Grundrechte für Primaten - Positionspapier - primaten-initiative.ch - Sentience Politics

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Grundrechte
                         für ­Primaten
                         Positionspapier
                         Eine Initiative von

primaten-initiative.ch                         03 ⁄ 2021
Nicht-menschliche Primaten sind
    ­hochkomplexe Wesen und ­besitzen ein
     fundamentales Interesse daran,
     zu leben und körperlich und geistig
     ­unversehrt zu bleiben.

    Die ­bestehenden rechtlichen
    ­Bestimmungen in der Schweiz tragen
     ­diesen Interessen aber kaum Rech-
      nung, w
            ­ eshalb P
                     ­ rimaten des Schutzes
    durch Grundrechte ­bedürfen.

    Um die Forderung nach Grund­rechten
    umzusetzen, wird ein konkreter
    ­Vorschlag für eine kantonale ­Initiative
     gemacht, in der die ­Verankerung von
     Grundrechten auf Leben und auf
     körper­liche und geistige Unversehrt-
     heit für nicht-menschliche ­Primaten
     auf ­kantonaler Verfassungsstufe
     ­gefordert wird.
2   Grundrechte für Primaten Positionspapier
Inhaltsverzeichnis

5     Einleitung
6		   Primaten
8		   Tierschutzrecht
13    Grundrechte für Primaten
16    Einwände und Antworten
19    Politische Forderung und Begründung
21    Zusammenfassung
22    Literatur

                                            Positionspapier
                                            von Sentience Politics

                                            Bevorzugte Zitation
                                            Fasel, R., Blattner, C., Manni-
                                            no, A. und Baumann, T. (2016).
                                            ­Grundrechte für Primaten.
                                             Positions­papier von Sentience
                                             Politics (1): 1-18.

                                            Erstveröffentlichung
                                            April 2016
                                            (letztes Update: ­April 2016)
                                            sentience-politics.org

                                            Autor*innen
                                            Raffael Fasel
                                            Sentience Politics
                                            Charlotte Blattner
                                            PhD-Kandidatin im Völker- und
                                            Tierrecht, Universität Basel
                                            Adriano Mannino
                                            Präsident, Sentience Politics
                                            Tobias Baumann
                                            Leiter Strategie, Sentience P
                                                                        ­ olitics

                                            Fotos
                                            Anne Berry

                                            Sentience Politics primaten-initiative.ch   3
Boma                                       ­Nicht-menschliche
                                                ­Primaten sind in ­Bezug
                                                 auf ihre ­Interessen,
                                                 nicht zu leiden und
                                                 nicht getötet zu
                                                 ­werden, ­menschlichen
                                                  ­Primaten ­gleich­wertig.
                                                   Ihnen steht – wie
                                                   den ­Menschen – ein
                                                   ­Grund­recht auf ­Leben
                                                    und auf Unversehrt-
                                                    heit zu.
4   Grundrechte für Primaten Positionspapier
Einleitung

Spätestens seit den Publikationen Charles Darwins lässt     den Kreis der Grundrechtsträger aufzunehmen und da-
sich ein Festhalten an Weltbildern, die den Menschen als    durch ihre Interessen als moralisch und rechtlich gleich-
«Krone der Schöpfung» oder als Spitze einer «­Grossen       wertig anzuerkennen. Sklaverei und Leibeigenschaft
Kette der Wesen» darstellen, nicht mehr rechtfertigen.      wurden formell abgeschafft und Menschen, die ehemals
Trotz der ausserordentlichen Eigenschaften, die der         der Zwangsarbeit unterworfen waren, werden nun auf
Mensch im Laufe der Zeit entwickelt hat, dürfen wir nach    nationaler und internationaler Ebene in ihren Grund-
Darwin «nicht vergessen, dass er nur eine der verschie-     rechten geschützt.3 Frauen ist es gelungen, das Stimm-
denen exceptionellen Formen der Primaten ist.»1 Der         und Wahlrecht sowie vollständige Eigentumsrechte zu
Mensch reiht sich genauer gesagt in eine Ordnung von        erlangen.4 Die Interessen von Kindern und Menschen
über 300 Primatenspezies ein.2 Primaten zeichnen sich       mit Behinderungen werden heute ebenfalls durch
im Vergleich zu vielen anderen Tieren durch ihr grosses     Grundrechte geschützt.5 Zudem werden im Bereich von
Gehirn, ihre komplexe Sozialstruktur und ihre hohe physi-   LGBT-Rechten immer mehr Fortschritte ­erzielt.6 Trotz
sche und psychische Leidensfähigkeit aus. Für P­ rimaten,   des bestehenden Verbesserungspotenzials stellen all
die nicht der Spezies Homo sapiens angehören, werden        diese rechtlich-moralischen Fortschritte unerlässliche
diese Fähigkeiten und Eigenschaften jedoch regelmäs-        Meilensteine in der Schaffung einer gerechteren Gesell-
sig zum Verhängnis: Nicht-menschliche Primaten gelten       schaft dar.
zum Beispiel als besonders attraktiv für biomedizinische
Forschung, sie werden zur Belustigung und zu Bildungs-      Mitgefühl und eine rationale Anwendung moralischer
und Konservierungszwecken aus­gestellt, und sie werden      und rechtlicher Prinzipien drängen sich indessen nicht
als exotische Haustiere gehalten.                           nur bei Menschen auf, sondern auch bei nicht-mensch-
                                                            lichen Tieren. Ziel dieses Positionspapieres ist es, auf-
Je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse wir über die be-     zuzeigen, dass die Interessen von nicht-menschlichen
merkenswerten Eigenschaften von nicht-menschlichen          ­Primaten durch Grundrechte geschützt werden m   ­ üssen.
Primaten erlangen, desto schwieriger wird es, solche         Konkret fordern wir die Einführung eines Grundrechts
Praktiken moralisch zu rechtfertigen. Einer der zent-        auf Leben und eines Grundrechts auf körper­liche und
ralsten Gerechtigkeitsgrundsätze lautet, dass Gleiches       geistige Unversehrtheit für nicht-menschliche Prima-
gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleich-         ten auf kantonaler Verfassungsstufe. Zu diesem Zweck
heit ungleich zu behandeln ist. In diesem Positions-         stellen die nächsten Kapitel dar, über welche beson-
papier zeigen wir auf, dass nicht-menschliche Primaten       deren Fähigkeiten und Interessen nicht-mensch­     liche
in Bezug auf ihre Interessen, nicht zu leiden und nicht      Primaten verfügen und dass die heutige Schweizer
                                                             ­
getötet zu werden, menschlichen Primaten gleichwer-          Rechtslage und Praxis selbst die fundamentalsten dieser
tig sind und ihnen deshalb – wie den Menschen – ein          Interessen – wie jene nach Leben und Unversehrtheit –
Grundrecht auf Leben und ein Grundrecht auf Unver-           trivia­len menschlichen Interessen unterordnet. Wie wir
sehrtheit zusteht.                                           aufzeigen, bedürfen Primaten deshalb des Schutzes
                                                             durch Grundrechte auf Leben und Unversehrtheit, um
Diese Ausweitung des grundrechtlichen Schutzes auf           die Sicherstellung ihrer vitalen Interessen zu garantie-
nicht-menschliche Primaten drängt sich in Anbetracht         ren. Mögliche Einwände und Bedenken, die gegen diese
des moralischen Fortschrittes in Richtung einer diskri-      Forderung nach Grundrechten für nicht-menschliche
minierungsfreien Gesellschaft auf, den wir seit einigen      Primaten erhoben werden können, erweisen sich als
Jahrzehnten erleben. Noch vor nicht allzu langer Zeit        unbegründet. Um die Erkenntnisse dieses Positions-
wurden bestimmte Menschen aufgrund willkürlicher             papiers in praktische Form zu giessen, präsentieren wir
Kriterien wie Hautfarbe, Ethnie, Herkunft oder Ge-           im letzten Kapitel unseren konkreten Vorschlag für die
schlecht als minderwertig eingestuft und diskriminiert.      kantonale Initiative «Grundrechte auf Leben und Unver-
Diesen angeblich primitiven Menschen wurden viele,           sehrtheit für alle Primaten» im Kanton Basel-Stadt.
wenn nicht sogar alle, Grundrechte entzogen. Zwangs-
arbeit, Leibeigenschaft, Misshandlung und die Verwei-
gerung angemessener politischer Repräsentation sind
nur einige der Ungerechtigkeiten, die diesen Menschen
widerfahren sind. Vielerorts ist es dank intensiven ge-
sellschaftlichen Debatten gelungen, diese Menschen in

