbrochen werden: Die Menschen müssen
aufhören, sich von einem Ort zum anderen zu
bewegen und miteinander zu interagieren.Die
häufigste Maßnahme zum Schutz der öffent-
lichen Gesundheit, die die Staaten gegen
COVID-19 ergriffen haben, ist die Einschränkung
der Bewegungsfreiheit: durch Ausgangsbe-
schränkungen oder die Anweisung, zu Hause zu
bleiben. Diese Maßnahme ist eine praktische
und notwendige Methode, um die Übertragung
des Virus zu stoppen, eine Überlastung der

                                                   COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 6
COVID-19 beeinträchtigt die Menschenrechte und den Schutz auf allen
      Kontinenten

                                                                                                                            LEBEN

    Weltweite Todesfälle durch die COVID-19-Pandemie (Stand: 19. April 2020)

          85.506
       neue Fälle

        2.245.872
   bestätigte Fälle

          152.707
        Todesfälle

       April 2020 Kumulative Todesfälle
                durch COVID-19
              19. April 2020, WHO

                             32K

                             16K

                               8K
                               0

     VEREINTE NATIONEN Geodaten                                                                                                                                                        April 2020
     Die in dieser Karte abgebildeten Grenzlinien und Namen und verwendeten Bezeichnungen implizieren weder offizielle Unterstützung noch Akzeptanz durch die Vereinten Nationen.

                                                                    Quelle: WHO-Übersichtskarte, Stand 19. März 2020 19.00 Uhr (MESZ)

                                                                                                                        BILDUNG

                                           Weltweite Schulschließungen (Stand: 19. April 2020)

  In 191 Ländern
  waren die Schulen
  landesweit geschlossen,
  was fast 1,6 Milliarde
  Lernende betraf
  und damit 91,3 % der
  insgesamt eingeschriebenen
  Lernenden
            Schulen offen
            Landesweite Schulschließungen
            Örtlich begrenzte Schulschließungen
            Keine Daten

        VEREINTE NATIONEN Geodaten                                                                                                                                                          April 2020
        Die in dieser Karte abgebildeten Grenzlinien und Namen und verwendeten Bezeichnungen implizieren weder offizielle Unterstützung noch Akzeptanz durch die Vereinten Nationen.

                                                                                                                            Quelle: UNESCO

7 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
BEWEGUNGSFREIHEIT

Strenge der Eindämmungsmaßnahmen der Regierungen (Stand: 18. April 2020)

Die Kriterien sind
Ausgangsbeschränkung
oder Ausgangssperre
Grenzschließung, Ein-
schränkung von Inlands-
reisen, Schulschließungen
und Einschränkungen bei
Zusammenkünften in
der Öffentlichkeit.
                                                                                                            Keine Daten        20       40      60      80     100

       VEREINTE NATIONEN Geodaten                                                                                                                                                                    April 2020
       Die in dieser Karte abgebildeten Grenzlinien und Namen und verwendeten Bezeichnungen implizieren weder offizielle Unterstützung noch Akzeptanz durch die Vereinten Nationen.

                                                                              Quelle: https://covidtracker.bsg.ox.ac.uk/stringency-map

                                                                                             BEWEGUNGSFREIHEIT

   COVID-19 Pandemie an Orten mit einem Plan für humanitäre Maßnahmen

                                                                                                                                      UKRAINE

                                                                                                           ARABISCHE REPUBLIK SYRIEN IR AK                      AFGHANISTAN

                                                                                                                          LIBYEN        *
                                                                                                                                                                                      MYANMAR
                                                         HAITI                                             MALI     NIGER           SUDAN
                                                                                                                                                     JEMEN
                                                                                                                NIGERIA                      ÄTHIOPIEN
                                                                                          BURKINA FASO                     TSCHAD
                                                               VENEZUELA
                                     KOLUMBIEN                                                         KAMERUN                      SÜDSUDAN         SOMALIA
                                                                                            ZENTRALAFRIKANISCHE             BU RU N D I
                                                                                                 REPUBLIK       DEMOKRATISCHE
             April 2020 Kumulative Zahlen
                                                                                                                REPUBLIK KONGO
              bestätigter COVID-19-Fälle
                  19. April 2020, WHO
                                                                                                                                        ZIMBABWE
                             5K
                             2K
                             1K

          Land/Gebiet mit OCHA-Plan für
          humanitäre Maßnahmen

      * STA AT PAL ÄSTINA

   VEREINTE NATIONEN Geodaten                                                                                                                                                                   April 2020
   Die in dieser Karte abgebildeten Grenzlinien und Namen und verwendeten Bezeichnungen implizieren weder offizielle Unterstützung noch Akzeptanz durch die Vereinten Nationen.

                                                                                     Quelle: OCHA & WHO (Stand: 19. April 2020)

                                                                                                                                COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 8
Sechs Schlüsselbotschaften in
   Bezug auf die Menschenrechte
   I. Menschenleben zu schützen ist das
   vorrangige Ziel – die Sicherung der
   Existenzgrundlagen trägt dazu bei

     Neben den Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit müssen wir uns auch
     mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen befassen
   Diese Krise trifft uns alle. Menschenleben zu retten ist zu Recht das vorrangige Ziel, und dafür ist ein
   allgemeiner Zugang zu gesundheitlicher Versorgung unerlässlich. Die Gesundheitskrise hat jedoch
   auch eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise ausgelöst, die Einzelne, Familien und Gemein-
   wesen schwer trifft. Diese negativen Auswirkungen sind zum einen auf die Krankheit an sich zurück-
   zuführen, zum anderen aber auch darauf, dass die zu ihrer Bekämpfung erforderlichen Maßnahmen auf
   grundlegende Probleme wie Ungleichheiten und unzureichende Schutzsystemen stoßen. Manche
   Menschen sind unverhältnismäßig stark betroffen, und oft sind es diejenigen, die sich am wenigsten
   schützen können. Durch wirksame Maßnahmen zur Abmilderung der schlimmsten Auswirkungen auf
   den Arbeitsmarkt, die Existenzgrundlagen, den Zugang zu grundlegenden Diensten und das Familien-
   leben werden Menschenleben geschützt, Menschen in die Lage versetzt, die Maßnahmen zum
   Gesundheitsschutz einzuhalten, und auch die wirtschaftliche Erholung nach der Aufhebung dieser
   Maßnahmen erleichtert.

     Wem schadet COVID-19, in                                  senem Abstandhalten nur träumen. Armut

     welcher Form und weshalb?                                 ist schon an sich ein enormer Risikofaktor.

