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SC|M Studies in Communication | Media ESSAY Risiken und Nebenwirkungen des Internets für die politische Kommunikation Risks and Side Effects of the Internet for Political Communication Wolfgang Donsbach SCM, 0. Jg., 1/2011, S. 119-129 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Wolfgang Donsbach: Technische Universität Dresden, Institut für Kommunikationswissen- schaft; Kontakt: wolfgang.donsbach(at)tu-dresden.de 120 SCM, 0. Jg., 1/2011 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
ESSAY Risiken und Nebenwirkungen des Internets für die politische Kommunikation Ein Essay Risks and Side Effects of the Internet for Political Communication An Essay Wolfgang Donsbach Abstract: This short essay observes some general trends concerning the internet’s impact on political communication – based around notions of what we might expect from the citizens, media and political actors in a democratic society. It focuses on three central ques- tions: 1) What kind of significance did the internet gain over recent years? 2) What kind of changes will current trends in communication carry for political cognition? 3) What sort of modification will the culture of communication experience? The essay argues in favor for a hard-nosed view on recent developments that concentrates on the functions of jour- nalism and intermediate institutions, rather than normative expectations regarding a „new public sphere“. In einem neuen Online-Journal (Herz- Die „strengen Regeln wissenschaftli- lichen Glückwunsch zur ersten Num- cher Methodik“ zu vernachlässigen, mer!) darf man doch hoffentlich schon fällt einem Wissenschaftler zwar mal Wikipedia zitieren! Ein Essay ist schwerer als einem Verteidigungsminis- „eine geistreiche Abhandlung, in der ter, aber er freut sich, wenn er mal wissenschaftliche, kulturelle oder ge- nicht jeden Satz darauf prüfen muss, sellschaftliche Phänomene betrachtet ob man ihn schreiben kann – und ob ihn nicht vielleicht schon ein Kollege werden. Im Mittelpunkt steht die per- so oder ähnlich geschrieben hat. Auch sönliche Auseinandersetzung des Au- die „persönliche Auseinandersetzung“ tors mit seinem jeweiligen Thema. Die mit dem Thema ist eine eher willkom- Kriterien streng wissenschaftlicher Me- mene Erwartung, wenn man ansonsten thodik können dabei vernachlässigt in das Korsett der wertfreien Wissen- werden.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/ schaft gezwängt ist. Auch wenn man essay) Dagegen ist natürlich Kritik dieses Korsett freiwillig gewählt hat höchst erwünscht und geradezu der (das nach Popper einzig unumgängli- Maßstab dafür, ob dieses Ziel erreicht che Werturteil in einer ansonsten wert- wurde. freien Wissenschaft), juckt es gerade in 121 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Essay den normrelevanten Sozialwissenschaf- Jahre, dann fokussieren die Beiträge ten, auch einmal normativ argumentie- wiederum das alte Thema von Walter ren zu können – und damit das zu tun, Lippmann (1922), nämlich die Frage, was René König uns verboten hat, wie groß das Delta ist zwischen den nämlich das Werturteil zum Inhalt der Idealvorstellungen einer Demokratie wissenschaftlichen Aussage zu machen. und der tatsächlichen Performanz ihrer Ganz problematisch für den Verfasser Akteure. Auch wenn man natürlich ist natürlich das Gebot, in seinem Es- gleich mit dem Generalverdacht kom- say „geistreich“ zu sein. Ich ziehe mich men kann, die Vergangenheit werde auf den Standpunkt zurück, dass dies idealisiert, um die Gegenwart umso jeder Leser anders definiert und emp- einfacher an den Pranger stellen zu findet und man diesbezüglich wenigs- können (ein Trick, den man gerade Ha- ten hier und da einen Treffer beim Pu- bermas immer vorgeworfen