                                                                                 Sentience Politics primaten-initiative.ch   5
Primaten

    Biologische Systematik
    und Verteilung

    Primaten bilden eine eigene Ordnung innerhalb der
    Klasse der Säugetiere und umfassen sowohl mensch-
    liche wie auch nicht-menschliche Primaten.7 In ihren
    Grundsätzen lässt sich die Ordnung der Primaten wie
    folgt unterteilen:

                                                                                                               Systematik
                                                                                                               der Primaten
                                                                           Primaten
                                                                                     Primates

                   Feucht-                                                                                                                 Trocken-
                   nasen-                                                                                                                   nasen-
                  primaten                                                                                                                 primaten
                      Strepsirrhini                                                                                                         Haplorrhini

                                                                                                      Kobold-
                                                  Lemuren                                              makis
                                                  Lemuriformes                                         Tarsiiformes

          Loriartige                                                                                                                                       Affen
                                                                                                                                                          Anthropoidea
            Lorisiformes

                                                                 Fingertiere                                                Altwelt-
                                                                 Daubentoniidae                                              affen
                                                                                                                              Catarrhini
                                      Loris
                                      Lorisidae
                                                                                            Menschen-
                                                                                              artige
                                                                                                Hominoidea
                                                                                                                                                           Neuwelt-
              Galagos                                                                                                                                       affen
              Galagonidae                           Lemuroidea                                                                                               Platyrrhini
                                                                                                                 Geschwänzte
                                                                                                                   Altwelt-
                                                                                  Gibbons                           affen
                                                                                                                      Cercopithecoidea

                                                                                            Menschen-
                                                                                              affen
                                                                                                                                                 Ceboidea

                                                                                                                           Pithecoidea

    Innerhalb der Überfamilie der Menschenartigen können                                    liche Primaten leben allerdings in Gefangenschaft, dies
    die zwei Familien Gibbons und Menschenaffen unter-                                      vor allem in Nordamerika und Europa. Nicht-mensch­
    schieden werden. Zu den letzteren werden die Spezies                                    liche Primaten werden in der Schweiz entweder in Zoos
    Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse, Bonobo sowie der                                       oder in Käfigen privater Unternehmen oder öffentlicher
    Mensch gezählt.8                                                                        Universitäten gehalten. Im Kanton Basel-Stadt etwa
                                                                                            wurden im Jahr 2014 knapp 180 nicht-menschliche
                                                                                            ­
    Freilebende nicht-menschliche Primaten sind auf der                                     Primaten in der Forschung eingesetzt, was 71  % aller
    Erde weit verbreitet und kommen in Afrika, Indien,                                      schweizweit für Forschungszwecke gehaltenen nicht-
    Südost­asien und Südamerika vor.9 Viele nicht-mensch-                                   menschlichen Primaten entspricht.10 Im Zoo Basel

6   Grundrechte für Primaten Positionspapier
l­ebten im Jahr 2015 zusätzlich rund 130 nicht-mensch-       Beispiel beherrscht der Bonobo Kanzi, der bei der Ape
 liche Primaten.11 Wenn die Zahl der in der Tierversuchs-    Cognition and Conservation Initiative (ACCI) in Iowa
 forschung eingesetzten nicht-menschlichen Primaten          lebt und dessen kognitive Fähigkeiten über Jahrzehnte
 mit jener des Vorjahres vergleichbar bleibt, existieren     untersucht wurden, mehr als 400 Lexigram-Symbole
 derzeit allein in Basel-Stadt gesamthaft mehr als 300       (eine Art Tastatur, auf der Symbole abgebildet sind). Dies
 nicht-menschliche ­Primaten.                                erlaubt ihm, mit Menschen über Objekte, Orte, Aktivitä-
                                                             ten, Erlebtes und zukünftige Pläne zu kommunizieren.23
                                                             Schimpansen konnten sogar dabei beobachtet werden,
                                                             wie sie eine von ihnen erlernte Zeichensprache jungen
Eigenschaften                                                Schimpansen weitervermittelten und diese die Sprache
                                                             ohne weiteres menschliches Zutun erlernt haben.24
und Fähigkeiten
                                                              Primaten verfügen ferner über die Fähigkeit, sich geistig
Zu den Charakteristiken, die alle Primaten verbinden,         in andere Individuen hineinzuversetzen. Einige Primaten
gehören – abgesehen von physischen Eigenschaften,             tricksen andere dadurch aus, dass sie deren Verhalten
wie spezialisierte Nervendenden in Händen und Füssen          vorhersehen, indem sie darauf achten, was diese sehen,
oder separate Greifzehen12 – ausserordentliche Verhal-        hören oder beabsichtigen – und ihr eigenes Verhalten
tensmerkmale und Fähigkeiten.                                 entsprechend anpassen.25 Dieses Verhalten ist ver-
                                                              knüpft mit der Fähigkeit von Primaten, mentale Zeitrei-
So verfügen Primaten über eine hohe soziale Intelli-          sen zu unternehmen. Das heisst, dass sie sich an ver-
genz, deren Entstehung und Entwicklung insbesonde-            gangene Ereignisse erinnern und zukünftige Ereignisse
re auf die Anforderungen ihres komplexen Soziallebens         voraussehen können. Entgegen einer lange verbreiteten
zurück­zuführen ist.13 Junge Primaten bleiben verhältnis-     These haben neueste Forschungen bei Prima­ten ge-
mässig lange von Erwachsenen abhängig. Dies erlaubt           zeigt, dass sie künftige Bedürfnisse, wie zum Beispiel
es ihnen, die notwendigen Fähigkeiten zu erlernen, die        Durst oder Hunger, vorhersehen können, selbst wenn
für das Überleben und Funktionieren in einer komplexen        sie das betreffende Bedürfnis zum jeweiligen Zeitpunkt
sozialen Gruppe unabdingbar sind.14 Dazu gehört die           noch nicht verspüren.26 Der Schimpanse Santino konn-
Fähigkeit, Empathie gegenüber anderen Primaten zu            te ausserdem in einem schwedischen Zoo dabei beob-
empfinden.15 In einer Studie an Rhesusaffen konnte zum       achtet werden, wie er systematisch Steine und andere
Beispiel festgestellt werden, dass diese es bevorzugen,      Wurfgeschosse sammelte und versteckte, um sie ­später
auf Essen zu verzichten, wenn sie dadurch verhindern         herauszuholen und Besuchergruppen, die an seinem
können, dass ihren Kameraden elektrische Schocks zu-         Gehege vorbeikamen, damit zu bewerfen.27 Zudem
gefügt werden.16 Primaten trauern ausserdem um ver-          ­können sich Primaten selbst im Spiegel erkennen – ein
storbene Bekannte.17                                          unter Forschern anerkannter Beweis für ein Ich- oder
                                                              Selbstbewusstsein.28
Wie menschliche Primaten kennen auch nicht-menschli-
che Primaten soziales Lernen, das zuerst durch die ­Mutter   Schliesslich steht heute ausser Frage, dass Primaten
und später durch erweiterte Gruppen gefördert wird.18        höchst schmerzempfindungsfähige Individuen sind.
Durch die «do-as-I-do»-Lerntechnik bringen sich Prima-       Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass alle
ten gegenseitig bei, wie man Futter beschafft, am ­besten    Primaten über ein hochentwickeltes zentrales Nerven-
den Wald durchstöbert oder Werkzeuge gebraucht und           system verfügen und ähnliche Neuronen- und Hirn-
herstellt.19 Insbesondere – aber nicht nur – bei Men-        strukturen aufweisen.29 Nicht-menschliche Primaten
schenaffen spricht man dabei auch von eigenen Kultu-         sind nicht nur in der Lage, physischen Schmerz zu emp-
ren und Traditionen.20 So wurde zum Beispiel bei zwei        finden, sondern sie leiden auch psychisch. Primaten er-
Schimpansengruppen in Westafrika beobachtet, dass die        leiden schwere Verhaltensstörungen wie Depressionen
westlich des Flusses Sassandra-N’Zo lebende Gruppe die       und andere geistige Störungen durch negative Ereignis-
Tradition pflegt, Nüsse auf eine bestimmte Weise zu kna-     se wie soziale Trennungen, sozialen Entzug, mütterliche
cken. Die östlich des Flusses lebende Gruppe hingegen        Vernachlässigung oder Missbrauch.30
knackt k­ eine Nüsse, obwohl das Vorkommen an Nüssen
auf beiden Seiten des Flusses vergleichbar ist.21            Dieser kurze Überblick zeigt, dass nicht-menschliche
                                                             Primaten Individuen mit einer hohen sozialen Intelli-
Auch die Tatsache, dass Primaten ausserordentlich            genz, Selbstbewusstsein, Zukunfts- und Vergangen-
gut im Kommunizieren sind, überrascht kaum. Sie tau-         heitssinn sowie ausgeprägter Schmerzempfindungs­
schen sich untereinander sowie mit anderen Individuen        fähigkeit sind.
sowohl durch Vokalisierung als auch durch Gestik aus.
Dabei verfügen sie über individualisierte Laute und
Dialekte.22 Bestimmte Primaten haben ausserdem ge-
lernt, mit abstrakten Symbolen zu kommunizieren. Zum