   Zu den von der Krise am schwersten getroffe-                Die armen und verwundbaren Mitglieder unserer
   nen Menschen gehören viele, die in ihrem tägli-             Gesellschaften sind jedoch nicht nur einem
   chen Kampf ums Überleben ohnehin schon vor                  größeren Risiko durch das Virus selbst ausge-
   enormen Herausforderungen stehen. Für mehr                  setzt, sie sind auch am schwersten von den
   als 2,2 Milliarden Menschen auf der Welt stellt             nachteiligen Auswirkungen der zu seiner Ein-
   regelmäßiges Händewaschen keine Option dar,                 dämmung ergriffenen Maßnahmen betroffen.
   weil sie nur unzureichenden Zugang zu Wasser                Wer im informellen Sektor arbeitet – und das
   haben. Die 1,8 Milliarden Menschen, die obdach-             sind überproportional viele Frauen – hat bei-
   los sind oder in unzulänglichen und überfüll-               spielsweise kaum Zugang zu Sozialschutz oder
   ten Behausungen leben, können von angemes-                  Arbeitslosenunterstützung.

9 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
Die Regierungen konzentrieren sich mit Recht                            >   Weitreichende Schulschließungen haben
darauf, die Ausbreitung des Virus einzudämmen                               den Bildungsweg von mehr als einer Milliarde
und Leben zu retten – die Anzahl der Infektionen,                           Kinder unterbrochen.
Krankenhauseinlieferungen und Todesfälle ist
erschreckend. Die auf Anraten von Gesundheits-                         >    Durch Einschnitte in den Betreuungs- und
fachleuten verordneten Maßnahmen zur Rettung                                Schutzleistungen für Kinder, unter anderem
von Leben zeigen inzwischen Wirkung. Doch                                   die abrupte Schließung von Betreuungs-
zugleich haben sie auch negative Auswirkungen                               und Gesundheitseinrichtungen für Kinder,
auf die Arbeitsplätze, Existenzgrundlagen und                               sind diese verstärkt durch Gewalt, Aus-
den Lebensstandard der Menschen, auf Gemein-                                beutung und Missbrauch gefährdet.
schaften und Familien. Ausgangsbeschränkun-
                                                                       >    COVID-19 breitet sich schon jetzt mit
gen bedeuten auch eingeschränkten Zugang zu
                                                                            rasender Geschwindigkeit in Haftanstalten
Nahrungsmitteln, Schulen, Arbeitsplätzen und
                                                                            aus, wo Abstandsmaßnahmen nahezu
Grundversorgungseinrichtungen. Es gibt weniger
                                                                            unmöglich sind, und Häftlinge sind
Unterstützung für ältere Menschen, Kinder und
                                                                            weitaus anfälliger für die Krankheit.
Menschen mit Behinderungen. Frauen schultern
einen unverhältnismäßig hohen Anteil am resul-
                                                                       >    Für Frauen, die zusammen mit gewalt-
tierenden Pflege- und Betreuungsaufwand, was
                                                                            tätigen Partnern ans Haus gebunden sind
wiederum Folgen für ihr eigenes Recht auf
                                                                            und keinen Zugang zu Hilfsdiensten und
Gesundheit hat. Mit anderen Worten wirken sich
                                                                            Notunterkünften haben, besteht ein größe-
die Beschränkungen unmittelbar auf den
                                                                            res Risiko häuslicher Gewalt, und die Zahl
Genuss sämtlicher Menschenrechte aus.
                                                                            entsprechender Fälle steigt rapide an.

                                                                       >    Strategien zur Eindämmung des Virus sind
    Neue menschenrechtliche                                                 für Menschen, die keinen soliden und siche-
    Herausforderungen im                                                    ren und Wohnraum haben, schwer umzu-
    Zusammenhang mit den Aus-                                               setzen. Für Obdachlose oder Bewohner von
    wirkungen der Krise auf das                                             Elendsvierteln, für die der Zugang zu sau-
    Leben der Menschen und                                                  berem Wasser und Abwasserentsorgung
                                                                            ein grundlegendes Problem darstellt,
    ihre Existenzgrundlagen
                                                                            sind Abstandhalten, Selbstisolierung und
Die vorliegende Analyse legt nahe, dass vorran-                             Händewaschen schlichtweg nicht möglich.
gig Maßnahmen zur Gewährleistung der grund-
legenden wirtschaftlichen und sozialen Rechte
                                                                       >    COVID-19 fegt durch bevölkerungsreiche,

ergriffen werden müssen – und viele Länder                                  dicht besiedelte, informelle Siedlungen

haben damit bereits begonnen. Doch die Aus-                                 sowie Lager für Flüchtlinge, Binnenver-

wirkungen der Krise auf diese Rechte sind real :
                                                          2                 triebene, Migranten und Migrantinnen, wo
                                                                            Kontaktvermeidung schwer umsetzbar
>   Arbeitslosigkeit und Ernährungsunsicherheit                            und der Zugang zu Gesundheitsdiensten
    haben in vielen Ländern innerhalb kürzester                             eingeschränkt ist und die Menschen
    Zeit ein nie zuvor gekanntes Ausmaß erreicht.                           besonders anfällig für Krankheiten sind.

2   Nähere Informationen dazu finden sich in den Kurzdossiers Gemeinsame Verantwortung, globale Solidarität: Bewältigung der sozioökono-
    mischen Auswirkungen von COVID-19 (Shared Responsibility, Global Solidarity: Responding to the socio-economic impacts of COVID-19);
    Die Auswirkungen von COVID-19 auf Frauen (Impact of COVID-19 on Women); und Die Auswirkungen von COVID-19 auf Kinder (Impact of
    COVID-19 on Children).

