Wer bleibt drin, wer fliegt raus?

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FORSCHUNG
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                                             Maya Götz/Johanna Gather

       Wer bleibt drin, wer fliegt raus?
                   Was Kinder und Jugendliche aus Deutschland sucht den Superstar
                             und Germany’s Next Topmodel mitnehmen

Germany’s Next Topmodel (PRO7)          Körper­empfinden, nachzuvollziehen.        nisse vorgestellt, die die Bedeutung
und Deutschland sucht den Su­           120 Jugendliche nahmen an der of-          von GNTM und DSDS im Alltag
perstar (RTL) zählen zu den bei         fenen schriftlichen Befragung über         nachvollziehen. Der Fokus richtet
Kindern und Jugendlichen belieb-        GNTM (98 Mädchen; 22 Jungen) so-           sich dabei auf die Frage, was Kinder
testen Formaten. Eine IZI-Studie        wie 57 an der Befragung über DSDS          und Jugendliche aus der Sendung für
untersucht, was Heranwachsende          (53 Mädchen, 3 Jungen) teil. Ergän-        sich mitnehmen, ohne es zu merken.
an diesen Shows fasziniert und was      zend wurden für den qualitativen
sie daraus lernen.                      Teil der Studie Gruppendiskussionen
                                                                                        Die Motive, DSDS und
                                        sowie Videoaktionen mit Klassen
                                                                                          GNTM anzusehen

S
                                        durchgeführt, in denen SchülerInnen
       ie sind mit zum Teil über 62 %   die Sendung nachstellten.1                 Bei der standardisierten Befragung
       Marktanteil bei den 12- bis      Um überindividuelle Alters- und Ge-        zeigen sich bei der Frage »Ich sehe
       17-Jährigen der Quotenerfolg     schlechtertendenzen sowie Besonder-        GNTM bzw. DSDS so gerne, weil …«
des neuen Jahrtausends: Casting-        heiten in der Aneignung der beiden         für die beiden Castingshows Ähnlich-
shows. In den Hitlisten der Kinder      Formate herausarbeiten zu können,          keiten in den Antworten, aber auch
und Jugendlichen sowie vieler Fami-     wurden neben der qualitativen Un-          formatspezifische Unterschiede. Bei
lien stehen die Sendungen Deutsch-      tersuchung 1.166 repräsentativ aus-        beiden Formaten geht es den Rezi-
land sucht den Superstar (DSDS) und     gewählte Kinder und Jugendliche            pientInnen darum, sich mitzufreuen,
Germany’s Next Topmodel (GNTM)          zwischen 9 und 19 Jahren, die regel-       wenn der eigene Favorit seine Sache
ganz oben. Wie kommt es, dass sich      mäßig DSDS oder GNTM sehen, stan-          gut gemacht hat, und zu sehen, ob
so viele Kinder und Jugendliche im-     dardisiert im Face-to-face-Interview       man mit der eigenen Einschätzung
mer wieder neu für dieses Genre         befragt.2                                  des KandidatInnen richtig lag.
begeistern und das nun schon im         Aus dem auf diese Weise gewonne-           Am häufigsten wird bei DSDS zudem
siebten bzw. vierten Jahr nach der      nen qualitativen und standardisier-        das »Ablästern« über den Auftritt der
ersten Ausstrahlung? Und was lernen     ten Datenmaterial wurden typische          KandidatInnen genannt. Bei DSDS
Kinder und Jugendliche aus den For-     Momente der Aneignung der beiden           geht es für Kinder und Jugendliche
maten, bewusst oder auch ohne es zu     Formate herausgearbeitet; vor dem          aber auch einfach darum, die Show
merken?                                 Hintergrund der Ergebnisse wurden          als solche zu genießen.3 Bei GNTM
                                        ergänzend Medienanalysen durch-            werden häufig ästhetische Aspekte
                                        geführt.                                   geäußert, etwa der, schöne Menschen
            Die Studie
                                        Theoretisch eingebunden sind die           zu sehen, oder das Vergnügen, deren
Für die Untersuchung des Phänomens      Studien in ein Verständnis von Me-         Inszenierung auf Fotos mitzuverfol-
der Castingshows wurden schwer-         dienrezeption als aktivem Aneig-           gen (vgl. Tabelle 1).
punktmäßig Mädchen zwischen             nungsprozess im Alltag: Der Rezi­
12 und 21 Jahren, die regelmäßige       pient wählt subjektiv sinnhafte Teile      Faszination Castingshows:
Seherinnen von GNTM und/oder            des Medientextes aus, interpretiert        Dass »dort Mädchen teilnehmen,
DSDS sind, qualitativ befragt. Ziel     sie, integriert sie in seinen Alltag und   die fast so alt sind wie ich und meine
war es, die typischen Nutzungsmo-       zieht sie für die Lebensbewältigung        Freunde« (Mädchen, 16 Jahre)
tive zu verstehen und die Bedeutung     und Identitätskonstruktionen heran         Ein Großteil des Vergnügens bei der
dieser Begeisterung für die Sen-        (vgl. u. a. Bachmair 1996, Mikos 2001).    Rezeption von Castingshows entsteht
dung, insbesondere in Bezug auf das     Im Folgenden werden einige Ergeb-          durch die Beziehungen, die zu den
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                      23/2010/1                                                                                                     53

 DSDS                                           GNTM                                             zur parasozialen Interaktion (vgl.
 Weil ich mich mitfreue, wenn es die Lieb-      Schöne Menschen zu sehen.                        Horton/Wohl 1956), d. h. sie den-
 lingskandidaten besonders gut gemacht haben.   (Zustimmung 79 %)                                ken sich wie in einem Rollenspiel in
 (Zustimmung 82 %)                                                                               die mediale Handlung und Figur ein
 Weil ich so richtig ablästern kann.            Die Fotos der Mädchen sind so schön.             und überlegen, wie sie selbst agiert
 (Zustimmung 77 %)                              (Zustimmung 78 %)
                                                                                                 hätten. Neben einer Annäherung und
 Es macht einfach Spaß, die Show anzusehen.     Mitfreuen, wenn es die Lieblingskandidatin
 (Zustimmung 76 %)                              besonders gut gemacht hat.