                                                                                  Sentience Politics primaten-initiative.ch   7
Tierschutzrecht

    In der Schweiz sind auf nicht-menschliche Primaten ver-      ­ ieres nicht durch überwiegende Interessen gerecht­
                                                                 T
    schiedene tierschutzrechtliche Bestimmungen anwend-          fertigt werden kann.»32
    bar. Der nachfolgende Überblick wird aufzeigen, dass
    dieser Rechtsschutz ungenügend ist, da der Kern der          Das TSchG bestimmt sodann in Art. 4 Abs. 1, dass je-
    Interessen nicht-menschlicher Primaten auf Leben und         der, der mit nicht-menschlichen Tieren umgeht, deren
    Unversehrtheit nicht geschützt ist. Dieser unzureichen-      Bedürfnisse in bestmöglicher Weise zu berücksichti-
    de Rechtsschutz wirkt sich auch in der Praxis aus: Die       gen hat sowie – «soweit es der Verwendungszweck zu-
    im Tierschutzgesetz vorgesehenen Interessenabwägun-          lässt» – für ihr Wohlergehen zu sorgen hat. Insbeson-
    gen fallen in aller Regel zuungunsten der Tiere aus. Eine    dere darf gemäss Abs. 2 niemand «ungerechtfertigt
    ernsthafte Verbesserung des Schutzes der Interessen          einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es
    nicht-menschlicher Primaten ist deshalb nur durch die        in Angst versetzen oder in anderer Weise seine Würde
    Einführung von Grundrechten zu erreichen, welche den         missachten.»33
    Kerngehalt der Interessen auf Leben und Unversehrtheit
    garantieren. Ein Blick auf die internationale Rechtslage     Der generelle Grundsatz, gemäss welchem Eingriffe
    wird aufzeigen, dass die Forderung nach Grundrechten für     in die Interessen von Tieren gerechtfertigt sind, wenn
    nicht-menschliche Primaten in anderen Staaten schon          diesen überwiegende Interessen entgegenstehen, wird
    beträchtliche Erfolge erzielen konnte und die Schweiz        im TSchG durch eine Reihe von Bestimmungen spezi-
    hier entsprechenden Nachholbedarf hat.                       fiziert. So wendet Art. 19 Abs. 4 TSchG das Prinzip der
                                                                 Interessenabwägung auf Tierversuche an. Gemäss die-
                                                                 ser Bestimmung ist ein Tierversuch dann unzulässig,
                                                                 «wenn er gemessen am erwarteten Kenntnisgewinn
                                                                 dem Tier unverhältnismässige Schmerzen, Leiden
    Rechtslage                                                   oder Schäden zufügt oder es in unverhältnismässi-
    in der Schweiz                                               ge Angst versetzt.»34 Des Weiteren regeln die Art. 17 ff.
                                                                 TSchG, dass Tierversuche bewilligungspflichtig und auf
                                                                 das unerlässliche Mass zu beschränken sind, wenn sie
    Bestehende Rechtslage in der Schweiz                         nicht-menschlichen Tieren Schmerzen, Angst oder wei-
    Gemäss Art. 80 Abs. 1 der Bundesverfassung (BV) hat          tere Schäden zufügen oder ihre Würde in anderer Weise
    der Bund die Kompetenz zur Regelung des Schutzes von         missachten.
    nicht-menschlichen Tieren, von welcher er mit dem Er-
    lass des Tierschutzgesetzes (TschG) Gebrauch gemacht         Der Bundesrat hat die Bestimmungen des TSchG in
    hat. Zweck des Tierschutzgesetzes ist gemäss Art. 1          der Tierschutzverordnung (TSchV) konkretisiert. D  ­ iese
    TSchG der Schutz der Würde und des Wohlergehens von          enthält mehrere Bestimmungen, die explizit nicht-
    Tieren. Der Würdeschutz ergibt sich bereits aus Art. 120     menschliche Primaten betreffen, wie beispielsweise
    Abs. 2 BV, welcher festlegt, dass der Bund der Würde der     Bestimmungen zu Haltebewilligungen (Art. 92 Abs. 1
    Kreatur Rechnung tragen muss. Gemäss herrschender            Bst. b TSchV), zur Art der eingesetzten Primaten in Tier­
    Lehre und Rechtsprechung gilt dieser verfassungsrecht-       versuchen (Art. 118 Abs. 4 TSchV) sowie zu den spezifi-
    liche Würdeschutz sowohl für Tiere und Pflanzen und ist      schen Anforderungen an die Haltebedingungen (Ziff. 14
    entgegen dem Wortlaut («Vorschriften über den Um-            und Tabelle 3 des Anhangs zur TSchV).
    gang mit Keim- und Erbgut») nicht nur bei der Gentech-
    nologie zu beachten, sondern hat generelle Anwendung         Auf den ersten Blick scheinen diese Bestimmungen am-
    in der Rechtsordnung.31 Das heisst, ihm muss von der         bitioniert zu sein.35 Wer jedoch genauer hinsieht, ent-
    Legislative, der Judikative und der Exekutive in all ihren   deckt schnell, dass die bestehende Rechtslage durch
    Handlungen und Aufträgen Rechnung getragen werden.           zwei grundlegende Mängel geprägt ist, die sich für den
    Unter «Würde» versteht das TSchG gemäss Art. 3 Bst. a        Schutz der Interessen nicht-menschlicher Primaten
    TSchG den Eigenwert eines Individuums, der geachtet          verheerend auswirken.
    werden muss. Das TschG macht dabei von einer Inter-
    essenabwägung abhängig, ob dieser Eigenwert gewahrt          Der erste Mangel ist ein rechtlicher: Die Bestimmungen
    oder missachtet wird. Eine solche Missachtung liegt          des TSchG und der TSchV sehen vor, dass selbst der Kern
    gemäss TSchG nur dann vor, «wenn eine Belastung des          der Interessen auf Leben und Unversehrtheit einer Inter-