                                                              COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 10
Bereits jetzt leben weltweit Millionen von                   wahrnehmen, indem sie ihre wirtschaftli-
   Menschen von der Hand in den Mund. Vor dieser                chen und sozialen Rechte garantieren.
   Krise kam es häufig zu Demonstrationen gegen
   Ungleichheiten und sinkende Lebensstandards.                 Dennoch werden wir nach dem Ende der Krise
   Die Menschen waren frustriert und voller Zorn. Vor           eine wichtige Lektion lernen müssen. Die Länder,
   diesem Hintergrund führt die Pandemie zu wei-                die in den Schutz der wirtschaftlichen und
   teren Entbehrungen, die Spannungen auslösen                  sozialen Rechte investiert haben, sind wahr-
   werden und Unruhen verursachen könnten, wenn                 scheinlich widerstandsfähiger. Systeme zur

   sie nicht abgemildert werden. Dies könnte wiede-             allgemeinen Gesundheitsversorgung befähi-

   rum zu der Art von Sicherheitsmaßnahmen führen,              gen Länder, eine Bedrohung der öffentlichen
                                                                Gesundheit besser einzudämmen, doch das
   die, wie später ausgeführt wird, unbedingt vermie-
                                                                Gleiche gilt auch für wirksame Systeme zur
   den werden müssen, da sie die Wirksamkeit der
                                                                Nahrungsmittelverteilung, Sozialversicherungs-
   Pandemieabwehr untergraben. Jetzt bietet sich
                                                                und -schutzsysteme, die Gleichstellung der
   die Gelegenheit für einen „besseren Wiederaufbau“
                                                                Geschlechter, den Schutz von Menschen und
   auf der Grundlage eines neuen wirtschaftlichen
                                                                Arbeitsplätzen durch Arbeitnehmerrechte,
   und gesellschaftlichen Denkens, basierend auf
                                                                Mindestlöhne und Lohnfortzahlung im
   den Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten
                                                                Krankheitsfall sowie Standards für Gesundheit
   und den Lehren aus Fehlern, die beispielsweise
                                                                und Sicherheit am Arbeitsplatz (wie etwa per-
   bei den wirtschaftlichen Maßnahmen als Reaktion
                                                                sönliche Schutzausrüstung in dieser Krise),
   auf die Weltfinanzkrise 2008 gemacht wurden.
                                                                die Bereitstellung erschwinglichen, adäqua-
   COVID-19 untergräbt die nachhaltige Entwick-                 ten Wohnraums, mit ausreichenden Mitteln
   lung zu einem Zeitpunkt, an dem die Anstrengun-              ausgestattete Bildungssysteme, die rasch auf
   gen zur Verwirklichung der Ziele für nachhaltige             Fernunterricht umstellen können, sowie den
   Entwicklung eigentlich beschleunigt werden                   Zugang zum Internet. Diese Rechte sind als
   müssen. Die Agenda 2030, deren Fundament die                 grundlegender Bestandteil einer Präventions-
   Menschenrechte sind, bietet ein umfassendes                  und Vorsorgestrategie anzusehen.
   Konzept für eine nachhaltige Erholung von der
   Pandemie.

    SCHLAGLICHT: DIE LÄNGERFRISTIGE                               Vorbildliche Verfahren, bei denen
    BEDEUTUNG DER WIRTSCHAFTLICHEN                                sich die ergriffenen Maßnahmen
    UND SOZIALEN RECHTE FÜR DEN AUFBAU                            an den Menschenrechten orien-
    VON KRISENRESILIENZ
                                                                  tieren
   Die COVID-19-Krise wirft ein Schlaglicht auf                 Viele Länder haben im Rahmen ihrer Möglich-
   die wesentliche Rolle, die dem Schutz und der                keiten fiskalische, finanzielle und wirtschaft-
   Förderung wirtschaftlicher und sozialer Rechte               liche Maßnahmen zur Milderung der nach-
   bei Notfallmaßnahmen in Krisensituationen                    teiligen Auswirkungen von COVID-19 auf ihre
   zukommt. Nie zuvor war so deutlich zu sehen,                 Bevölkerung ergriffen. Hier einige Beispiele:
   wie wichtig es ist, dass die Regierungen ihre
   Verantwortung zum Schutz der Menschen

11 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
>   Bereitstellung einer Notfall-Wasser-               >   Bereitstellung von Notunterkünften
    versorgung in Elendsvierteln;                          für Obdachlose;

>   Aussetzung von Zwangsräumungen auf-                >   Ausweitung der Maßnahmen für
    grund ausstehender Mietzahlungen                       Opfer häuslicher Gewalt;
    während der Krise;
                                                       >   Kinderbetreuung für in systemer-
>   Arbeitsplatzerhaltung und Lohnfortzah-                 haltenden Berufen Tätige.
    lung durch gezielte wirtschaftliche Maß-
    nahmen, die in einigen Fällen fast schon           Doch nicht jeder Staat verfügt über die Mittel,
    an ein universelles Grundeinkommen für             um allen seinen Bürgern und Bürgerinnen
    alle heranreichen, sowie durch Unterstüt-          ausreichenden Schutz zu gewähren.
    zung für Arbeitgeber und Unternehmen;

>   Einführung oder Ausweitung der
    Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
    oder von Arbeitslosengeld;

                                                COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 12
II. Das Virus macht keinen Unter-
   schied, aber seine Auswirkungen
   machen die Diskriminierung deutlich

     Inklusive Maßnahmen zur Bewältigung einer globalen Bedrohung, damit
     niemand zurückgelassen wird
   Diese Krise trifft uns alle. Die Gegenmaßnahmen müssen inklusiv, gerecht und universell sein, sonst
   werden sie ein Virus, das jede und jeden ungeachtet des Status trifft, nicht besiegen. Bringt ein Gemein-
   wesen das Virus nicht unter Kontrolle, dann bleibt es eine Bedrohung für alle Gemeinwesen – diskrimi-
   nierende Vorgehensweisen bringen uns daher alle in Gefahr. Es gibt Anzeichen dafür, dass bestimmte
   Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig stark unter dem Virus und seinen Auswirkungen leiden, was
   die bestehenden strukturellen Ungleichheiten und die weitverbreitete Diskriminierung verdeutlicht,
   gegen die sowohl bei der Bewältigung der Krise als auch in der Folgezeit vorgegangen werden muss.

     Warum sind Gleichheit und                              kann das Virus in der Gesamtgesellschaft
                                                            weiterbestehen, und unsere ganzen Anstren-
     Nichtdiskriminierung im
                                                            gungen waren vergeblich. Den besten Schutz
     Hinblick auf die Maßnahmen                             für uns alle bietet ein inklusiver Ansatz.
     gegen COVID-19 so wichtig?
                                                            COVID-19 erzeugt einen Teufelskreis, bei dem
   Junge wie Alte, Reiche wie Arme und Menschen             die starken Ungleichheiten seine Verbreitung
   mit Vorerkrankungen – alle können am Corona-             fördern und dies wiederum die Ungleichhei-
   virus erkranken und sterben. Rasse, Haut-                ten verstärkt. Nachweislich leiden bestimmte
   farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, sexuelle           Personen und Gruppen aufgrund seit langem
   Orientierung oder geschlechtliche Identität,             bestehender Ungleichheiten und ungleicher
   politische oder andere Ansichten, nationale,             grundlegender Determinanten für Gesund-
   ethnische oder soziale Herkunft, Vermögen,               heit weit mehr unter den Auswirkungen des
   Behinderung, Geburts- oder sonstiger Status              Virus als andere, und zwar sowohl was den
   – dem Virus ist das einerlei. Das Virus macht            Verlust an Menschenleben als auch das Weg-
   keinen Unterschied, und auch wir dürfen bei              brechen von Existenzgrundlagen angeht.
   unseren Maßnahmen gegen die von ihm aus-
   gehende Bedrohung nicht diskriminieren.                  Den Staaten obliegt die Verantwortung
                                                            dafür, sicherzustellen, dass alle vor diesem
   Diskriminierende Verfahrensweisen schlie-                Virus und seinen Auswirkungen geschützt
   ßen Menschen von den Maßnahmen aus,                      sind. Dazu sind gegebenenfalls Sonder-
   mit denen die Staaten versuchen, ihre Bürger             maßnahmen und spezielle Schutzvor-
   gegen das Virus zu schützen. Wenn auch                   kehrungen für bestimmte Gruppen erfor-
   nur eine Person davon ausgeschlossen wird,               derlich, die am stärksten gefährdet oder