                                                                                                 der Erfahrung der Ähnlichkeit kommt
                                                (Zustimmung 77 %)                                es auch zu Abgrenzungsmomenten,
 Zu wissen, ob man mit der eigenen Einschät-    Zu verfolgen, wie aus ganz normalen Mäd-         etwa bei Handlungen der medialen
 zung richtig liegt.                            chen Models werden.                              AkteurInnen, die »man« so nicht ge-
 (Zustimmung 76 %)                              (Zustimmung 76 %)                                macht hätte, für falsch erachtet usw.
 Weil die TeilnehmerInnen Beurteilungen und     Zu wissen, ob man mit der eigenen Einschät-      Besonders deutlich wird dies beim
 Feedback von richtigen Profis bekommen.        zung richtig liegt.
 (Zustimmung 74%)                               (Zustimmung 76 %)
                                                                                                 Eindenken in die besonderen Situa-
                                                                                                 tionen, in die die KandidatInnen ge-
 Weil ich über die Gefühlsausbrüche der         Weil die Sendung auch aufregende Städte,
 Teilnehmer lachen kann.                        Orte und Locations zeigt.                        bracht werden. Bei GNTM sind dies
 (Zustimmung 72%)                               (Zustimmung 76%)                                 vor allem die Fotoshootings, bei de-
Tabelle 1: Die 6 Motive mit der höchsten Zustimmung. 1.166 Kinder und Jugendliche zwischen       nen die Kandidatinnen in eine Reihe
9 und 19 Jahren gaben auf einer vierstufigen Skala an: „Ich sehe die Sendung so gerne weil, …“   von Grenzsituationen geführt werden,
                                                                                                 z. B. ein Nacktshooting, ein erotisier-
jugendlichen KandidatInnen auf-                 Eine starke emotionale Einbindung                ter Stangentanz oder das Schwimmen
gebaut werden können: »Weil sich                empfinden die Kinder und Jugendli-               mit Haien (vgl. Abb. 2 und 3). Das
viele Mädchen damit identifizieren              chen bei der Entscheidungssituation              Verhalten der Kandidatinnen dient
können und den gleichen Traum ha-               vor der Jury: »[Ich freue mich] auf              als Vorbild und zur Orientierung, wie
ben« (Mädchen, 17 Jahre) lautet zum             die Entscheidung, denn dann wird’s               »man« sich bei professionellen Her-
Beispiel eine typische Antwort auf die          spannend! Wer bleibt drin? Wer fliegt            ausforderungen verhalten muss, oder
Frage, worin nach Ansicht der befrag-           raus?« (Mädchen, 15 Jahre). Die Zu-              auch zur Abgrenzung, dass »man«
ten Mädchen der Erfolg der Sendung              schauerInnen entwickeln hier para-               »so was nie machen würde«. Dies
gründe. Die jugendlichen AkteurIn-              soziale Beziehungen zu den Akteu-                sind Formen der Identitätsarbeit, in
nen der Shows bieten eine Vielzahl              rInnen, zu denen sie einen fiktiven              der die Sendung und die Folgekom-
von Anschlussmomenten: Sie sind                 emotionalen Bezug aufbauen und                   munikation am nächsten Tag zur Defi-
ähnlich alt wie die RezipientInnen              mitverfolgen können, wie sie »wei-               nition der eigenen Werte und Grenzen
(bzw. etwas älter), sie streben nach            terkommen und sich weiterentwi-                  genutzt werden.
einem hohen beruflichen Status, sie             ckeln« (Mädchen, 12 Jahre). Für die
müssen sich in außergewöhnlichen                absehbare Zeit einer Staffel werden              Faszination Castingshows:
Herausforderungen beweisen und                  die KandidatInnen auf diese Weise                »Die Show ist Realität und nicht
sind ständig der Beurteilung durch              für viele Jugendliche zu parasozialen            ausgedacht oder geschauspielert«
andere ausgesetzt. Dies sind auch ty-           FreundInnen, mit denen sie mitfie-               (Mädchen, 15 Jahre)
pische Erfahrungswelten von Schü-               bern, mit denen sie sich freuen und              Die Sendung erhält ihre hohe Bedeu-
lerInnen. Daher bieten sich hier für            mit denen sie leiden, wenn es ihnen              tung und eröffnet Anschlussmomente
jugendliche RezipientInnen Projek-              nicht gut geht oder sie die Sendung              für die jugendlichen RezipientInnen
tionsflächen, die eigene Orientierun-           verlassen müssen (vgl. Abb. 1).                  vor allem dadurch, dass es sich hier
gen, Emotionen und Erinnerungsspu-              Die Kinder und Jugendlichen vor dem              aus der Perspektive der Kinder und
ren ansprechen.                                 Fernseher nutzen die Castingshows                Jugendlichen um eine Abbildung der

Abb. 1: Eine Situation, bei der GNTM-Fans       Abb. 2: Abgleichen von Werten: Nacktfoto­        Abb. 3: Bewunderung für große Leistung:
besonders mitfiebern: Die Entscheidung          shooting. »Ich dachte nur, dass ich so was nie   Schwimmen mit Haien (Mädchen, 12 Jahre)
(Mädchen, 13 Jahre)                             machen würde …« (Mädchen, 16 Jahre)
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Realität handelt. Heranwachsende          16 Jahre) und um »Dieters Kom-           anscheinend mittlerweile ein übliches
gehen davon aus, es handle sich hier      mentare« (Mädchen, 13 Jahre). Das        Kindergeburtstagsspiel ist: »Wir sind
um »ganz normale Jugendliche«, die        »Ablästern« gehört für regelmäßige       dann über den Hof gelaufen wie so
durch die Sendung zu Bekanntheit,         DSDS-SeherInnen dazu; 77 % sehen         Topmodels und haben dann nachher
Ruhm und Geld kommen. Sie erken-          hier ein zentrales Nutzungsmotiv für     bewertet, wer am besten war« (Mäd-
nen die kommerzielle Absicht der          sich, besonders die Jungen.4             chen, 16 Jahre). Das Nachspielen
Sendung, gehen aber davon aus, dass       Die Gespräche über die Sendung           kann spontan und mit einer parodie-
hier für eine reale professionelle Kar-   sind aus theoretischer Perspektive       renden Absicht geschehen, wenn je-
riere gecastet und ausgebildet wird.      normative Diskurse. In den Grup-         mand »einmal ganz besonders doof in
Eine medienkritische Haltung im Sin-      pendiskussionen geht es um »gesell-      der Sendung gelaufen ist, den haben
ne der Infragestellung des Realitäts-     schaftliche Spielregeln« wie Fairness    wir dann auf dem Schulhof nach-
gehalts deutet sich nur in absoluten      und Kooperation vs. Konkurrenz           gemacht und gelacht« (Mädchen,
Ausnahmefällen bei den jugendlichen       (vgl. Klaus 2009). In der natürlichen    14 Jahre). Dieses Nachspielen und
Befragten an. Die angenommene Re-         Schulhofkommunikation stehen eher        Übernehmen von Sendungselemen-
alitätsdokumentation schafft besonde-     die Bewertung und Abwertung der          ten in der eigenen Lebenswelt sind
re Projektionsflächen und ermöglicht      KandidatInnen im Mittelpunkt. Das        Formen »mimetisch-performativer
erst den Gebrauchswert.                   Reden über die Sendung ist Teil der      Reinszenierung« (Schwarz 2007). Zu
                                          Selbstdarstellung und Selbstpositio-     diesen Inszenierungen gehört es etwa,
Faszination Castingshows:                 nierung in der Peergroup. In diesen      andere hinsichtlich ihres Körpers,
Gespräche auf dem Schulhof                Verhandlungsprozessen eignen sich        ihres Aussehens und ihrer Fähigkei-
Die Castingshows entfalten ihre Be-       das »Ablästern«, das Aufgreifen          ten, »auf dem Catwalk zu laufen«,
deutung auch im Gespräch mit ande-        spektakulärer Sprüche und die Her-       zu beurteilen. Die, die am wenigs-
ren. Bereits während der Rezeption        absetzung eher zur Aufwertung der        ten gefallen, werden ausgeschlossen.