8   Grundrechte für Primaten Positionspapier
essenabwägung unterliegt.36 Nicht-menschliche Prima-          bleiben auf der Strecke.42 Ein anschauliches Beispiel
ten können deshalb jederzeit getötet oder es kann auf         für diese Unterordnung fundamentaler Interessen von
schwerwiegendste Weise in ihre körperliche und geisti-        Primaten ist ein Versuch an Makaken, der vor wenigen
ge Unversehrtheit eingegriffen werden, wenn entgegen-         Jahren an der Universität Freiburg durchgeführt wur-
stehende Interessen dies rechtfertigen. Anders als Men-       de. Bei diesem Versuch wurden zwei Makaken elektro-
schen, deren Interessen auf Leben und Unversehrtheit          nische Sonden ins Gehirn implantiert. Anschliessend
durch den Kerngehalt ihrer Grundrechte auf Leben und          wurde ­ihnen das Rücken­mark chirurgisch durchtrennt,
Unversehrtheit geschützt sind, fehlt ein solcher Kern-        um ihre Hände halbseitig zu lähmen. Die Tiere wurden
gehaltsschutz für die Interessen nicht-menschlicher           dann über M ­ onate dazu angehalten, mit gelähmter Hand
Primaten gänzlich. Damit schützen die bestehenden             ­Futter aus Vertiefungen herauszuholen. Danach wurden
Normen die Interessen auf Leben und Unversehrtheit             die zwei gelähmten Makaken sowie zwei weitere Affen,
von nicht-menschlichen Primaten wesentlich schlech-            deren Rückenmark nicht durchtrennt wurde, getötet
                                                               ­
ter als die vergleichbaren Interessen von menschlichen         und seziert.43 Dieser Tierversuch wurde von der zustän-
Primaten.                                                     digen kantonalen Kommission bewilligt, da sie das ­Leben
                                                              und die Unversehrtheit der Primaten dem behaupteten
Dass die im Tierschutzgesetz vorgesehene Interessen-          poten­ziellen Erkenntnisgewinn unterordnete. Eine durch
abwägung keinen Schutz des Kerns der Interessen auf           die Ärztinnen und Ärzte für Tierschutz in der Medi­zin
Leben und Unversehrtheit mit sich bringt, wird auch           durchgeführte Studie über den betreffenden Tierversuch
vom Bundesgericht bestätigt. Dieses musste sich im            kam allerdings zum Schluss, dass der konkrete Versuch
Jahr 2009 mit der rechtlichen Zulässigkeit von Rhesus-        mit dem Nützlichkeitsgrad 0 («kein Nutzen oder nur ein
affenversuchen an der Universität Zürich und der ETH          fraglicher Nutzen erkennbar für Mensch und Tier») hätte
Zürich auseinandersetzen.37 Obwohl das Bundesge-              bewertet – und folglich abgelehnt – werden müssen.44
richt in den konkreten Fällen den Entscheid fällte, dass      Diese Einschätzung wurde durch eine unabhängige Stu-
die Versuche wegen des gänzlich unwahrscheinlichen            die von australischen Forschern bestätigt.45
Erkenntnis­gewinns unzulässig sind, hielt es am Grund-
satz fest, dass bei einem genügenden Erkenntnisgewinn         Der ungenügende Schutz durch das Tierschutzrecht
selbst in die vitalsten Interessen von nicht-mensch­          sowie dessen unzureichende praktische Anwendung
lichen Primaten eingegriffen werden kann.                     machen deutlich, dass rechtliche Massnahmen jen-
                                                              seits des TSchG getroffen werden müssen. Eine solche
Das zweite damit verbundene Defizit liegt in der man-         Massnahme ist die Verankerung von Grundrechten
gelhaften Anwendung der bestehenden Tierschutz­               für nicht-menschliche Primaten. Dass dies gerade bei
normen. In der Praxis kommt es nämlich häufig dazu,           nicht-menschlichen Primaten besonders vordringlich
dass die Interessen nicht-menschlicher Primaten nicht         ist, haben die Eidgenössische Ethikkommission für die
nur gewichtigeren entgegenstehenden Interessen wei-           Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) und die
chen müssen, sondern vielfach auch trivialen Interes-         Eidgenössische Kommission für Tierversuche (EKTV) in
sen untergeordnet werden.38 Damit wird deutlich vom           einem gemeinsamen Bericht zur Konkretisierung der
Wortlaut der bestehenden Tierschutzbestimmungen               Würde der Kreatur betont. So kamen beide Kommis-
abgewichen, die einen Eingriff in tierliche Interessen nur    sionen zum Schluss, dass die bestehende Rechtslage
beim Konflikt mit überwiegenden Interessen erlauben.          ­gerade bei solch «‚höheren’ Tieren»46 unzureichend ist:
Anders gesagt kommt es in der Anwendung also häu-
fig zu ­unverhältnismässigen Eingriffen in das Leben und
die Unversehrtheit von nicht-menschlichen Primaten,
was in der Lehre darauf zurückgeführt wird, dass die im
                                                              «Menschenaffen verfügen in einem
TSchG vorgesehene Interessenabwägung «strukturell             hohen Grade über ‹menschliche›
anthropozentrisch prädisponiert»39 ist.                       Eigenschaften wie Selbstbewusst-
                                                              sein, Individualität und Vernunft-
Diese defizitäre Praxis wird zum Beispiel bei Tierversu-
chen deutlich.40 Berichte aus der Bewilligungspraxis für      fähigkeit. Es stellt sich die ­Frage,
Tierversuche zeigen auf, dass die vorgeschriebene Inte-       ob der Schutz der Würde der
ressenabwägung häufig auf unzureichende Weise vor-            ­Kreatur diesen besonderen Eigen-
genommen wird. Tierversuchskommissionen erachten
es regelmässig als genügend, wenn die Forschenden
                                                               schaften gerecht werden kann oder
selbst bestätigen, dass allfällige Erkenntnisgewinne für       ob der Umgang mit Menschen­
neue Therapien in Aussicht stünden und diese gewich-           affen und möglicherweise mit allen
tiger als die Interessen der Versuchstiere seien.41 Die In-    ­Primaten über das Tierschutz­
teressenabwägung verkommt so nicht selten zu einer
blossen Formalie und die vitalen Interessen auf Leben           gesetz hinaus noch speziell ge­
und Unversehrtheit von nicht-menschlichen ­Primaten             regelt werden müsste.»47