hat), ist es blikum landet. für die Sozialwissenschaften nötig, Dieser Beitrag basiert also anders als nach den Absetzungsbewegungen der meine üblichen Arbeiten weniger auf Realität vom Ideal zu suchen. Dies originären empirischen Daten. Statt- müsste auch dann Anlass zu wissen- dessen gebe ich hier einige Beobach- schaftlicher Aktivität sein, wenn man tungen wieder, die zum Teil auf empiri- davon ausgehen muss, dass das Ideal sche Ergebnissen (eigenen und noch selbst nie zu erreichen ist. Insofern soll- mehr fremden), überwiegend aber auf te in jedem von uns ein Stück allgemeinen Beobachtungen über die Habermas’schen Denkens stecken, Veränderungen der politischen Kom- auch wenn man nicht der Kritischen munikation in Zeiten des Internets ba- Theorie angehört. sieren. Meine drei Kernfragen in die- Allerdings sind Habermas und seine sem Essay sind für mich auch so etwas Schüler, und das ist ein direkte Folge wie meine forschungsleitenden Fragen des kritisch-theoretischen Gedankenge- für die Zukunft: 1) Welche Bedeutung bäudes, meist auf einem Augen blind, hat das Internet für die politische weil sie nur die strukturellen Voraus- Kommunikation? 2) Welche Verände- setzungen der Demokratie im Blick ha- rungen bringen die gegenwärtigen ben und nicht die Performanz ihrer Trends im Kommunikationsverhalten Akteure, zumindest nicht der Bürger. hinsichtlich der politischen Kognitio- Letztere werden meist als Opfer der nen? 3) Welche gesamtgesellschaftli- Umstände, bestenfalls als abhängige chen Veränderungen hinsichtlich der Variable der Systemvoraussetzungen Kommunikationskultur kann es ge- gesehen (vgl. Donsbach & Obermüller, ben? 2010). Es darf aber erlaubt sein zu fra- Letztlich dreht sich dabei alles um gen, was die Bürger mit den ihnen zur die Frage, wie viel und was wir von Verfügung stehenden Ressourcen, auch Bürgern, Medien und politischen Ak- denen im Internet, Sinnvolles anfangen. teuren in einer Demokratie – und da- mit vom politischen System insgesamt – erwarten können. Betrachtet man die Veröffentlichungen und Konferenzthe- men im Bereich der politischen Kom- munikationsforschung der letzten zehn 122 SCM, 0. Jg., 1/2011 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Donsbach | Risiken und Nebenwirkungen des Internets für die politische Kommunikation 1. E-Democracy: die unerfüllte präsentativen Durchschnitt der Bevöl- Hoffnung kerung ab 14 Jahren hatten 62 Prozent von den zwei wichtigsten Nachrichten Meine erste forschungsleitende Frage des Vortages erfahren – bestimmt betrifft die Bedeutung des Internets für durch ein zehnköpfiges Expertenpanel die politische Kommunikation. Sie ist aus Chefredakteuren, Politologen und eine rein deskriptiv-empirische Frage. Kommunikationswissenschaftlern –, Maßstab sind hierfür am besten die Er- davon sieben Prozent durch das Inter- wartungen, die man vor etwa zehn bis net. Bezogen auf die Gesamtbevölke- 15 Jahren mit der so genannten E-De- rung bleiben hier – weil noch konkre- mocracy verbunden hat. Sie betrafen ter gefragt wurde – ganze vier Prozent ein Mehr an direkten demokratischen übrig. Für neun von zehn Befragten Entscheidungen, einen intensiveren, war die Quelle immer noch ein klassi- das heißt mehr Menschen einbeziehen- sches Medium. Geht man in der Infor- den politischen Diskurs und eine stär- mations-Kaskade noch weiter und kere Responsivität der Regierung (vgl. fragt nach der möglichen Quelle für Zittel, 2008). Nichts davon ist bisher zusätzliche Informationen zu den in nennenswertem Maße eingetreten. wichtigsten Themen, dann ändert sich Alle bisher vorliegenden Befunde nicht viel an den Relationen. Wenn das zeigen aber, dass die Nutzung des In- Internet die Quelle für Informationen ternets und die Wahrnehmung seiner war, dann – so kann man erfreut fest- Möglichkeiten