der Sendung wird viel kommuniziert:       Selbstdarstellung als die Betonung       Beobachtungen legen nahe, dass die
»Ich streite mich meistens mit mei-       von Mitgefühl, insbesondere in den       Jugendlichen Kommunikationspara-
ner Mutter, wer am besten aussieht«       Jungengruppen.                           digmen, die von den Jurys der Shows
(Junge, 13 Jahre). Besonders bedeu-                                                vorgelebt werden, für sich überneh-
tungstragend sind die Gespräche in        Faszination Castingshows:                men (vgl. Lothwesen/Müllensiefen
der Peergroup. 75 % der regelmäßi-        Das Spiel »Castingshow«                  2004).
gen GNTM-SeherInnen und 82 % der          Schon während der Rezeption ist der
DSDS-SeherInnen unterhalten sich          Spielcharakter der Show für Kinder
                                                                                    Was Kinder und Jugendliche
am nächsten Tag auf dem Schulhof          und Jugendliche besonders attraktiv.
                                                                                    wissentlich aus Castingshows
über die Sendung. Inhaltlich geht es      Es bereitet beim Ansehen der Sen-
                                                                                             mitnehmen
in den Gesprächen fast immer darum,       dung ein großes Vergnügen mitzura-
das Verhalten der medialen Teilneh-       ten und zu tippen, wer drin bleibt und
merInnen zu beurteilen, eine eigene       wer rausfliegt (vgl. auch Hajok/Selg     »Niemals gegen Dieter Bohlen
Bewertung abzugeben und über die          2010, S. 62).                            sprechen« (Mädchen, 13 Jahre)
Entscheidungen der letzten Sendung        Kinder und Jugendliche nehmen die        Ohne Frage lernen Kinder und Ju-
zu diskutieren: »Wir reden am nächs-      Castingshows aber auch in ihr freies     gendliche aus der Rezeption der Cas-
ten Tag immer darüber, ob es gerecht      Spiel mit auf: Szenen und Posen wer-     tingshows etwas. Einiges davon be-
ist, dass die Kandidaten rausgeflogen     den nachgeahmt, es wird alleine oder     merken sie explizit. Bei DSDS wächst
sind« (Mädchen, 16 Jahre).                mit der besten Freundin »zu Hause        nur bei den wenigsten Kindern und
Bei den Gesprächen zu GNTM steht          vor dem Spiegel gesungen« (Mäd-          Jugendlichen die Lust, selbst auf einer
vor allem das Aussehen im Mittel-         chen, 11 Jahre) oder »vor dem Spiegel    Bühne aufzutreten, oder das Interesse,
punkt: »die Kleidung, die Haare, die      das Laufen geübt« (Mädchen, 16 Jah-      selbst Musik zu machen oder zu sin-
Schminke« (Mädchen, 10 Jahre).            re). Wie selbstverständlich werden       gen. Wenige Befragte (38 %) könn-
Manchmal wird das Verhalten der           dabei Inszenierungsmomente aus der       ten sich vorstellen, professionell in
Kandidatinnen in der Gruppe thema-        Sendung herangezogen: »Wir sind          die Musikbranche einzusteigen. Was
tisiert, seltener die Aufgaben, die sie   durch die Gegend gelaufen mit Bü-        Kinder und Jugendliche bewusst aus
zu bewältigen hatten.                     chern auf dem Kopf. Ich und [meine]      der Sendung lernen, liegt eher in sym-
Die Gespräche zu DSDS drehen sich         Freundin haben mit ’nem Auto ge-         bolischen Orientierungen wie »das
um die »Performance« der Teilneh-         post und Fotos gemacht« (Mädchen,        Beste für seinen Traum geben und
merInnen, etwa um die Frage, »wer         16 Jahre). Zum Teil wird aber auch       immer an sich selber glauben« (Mäd-
am besten singen kann« (Mädchen,          das ganze Setting nachgespielt, was      chen, 12 Jahre). Tendenziell geht dies
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einher mit einer Bereitschaft, sich den   als Traumberuf gesehen (iconkids &        (Mädchen, 15 Jahre) aus der Sen-
Urteilen anderer anzupassen: »Wenn        youth 2009). Angesichts der unsiche-      dung. Die emotionale Bindung und
die Jury was sagt, sollte man es auch     ren Arbeitssituation, der körperlich      das Mitfühlen mit den Kandidatinnen
ernst nehmen« (Mädchen, 14 Jahre),        anstrengenden Herausforderungen,          sind bei den regelmäßigen Seherinnen
»niemals gegen Dieter Bohlen spre-        der fehlenden Zukunftsperspektive         hoch.