13 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
unverhältnismäßig stark betroffen sind.                                in den Gesundheitssystemen schafft nach-
Bei der Reaktion auf die Krise muss mehr-                              haltigere Pflege- und Betreuungsmodelle.
fachen und sich überschneidenden Formen
von Diskriminierung und Ungleichheiten                                 Tief verwurzelte Geschlechterdiskriminierung,
                                                                       eine sozioökonomisch schwächere Position,
Rechnung getragen werden, insbesondere
                                                                       eine Verschärfung häuslicher Gewalt im Zusam-
auch der weit verbreiteten Ungleichstellung
                                                                       menhang mit Ausgangsbeschränkungen sowie
der Geschlechter. Darüber hinaus müssen
                                                                       eine Tätigkeit an vorderster Front als Pflege- und
wir uns aber auch verpflichten, deren Fort-
                                                                       medizinisches Fachpersonal haben die Gefähr-
bestand nach der Krise zu verhindern.
                                                                       dung und Prekarisierung von Frauen allesamt
                                                                       noch verstärkt. Vielerorts können Kinder ihr
                                                                       Recht auf Bildung nicht mehr wahrnehmen,
    Neue menschenrechtliche
                                                                       werden zudem in manchen Fällen zwangsweise
    Herausforderungen in                                               von ihren Eltern und Erziehungsberechtigten
    Bezug auf Ungleichheit,                                            getrennt und sind der Gefahr von Gewalt und
    Diskriminierung und                                                krisenbedingter Traumatisierung ausgesetzt.
    Ausgrenzung3
                                                                       Diese Krise stellt die marginalisierten und ver-
Leider erhebt in dieser Krise die Diskriminie-                         wundbarsten Mitglieder der Gesellschaft vor
rung wieder ihr hässliches Haupt. Überall hat                          besondere Schwierigkeiten. Marginalisierung
es Vorfälle gegeben, bei denen Menschen,                               führt zu Verwundbarkeit. In der Krise zeigt sich,
denen die Schuld für die Verbreitung des Virus                         wie unverhältnismäßig stark bestimmte Grup-
                                                                       pen betroffen sind, etwa dadurch, dass unter
zugeschoben wurde, Diskriminierung, Frem-
                                                                       ihnen überproportional viele Infektions- und
denfeindlichkeit, Rassismus und Angriffen
                                                                       Todesfälle auftreten. Auch die Maßnahmen
ausgesetzt waren. In einigen Ländern haben
                                                                       zur Eindämmung des Virus treffen die ärms-
Regierende COVID-19 etwa als „ausländische
                                                                       ten Bevölkerungsgruppen, die nicht von zu
Krankheit“ bezeichnet. Die mit dem Virus Infi-
                                                                       Hause aus arbeiten können und am Existenz-
zierten werden zunehmend stigmatisiert. Die
                                                                       minimum leben, unverhältnismäßig stark.
Mitgliedstaaten tragen die Hauptverantwortung
dafür, gegen Diskriminierung und Hetze vor-                            Die schlimmsten Auswirkungen hat die Pan-
zugehen, aber alle Akteure, auch die Anbieter                          demie auf das Leben, die Gesundheit und das
sozialer Medien, müssen ihren Beitrag leisten.                         Wohlergehen von älteren Menschen, Menschen
                                                                       mit Vorerkrankungen und Menschen mit nied-
In manchen Ländern wurden Gesundheits-                                 rigerem sozioökonomischen Status – einer
fachkräfte, also diejenigen, die an vorderster                         Kategorie, die in den meisten Ländern eng mit
Front gegen die Krankheit kämpfen und dabei                            der Zugehörigkeit zu einer Minderheit korreliert.
ihr Leben riskieren, ausgegrenzt oder sogar
angegriffen. Dabei handelt es sich vorwiegend                          Unter älteren Menschen ist die Infektions- und
um Frauen, die für geringere Bezahlung, in Teil-                       Sterblichkeitsrate höher. Gleichzeitig erfahren
zeit und bisweilen unter prekären Bedingungen                          sie Altersdiskriminierung, sowohl im öffentlichen
arbeiten und Misshandlungen und geschlechts-                           Diskurs als auch bei Entscheidungen bezüg-
spezifischer Gewalt ausgesetzt sind. Eine                              lich Gesundheitsversorgung und Triage, leiden
verstärkte Gleichstellung der Geschlechter                             zuhause unter Vernachlässigung und häuslichem

3   Siehe auch die spezifischen Kurzdossiers der Vereinten Nationen Gemeinsame Verantwortung, globale Solidarität: Bewältigung der
    sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 (Shared Responsibility, Global Solidarity: Responding to the socio-economic impacts of
    COVID-19); Auswirkungen von COVID-19 auf Frauen (Impact of COVID-19 on Women); Auswirkungen von COVID-19 auf Kinder (Impact of
    COVID-19 on Children)