für politische Partizipa- stellen – waren es ganz überwiegend tion (und sei es auch nur die passive die Web-Auftritte der professionellen Nutzung von Inhalten) äußerst gering Medien. Ein einziger von 1 800 Befrag- und hinsichtlich der aktiven Eigen-Be- ten (0,006 Prozent!) nannte einen Blog teiligung sogar eher rückläufig sind. als Informationsquelle über die wich- Nach der ARD/ZDF-Onlinestudie tigsten Tagesthemen. Die Tatsache, 2010 gaben 58 Prozent der Online- dass in den USA das Internet als Nach- Nutzer an, das Internet für politische richtenquelle sogar die traditionelle Ta- Informationen und Nachrichten zu geszeitung überholt hat, liegt überwie- nutzen (van Eimeren & Frees, 2010). gend daran, dass dort das Fragt man aber konkret, über welches Nachrichteninteresse noch tiefer ge- Medium man sich „gestern“ (Stich- sunken ist als bei uns (Pew Research tagsfrage) über „das aktuelle Gesche- Center for the People and the Press, hen“ informiert hat, dann sehen die 2008). Zahlen plötzlich ganz anders aus: Von Die aktive Eigenbeteiligung am den 61 Prozent der unter 30-Jährigen, Nachrichtenfluss („Nachrichten“ hier die das überhaupt (angeblich) taten, in einem sehr weiten Sinne verstanden) nannten 15 Prozent das Internet. Bezo- ist noch geringer und sogar rückläufig. gen auf alle bleiben ganze neun Pro- Die ARD/ZDF-Onlinestudie ermittelte, zent übrig (Allensbacher Markt- und dass von den Nutzern mit eigenem Webeträgeranalyse, 2008). Profil in einer privaten Community ge- Das passt zu den ersten Befunden rade einmal 54 Prozent mindestens unseres laufenden DFG-Projekts einmal im Monat „Beiträge und Kom- „Nachrichtennutzung und Nachrich- mentare innerhalb der Community tenwissen junger Menschen“. Im re- schreiben“ und sechs Prozent eigene 123 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Essay Videos hochladen. Da 39 Prozent ein als das Aufkommen täglicher Leser- solches Profil haben, verringern sich briefe bei deutschen Tageszeitungen. diese Zahlen auf 21 bzw. zwei Prozent Die Autoren ziehen daher den Schluss, der Bevölkerung. Und: Hier geht es um dass die Internetangebote der Parteien Aktivitäten jeglicher Art. Politik dürfte vermutlich kaum eine messbare Wir- dabei eine kaum messbare Größe sein. kung auf die Wahlentscheidung hatten Schauen wir auf Youtube, dann ist und setzen deren Funktion mit den es realistisch anzunehmen, dass der Parteizeitungen des frühen 19. Jahr- Anteil der „Prosumer“ von User-Gene- hunderts gleich. „Die Resonanz in den rated-Online-Videos (UGOV) im poli- Sozialen Netzwerken und in den Foren tischen Bereich selbst bei weiter Defini- wurde allenfalls ansatzweise den Krite- tion deutlich unter einem Prozent liegt. rien gerecht, die man an einen politi- Betrachtet man den bei Youtube mit 4 schen Diskurs anlegen muss.“ Sie ver- Prozent ausgewiesenen Anteil des Be- muten, dass sich die politisch reichs „Nachrichten und Politik“, Uninteressierten im Internet noch dann findet sich dort nur wenig, was leichter den politischen Inhalten entzie- mit politischen Inhalten, geschweige hen können als in den traditionellen denn mit politischen Nachrichten im Medien (Kepplinger & Podschuweit, engeren Sinne etwas zu tun hat. Am 2011, i. Druck). 