                                                                                   Sentience Politics primaten-initiative.ch   9
Dieser Überblick über die Rechtslage und Praxis in           Internationale
     der Schweiz macht deutlich, dass das Interesse nicht-
     menschlicher Primaten auf körperliche und geistige
                                                                  Forderungen nach
     Unver­sehrtheit sowie auf Leben nicht genügend ge-           Grundrechten
     schützt ist. Anders als bei menschlichen Primaten wird der
     Kern ihres Interesses auf Leben und auf Unversehrtheit       Auch auf internationaler Ebene sind die besonderen
     rechtlich nicht gewahrt, und in der Anwendung werden         Eigenschaften und Fähigkeiten von Primaten Anlass für
     diese Interessen selbst trivialen menschlichen Interessen    rechtlich-politische Forderungen geworden.
     untergeordnet. Nicht-menschliche Primaten bedürfen
     deshalb des rechtlichen Schutzes durch Grundrechte, die      Im April 2015 erkannte eine Richterin am New York
     über den bestehenden Tierschutz hinausgehen.                 Supreme Court implizit an, dass Schimpansen als
                                                                  ­
                                                                  Rechtspersonen gelten und Grundrechte auf Unver-
                                                                  sehrtheit und Bewegungsfreiheit besitzen können. Das
                                                                  Nonhuman Rights Project (NhRP) hatte das Gericht
     Politische Vorstösse                                         mit einer habes corpus-Klage aufgefordert, die Recht-
                                                                  mässigkeit der Gefangenschaft zu prüfen, in der sich
     in der Schweiz                                               die Schimpansen befanden.57 In Deutschland wurde am
                                                                  23. April 2014 beim Deutschen Bundestag die Petition
     In der jüngeren Vergangenheit wurden verschiedene            «Grundrechte für Menschenaffen» durch die Giordano-
     Vorstösse im Parlament eingereicht, die auf eine Ver-        Bruno-Stiftung eingereicht. Die Petition fordert die Er-
     besserung des rechtlichen Schutzes von nicht-mensch-         gänzung des Art. 20a des deutschen Grundgesetzes
     lichen Primaten zielten. Diese Vorstösse sind Ausdruck       mit dem folgenden Absatz: «Das Recht der Grossen
     eines wachsenden Bewusstseins über die zuweilen ekla-        Menschenaffen auf persönliche Freiheit, auf Leben und
     tanten Missstände im rechtlichen Schutz von Primaten.        körper­liche Unversehrtheit wird geschützt». 2008 wurde
                                                                  von der Umweltkommission des spanischen Parlamen-
     Aktuell ist im Parlament die Behandlung der folgenden        tes eine Vorlage gutgeheissen, welche es sich – ähnlich
     drei Motionen ausstehend, die 2015 im Parlament ein-         wie die Petition im Deutschen Bundestag – zum Ziel ge-
     gereicht wurden: die Motionen «Verbot von belastenden        setzt hat, die Forderungen des Great Ape Projects (GAP)
     Tierversuchen an Primaten»48, «Verbot von Tierversu-         umzusetzen. Das GAP ist eine durch die Philosophen
     chen für Kosmetika, Reinigungs- und Haushaltsmittel»49       Paola ­Cavalieri und Peter Singer ins Leben gerufene Be-
     sowie «Importverbot für Jagdtrophäen»50.                     wegung, die in vielen Ländern Fuss gefasst hat und auf
                                                                  politischem Weg versucht, Grundrechte für Menschen-
     Der unzureichende Primatenschutz wurde auch in den           affen rechtlich einzufordern.58 Das GAP setzt sich insbe-
     vergangenen Jahren immer wieder mit parlamentari-            sondere dafür ein, dass das Grundrecht auf Leben, das
     schen Vorstössen moniert. Im Jahre 2006 wurde eine           Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit
     parlamentarische Initiative zu einem «Verbot von mittel-     sowie das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit für Men-
     und schwerbelastenden Tierversuchen an Primaten»51           schenaffen rechtlich verankert wird.59
     eingereicht, welche sich auf den von der EKTV und EKAH
     ausgearbeiteten Bericht «Forschung an Primaten – eine        Nebst diesen nationalen Fortschritten wird auch auf
     ethische Bewertung» stützte. Auf eine Verbesserung des       ­zwischenstaatlicher Ebene die Forderung nach Grund-
     rechtlichen Schutzes von Primaten zielten ferner auch         rechten für nicht-menschliche Tiere immer lauter.
     die Interpellationen «Stopp der Tierzucht in Zoos als         So fordern zum Beispiel die Universal Charter of the
     Publikumsmagnet»52, «Massnahmen gegen den illega-             Rights of ­Other Species sowie die Declaration of Ani-
     len Buschfleischhandel»53 und «Marmosetten-Versuch            mal Rights, dass nicht-menschlichen Tieren ein Recht
     der ETHZ»54, die Anfrage «Würde der Tiere in Schweizer        auf Leben, ein Recht auf körperliche und geistige Unver-
     Zoos»55 sowie das Postulat «Versuche an Primaten»56 ab.       sehrtheit, ein Recht auf Bewegungsfreiheit sowie weite-
                                                                   re Grundrechte zuerkannt werden.60
     Zwar zeigen die hier genannten Vorstösse auf, dass das
     Parlament wiederholt die Besorgnis der Bevölkerung in        Dieser Blick über die Grenzen macht deutlich, dass
     Bezug auf den ungenügenden Schutz nicht-menschlicher         ­unsere Forderung nach einem Grundrecht auf Leben
     Primaten diskutiert. Die gemachten Forderungen verpas-        und auf körperliche und geistige Unversehrtheit für
     sen es jedoch, den herausragenden Fähigkeiten und Inte-       nicht-menschliche Primaten Teil einer globalen Bewe-
     ressen von Primaten genügend Rechnung zu tragen, da           gung ist, die bereits bedeutende Erfolge verzeichnen
     keiner der Vorstösse auf die Gewährleistung eines Grund-      konnte. Auch die Schweiz sollte die geltende Rechtslage
     rechts auf Leben oder eines Grundrechts auf körperliche       für nicht-menschliche Primaten anpassen und diesen
     und geistige Unversehrtheit abzielt. Diese Grundrechte        Grundrechte einräumen.
     sind gerade für nicht-menschliche Primaten unabdingbar,
     wie wir im Kapitel «Grundrechte für Primaten» darlegen.

10   Grundrechte für Primaten Positionspapier
Primaten sind hochgradig ­soziale
­Wesen. Sie verfügen über eine
 hohe ­soziale Intelligenz, deren Ent­
 stehung und Entwicklung insbe­
 sondere auf die ­Anforderungen ihres
 komplexen Soziallebens zurück­
 zuführen ist. So trauern Primaten zum
 Beispiel um verstorbene Bekannte
 und empfinden ­Empathie gegenüber
 ­anderen Primaten.

                          Sentience Politics primaten-initiative.ch   11
Eja

     Können nur
     Menschen
     Grundrechte
     haben?

12   Grundrechte für Primaten Positionspapier
Grundrechte
für Primaten

Warum Grundrechte?                                          Auch Sachen werden durch Verbote «geschützt», aber
                                                            über Grundrechte verfügen nur Individuen, die beson-
                                                            ders schützenswerte Eigenschaften und Interessen
Der obige Überblick verdeutlicht, dass das heutige Tier-    ­haben. Wer in den Kreis der Grundrechtsträger aufge-
schutzrecht und dessen Anwendung für den Schutz der          nommen wird, geniesst einen höheren Status als ­Sachen
fundamentalen Interessen auf Leben und Unversehrt-           oder Wesen, die nicht über diesen Status verfügen. Dem
heit von nicht-menschlichen Primaten ungenügend              Konzept des Grundrechtsträgers kommt somit eine ge-
sind, da nach geltendem Recht der Kern der Interessen        sellschaftliche Signalwirkung zu:
nicht-menschlicher Primaten auf Leben und Unver-
sehrtheit nicht geschützt ist und diese Interessen in der   Durch die Anerkennung nicht-
Praxis zudem selbst trivialen menschlichen Interessen
untergeordnet werden. Wie auch die EKAH und die EKTV
                                                            menschlicher Primaten als Grund-
feststellen, bedürfen die Interessen nicht-menschlicher     rechtsträger wird gegenüber
Primaten deshalb eines speziellen rechtlichen Schutzes.     ­anderen Gesellschaftsmitgliedern
Dieser spezielle rechtliche Schutz kann durch Grund-         ausgedrückt, dass die grundrecht-
rechte gewährleistet werden. Denn Grundrechte brin-
                                                             lich geschützten ­Interessen nicht-
gen im Vergleich zum bestehenden Tierschutzgesetz
mehrere zentrale Vorteile mit sich:                          menschlicher Primaten gleich­wertig
                                                             mit vergleichbaren Interessen
Grundrechte weisen nebst einem einschränkbaren Schutz-       ­anderer Grundrechtsträger sind.
bereich einen Kerngehalt auf, der unter keinen Umständen
eingeschränkt werden darf. Während also der normale
Schutzbereich bei Konflikten mit anderen Interessen einer   Das heisst, dass die Interessen aller Individuen, die Grund-
Abwägung zugänglich ist (siehe dazu das Unterkapitel        rechte auf Leben oder auf Unversehrtheit besitzen, in Be-
«Grundrechtseinschränkungen»), dürfen die sich im Kern-     zug auf diese Interessen gleichwertig zu schützen sind.62
gehalt befindlichen Interessen nie abgewogen werden.        Unter Grundrechtsträgern wird also mit gleich langen
Dieser Kerngehalt von Grundrechten garantiert, dass die     Ellen gemessen oder, anders ausgedrückt, Grundrechts-
zentralsten Aspekte eines durch ein Grundrecht geschütz-    träger befinden sich auf gleicher Augenhöhe, wenn es um
ten Interesses nicht entgegenstehenden Interessen – und     ihre durch Grundrechte geschützten Interessen geht.
seien diese noch so gross – geopfert werden darf.           Dadurch wird garantiert, dass fundamentale Interes-
                                                            sen nicht-menschlicher Primaten ernstgenommen und
Im Vergleich zu blossen Verboten, wie etwa dem Verbot       nicht trivialen menschlichen Interessen untergeordnet
tierquälerischer Handlungen, haben Grundrechte ausser-      werden. Diese Funktion von Grundrechten erklärt auch,
dem den Vorteil, dass sie genereller gefasst sind und so-   weshalb das Erlangen von Grundrechten historisch gese-
mit Raum für eine dynamische Weiterentwicklung bieten,      hen von zentraler Bedeutung war für Gruppen, die vorher
die wiederum einen verbesserten Schutz ermöglicht. So       rechtlich nicht ernstgenommen wurden. Der Kampf um
ist zum Beispiel das für Menschen garantierte Grundrecht    Grundrechte war für Sklaven, Schwarze, Frauen, Behin-
auf Leben in Art. 10 Abs. 1 BV nicht gleichzusetzen mit     derte und andere Gruppen nicht nur deshalb wichtig, weil
dem strafrechtlichen Verbot, Menschen zu töten. Denn        dies mehr Verbote für andere mit sich brachte, sondern
anders als aus diesem Verbot ergibt sich aus dem Grund-     weil sie damit in den Kreis der Grundrechtsträger aufge-
recht auf Leben eine positive Schutzpflicht des Staates     nommen wurden.
in Fällen, in denen eine Tötung, ein Verschwindenlassen
oder sonst eine Lebensgefährdung droht.61 ­Grundrechte      Da Grundrechte einen derart starken rechtlichen und so-
sind mit anderen Worten nicht auf ein negatives Ver-        zialen Schutz mit sich bringen, werden sie häufig auch als
bot beschränkt, sondern geben zusätzlich eine positive      «Trümpfe»63 bezeichnet. Sie schützen die Interessen ihrer
Stossrichtung vor, nach welcher bestimmte Interessen        Träger besonders gut und garantieren diese im Kern­
(wie Leben und Unver­sehrtheit) zu schützen sind.           gehalt gar absolut. Für einen effizienten Schutz der Inte-
                                                            ressen nicht-menschlicher Primaten auf Leben und Un-
Ferner besitzen Grundrechte eine sozialgestaltende          versehrtheit bedürfen diese deshalb eines Grundrechts
Funktion, welche durch Verbote nicht gedeckt wird.          auf Leben und eines Grundrechts auf Unversehrtheit.