                                                              COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 14
Missbrauch sowie an Isolation ohne Zugang                Die ohnehin bereits kritische Lage für zahl-
   zu grundlegenden Diensten und sind bei einer             reiche indigene Völker, die unter tiefverwur-
   Unterbringung in Pflegeeinrichtungen einem               zelten Ungleichheiten, Stigmatisierung und
   stärkeren Erkrankungsrisiko gepaart mit schlech-         Diskriminierung leiden, darunter auch einem
   ten Behandlungsmöglichkeiten ausgesetzt.                 unzureichenden Zugang zu gesundheitlicher
                                                            Versorgung und anderen grundlegenden Diens-
   Rassische, ethnische und religiöse Minderhei-            ten, wird durch die Pandemie noch verschärft.
   ten, denen häufig ein niedrigerer sozioökono-            Für Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen
   mischer Status zugewiesen wird und die tief-             entstehen dadurch besondere existenzielle und
   verwurzelter Diskriminierung ausgesetzt sind,            kulturelle Bedrohungen, und die Älteren unter
   weisen aufgrund dieser Faktoren besonders häu-           ihnen sowie diejenigen, die in freiwilliger Iso-
   fig eine höhere Infektions- und Sterblichkeitsrate       lation leben, sind ganz besonders gefährdet.
   auf, werden im Kontext von Notstandsmaßnah-
                                                            Die Lage der Menschen mit Behinderungen,
   men von Vollzugspersonal strenger behandelt
                                                            besonders derjenigen, die Vorerkrankungen
   und erhalten keinen gleichberechtigten Zugang
                                                            haben oder in Einrichtungen untergebracht
   zu angemessener medizinischer Versorgung.
                                                            sind, ist besonders ernst. Menschen mit Behin-
                                                            derungen kann es schwerer fallen, vernünftige
   Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und
                                                            Vorkehrungen für ihren eigenen Schutz zu
   Binnenvertriebene sind besonders durch Stig-
                                                            treffen. Durch den Krankheitsausbruch ist die
   matisierung, Fremdenhass, Hetze und damit
                                                            Unabhängigkeit von Menschen mit Behinde-
   verbundene Intoleranz gefährdet. Auf der
                                                            rungen beeinträchtigt, die zwar im eigenen
   ganzen Welt sind Migrantinnen und Migranten
                                                            Zuhause leben, aber dennoch einer Unter-
   mit Arbeitsplatzverlust und Diskriminierung              stützung von außen bedürfen. Für sie kann es
   konfrontiert sowie mit Schwierigkeiten bei der           schwierig sein, Dinge des täglichen Bedarfs,
   Rückkehr in ihre Heimatländer aufgrund von               Nahrungsmittel und Medikamente zu bekom-
   Grenzschließungen. Etwa 167 Länder haben ihre            men. Eine durchgängige Unterstützung wäh-
   Grenzen geschlossen. Mindestens 57 Staaten               rend der gesamten Krise muss gesichert sein.
   gewähren für Asylsuchende keine Ausnah-
   men. Seit Beginn der Krise wurden Tausende               Gefangene, Häftlinge und Personen, denen die
   Menschen zurückgewiesen oder in gefährliche              Freiheit entzogen ist, unabhängig davon, ob es
   Regionen abgeschoben. Flüchtlinge, Binnen-               sich um Erwachsene oder Kinder handelt, sind
                                                            besonders anfällig für die rasche Ausbreitung des
   vertriebene sowie Migrantinnen und Migranten
                                                            Virus. Die Pandemie verschärft die in überbeleg-
   leben in beengten Verhältnissen mit beschränk-
                                                            ten Vollzugsanstalten herrschenden Spannungen,
   tem Zugang zu sanitärer und gesundheitlicher
                                                            und es gibt Berichte von Massenausbrüchen und
   Versorgung und sind besonders ansteckungs-
                                                            Revolten. Es gilt, nicht freiheitsentziehende Sank-
   gefährdet. Diese Menschen sowie Staatenlose
                                                            tionen zu verhängen und ausgewählte Kategorien
   sind von den Sozialschutzmaßnahmen zur
                                                            von Gefangenen aus der Haft zu entlassen. Die
   Bewältigung der Auswirkungen von COVID-19
                                                            Zahl der Menschen, die sich in Untersuchungs-
   unter Umständen ausgenommen. Migrantinnen                haft befinden, wegen geringfügiger oder politi-
   und Migranten ohne regulären Aufenthaltssta-             scher Vergehen inhaftiert sind, ihre Haftstrafe
   tus nehmen aus Angst vor Inhaftierung oder               nahezu abgebüßt haben oder unrechtmäßig in
   Abschiebung womöglich keine Gesundheitsver-              Haft gehalten werden, sollte umgehend verringert
   sorgung in Anspruch. Diejenigen, die in ihre Hei-        werden. Diejenigen, die nicht aus der Haft ent-
   matländer zurückkehren, werden dort bisweilen            lassen werden können, müssen eine angemes-
   als vermeintliche Infektionsträger stigmatisiert.        sene gesundheitliche Versorgung erhalten.

15 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
Die Krise verschärft die Schwierigkeiten von                Vorbildliche Verfahren,
Lesben, Schwulen, Bisexuellen sowie trans- und
                                                            bei denen sich die ergriffenen
intergeschlechtlichen Menschen, die bei der
Inanspruchnahme gesundheitlicher Versor-
                                                            Maßnahmen an den
gungsleistungen häufig Diskriminierung und                  Menschenrechten orientieren
Stigmatisierung erleben und einem höheren
                                                          Zahlreiche Länder haben im Rahmen ihrer ver-
Risiko von Gewalt und anderen Menschenrechts-
                                                          fügbaren Ressourcen gezielte Maßnahmen
verletzungen ausgesetzt sind. Es gibt Berichte,
                                                          ergriffen, um die wirtschaftlichen und sozialen
wonach Anordnungen im Zusammenhang mit
COVID-19 von der Polizei dazu missbraucht                 Auswirkungen der Krise auf die verwundbarsten
werden, gezielt gegen Lesben, Schwule, Bise-              Mitglieder der Gesellschaft abzumildern. Einige
xuelle sowie trans- und intergeschlechtliche              Länder haben allen Migrantinnen und Migranten
Menschen und ihre Organisationen vorzugehen.              und Asylsuchenden, deren Status nicht geregelt
                                                          ist, vorübergehend ein Aufenthaltsrecht erteilt,
Menschen mit HIV haben möglicherweise                     damit sie während des eskalierenden Ausbruchs
eingeschränkten Zugang zu lebensrettenden                 uneingeschränkten Zugang zum jeweiligen
antiretroviralen Medikamenten. Drogenkonsu-               Gesundheitsversorgungssystem erhalten und
menten haben unter Umständen keinen Zugang                so die Risiken für die öffentliche Gesundheit ins-
mehr zu Programmen zur Reduzierung der                    gesamt verringert werden. Andere bieten unent-
gesundheitsschädlichen Folgen des Drogen-                 geltliche Coronavirus-Behandlungen für alle an.
konsums, einschließlich Nadeln und Spritzen.
                                                          In einigen Ländern wurden Maßnahmen zum
                                                          Schutz verwundbarer Gruppen, darunter Men-
SCHLAGLICHT: GLEICHHEIT, NICHT-                           schen mit Behinderungen, Obdachlose und
DISKRIMINIERUNG UND INKLUSION
                                                          in Einrichtungen lebende Jugendliche, getrof-
STEHEN IM MITTELPUNKT DER KRISE
                                                          fen. Andere haben die Festnahme irregulärer
                                                          Migrantinnen und Migranten ausgesetzt.
Gleichheit und Nichtdiskriminierung sind
wesentliche Menschenrechte, die immer                     In allen Weltregionen haben Regierungen zur
gelten, doch die Pandemie führt uns deutlich vor          Abmilderung der Auswirkungen von COVID auf
Augen, warum Ungleichheit und Diskriminierung             Gefängnisinsassen Maßnahmen in Form von
nicht hinnehmbar sind und letztendlich allen              Entlassungen und Hafturlaub eines Teils der
schaden. Wir können es uns nicht leisten, bei             Häftlinge ergriffen.
unseren Anstrengungen zur Bekämpfung der
Pandemie irgendjemanden zurückzulassen.