chen« (Mädchen, 13 Jahre) bzw. »nie       und der eher geringen gesellschaftlich    Besonders die individuelle Insze-
Dieter Bohlen beleidigen, wenn er in      relevanten Verantwortung scheint es       nierung bei den Fotoshootings wird
der Nähe ist« (Mädchen, 14 Jahre).        durchaus sinnvoll, den Modelberuf         genossen. Hier »können die Models
Castingshows wie DSDS sind For-           nicht als Traumberuf zu küren. Für        ihre verschiedenen Seiten von sich
men des informellen Lernens. Ge-          die regelmäßigen GNTM-Seherinnen          zeigen« (Mädchen, 16 Jahre). Die
rade weil sie versprechen, dass sie       stellt sich dies anders dar. Sie haben    Wahrnehmung der Befragten ist fol-
das wirkliche Leben zeigen und »dass      das Gefühl, Mode-Model wäre auch          gende: Junge Mädchen werden in ih-
man aus ›normalen‹ Menschen Stars         für sie ein Traumberuf. Bei den 9- bis    rer »wahren Schönheit« erkannt und
machen kann« (Mädchen, 13 Jahre),         11-Jährigen glauben 81 %, dass die        zur Geltung gebracht und ganz in ih-
eröffnen sie Perspektiven. Was Kin-       Sendung ihnen zeige, wie der Alltag       rem Sinne gefördert. Entsprechend
der und Jugendliche als gangbaren         eines Models aussieht. Bei den 18- bis    sehen die befragten Mädchen den
Weg aus der Sendung lernen, ist die       19-Jährigen geht der Wert zwar auf        Erfolg der Sendung auch in diesem
Selbstforderung, das Erbringen von        70 % zurück, was jedoch bedeutet:         Aspekt: »Weil es sich bei Mädchen in
Leistungen und eine Anpassung an          Selbst bei denjenigen, die gerade in      unserem Alter oft um Dinge wie Aus-
die Ansprüche anderer. Diese Ergeb-       der Berufsorientierungsphase stehen       sehen und Figur dreht. Alle wollen
nisse werden durch übergreifende          oder bereits einen Ausbildungsberuf       Modelmaße« (Mädchen, 13 Jahre).
Wertorientierungen von Jugendli-          gewählt haben, zweifeln nur 30 %          Genau dieser Aspekt ist aber auch kri-
chen bestätigt, die sich seit Jahren      daran, dass hier ein reales Alltagsbild   tisch zu sehen, denn eigentlich wol-
z. B. in Untersuchungen der Shell-        eines Models zu sehen ist. Dass hier      len nicht alle Mädchen und Frauen
studie zeigen. Die Jugend heute ist       nur kleine Einblicke in den mögli-        Modelmaße, solange dies für sie kei-
eine »pragmatische Generation« (vgl.      chen Berufsalltag gezeigt werden,         ne identitätsrelevante Kategorie ist.
Shellstudie 2006). Die Anpassung          die schon durch die Anwesenheit der       Doch rückt die Präsenz der Sendung
an Anforderungen von außen ist das        Kameras so verändert werden, dass         explizit und in vielen Varianten im-
selbst gestellte Erziehungsziel. Inso-    es eher Spuren von Realität sind, be-     mer wieder eines ins Blickfeld: einen
fern gehen Castingshows konform           merken sie nicht.                         Körper, der den spezifischen Ansprü-
mit gesamtgesellschaftlichen Ten-                                                   chen der Modeindustrie dienen soll.
denzen und Wertorientierungen von                                                   Entsprechend legte die Studie hier
                                              Was Mädchen sich aus
Pre-Teens und Jugendlichen, denn sie                                                einen Schwerpunkt und stellte unter
                                             Germany’s Next Topmodel
zeigen auf informelle Weise, wie dies                                               anderem direkt die Frage: »Wirst du
                                                  mitnehmen
gelingen kann.                                                                      durch die Sendung angeregt, über
                                                                                    deinen Körper nachzudenken?« Vie-
Berufsorientierung                        Selbstinszenierung mit Fallstricken       le der Befragten beschreiben Gefüh-
Während sich unter den DSDS-Se-           »Diese Sendung kommt so gut an, da        le, die zwischen Bewunderung und
herInnen nur ein Drittel der Kinder       jedes Mädchen davon träumt, einmal        Neid schwanken. Die Show GNTM
und Jugendlichen vorstellen könnte,       so hübsch, beliebt und berühmt zu         veranlasse dazu, weniger zu essen
beruflich ins Showbusiness zu gehen,      sein« (Mädchen, 16 Jahre). Das eige-      bzw. mehr Sport zu treiben: »Alle,
sind es bei den GNTM-SeherInnen           ne Aussehen und die Frage, inwieweit      die da sind, haben so eine tolle Figur,
jede(r) Zweite, bei den 9- bis 11-Jäh-    der eigene Körper den gesellschaftlich    das gibt mir Anreize abzunehmen«
rigen sogar 63 %. Hier gewinnen die       definierten Schönheitsidealen genügt,     (Mädchen, 14 Jahre). Ein anderes
Kinder und Jugendlichen also durch-       wird spätestens in der Pubertät zum       Mädchen vergleicht sich mit den Kan-
aus eine Berufsperspektive. Mehrfach      zentralen Moment des Selbstwertge-        didatinnen der Show und beschreibt:
finden sich Formulierungen wie »weil      fühls von Mädchen. Germany’s Next         »Dann denk’ ich mir meist, warum
so ziemlich jedes Mädchen davon           Topmodel liefert in diesem Sinne          ich nicht so dünn bin« (Mädchen,
träumt, Topmodel zu sein« (Mädchen,       »Gebrauchsanweisungen« für die            15 Jahre). Doch nicht nur die älte-
13 Jahre). Bei den 6- bis 12-jährigen     Selbstinszenierung. Entsprechend          ren Jugendlichen stellen ihre eigenen
Mädchen sind die meistgenannten           »gewinnen« die Mädchen bewusst            Körper den medial vermittelten kri-
Wunschberufe eigentlich Tierärztin        Inhalte zur Selbstinszenierung von        tisch prüfend gegenüber; bereits in
(20 %) oder Lehrerin (9 %). Der Mo-       »Modetipps« (Mädchen, 15 Jahre)           der 5. Klasse formulieren Mädchen
delberuf wird mit knapp 3 % selten        bis hin zu »Posen und Ausdrücken«         den Wunsch, ähnliche Körper wie
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die der gezeigten Models zu haben.       hung der Hüfte. Hoch signifikante det, was die Hüfte breiter erscheinen
So beschreibt ein 11-jähriges Mäd-       Unterschiede zeigen sich aber auch lässt. Genau dieser ganz normale
chen, dass es, seitdem es die Sen-       bei den Körpern, die so gut wie nie Mädchenkörper, der einfach abfoto-
dung sehe, seinen Bauch und seine        als schönste Körper gewählt wurden. grafiert wurde, wird von regelmäßi-
Beine zu dick finde, da Topmodels        GNTM-Nie-SeherInnen wählten so gen GNTM-SeherInnen so gut wie
ja schlank sein müssten. Diese kri-      gut wie nie Bild h), den Körper einer nicht als schön empfunden.