                                                                                  Sentience Politics primaten-initiative.ch   13
Können nur Menschen                                           allen nicht-menschlichen Primaten gibt. Selbst wenn es
                                                                   so eine Differenz gäbe, griffe die Diskussion ins Leere:
     Grundrechte haben?
                                                                   Eine Eigenschaft, die nur und alle Menschen besitzen,
                                                                   würde höchstens ein Grundrecht begründen, welches die
     Gibt es einen Grund, warum nur Menschen Grundrechte           betreffende Eigenschaft schützt. Fundamentale Eigen-
     besitzen sollten? Wie oben aufgezeigt wurde, stellt die       schaften und Interessen, wie jene nach Leben und Un-
     Spezies Homo sapiens keine eigene Ordnung innerhalb           versehrtheit, besitzen jedoch auch nicht-menschliche
     der Säugetiere dar. Vielmehr ist der Mensch eine von über     Primaten.
     300 Primatenarten. Bedeutet dies, dass es keinen Unter-
     schied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen
     Primaten gibt? Diese Frage der «anthropologischen Dif-
     ferenz» wird seit geraumer Zeit heftig diskutiert.            Gründe
     Argumente, welche regelmässig zur Begründung ­einer
     solchen Differenz ins Feld geführt werden, sind Ratio­        Was sind Gründe dafür, dass ein Individuum Grundrechte
     nalität, Konzeptdenken und Abstraktionsfähigkeit, Spra-       haben sollte? Grundrechte dienen, wie bereits angedeu-
     che, Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit, Selbst-            tet, dem Schutz bestimmter Fähigkeiten und Interes-
     bewusstsein, das Besitzen der Fähigkeit, sich in die          sen, über die ein Individuum verfügt. Im Folgenden soll
     Bewusstseinszustände anderer hineinzuversetzen,               ausgeführt werden, welche Fähigkeiten und Interessen
     das Besitzen einer Seele, Humorfähigkeit, Antizipie-          bei nicht-menschlichen und menschlichen Primaten
     ren von zukünftigen Ereignissen oder Zuständen, ein           rele­vant für die Begründung ihrer Grundrechte auf Un-
     Sinn für Ästhetik, Werkzeuggebrauch, Werkzeugher-             versehrtheit und auf Leben sind.
     stellung, Technologie, freier Wille, die Fähigkeit, ­Regeln
     zu befolgen, Personsein oder Kultur.64 Keine dieser
     Eigen­schaften und Fähigkeiten stellt jedoch ein Unter-
     scheidungsmerkmal dar, das allen und ausschliesslich          Grundrecht auf
     Menschen zukommt und allen nicht-menschlichen
     Primaten fehlt.65 Anspruchsvollere Eigenschaften und
                                                                   körperliche und geistige
     Fähig­keiten, wie ein Sinn für Ästhetik oder eine komple-     Unversehrtheit
     xe Sprache, mögen zwar – eng gefasst – nur Menschen
     besitzen. Jedoch handelt es sich dabei nicht um Eigen-        Das Grundrecht auf körperliche und geistige Unver-
     schaften und Fähigkeiten, die alle Menschen gleichsam         sehrtheit, wie es für Menschen in Art. 10 Abs. 2 BV veran-
     besitzen. Kleinkindern, Menschen mit schweren psychi-         kert ist, dient in erster Linie dazu, seine Trägerinnen vor
     schen Behinderungen oder Menschen mit fortgeschrit-           übermässigen physischen und psychischen Schmer-
     tener Demenz mangelt es an diesen Eigenschaften und           zen zu schützen.66 Als körperlicher Schmerz wird ein
     Fähigkeiten. Weniger anspruchsvolle Merkmale, wie             «unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit
     Werkzeuggebrauch oder Bewusstsein, über die wohl              ­aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft
     alle Menschen verfügen, liegen hingegen auch bei nicht-        ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung be-
     menschlichen Primaten und anderen Tieren vor.                  schrieben wird»67 verstanden. Als Kriterien zur Bestim-
                                                                   mung von Schmerz können etwa herangezogen werden:
     Abgesehen von der Zugehörigkeit zur Spezies Homo              das Besitzen eines zentralen Nervensystems, Vermei-
     sapiens, die allen Menschen gemein ist, lässt sich des-       dungslernen, schützende motorische Reaktionen, wie
     halb keine Eigenschaft oder Fähigkeit finden, die eine        reduzierte Verwendung der betroffenen Körperteile,
     anthropologische Differenz zwischen menschlichen und          physiologische Veränderung, Kompromisse zwischen
     nicht-menschlichen Primaten begründen könnte. Ein             Stimulusvermeidung und anderen Motivationsfaktoren,
     Abstützen auf die Spezieszugehörigkeit zur Verleihung         Opioidrezeptoren und Hinweise auf reduzierte Schmerz-
     von Grundrechten verletzt jedoch das moralische Prin-         empfindung bei Behandlung mit lokaler Anästhesie oder
     zip der Speziesneutralität, wonach gleichrangige Inter-       einem Analgetikum sowie hohe kognitive Fähigkeiten
     essen unabhängig von der Spezieszugehörigkeit gleich          und Bewusstsein.68 Wie menschliche Primaten verfügen
     berücksichtigt werden müssen. Rechte sollten grund-           auch nicht-menschliche Primaten über ein zentrales
     sätzlich ebenso wenig von der Zugehörigkeit zu einer          Nervensystem, eignen sich Vermeidungsverhalten an,
     bestimmten Spezies abhängig gemacht werden wie von            weisen schützende motorische Reaktionen auf, unter-
     der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht,             liegen physiologischen Veränderungen, gehen Kom-
     einer bestimmten Ethnie oder Altersgruppe.                    promisse zwischen Stimulusvermeidung und anderen
                                                                   Motivationsfaktoren wie etwa Nahrungsbeschaffung
     Die Debatte um die anthropologische Differenz schei-          ein, verfügen über Opioidrezeptoren, zeigen reduzierte
     tert ausserdem nicht nur daran, dass es keinen moralisch      Schmerzempfindlichkeit bei lokaler Anästhesie oder An-
     rele­vanten Unterschied zwischen allen menschlichen und       algesie und verfügen über hohe kognitive Fähigkeiten

14   Grundrechte für Primaten Positionspapier
und Bewusstsein. Genau wie menschliche Primaten                das Leben besonders schützenswert, weil es die logische
erfüllen also auch nicht-menschliche Primaten alle Kri-        Voraussetzung für jegliche weitere Grundrechte, wie je-
terien für körperliche Schmerzempfindungsfähigkeit.69          nes auf Unversehrtheit, bildet. Aus diesen Gründen haben
Daraus folgt, dass auch nicht-menschliche Primaten ein         nicht-menschliche Primaten ein fundamentales Interes-
Interesse daran haben, körperlich unversehrt zu bleiben.       se daran, zu leben.