Die Ungleichheit erschwert schon jetzt bestimm-
ten marginalisierten Bevölkerungsgruppen den
Genuss ihrer Menschenrechte. Die Pandemie
bringt grundlegende strukturelle Ungleichheiten
ans Licht, aufgrund derer bestimmte Gruppen
unverhältnismäßig stark betroffen sind. Das
zeigt sich eindrücklich darin, wie schwer die
Pandemie bestimmte Bevölkerungsgruppen
trifft, insbesondere marginalisierte Menschen.

                                                   COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 16
III. Alle müssen in die Gegenmaß-
   nahmen eingebunden werden

     Teilhabe an offenen, transparenten und mit Rechenschaftslegung
     verbundenen Maßnahmen
   Diese Krise trifft uns alle. Um die Pandemie wirksam zu bekämpfen, müssen wir alle Anteil an der
   Bewältigung haben. Damit sich die Menschen wirksam beteiligen können, müssen sie informiert sowie
   in die sie betreffenden Entscheidungen eingebunden werden und nachvollziehen können, dass die zur
   Bekämpfung des Virus und zur Rettung von Menschenleben ergriffenen Maßnahmen notwendig, ange-
   messen und verhältnismäßig sind. Jeder einzelne Beitrag zählt, aber der wirksamste Weg zu einer mög-
   lichst umfassenden Teilhabe führt über empirische Fakten, Überzeugungsarbeit und die Übernahme
   gemeinsamer Verantwortung. In einer Krise brauchen die Menschen Mitsprachemöglichkeiten und eine
   Stimme. In Zeiten wie diesen müssen die Regierungen mehr denn je offen, transparent und bürgernah
   sein und den Menschen, die sie zu schützen suchen, Rechenschaft ablegen. Die Organisationen der
   Zivilgesellschaft können ebenso wie der Privatsektor und die Unternehmen Beiträge leisten, die es zu
   fördern gilt.

     Warum ist es wichtig, dass die                         berichten und darzulegen, dass die Maßnah-
                                                            men vernünftig sind, voraussichtlich Wirkung
     Menschen in die Maßnahmen zur
                                                            zeigen werden und nicht länger in Kraft blei-
     Bekämpfung von COVID-19                                ben als notwendig. Wenn sichergestellt werden
     eingebunden werden?                                    soll, dass die Menschen die Maßnahmen befol-
                                                            gen, braucht es Vertrauen, und Vertrauen wie-
   Von den Menschen wird verlangt, sich außer-              derum setzt Transparenz und Teilhabe voraus.
   ordentlichen Maßnahmen zu unterwerfen, von
   denen viele ihre Menschenrechte stark ein-               Bei der Teilhabe geht es jedoch nicht allein
   schränken. Bisher haben die Menschen auf der             darum, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu
   ganzen Welt eine außerordentliche Koopera-               gewinnen, sondern auch darum, sicherzustellen,
   tionsbereitschaft an den Tag gelegt, trotz der           dass die ergriffenen Maßnahmen tatsächlich
   reellen Auswirkungen dieser Maßnahmen auf ihr            funktionieren und mögliche unbeabsichtigte Fol-
   Leben. Wenn sich das Virus weiterverbreitet und          gen verhindert oder behoben werden. Quer durch
   die Maßnahmen sowohl zeitlich als auch in ihrem          alle Bereiche, auch in der Wirtschaftsplanung
   Umfang ausgeweitet werden müssen, könnte es              und bei Notstandsmaßnahmen, zeigen empiri-
   schwieriger werden, diese Kooperationsbereit-            sche Daten, dass Maßnahmen schlicht weniger
   schaft aufrechtzuerhalten. Der beste Weg für             Wirkung entfalten und sogar Schaden anrichten
   die Regierungen, die Unterstützung der Öffent-           können, wenn Frauen bei der Entscheidungsfin-
   lichkeit für die Maßnahmen aufrechtzuerhal-              dung nicht konsultiert oder einbezogen werden.
   ten, ist es, offen und transparent zu agieren und
   die Menschen in die sie betreffenden Entschei-           Die Behörden müssen bei der Entscheidungs-
   dungen einzubinden. Es ist wichtig, ehrlich über         findung offen und transparent vorgehen, sich
   das Ausmaß der Bedrohung durch das Virus zu              etwaiger Kritik stellen und auf sie eingehen.