tische Haltung zum eigenen Körper        übergewichtigen Frau, als schöns- Vergleicht man hier nochmals mit den
deckt sich mit aktuellen Ergebnissen     ten Körper aus. Bei regelmäßigen Ergebnissen der Dr.-Sommer-Studie,
der »Dr.-Sommer-Studie«. Während         GNTM-SeherInnen, insbesondere so sind potenzielle Bezüge erkennbar:
bei den Jungen die Zufriedenheit mit     bei den jüngeren, kommt dieses Foto Wurde die erste Erhebungswelle der
dem eigenen Körper seit 2006 wei-        auf Platz 6. Es ist zwar kein Körper, Dr.-Sommer-Studie kurz vor (bzw.
testgehend unverändert blieb, zeigt      der den normalen Modelmaßen ent- während der ersten Folgen) der ersten
sich bei den Mädchen sehr deutlich       spricht, aus einem professionellen Staffel von GNTM erhoben, so be-
eine Zunahme der Unzufriedenheit.        Blickwinkel wurde aber durch Be- fand sich die Show 2009 in der dritten
Obwohl rund 80 % der Mädchen             kleidung, Pose und Lichtsetzung »das Staffel. Die in der Studie nachgewie-
normalgewichtig sind, sind über die      Beste aus dem Körper herausgeholt«. sene Zunahme der Unzufriedenheit
Hälfte mit ihrem Körper nicht zufrie-    Es ist also nicht etwa eine »Verdün- mit dem eigenen Körper könnte auch
den. Besondere Steigerungen finden       nung« des Schönheitsempfindens, die eine zufällige Parallelität sein, die in
sich beim Wunsch, »schlanker [zu]        sich bei den regelmäßigen GNTM- keinem inhaltlichen Zusammenhang
sein« und beim Traum von »einem          SeherInnen zeigt. Die Jugendlichen mit der Sendung steht. Es liegt jedoch
flachen Bauch« sowie von Verände-        zeichnen sich eher durch einen pro- die Vermutung nahe, dass es hier sehr
rungen an Beinen und Gesicht (vgl.       fessionelleren Blick für Fotoinszenie- wohl einen inhaltlichen Bezug gibt.
iconkids & youth 2009). Hier beweist     rungen aus. Zwar können durch die Durch GNTM werden eine bestimmte
sich die »Somatisierung der Identi-      Studie keine Zusammenhänge nach- Körperlichkeit und ihre Inszenierung
tät« (Stauber 2007) als Fallstrick,      gewiesen werden, es liegt aber die nicht nur zum Schönheitsideal erho-
insbesondere für Mädchen.                Vermutung nahe,
                                         dass tenden­ziell
Veränderung des Schönheits­              solche Jugendli-
empfindens                               che die Sendung
In unserer Repräsentativbefragung        sehen, die sich für
wurden 1.166 Kindern und Jugend-         profes­sionelle In-
lichen 9 Bilder von Frauenkörpern        szenierungen in-
vorgelegt. Die Frage lautete: »Hier      teressieren. Sie
auf diesem Blatt siehst du verschie-     werden durch
dene Frauenkörper. Welcher ist denn      GNTM in ihrem
deiner Meinung nach der schönste?«       Blick geschult.
(vgl. Abb. 4). In den Ergebnissen zei-   Besonders be-
gen sich signifikante Unterschiede im    deutsam ist hier-
Schönheitsempfinden von Frauenkör-       bei die Beurtei-
pern zwischen regelmäßigen SeherIn-      lung des Kör-
nen und VielseherInnen von GNTM          pers f), der bei
sowie denjenigen, die nach eigenen       den GNTM-Fans
Angaben die Sendung nie sehen.           auf dem letzten
Während GNTM-Nie-SeherInnen              Platz steht. Er re-
das Foto eines deutlicher erotisierten   präsentiert in der
                                                                                                                   Analysematerial aus IZI-Studie

Körpers d) bevorzugten, favorisier-      Untersuchung
ten GNTM-Fans das pfiffiger insze-       den »normalen«
nierte Foto des Körpers b). Regel-       Körper eines jun-
mäßige GNTM-SeherInnen wählten           gen Mädchens.
zudem Körper c) deutlich häufiger als    Er ist nicht »aus-
schönsten als Nie-SeherInnen. Dieser     trainiert« oder
Körper symbolisiert gewissermaßen        professionell in-
das Berufsideal des Models: schlan-      szeniert, sondern
ker Körper, vorteilhafte leichte Dre-    frontal abgebil- Abb. 4: Welcher Frauenkörper ist der schönste?
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ben, sie sind durch die hohe Attrakti-         Ein erstaunliches Ergebnis ist die              tisch wird aber schnell deutlich, wie
vität der Sendung und ihre Präsenz in          hohe Akzeptanz von Dieter Bohlens               sehr hier Menschen durch Inszenie-
der Jugendkultur ein ständiges Thema           harter Kritik bei den Jungen. Unter             rung stilisiert werden. Ein Beispiel:
und ein Symbol für Erfolg und Aner-            den 9- bis 11-Jährigen sagen 73 %,              Im Mittelpunkt des Porträts steht die
kennung der Individualität. Dass ge-           dass sie die Sendung gerade deswe-              Schülerin Sandra (17 Jahre), die mit ihrer
nau dies nicht der Fall ist, erkennen          gen sehen, weil sie Dieter Bohlens              Freundin Cora zum Casting gekommen
die Jugendlichen nicht.                        harte Kritik gut finden, auch wenn er           ist. Mit Überblendungen werden die kur-
                                               die KandidatInnen dabei gelegentlich            zen Satzfragmente aus dem Interview ein-
                                               persönlich verletzt. Bei den 18- bis            gespielt. Sandra erzählt, dass die Freundin
    Was Kinder und Jugend­                     19-jährigen Jungen steigt die Zustim-           sie berate, wie man sich gut bewegen kön-
  liche aus Deutschland sucht                  mung sogar auf 83 %. Hier lohnt sich            ne. Die beiden singen »We are beautiful
                                                                                               in every single way« und werden in einer
      den Superstar lernen                     ein kritischer Blick in das Medium
                                                                                               Halbtotalen vor einer Statue tanzend ge-
                                               und in potenzielle Dynamiken seiner
                                                                                               zeigt. Auf der Tonebene wird die Stim-
Ohne Zweifel ist die Castingshow               Aneignung.                                      me des Zeichentrickhundes Wum aus der
DSDS quotenmäßig herausragend                                                                  Show Der große Preis von Wim Thoelke
erfolgreich. In der Hitliste der 12- bis                                                       eingemischt: »Musik, zwo, drei, vier«.