 Die geistige Unversehrtheit betrifft den Schutz vor
 psychischem Leiden, das eine gewisse minimale Inten-
 sität erreicht.70 Nicht nur menschliche Primaten, son-        Grundrechtseinschränkungen
dern auch nicht-menschliche Primaten können in ihrer
geistigen Unversehrtheit verletzt werden. So bestimmt
auch das Tierschutzgesetz in Art. 3 Bst. b Ziff. 4, dass das   Wie für die Grundrechte von Menschen gilt auch für die
Wohlergehen von nicht-menschlichen Tieren nur dann             vorgeschlagenen Grundrechte von nicht-menschlichen
gewährleistet ist, wenn «Schäden und Angst vermieden           Primaten, dass sie gewissen anerkannten Einschrän-
werden». Aus evolutionsbiologischer Sicht gibt es keine        kungen unterliegen. So ist eine Einschränkung von
Hinweise dafür, dass sich nicht-menschliche Prima-             Grundrechten möglich, wenn sie den Kerngehalt nicht
ten in diesem Punkt grundsätzlich von menschlichen             verletzt, eine gesetzliche Grundlage besteht, sie durch
­Primaten unterscheiden. Nicht-menschliche Primaten            ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grund-
 verfügen, wie oben ausgeführt, über eine hohe Intelli-        rechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig ist.
 genz, die sie für psychische Traumata besonders anfällig
 macht. Forschung an nicht-menschlichen Primaten hat           Wie bei menschlichen Primaten würde auch bei nicht-
 ergeben, dass nicht-menschliche Primaten durch nega-          menschlichen Primaten das Grundrecht auf Leben ein
 tive Ereignisse wie soziale Trennungen, sozialen Entzug,      Verbot von willkürlicher Tötung bedeuten. Was als «will-
 mütterliche Vernachlässigung oder Missbrauch schwe-           kürlich» betrachtet wird, sollte dabei am gleichen Masss-
 re Verhaltensstörungen wie Depressionen und andere            tab bemessen werden, der auch bei menschlichen Pri-
 geistige Störungen davontragen.71 Da nicht-menschli-          maten zur Anwendung kommt. Eine Tötung für blosse
 che Primaten unter solchen geistigen Störungen leiden         Versuchszwecke oder aus Mangel an Gehegen wäre kein
 können, haben sie ein Interesse daran, geistig unver-         genügender Grund für eine Tötung und würde das Grund-
 sehrt zu bleiben.                                             recht auf Leben verletzen. Hingegen läge keine Verletzung
                                                               dieses Grundrechts vor, wenn ein nicht-menschlicher
                                                               Primat getötet würde, um eine nicht anders abwend­bare
                                                               schwere Gefährdung anderer Güter (zum Beispiel das
Grundrecht auf Leben                                           ­Leben eines angegriffenen Kindes) zu verhindern. Eine
                                                                solche Einschränkung des Grundrechts auf Leben ist also
                                                                dann gerechtfertigt, wenn sie den vier obengenannten
Der Tod eines Individuums ist häufig mit Schmerzen              Kriterien einer rechtmässigen Einschränkung gerecht
verbunden. Da nicht-menschliche Primaten schmerz-               wird. Dasselbe gilt für das Grundrecht auf körperliche und
empfindungsfähige Individuen sind, haben sie ein star-          geistige Unversehrtheit. Auch für Menschen gewährleis-
kes Interesse daran, nicht zu sterben. Selbst wenn ihr          tet dieses Recht keinen absoluten Schutz vor körperli-
Tod jedoch schmerzfrei herbeigeführt werden könnte,             chen oder geistigen Einschränkungen.
bedeutet dies indessen nicht, dass nicht-menschliche
Primaten kein Interesse daran hätten, weiterzuleben. So        Nichtsdestotrotz ist die Einsicht zentral, dass Grund-
verfügen nicht-menschliche Primaten über die Fähig­keit,       rechte trotz ihrer Einschränkbarkeit Trümpfe darstellen,
in die Vergangenheit zu blicken und zukünftige Ereignis-       die ihre Träger bei Interessenabwägungen auf gleiche
se zu antizipieren. Sie leben mit anderen Worten nicht in      Augenhöhe mit anderen Grundrechtsträgern bringen.
der blossen Gegenwart, sondern führen ein transtempo-          Ihre Interessen werden dadurch wesentlich stärker ge-
rales Leben. Auch eine schmerzlose Herbeiführung ihres         schützt als die Interessen von Individuen, die keine
Todes unterbricht dieses ­   Leben und verletzt deshalb        Grundrechte besitzen, und werden im Kerngehalt gar
ihre Interessen. Ausserdem dienen Fähigkeiten wie jene         absolut garantiert.
der Schmerzempfindung dazu, gefährliches Verhalten
zu vermeiden und dadurch das e     ­ igene Überleben, zu-
mindest vorübergehend, zu ­sichern. Die Behauptung, ein
schmerzempfindungsfähiges Individuum habe kein Inte-
resse daran, zu leben, kommt deshalb der Behauptung
gleich, ein Individuum mit Augen habe kein Interesse
daran zu sehen. Selbst durch eine schmerzfreie Tötung
werden nicht-menschliche Primaten daran gehindert,
zukünftige positive Erlebnisse zu haben. Schliesslich ist

                                                                                     Sentience Politics primaten-initiative.ch   15
Einwände                                                       «Menschenrechte» für Primaten?
     und ­Antworten                                                 Einwand: Diese Forderung gibt Primaten Menschen-
                                                                    rechte!