22. März 2011 war trotz der Vorgänge Mit diesen Daten will ich nicht in in Japan und Libyen der Tod von Eis- Frage stellen, dass politische Kommu- bär Knut der absolute Renner unter nikation online ein erhebliches Poten- den 25 erstgelisteten Beiträgen. Hinzu zial bietet und auch für die Kommuni- kommt, dass die Web 2.0-Eigen-Aktivi- kationswissenschaft ein wichtiges täten nach der jüngsten ARD/ZDF-On- Untersuchungsfeld ist. Aber noch gilt linestudie eher rückläufig sind. Ob dies die Faustregel: Wenn eine Nachricht am Ende des Neuigkeitseffekts liegt nicht in den traditionellen Medien oder an der Erfahrung, dass sich die ei- kommt, dann bleibt sie irrelevant. Et- genen Kommunikate ohne Resonanz was anderes ist es mit der Bedeutung im Nirwana des Cyberspace verlieren, von Twitter & Co. für den professio- muss noch geklärt werden. nellen Journalismus. Die sozialen Netz- Auch die Studie von Kepplinger und werke haben sich gerade in unfreien Podschuweit (2011) über die interakti- Systemen zu einer wichtigen Ressource ven Webseiten der Parteien im Bundes- bei der Themenfindung und Recherche tagswahlkampf 2009 zeigte vernach- erwiesen. Bei weltweit 140 Millionen lässigbare Aktivitäten. Das gilt sowohl täglich versandten Twitter-Meldungen hinsichtlich der Anzahl der Nutzer die- muss ja irgendwann auch etwas Wich- ser Seiten im Vergleich zu denen der tiges dabei sein. Man kann nur hoffen, Webseiten etablierter Medien, als auch dass die professionellen Journalisten hinsichtlich der Parteien-Channels auf bei den richtigen Leuten zu den Twit- Youtube und der aktiven Teilnehmer ter-Followern gehören, sonst ver- an Parteienforen. Ein Ergebnis heraus- schwenden sie viel Zeit, die für echte gegriffen: Im offenen Forum der Grü- Recherche aufgewendet werden muss. nen gab es im Schnitt acht Beiträge pro Tag. Das ist selbst für alle Parteien zu- sammen genommen deutlich weniger 124 SCM, 0. Jg., 1/2011 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Donsbach | Risiken und Nebenwirkungen des Internets für die politische Kommunikation 2. Verlust an Validität? nicht wundern: dass es zu Umvertei- lungen am Markt kommt, dass die Das bringt mich zur viel wichtigeren Menschen für die Produkte nicht mehr Unterscheidung als der zwischen tradi- zahlen wollen und dass Journalismus tionellen Medien und dem Internet, seine Konturen verliert. So ist es kaum nämlich der zwischen Journalismus verwunderlich, dass heute für die Hälf- und Para- oder Non-Journalismus – te der 18 bis 24 Jahre alten Deutschen und damit zur Frage der politischen ein Blogger ein Journalist ist (Dons- Kognitionen. Jeder kennt „Me-too“- bach, Rentsch, Schielicke, & Degen, Produkte, die im Phänotyp das Gleiche 2009, S. 120). anbieten, aber im Kern meist von ge- Leider ist dies nur zum Teil ein ringerer Qualität sind. Die Koreaner Branchenproblem, das man aus ge- machen es mit deutschen Autos, die samtgesellschaftlicher Perspektive ver- Anzeigenblätter mit den Abonnement- nachlässigen könnte. Die Folgen der zeitungen und Tausende von Webseiten veränderten Nutzungsmuster bestehen mit spiegel-online oder faz.net. Aller- vor allem darin, dass die Produkte des dings war es noch nie so leicht, die professionellen Journalismus immer Profis zu imitieren, wie im Internet. weniger nachgefragt werden. Barn- Woher die Information stammt, wie hurst und Owen (2008, S. 2557) defi- gut sie geprüft wurde, wie ausgewogen nieren die Funktion des Journalismus sie ist – all das kann, muss aber nicht lapidar, aber auf den Punkt gebracht: eine Rolle spielen, um es wie eine „distinguishing intelligence from gos- Nachricht aussehen zu lassen. Wenn al- sip“. Betrachtet man sich die Entwick- les optisch mehr oder weniger gleich lungen der Inhalte im Internet, dann daher kommt: Woher soll der Nutzer muss man zu der Erkenntnis kommen, noch wissen, hinter welcher Website dass es gerade die „Gerüchte“ sind, die ein professionelles Medium steckt, das an Bedeutung gewinnen. Der frühere mit viel Aufwand die richtigen und Direktor des Nieman-Instituts an der wichtigen Nachrichten recherchiert Harvard University, Bill Kovach, hat, und hinter welcher ein verblende- drückte die Sorge so aus: “Each day ter Blogger oder ein Unternehmen, die that passes swells the number of peo- einem etwas verkaufen wollen – sei es ple who join this tech-savvy generation