17-Jährigen steht sie ganz weit vor-                 Ein medienanalytischer                    Mit Kamerasicht unter den Rock und auf
ne – und das nun schon seit Jahren.                      Blick auf DSDS                        die sich bewegenden Brüste werden die
Neben den wahrgenommenen Lern-                                                                 beiden jungen Frauen beim Tanzen (vgl.
momenten von der Leistungsorien-               Die in der Sehbeteiligung erfolg-               Abb. 5 und 6) gezeigt. Auf der Tonebene
tierung und Anpassungsbereitschaft             reichste Sendung der Staffel 2009               wird das Lied »Womanizer« eingespielt
                                                                                               und die Bewegungen der Mädchen wer-
nehmen sich Kinder und Jugendli-               war die Folge 3, eine ganz normale
                                                                                               den mit einer Art Schmatzgeräusch unter-
che auch hier etwas mit, ohne es zu            Mittwochabendsendung. Sie schaffte              legt. Die Freundin sagt im Close-up: »Sie
merken.                                        es auf Platz 2 der Jahreshitliste hin-          hat das Zeug zum Superstar!«
Zentraler Angelpunkt sind dabei die            ter Harry Potter und vor Nachts im
Rückmeldungen und Sprüche von                  Museum.                                         Der Beitrag ist durch seine Kame-
Dieter Bohlen. Er wird als eine zen-           Inhaltlich geht es in dieser Folge um           raperspektive, den Schnitt und die
trale Figur gesehen und die Sendung            die ersten Auswahlrunden und es wer-            Tonebene stark und eindeutig inter-
wird »wegen Dieters Sprüchen«                  den kurze Porträts von KandidatInnen            pretierend. Die Inszenierung legt ge-
(Mädchen, 16 Jahre) rezipiert, denn            und deren Begegnungserlebnis mit                zielt Degradierung und Abwertung
»Dieter lässt lustige Sprüche ab«              der Jury erzählt. Scheinbar wird hier           der jungen Frau nahe. Was hier ange-
(Mädchen, 13 Jahre).                           die Realität abgebildet, medienanaly-           boten wird, hat mit der Realität oder

Screenshots 5-16 (Sendung 28.01.2009): Deutschland sucht den Superstar, Porträt einer 17-jährigen Bewerberin: im Medientext durch Kame-
raführung (voyeuristisch-abwertende Untersicht), Animation (z. B. behaarte Beine), Schnitt (nur kleinste Interviewausschnitte) und Tonebene
(z. B. Schmatzgeräusche) angelegte Deutungsmuster
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einer Dokumentation der Situation               roooh. Du bist einfach verkniffen und aus   nen, die an ihrer Atemtechnik arbeiten
nur sehr bedingt zu tun. Vermutlich             einem verkniffenen Arsch kommt kein         muss. Redaktionell ist jedoch eine
sind die Aufnahmen tatsächlich an               befreiter Furz.«                            andere Entscheidung getroffen und
diesem Tag entstanden und eine Schü-            Abermals basiert der Medientext auf         die junge Frau statt zur Hoffnungs­
lerin, die sich mit Vor- und Nachna-            der Dokumentation einer realen Si-          trägerin zur »unangenehm Körper-
men vorgestellt hat, hat auch wirklich          tuation. Es werden jedoch deutliche         orientierten« stilisiert worden. Der
an dem Casting teilgenommen. Der                Lesarten nahegelegt: Da ist zum einen       Grund für diese Entscheidung lässt
Medientext, der aus diesem Bildma-              der Schnitt, bei dem die Bilder des         sich aus den nächsten Bildern erah-
terial entsteht, ist jedoch alles andere        um die Kandidatin herumspringen-            nen: Dieter Bohlens Reaktion. Spon-
als eine neutrale Dokumentation. Er             den Dieter Bohlen dreimal aus un-           tan, dynamisch, visuell attraktiv, mit
ist eine Collage aus Bildern, die vor           terschiedlichen Kameraperspektiven          kritisierenden, aber auch wertschät-
allem über die Tonebene eines insze-            gezeigt werden. Durch das mehrfache         zenden Momenten (z. B. »Du hast
niert: eine junge Frau, die selbstsicher        – nicht zeitsynchrone – Hineinschnei-       ja gar keine schlechte Figur, du hast
ist, sich in ihrer Performance aber un-         den der zweifelnden Gesichter der           schöne Beine«). Für die Redak­tion
angenehm körperbetont präsentiert               anderen Juroren wird die Handlung           und Postproduktion ist das vermut-
und dabei von ihrer Freundin noch               von Dieter Bohlen verlängert und            lich das ideale Bildmaterial für einen
bestärkt wird.                                  seine kritische Haltung verstärkt.          lebendigen Beitrag. Entsprechend
                                                Sind dies jedoch eher unauffällige          wurden die ersten Bilder daraufhin
Als die Schülerin vor die Jury tritt wird sie   Formen der Realitätskonstruktion,           präpariert, dass sie dramaturgisch
von Dieter Bohlen unterbrochen: »[…]
                                                so wird diese durch die Animation           zur Aktion von Dieter Bohlen hin-
Muss das sein, dass der Rock enger ist
als die Hüfte?« Die Kamera zoomt auf            (z. B. Behaarung der Beine, Karao-          führten. Was entsteht, ist ein Text,
die Hüfte der Kandidatin (vgl. Abb. 7 und       ketext) eindeutig und durch komische        der vor allem eine Lesart nahelegt:
8). Die 17-Jährige versucht, sich zu recht-     Elemente deutlich sichtbar verändert.       Dieter Bohlen als spontaner, begeis-
fertigen: »Ja, also, ich habe eine breite       Die junge Frau wird als körperlich          terter und ehrlicher Juror, der das laut
Hüfte.« Bohlen erwidert: »Nein, aber das        ungepflegt und stimmlich inkompe-           sagt, was sich alle insgeheim denken.