                                                                    Widerlegung: Die Behauptung, der hier gemachte Vor-
                                                                    schlag verlange «Menschenrechte» für nicht-mensch-
                                                                    liche Primaten, ist falsch. Was gefordert wird, ist ein
     Gegen die Forderung nach Grundrechten                          Grundrecht auf Leben für nicht-menschliche Primaten
     auf Leben und auf körperliche und g  ­ eistige                 und ein Grundrecht auf körperliche und geistige Un-
     Unver­sehrtheit für nicht-menschliche                          versehrtheit für nicht-menschliche Primaten. Diese
     ­Primaten könnte eine Reihe von ­Einwänden                     Grundrechte lehnen sich bewusst an die entsprechen-
      ­erhoben w ­ erden, welche nachfolgend                        den Grundrechte für Menschen an, da die Gründe für
       ­analysiert und widerlegt werden.                            beide Rechte dieselben sind. Jedoch können sie nicht
                                                                    mit Menschenrechten gleichgesetzt werden, da die
                                                                    Kategorie «Menschenrechte» mehr als nur die von uns
     Zoohaltung gerechtfertigt?                                     geforderten zwei Grundrechte beinhaltet. Insbesonde-
                                                                    re umfassen Menschenrechte auch das Recht auf freie
     Einwand: Diese Forderung würde zur Abschaffung des             Meinungsäusserung oder die Religionsfreiheit. Da nicht-
     Zoos in Basel führen!                                          menschliche Primaten nicht die Fähigkeit dazu haben,
                                                                    diese Grundrechte auszuüben, haben sie auch kein Inte-
     Widerlegung: Die Forderung nach Grundrechten auf               resse an diesen Rechten und somit keine Schutzwürdig-
     Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit für          keit in Bezug auf diese Rechte. Unsere Forderung führt
     nicht-menschliche Primaten hat nicht zur Folge, dass           also nicht dazu, dass nicht-menschlichen Primaten alle
     im Zoo Basel keine nicht-menschlichen Primaten mehr            Grundrechte verliehen werden, die Menschen besitzen.
     gehalten werden dürfen. Der Zoo muss nach Annahme
     der Initiative einzig sicherstellen, dass die geforder-
     ten Grundrechte von nicht-menschlichen Primaten                Impraktikabilität?
     gewahrt werden. Das heisst konkret in Bezug auf das
     Grundrecht auf Leben, dass nicht-menschliche Prima-            Einwand: Man kann Primaten keine Grundrechte geben,
     ten nicht aus willkürlichen Gründen getötet werden             da dies nicht umsetzbar wäre!
     dürfen. Kann dies nicht garantiert werden, muss der Zoo
     geeignete Massnahmen treffen, um dieses Grundrecht             Widerlegung: Die Zahl der nicht-menschlichen Prima-
     nicht zu verletzen. Ausserdem muss der Zoo das Grund-          ten im Kanton Basel-Stadt (ungefähr 300 Individuen) ist
     recht von nicht-menschlichen Primaten auf körperliche          überschaubar. (Zum Vergleich: Im Kanton Basel-Stadt
     und psychische Unversehrtheit garantieren. Dies wäre in        lebten im Dezember 2015 knapp 200‘000 menschliche
     der Regel dann gesichert, wenn der Zoo nicht selber in         Primaten.) Dass nicht-menschliche Primaten ihre Grund-
     die körperliche und psychische Unversehrtheit der Tiere        rechte nicht selber ausüben können, bedeutet nicht,
     eingreift sowie positive Massnahmen trifft, um körper-         dass sie keine Grundrechte besitzen können. Im Kanton
     lichen und psychischen Schäden vorzubeugen.                    Basel-Stadt leben viele andere menschliche Primaten,
                                                                    die entweder vorübergehend (wie im Fall von Kleinkin-
                                                                    dern oder Komapatienten) oder permanent (wie im Fall
     Medizinische Forschung                                         von Personen mit schweren psychischen Behinderun-
                                                                    gen oder fortgeschrittener Demenz) unfähig sind, ihre
     ­verunmöglicht?                                                Grundrechte selber auszuüben. Damit auch die Grund-
                                                                    rechte dieser Menschen wahrgenommen werden, kennt
     Einwand: Diese Forderung verunmöglicht die biomedi-            der Staat verschiedene Stellen, wie etwa die Kindes- und
     zinische Forschung!                                            Erwachsenenschutzbehörde (KESB). Die Sicherstellung
                                                                    der Grundrechte von nicht-menschlichen Primaten
     Widerlegung: Unsere Forderung richtet sich nicht gegen         könnte auf ähnliche Weise gewährleistet werden. Denk-
     die biomedizinische Forschung. Es wird lediglich verlangt,     bar wäre die Einsetzung eines speziellen Beauftragten
     dass bei der Forschung die Grundrechte auf Leben und Un-       bei der KESB oder die Einsetzung einer Ombudsfrau oder
     versehrtheit von nicht-menschlichen Primaten nicht ver-        eines eigenständigen Primatenbeistandes, welcher die
     letzt werden. So wäre zum Beispiel weiterhin Forschung         Sicherstellung des Lebens und der Unversehrtheit von
     an nicht-menschlichen Primaten denkbar, wenn sie den           nicht-menschlichen Primaten zu gewährleisten hat.
     Schweregrad 0 – das heisst Versuche, die für die Tiere keine
     Belastung darstellen und bei denen das Allgemeinbefinden
     nicht erheblich beeinträchtigt wird – nicht überschreitet.

16   Grundrechte für Primaten Positionspapier
Slippery Slope?                                            Unterminierung
                                                           von ­Menschenrechten?
Einwand: Wenn wir anfangen, nicht-menschlichen Pri-
maten Grundrechte zu geben, dann werden in nicht a­ llzu   Einwand: Wenn wir Primaten Grundrechte geben, dann
ferner Zeit auch Hunde, Katzen, Kühe, Ratten, ja gar In-   unterhöhlen wir Menschenrechte!
sekten und Pflanzen Grundrechte haben!
                                                           Widerlegung: Ganz im Gegenteil: Unser Vorschlag stärkt
Widerlegung: Unsere derzeitige Forderung beschränkt        die Menschenrechte. Heutige Menschenrechtskonzep-
sich auf nicht-menschliche Primaten, die, wie oben dar-    tionen sind theoretisch schlecht untermauert, da sie
gelegt, Eigenschaften und Interessen besitzen, die es      Rechte entweder auf die Zugehörigkeit zur menschli-
rechtfertigen, dass wir ihnen diese zwei Grundrechte       chen Spezies stützen (ein zirkuläres Argument) oder sie
zugestehen. Dies schliesst nicht aus, dass auch andere     auf vermeintlich spezifisch menschliche Eigenschaften
Tiere, die die betreffenden Eigenschaften aufweisen, in    wie Autonomie und Rationalität zurückführen. Letzte-
den Genuss der gleichen (oder weiterer) Grundrechte        rer Argumentationsstrang stellt die Grundrechte von
kommen können. Nur ist diese Forderung bei nicht-          Menschen mit psychischen Behinderungen, Kleinkin-
menschlichen Primaten aufgrund der bisherigen über-        dern oder von Menschen mit fortgeschrittener Demenz
wältigenden Erkenntnisse besonders dringlich. Dies         auf ein sehr wackeliges Fundament, da diese Menschen
führt aber nicht zu einer «slippery slope»: Denn zuerst    eben gerade nicht autonom und rational sind. Durch
muss dargelegt werden, welche anderen Individuen über      Hilfskonstrukte (wie jenes, dass sie zu einer Spezies ge-
die notwendigen Eigenschaften und Interessen ver-          hören, deren normale Mitglieder autonom und rational
fügen. Grundrechte unterliegen ausserdem gewissen          sind) wird häufig versucht, die Rechte aufzufangen. Die-
Einschränkungen. Selbst wenn also weitere Individuen       se Hilfskonstrukte sind jedoch aus theoretischer Sicht
Grundrechte erhielten, bedeutete dies nicht, dass diese    nicht überzeugend: Wenn zum Beispiel für die Rechte
keine notwendigen Abwägungen zuliessen.                    eines Kleinkindes massgebend wäre, was ein «normaler»
                                                           Mensch (falls man sich überhaupt darauf einigen könn-
                                                           te, was «normal» ist) kann, dann würde jedes Kleinkind
Keine Rechte ohne Pflichten?                               das Wahlrecht erhalten, einen Führerschein lösen und
                                                           strafrechtlich wie ein Erwachsener zur Verantwortung
Einwand: Primaten können keine Rechte haben, da sie        gezogen werden können. Da solche Konstrukte nicht
keine Pflichten erfüllen können!                           plausibel sind, vermögen bestehende Menschenrechts-
                                                           konzeptionen gerade die Grundrechte von denjenigen

                                                                                   ?
Widerlegung: Träger von Grundrechten müssen nicht          Menschen kaum zu begründen, die diese Rechte am
selber dazu in der Lage sein, Pflichten wahrzunehmen.      allernötigsten haben. Im Gegensatz dazu schafft unser
Kleinkinder, Personen mit psychischen Behinderungen        Vorschlag ein sicheres Fundament für die Grundrechte
oder mit fortgeschrittener Demenz sind nicht dazu in       von Menschen, die von den herkömmlichen Menschen-
der Lage, Pflichten wahrzunehmen und werden trotz-         rechtsansätzen an den Rand gedrängt werden: Auch
dem durch Grundrechte geschützt. Bei nicht-menschli-       Kleinkinder, schwerstbehinderte und demente Perso-
chen Primaten wäre dies nicht anders.                      nen sind leidensfähig und haben ein Interesse daran,
                                                           weiterzuleben. Genau deshalb müssen wir ihre Grund-
                                                           rechte auf Leben und auf Unversehrtheit (sowie alle wei-
Anthropozentrismus?                                        teren auf sie anwendbaren Rechte) schützen.

Einwand: Die Forderung nach Grundrechten für nicht-
menschliche Primaten ist anthropozentrisch: Sie gibt
nur jenen Tieren Rechte, die dem Menschen am meisten
ähneln!

Widerlegung: Unsere Forderung knüpft aus reinen
Praktikabilitätsgründen an eine bestimmte Ordnung
(Primates) an. Die Beschränkung auf nicht-menschliche
Primaten geschieht jedoch nicht aus moralischen Grün-
den. Auch andere Tiere bedürfen Grundrechte, wenn sie
die betreffenden Eigenschaften und Interessen haben,
welche für diese Grundrechte notwendig sind. Histo-
risch gesehen ist diese Vorgehensweise keine Ausnah-
me. In der Geschichte der Grundrechte wurde der Kreis
der Rechtsträger stets graduell ausgedehnt.

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