ein Ideologie oder ein Produkt. accustomed to receiving and communi- Als Folge erleben wir derzeit drama- cating what they want, when, where, tische Verluste von Markenkernen, how and from whom they want it. The nämlich denen der etablierten Medien. question is whether those who contrib- Sie haben geglaubt, dem Internetan- ute to this new universe of voices have sturm am besten Paroli bieten zu kön- the time, the motivation, and the skills nen, wenn sie sich an die Spitze der Be- this task requires” (Kovach, 2006, S. wegung setzen. Keine Zeitung, kein 39). Seine Forderung: Wir benötigen Rundfunkmedium ohne Blog und Fa- einen “new journalism of verification”. cebook und Twitter – alles Journalis- Wenn die Nachfrage nach professio- mus, oder was? Wenn die Profi-Journa- nellem Journalismus sinkt und zuneh- listen so tun, als gehörten die Amateure mend para-journalistische oder nicht- oder die PR-Treibenden zur Familie, journalistische Quellen eine Rolle dann dürfen sie sich über drei Dinge spielen, dann steigt die Wahrscheinlich- 125 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Essay keit, dass der Anteil von geprüftem Twitter & Co. geschrieben habe: Als Wissen an allem Wissen der Bürger Rohmaterial für Journalismus eine tol- tendenziell sinkt. Damit kann die Ge- le Ergänzung, insbesondere im Hin- sellschaft letztlich auch irrationaler blick auf andere Quellen und Blick- und in gewisser Weise auch ideologi- winkel – aber eben auch nicht mehr. scher werden, zumindest aber ober- flächlicher. Wir brauchen daher Quali- 3. Weimar 2.0? tätsjournalismus, wir brauchen die Leute, die uns die Gerüchte vom Hals Die veränderte Kommunikationsum- halten und das Wichtige und Richtige welt kann noch einen weiteren und (im Sinne des Geprüften) ausgraben. zwar einen makrosoziologischen Effekt Oder mit Miriam Meckels Worten: haben: dass auch der Anteil an gemein- „Wir brauchen Menschen, die vom samem Wissen an allem Wissen der Schreibtisch aufstehen und sich vom Bürger sinkt. Das bezeichne ich als Computer lösen, um zu beobachten, „Weimarisierung“, weil auch damals was in der Welt geschieht. Wir brau- die Gesellschaft in viele kleine Commu- chen Menschen, die unter Recherche nities (man nannte sie noch nicht so…) mehr als die Begriffseingabe in eine zerfiel, die kaum noch gemeinsame Für- Suchmaschine verstehen.“ (FAZ vom wahrhaltungen zu den Gesprächsthe- 12. Mai 2009) men aufwiesen. Wer den Völkischen In seiner Gesamtheit wird durch das Beobachter las, hatte eine ganz andere Internet trotz all seiner segensreichen Weltsicht, ganz andere Informationen Möglichkeiten das Angebot an politi- und Argumente parat als der Leser der schen Informationen aber gerade weni- Roten Fahne. Nun steht unsere heutige ger professionell. Eine US-amerikani- Gesellschaft nicht vor der Gefahr einer sche Studie von Maier (2010) zunehmenden Radikalisierung. Sie inte- analysierte über 13 000 Berichte von ressiert sich eher nur noch für die Din- nationalen und regionalen Tageszeitun- ge, die sie selbst betreffen, was Uwe gen und Web-Anbietern (CNN.com, Volkmann (2010) die „Privatisierung Yahoo-News, NBC.com, Google-News der Demokratie“ nennt. und AOL-News). Die Webangebote Aber wahrscheinlich haben wir es hatten zwar im Durchschnitt mehr Be- mit zwei Teilen der Gesellschaft zu tun, richte als die gedruckten Produkte, wa- bei denen auf unterschiedlichem Ni- ren aber durchschnittlich halb so lang, veau ähnliche Prozesse ablaufen: Die wurden überwiegend aus Agenturen politisch Interessierten und die Uninte- gespeist und waren mehr meinungs- als ressierten besuchen zwar ganz unter- sachbetont. Ähnliches fand Quandt schiedliche Webseiten, aber sie werden (2008) für Deutschland. Vergleicht beide selektiver! Während die einen, man die Webseiten professioneller