17 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
Es ist äußerst wichtig, dass aktuelle, zutreffende          Hälfte der Menschen auf der Welt keinen
und faktenbasierte Informationen und unter                  Internetzugang hat, müssen dringend Schritte
anderem nach Geschlecht aufgeschlüsselte                    unternommen werden, um das Angebot an
Daten frei zugänglich sind, damit diejenigen,               Internetdiensten für die Armen und die am
die danach trachten, die Wirksamkeit des staat-             stärksten Gefährdeten zu erweitern und eine
lichen Handelns zu überprüfen oder kritisch zu              Abschaltung des Internets zu vermeiden. Der
hinterfragen, ihre Rolle wahrnehmen können.                 Internetzugang derjenigen, die ihn möglicher-
                                                            weise nicht bezahlen können, sollte von den
Die Regierungen müssen gegenüber den
                                                            Internetanbietern nicht gesperrt werden.
Menschen, die sie zu schützen suchen, Rechen-
schaft ablegen. Eine freie Presse und in einem
offenen zivilgesellschaftlichen Raum agierende                  Neue menschenrechtliche
zivilgesellschaftliche Organisationen sind
                                                                Herausforderungen in Bezug
wesentliche Elemente der Pandemiebekämpfung
und müssen gefördert werden.
                                                                auf Teilhabe und den zivil-
                                                                gesellschaftlichen Raum
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen tra-
gen zu den Hilfsmaßnahmen an vorderster Front               Diese Analyse legt nahe, dass die Staaten
bei und schließen durch ihre Tätigkeit Lücken in            neben anderen Rechten das Recht der freien
der Grundversorgung, um den am schwersten                   Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, die
betroffenen Menschen zu helfen. Die Medien                  Informationsfreiheit sowie die Vereinigungs-
und die zivilgesellschaftlichen Organisationen              und Versammlungsfreiheit achten und schützen
helfen auch dabei, lebensrettende Empfehlungen              müssen. Das Vorgehen in vielen Ländern im
und Informationen zur Pandemie und zu den im                Kontext von COVID-19 lässt darauf schließen,
jeweiligen Land getroffenen Maßnahmen zu ver-               dass dies nicht unbedingt gegeben ist. Zu den
breiten. Auch die Wirtschaft und der Privatsektor           besorgniserregenden Entwicklungen gehören
können auf vielfältige Weise zu den gemein-                 unter anderem:
samen Anstrengungen im Kampf gegen die
Pandemie beitragen und tun dies bereits, zum                >   Maßnahmen zur Steuerung des Informations-
Beispiel durch die Umstellung von Produktions-                  flusses und zur Unterdrückung des Rechts
kapazitäten zur Herstellung persönlicher Schutz-                der freien Meinungsäußerung und der Presse-
ausrüstung für die an vorderster Front Tätigen.                 freiheit vor dem Hintergrund eines sich ver-
                                                                engenden zivilgesellschaftlichen Raums.
Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pande-
mie, insbesondere der Einsatz von Notstands-                >   Festnahme, Inhaftierung und strafrechtliche
befugnissen, müssen weiterhin unter demo-                       oder sonstige Verfolgung von politischen
kratischer Aufsicht stehen. Bei Wahlen kommen                   Gegnerinnen und Gegnern, Journalistinnen
in den Wahllokalen viele Menschen zusammen,                     und Journalisten, Ärztinnen und Ärzten,
was im Widerspruch zum empfohlenen Abstand-                     medizinischem Personal, Aktivistinnen und
halten zum Schutz der öffentlichen Gesundheit                   Aktivisten und anderen unter dem Vorwand,
steht. Ungeachtet der zentralen Bedeutung funk-                 sie würden „Falschinformationen“ verbreiten.
tionierender demokratischer Institutionen wer-
den manche Wahlen möglicherweise verschoben                 >   Scharfe Kontrollen im Cyberspace und
werden müssen. In vielen Ländern ist dies                       verstärkte Online-Überwachung.
bereits geschehen.
                                                            >   Die Verschiebung von Wahlen gibt in
Wie nie zuvor hat die Krise uns vor Augen                       manchen Fällen Anlass zu ernsten ver-
geführt, wie wichtig der Zugang zum Internet                    fassungsrechtlichen Bedenken und kann
ist. Angesichts dessen, dass mehr als die                       zu zunehmenden Spannungen führen.

                                                     COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 18
Die Krise wirft die Frage auf, wie am besten             erhalten in den Ländern die Unterstützung für
   gegen Hetze vorgegangen und zugleich das                 die getroffenen Maßnahmen und stellen sicher,
   Recht der freien Meinungsäußerung geschützt              dass zutreffende Gesundheitsinformationen und
   werden kann. Weitreichende Maßnahmen gegen               -empfehlungen verbreitet werden und die Men-
   Falschinformationen und Desinformation kön-              schen wissen, wo sie Hilfe bekommen können.
   nen, ob gewollt oder nicht, zu Zensur führen, was
   wiederum das Vertrauen untergräbt. Die beste             Manche Regierungen haben zwecks Überprü-
   Wirkung lässt sich mit zutreffenden, klaren              fung des Handelns der Exekutive während der
   und faktenbasierten Informationen aus Quel-              Krise einen unabhängigen oder unter der Leitung
   len erzielen, denen die Menschen vertrauen. Die          der Opposition stehenden, online und öffentlich
   Kennzeichnung und Entfernung von Fehlinfor-              tagenden parlamentarischen Ausschuss ein-
   mationen sind durchaus begrüßenswerte Maß-               gesetzt oder entsprechend ermächtigt.
   nahmen, in erster Linie sollte die Verteidigungs-
                                                            Die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft ver-
   strategie jedoch darin bestehen, verlässliche
                                                            suchen auf vielerlei und äußerst kreative Weise,
   Informationen in den Vordergrund zu rücken.
                                                            die Auswirkungen zu mildern und vermehrten
                                                            Schutz zu bieten, unter anderem durch die
     Vorbildliche Verfahren, bei                            Einführung gesonderter Ladenöffnungs-
     denen sich die ergriffenen                             zeiten für ältere Menschen, die Einrichtung
                                                            kommunaler Hilfsnetzwerke für gefährdete
     Maßnahmen an den                                       Personen oder die Aussetzung von Miet-
     Menschenrechten orientieren                            zahlungen für Menschen ohne Einkommen.

   In vielen Ländern werden täglich Pressekonfe-
   renzen abgehalten, um die Bevölkerung über die
   Lage und die geltenden Maßnahmen zu informie-
   ren. Diese Foren sind ein wichtiger Bestandteil
   der nationalen Reaktion, denn sie schaffen und

19 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
IV. Die Bedrohung geht nicht von
den Menschen, sondern vom
Virus aus

  Notstands- und Sicherheitsmaßnahmen, falls erforderlich,
  müssen zeitlich begrenzt und verhältnismäßig sein und
  den Schutz der Menschen zum Ziel haben
Diese Krise trifft uns alle. Die Pandemie stellt eine ernste Bedrohung für die öffentliche Gesund-
heit dar und hat weitreichende Folgen für Frieden und Sicherheit. Der Rechtsdurchsetzung kommt
im Kampf gegen die Krankheit und beim Schutz der Menschen eine unterstützende Rolle zu.
Notstandsbefugnisse können notwendig sein; rasch erteilte, weitreichende exekutive Befugnisse
mit minimaler parlamentarischer Kontrolle bergen jedoch Gefahren. Unverhältnismäßige Sicher-
heitsmaßnahmen untergraben die Gesundheitsmaßnahmen und können bestehende Bedrohungen
des Friedens und der Sicherheit verschärfen oder neue verursachen. Der beste Weg besteht darin,
unmittelbaren Bedrohungen unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu begegnen und gleichzeitig
die Menschenrechte im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Dies ist eine Zeit, in der wir
für Frieden sorgen müssen, damit wir uns auf die Bekämpfung des Virus konzentrieren können.