ist doch, also, so zieht man sich doch nicht    tent inszeniert, dies aber wird in einen    In der weiteren Inszenierung werden
an, oder?« Es folgt eine Einblendung mit        humorvollen Kontext gestellt.               komische Elemente aufgenommen,
einem Foto von Dieter Bohlen mit wei-           Was hier angelegt wird, ist eine zu-        die Kandidatin und anscheinend alle
ßem Haar-Toupet und dunkler Sonnen-
                                                nächst unterschwellige Interpreta­          anderen werden ironisiert. Bei genau-
brille ausgestattet und mit dem Schriftzug
                                                tion des Geschehens, nämlich dass           erem Hinsehen werden die Juroren
»Dieter Bohlenfeld« unterlegt. Zu sehen
ist, wie Bohlen um die Kandidatin he-           hier eine zu selbstbewusste junge           jedoch überhöht – z. B. Dieter Boh-
rumtanzt (vgl. Abb. 9 und 10): »Guck            Frau stehe, die sich und ihren Kör-         len als eine Legende der Modebran-
mal, hier bist du doch ein bisschen, sagen      per unangenehm offen und stolz              che –, die Kandidatin wird jedoch
wir mal füllig.« Die 17-Jährige stimmt          präsentiert. Die Freundin unterstützt       ausschließlich abgewertet. Dann folgt
dem zu. Bohlen: »Aber das ist ja nix            sie in dieser fehlerhaften Selbstein-       die Gesangsperformance und Dieter
Schlimmes, ja. Aber da macht man doch           schätzung. Die junge Frau tritt vor         Bohlen übt persönlich verletzende
hier so, dass man das hier ein bisschen         die Jury und Dieter Bohlen nimmt            Kritik. Durch die vorangegangene
kaschiert, und da kommt hier so was. Du         genau dieses Element, ihre unschö-          Deutung der jungen Frau, die auf
hast ja gar keine schlechte Figur, du hast
                                                ne Selbstpräsentation, spontan auf.         Abgrenzung und nicht auf Anschluss
schöne Beine und […]«. Musik wird ein-
geblendet, eine animierte Großaufnahme          Er spricht damit etwas aus, was sich        angelegt ist, sowie aufgrund des ko-
der Beine mit Haaren wird gezeigt (vgl.         viele Zuschauende vermutlich bereits        mischen Kontextes erscheint diese
Abb. 11 und 12). Schließlich fängt die          dachten: »Muss das sein …!« Damit           Kritik den ZuschauerInnen inhaltlich
junge Frau an zu singen, mit einer kraft-       wird Dieter Bohlen zu demjenigen,           gerechtfertigt und kaum verletzend.
vollen, durchaus voluminösen, aber etwas        der ehrlich ausspricht, was scheinbar       Die Hauptlesart ist diese: Die Kan-
gequetschten Stimme. Der Text wird wie          Realität und eigentlich offensichtlich      didatin hat es verdient. Endlich sagt
bei einer Karaokemaschine eingeblendet,         ist. Damit wird er zu demjenigen, der       ihr mal jemand die Meinung – und
zweifelnde Blicke der Juroren sind zu           »endlich« die Wahrheit sagt.                eigentlich hat Dieter Bohlen ihr hier
sehen (vgl. Abb. 13-15). Nach mehre-
                                                Nur dass es sich hierbei eben nicht um      sogar einen Gefallen getan.
ren Sekunden Pause sagt Dieter Bohlen:
                                                die Realität, sondern um eine perfide       Dass nun rund 70 % der Kinder und
»Also, du kannst Sängerin werden«; er
wartet weitere 7 Sekunden und fährt dann        vorgedeutete Realität handelt. Mit an-      Jugendlichen Dieter Bohlens harte
fort, »aber nur so für Horrorfilme, weil        deren Bildern, Zusammenschnitten            Kritik gut finden, auch wenn er die
das klingt ganz, ganz unangenehm«. Dazu         und einer anderen Vertonung hätte           KandidatInnen dabei persönlich ver-
macht er eine Art Froschgrimasse (vgl.          man die junge Frau auch als positive        letzt, und dass dieser Wert bei den
Abb. 16) und Geräusche: »Groooooog-             Hoffnungsträgerin inszenieren kön-          Jungen, insbesondere bei den 18- bis
FORSCHUNG
                  23/2010/1                                                                                                                      59

19-Jährigen, auf 83 % anwächst, ist        ter das System wird, desto schwieri-
gut nachvollziehbar. Die jugend-           ger wird es, grundlegende medienkri-                                   LITERATUR
lichen ZuschauerInnen folgen der           tische und ethische Fragen zu stellen.
                                                                                                 Bachmair, Ben: Fernsehkultur – Subjektivität in ei-
angelegten Dramaturgie. Scheinbar          Die 12- bis 17-Jährigen, die diese Fol-               ner Welt bewegter Bilder. Opladen: Westdeutscher
hat Bohlen ja auch durchaus recht,         ge gesehen haben, werden sich aller                   Verlag 1996.
ist wertschätzend und auch nicht son-      Wahrscheinlichkeit nach nicht gefragt                 Döveling, Katrin; Mikos, Lothar; Nieland, Jörg-Uwe
                                                                                                 (Hrsg.): Im Namen des Fernsehvolkes. Konstanz:
derlich verletzend, denn schließlich       haben, ob man mit einer 17-Jährigen                   UVK Verlags-Gesellschaft 2007.
ist die Szene ja auch lustig gemeint.      im Fernsehen so umgehen darf, wel-                    Götz, Maya: Die FernsehheldInnen der Mädchen
Auch die Ergebnisse einer anderen          che Folgen es für die junge Frau,                     und Jungen. München 2011 (noch nicht veröffent-
                                                                                                 licht).