Ta- überspitzt ausgedrückt, nur noch die geszeitungen mit denen von Bürger- Seiten ihrer Partei ansehen, gehen die journalisten und Bloggern, dann sind anderen nur noch auf die ihrer Helden Letztere weit davon entfernt, ein Subs- in jeweils anderen Bereichen der Popu- titut für die Online-Auftritte der pro- lärkultur und der Warenwelt. Das wird fessionellen Medien darzustellen (Lacy, auch leichter gemacht, denn die Web- Duffy, Riffe, Thorson, & Fleming, Auftritte im Internet sind – soweit es 2010). Auch hier gilt, was ich über die nicht-professionellen Medienhäuser 126 SCM, 0. Jg., 1/2011 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Donsbach | Risiken und Nebenwirkungen des Internets für die politische Kommunikation betrifft – auch parteiischer. Baum und rade darin, ‚unter sich‘ zu sein und sich Groehling (2008, S. 361): „Our find- gegenseitig Meldungen und Kommen- ings suggest that if […] hearing both tare zuzuschieben oder auf solche zu sides of the story helps Americans verweisen, die der eigenen Meinung make better decisions, the increased re- oder der der Gruppe entsprechen. liance of many politically attentive Die Softwares der sozialen Netzwer- Americans on partisan sites such as ke tun ein Übriges. Spiegel-Online be- Daily Kos and Free Republic could po- richtete jüngst von einer Beobachtung tentially pose a significant challenge to des Aktivisten Eli Pariser, der feststellte, American democracy […]. Regardless dass ihm Facebook immer häufiger Ar- of their normative implications, our gumente der Gegenseite vorenthielt. findings offer a striking validation for Das Programm setzte bestimmte Filter those who complain about one-sided ein, die auf der vorhergehenden Nut- coverage of politics in the so-called zung basieren. Die Folge: Was der Nut- blogosphere.” zer erhält, wird immer einseitiger, ‚mo- Aber nicht nur die Angebote, auch re-of-the-same‘. Der Verfasser des die Nutzung wird selektiver. Die Ame- Spiegel-Beitrags beobachtet das gleiche rikaner wenden sich, zumindest sofern Phänomen für Twitter. Man sieht minu- sie politisch interessiert sind und eine tiös, was das eigene Umfeld zu sagen Parteipräferenz haben, immer häufiger hat. „Und doch wirkt die vom selbstge- solchen Quellen zu, die ihren bereits wählten Twitter-Umfeld gelieferte Sicht bestehenden Ansichten entsprechen. auf die Welt verzerrt, wenn man sie ein- Die Theorie der selektiven Zuwendung mal mit dem Smalltalk in der U-Bahn, erlebt ein Revival! Iyengar und Hahn der Kneipe oder den Kommentaren auf (2009) belegen dies eindrucksvoll für einer beliebigen Nachrichtenseite im Fox-News und CNN/NPR („red me- Netz vergleicht. Zumindest in meinem dia, blue media“). Offensichtlich eignet Twitter-Umfeld gilt Karl-Theodor zu sich die Architektur der Webseiten Guttenberg als unerträglich. Das sehen ganz besonders für selektive Zuwen- einige Menschen anders, und unabhän- dung entsprechend der Dissonanztheo- gig davon, was man nun darüber rie (Meffert, Chung, Joiner, Waks, & denkt: Es ist erstaunlich, wie wenig ab- Garst, 2006; Westerwick & Meng, weichende Meinung zu diesem und 2009). Während dies mediale Auftritte anderen Themen ich in meinem Twit- betrifft, ist die Gefahr, nur noch mit ter- und Facebook-Umfeld lese.