  Warum spielen Gerechtigkeit,                          Wenngleich Zwangsmaßnahmen in
                                                        bestimmten Situationen gerechtfertigt sein
  Zurückhaltung und die Achtung
                                                        mögen, kann ihre grobe und unverhältnis-
  der Rechtsstaatlichkeit für die
                                                        mäßige Anwendung fehlschlagen und die
  Bekämpfung von COVID-19                               gesamte Pandemieabwehr untergraben.
  eine zentrale Rolle?
                                                        Angesichts der von dieser Gesundheitsnotlage
Aufgrund der Pandemie haben die Länder                  verursachten Instabilität müssen Frieden
Notstands- und Sicherheitsmaßnahmen                     und Stabilität aufrechterhalten werden. Zur
verhängt. Während die meisten davon für die             Stärkung und Unterstützung der nationalen
Bekämpfung des Virus notwendig sind, können             Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie
diese Maßnahmen auch politisch motiviert sein           sind Fairness, Gerechtigkeit und die Achtung
und leicht missbraucht werden. Die Pandemie             der Rechtsstaatlichkeit unerlässlich. Die
könnte als Vorwand für das Unterminieren demo-          Gerichte und das Justizwesen müssen trotz
kratischer Institutionen und die Unterdrückung          der krisenbedingten Einschränkungen weiter-
legitimer abweichender Meinungen oder                   hin ihre Funktion erfüllen. Die Staaten müssen
unliebsamer Personen oder Gruppen dienen,               sicherstellen, dass die Rechtsdurchsetzung
mit weitreichenden Folgen, die uns noch lange           aufrechterhalten bleibt. Sie müssen unter
nach der akuten Krise erhalten bleiben werden.          anderem Frauen, ältere Menschen, Menschen

                                                 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE 20
mit Behinderungen und Kinder vor Gewalt                  Bedrohung für Frieden und Sicherheit dar und
   und Missbrauch schützen und dafür sorgen,                kann Fortschritte bei der Friedenskonsolidierung
   dass Unterstützungsdienste für Überlebende               zunichtemachen und das längerfristige
   geschlechtsspezifischer Gewalt auch wäh-                 Konfliktrisiko erhöhen. In manchen Ländern
   rend der Krise weiterhin verfügbar sind.                 sind fragile Friedensprozesse im Gange, die
                                                            von der Krise unterminiert werden könnten,
   Wir müssen jetzt gegen diejenigen vor-                   insbesondere wenn die Aufmerksamkeit der
   gehen, die sich die Krise auf opportunis-                internationalen Gemeinschaft abgelenkt ist.
   tische Weise zunutze machen, um ihre                     Andere Akteure könnten versuchen, sich die
   Position zu stärken oder mittels Korruption              Krise für ihre politischen Zwecke zunutze zu
   Ressourcen zu stehlen, die für die Bekämp-               machen. Gäbe es eine sofortige weltweite
   fung der Pandemie gedacht sind.                          Waffenruhe, wie sie der Generalsekretär
                                                            gefordert hat, könnten wir uns auf den wahr-
   In den neuen Technologien steckt enormes
                                                            haften Kampf unseres Lebens konzentrieren.
   Potenzial für den Kampf gegen COVID-19, unter
   anderem für die Entwicklung eines Heilmittels            Im Rahmen ihrer Maßnahmen gegen COVID-19
   oder Impfstoffs und für die Analyse der Krank-           könnten manche Staaten versuchen, auf die
   heitsübertragung. Der Einsatz von Technologien           Terrorismusbekämpfung abzielende Rechts-
   wie künstlicher Intelligenz und großen Daten-            vorschriften und Sicherheitsmaßnahmen auf
   mengen zur Durchsetzung von Notstands- und               eine Art und Weise anzuwenden, die die Men-
   Sicherheitsmaßnahmen oder für die Über-                  schenrechte verletzt. Ein derartiger Missbrauch
   wachung betroffener Bevölkerungsgruppen und              könnte Bedingungen verschärfen, die die Aus-
   die Verfolgung ihrer Bewegungen gibt jedoch              breitung des Terrorismus begünstigen.
   Anlass zur Sorge. Das Missbrauchspotenzial ist
   hoch: Was in einer Notsituation gerechtfertigt           Wer menschenrechtliche Schutzbestimmungen
   ist, kann nach der Krise zum Normalzustand               zurückschrauben möchte, um einen Nutzen
   werden. Ohne angemessene Sicherheitsvorkeh-              aus der Krise zu ziehen, sollte sich dies
   rungen können diese mächtigen Technologien               genau überlegen; ein solcher Schritt unter-
   zu Diskriminierung führen, in das Leben der              gräbt zwangsläufig die Pandemieabwehr
   Menschen eingreifen und ihre Privatsphäre                auf globaler und nationaler Ebene.
   verletzen oder auch zu Zwecken, die weit über
   die Pandemiebekämpfung hinausgehen, gegen
   Personen oder Gruppen eingesetzt werden.
                                                            SCHUTZ ALS VORRANGIGES ZIEL: IN
   Alle Maßnahmen müssen durch sinnvolle
                                                            HUMANITÄREN KRISEN DIE SCHWÄCHSTEN
   Datenschutzbestimmungen flankiert sein und
                                                            SCHÜTZEN
   gesetzeskonform, notwendig, verhältnismäßig,
   zeitlich begrenzt und durch legitime Interessen          Durch den Ausbruch werden Schutzfragen
   der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sein.         noch dringlicher, und für besonders gefährdete
                                                            Bevölkerungsgruppen in bereits bestehenden
   Die Pandemie wirkt sich auf alle Länder aus,             humanitären Krisen entstehen neue Bedrohun-
   doch in manchen wird ihre Bekämpfung durch               gen. Es besteht die Gefahr, dass Konfliktparteien
   bereits bestehende Herausforderungen im                  die Pandemie ausnutzen, um Unsicherheit zu
   Bereich Frieden und Sicherheit zusätzlich                erzeugen oder zu verschärfen und die medizi-
   erschwert. Gepaart mit bereits herrschender              nische Versorgung und andere lebensrettende
   Instabilität stellt die Pandemie eine ernsthafte         Hilfeleistungen und Dienste zu behindern.

21 COVID-19 UND DIE MENSCHENRECHTE: DIE KRISE TRIFFT UNS ALLE
Sie können auch lesen