Studie aus dem Jahr 2007 zu Lieb-          deren vollständiger Name genannt
                                                                                                 Hajok, Daniel; Selg, Olaf: Castingshows im Urteil
lingsfernsehfiguren von Kindern wei-       wurde, in ihrer Alltagswelt hat und                   ihrer Nutzer. In: tv diskurs, 51/2010/1, S. 58-60.
sen in eine ähnliche Richtung. Diese       wie sie dauerhaft mit diesem Erlebnis                 Horton, Donald; Wohl, R. Richard: Mass commu-
Studie zeigte, dass Fans von Dieter        umgeht. Denn für die Kandidatin sind                  nication and para-social interaction. Observations
                                                                                                 on intimacy at a distance. In: Psychiatry, 19/1956/3,
Bohlen in besonders hohem Maße             es mindestens 2 Krisen, die sie ver-                  S. 215-229.
meinten, von ihm lernen zu können,         kraften muss: zum einen die Ableh-                    Iconkids & youth international research: BRAVO
wie man mit Freunden umgehe (vgl.          nung in einem Casting und eine sehr                   Dr.-Sommer-Studie 2009. Liebe! Körper! Sexualität!
Götz 2011). In dem ausführlich ge-         persönliche und verletzende Kritik,                   München 2009.
                                                                                                 Klaus, Elisabeth: Verhandlungssache Castingshows.
schilderten Beispiel der Schülerin         zum anderen die Stilisierung als »un-                 Warum das Format jugendliche Fans begeistert. In:
Sandra wird gezeigt, wie fatal es ist,     angenehm Körperorientierte« und in                    tv diskurs, 48/2009/2, S. 42-45.
eine Freundin wie Cora zu haben, die       Gesang, Performance und Auftreten                     Lothwesen, Kai; Müllensiefen, Daniel: What ­makes
ihr Rückmeldung zu ihrem Tanzstil          peinliche und deplatzierte Loserin vor                the difference? Pop music stars and TV talent show
                                                                                                 contestants in adolescents’ judgements (2004).
und ihrem Talent gibt und damit of-        einem Millionenpublikum. Zumin-                       http://iipc.utu.fi/reconsidered/Lothwesen.pdf (Ab-
fensichtlich völlig falsch liegt. Dieter   dest ihre negative Inszenierung konn-                 ruf: 16.04.2010).
Bohlen hingegen, der offen Kritik übt,     te die Kandidatin nicht beeinflussen.                 Mikos, Lothar: Fern-Sehen, Bausteine zu einer Re-
                                                                                                 zeptionsästhetik des Fernsehens. Berlin: Vistas 2001.
ist hier der bessere Freund, denn er       Wir können nicht nachvollziehen,
                                                                                                 Schwarz, Claudia: »Der ist der Fescheste«. Identi-
spricht ehrlich aus, was alle sehen.       was die junge Frau aus diesen Erleb-                  täts- und Geschlechtskonstruktion in der Aneignung
Selbstverständlich wäre es auch mög-       nissen mit dem Fernsehen gelernt hat.                 der österreichischen Castingshow »Starmania«. In:
                                                                                                 Döveling, Katrin; Mikos, Lothar; Nieland, Jörg-Uwe
lich, sich als ZuschauerIn gegen diese     Bei den anderen Millionen Zuschaue-                   (Hrsg.): Im Namen des Fernsehvolkes. Konstanz:
im Text angelegte Deutung zu weh-          rInnen liegt jedoch der Verdacht nahe,                UVK Verlags-Gesellschaft 2007, S. 155-177.
ren, dem Urteil zu widersprechen und       dass sich die Art der Kritik und des                  Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2006.
die gesamte Inszenierung, den Um-          Umgangs miteinander immer mehr                        Eine pragmatische Generation unter Druck. Frank-
                                                                                                 furt a. M.: Fischer 2006.
gang mit den Bildern und der Persön-       kultiviert, gerade weil es ein positives              Stauber, Claudia: Germany’s Next Topmodel. Vom
lichkeit der jungen Frau zu kritisieren.   Gefühl ist, sich durch die Abwertung                  Heulen und Zähneklappern und dem medialen Um-
Doch dafür müsste die eindeutige In-       selbst zu erheben, und weil sich durch                gang mit Selbstinszenierungen. In: Betrifft Mädchen,
                                                                                                 20/2007/3, S. 100-107.
terpretation der Realität erkannt wer-     das Zitieren von Bohlens Sprüchen
den – und das gelingt vermutlich auch      gut Gemeinsamkeit und Selbstposi­
Erwachsenen höchstens in Ansätzen.         tionierung herstellen lässt.
Eine kritische Haltung wird gegen-
über der Person Dieter Bohlen oder
den Kommentaren eingenommen,                                                                               DIE AUTORINNEN
die SeherInnen folgen aber dennoch
den angelegten Deutungsmustern der                                                                  Maya Götz, Dr.
Sendung.                                                                                            phil., ist Leiterin
                                                      ANMERKUNGEN
Mit jeder Staffel ist die Redaktion                                                                 des IZI und des
bzw. die Produktionsfirma von DSDS         1
                                             Das Videoprojekt wurde mit 2 Klassen an einem          PRIX JEUNESSE
geschickter und deutender im Um-             Schleusinger Gymnasium durchgeführt. Insgesamt         INTERNATIO­
                                             nahmen hier 44 Kinder und Jugendliche zwischen
gang mit dokumentarischen Bildern            11 und 14 Jahren teil.
                                                                                                    NAL, München.
geworden. Das macht die Sendung            2
                                             Repräsentativbefragung, durchgeführt von iconkids                           Johanna Gather
                                             & youth im Sommer 2009
unterhaltsamer und erfolgreicher in        3
                                             Vermutlich unterscheiden sich dabei die Nutzungs-                           studiert Publizis-
den perfiden Mechanismen, die vor            motive je nach Phase der Staffel (vgl. Döveling                             tik, Filmwissen-
allem einem dienen, der Inszenierung         2007). Da sich die Erhebung in dieser Studie über                           schaft und Kul-
                                             den gesamten Zeitraum hinzog, wurde dies hier
der Medienfigur Dieter Bohlen. Die                                                                                       turanthropologie
                                             jedoch nicht deutlich.
Mechanismen werden jedoch auch             4
                                             Bei GNTM stimmen der Aussage »Ich sehe die                                  an der Universität
                                             Sendung so gerne, weil ich so schön ablästern                               Mainz.
immer undurchschaubarer. Je perfek-          kann« nur 65 % der Befragten zu.
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