“ Spie- den Ansichten aus dem eigenen Spren- gel-Autor Konrad Lischka (2011) gel konfrontiert zu werden, bei den so- fordert die Kommunikationswissen- zialen Netzwerken noch einmal um ein schaftler auf, einmal zu untersuchen, Vielfaches größer. Ein Viertel der On- wie sich in dieser Situation zunehmend line-Nutzer ab 14 Jahren nutzt mindes- Schweigespiralen bilden und die Men- tens einmal wöchentlich Gesprächsfo- schen sich angesichts der Homogenität ren, Newsgroups und Chats, 32 in den sozialen Netzwerken viel häufi- Prozent Online-Communities. Bei den ger in der Minderheit fühlen. Jugendlichen und jungen Erwachsenen Neben dem Verlust an Validität ist sind es entsprechend mehr (van Eime- also die wahrscheinlich größte Gefahr ren & Frees 2010). Das Merkmal sol- der neuen Kommunikationsstrukturen cher sozialen Netzwerke besteht ja ge- und -inhalte, dass sie zu einem Verlust 127 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Essay an Öffentlichkeit führen. Öffentlich- man das Erreichte bewahren und mit keit kann es nämlich nur dort geben, den neuen Kommunikationsmöglich- wo man sich erstens auch für Dinge in- keiten sinnvoll weiterentwickeln kann. teressiert, die einen selbst und die eige- Dies ist nur im ersten Schritt – nämlich nen Interessen nicht direkt betreffen, dem Bekenntnis zu einer pluralisti- und wo es zweitens eine zumindest in schen und möglichst rationalen Demo- Teilen gemeinsame kognitive Plattform kratie – eine normative Entscheidung. gibt. Das war bisher die spezifische Dazu gehört aber die Erkenntnis, dass Leistung der professionellen Medien, ein Bürger, der täglich seine persönli- und deshalb hält Jarren (2008, S. 329) che Meinung in einem Blog kundtut, sie auch für „unverzichtbare Instituti- noch lange kein Journalist ist, sondern on unserer Gesellschaften“, denn sie (möglicherweise) etwas Brauchbares „[…] ermöglichen in spezifischer Weise liefert, das uns die Profis aufbereiten. die Interaktionsprozesse zwischen In- Deren Aufgabe wird natürlich dadurch formationsanbietern und Rezipienten, nicht leichter. sie regeln die Austauschprozesse gesell- Meine dritte, oben behandelte Fra- schaftsweit, für alle Gesellschaftsmit- ge, lässt sich vielleicht wirklich nur glieder sichtbar und verbindlich“. normativ beantworten, es sei denn man ist gewillt, sich auf langfristige 4. Fazit Quasi-Experimente über die Verände- rung politischer Systeme einzulassen. Man muss aufpassen, nicht als der Ich halte eine Demokratie, in der sich kommunikationswissenschaftliche Hei- die kognitive Polarisierung der Staats- zer auf der E-Democracy-Lok zu er- scheinen, dem die jüngeren Kollegen, bürger in Grenzen hält, für besser als wenn überhaupt, dann nur noch aus eine, in der die verschiedenen Mei- geriatrischen Gründen mit Wohlwollen nungsgruppen zunehmend auseinan- (oder Mitleid?) begegnen. Deshalb derdriften. Auch das ist übrigens schon noch einmal zum Schluss: Es geht nicht seit einigen Jahren ein Thema der poli- darum, vor den dramatischen und teil- tischen Kommunikationsforschung, weise großartigen Veränderungen, die vorrangig in den USA und bereits in uns das Internet auch in der politischen Ansätzen empirisch untersucht (Iyen- Kommunikation gebracht hat, die Au- gar & Hahn, 2009; Mutz, 2006). Die gen zu verschließen. Es geht darum, die offenen Forschungsfragen liegen auch stattfindenden Veränderungen nüch- für uns auf der Straße – beste Voraus- tern (das heißt ohne normatives Pa- setzungen für ein internationales E- thos) und die möglichen Zukunftsent- Journal des Fachs. wicklungen auch kritisch (das heißt nicht nur hinsichtlich ihres demokrati- Literatur schen Potenzials) zu sehen. Und es geht für uns Kommunikationswissenschaft- Barnhurst, K. G., & Owens, J. (2008): ler vor allem darum, die spezifische Journalism. In The International Ency- Funktion der Journalisten und ihrer In- clopedia of Communication (Vol. 6, S. stitutionen (der Intermediäre) zu er- 2557-2569). Malden: Wiley-Blackwell. kennen. Daraus folgt dann der For- Baum, M. A., & Groehling, T. (2008). New schungsauftrag zu untersuchen, wie media and the polarization of American 128 SCM, 0. Jg., 1/2011 https://doi.org/10.5771/2192-4007-2011-1-119, am 29.11.2021, 12:31:32 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
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