" darum rufe ich jetzt den Rettungsdienst!" - Eine qualitative Studie zu Notfallszenarien in Pflegeheimen - Ostfalia ...
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141 Originalarbeit „… darum rufe ich jetzt den Rettungsdienst!“ https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 Eine qualitative Studie zu Notfallszenarien in Pflegeheimen Juliane Poeck1 , Carsten Bretschneider1, Silke Freihoff2,3, Andreas Günther4, Martina Hasseler5, Nils Schneider2, Jutta Bleidorn1, Sven Schwabe2 1 Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Jena 2 Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Hochschule Hannover 3 Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover 4 Fachbereich Feuerwehr, Stadt Braunschweig 5 Fakultät Gesundheitswesen, Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften – Hochschule Braunschweig / Wolfenbüttel Zusammenfassung: Hintergrund: Notfälle in Pflegeheimen führen zu einer hohen Anzahl von Rettungsdiensteinsätzen und Krankenhauszuweisungen. Eine umfassende interprofessionelle Perspektive auf Notfälle in Pflegeheimen ist bislang wenig untersucht. Ziel: Charakterisierung, Identifizierung und Priorisierung von Notfallszenarien nach Relevanz und Häufigkeit in Pflegeheimen. Methoden: Zwei multimethodale berufsgruppenübergreifende Gruppendiskussionen wurden mit insgesamt 18 Teilnehmenden aus Pflege, Medizin und Wissenschaft im Januar und Februar 2020 durchgeführt. Die Gruppendiskussionen wurden aufgezeichnet, transkribiert und qualitativ-inhaltsanalytisch nach Mayring ausgewertet. Ergebnisse: Notfallszenarien in Pflegeheimen entstehen aus einem Zusammenspiel von personenbezogenen Anlässen und Kontextbedingungen. Als wesentliche personenbezogene Anlässe wurden genannt: Sturz, entgleiste Vitalwerte, auffälliges Verhalten, neurologische Symptome und Leblosigkeit. Kontextbedingungen gliedern sich in organisatorisch-strukturelle, politisch-rechtliche und ethi- sche Aspekte. Als besonders relevant stellten sich unzureichende Kommunikation zwischen den Akteuren, Unsicherheiten beim Personal, fehlende Patientenverfügungen und Arbeitsverdichtung in der Pflege heraus. Schlussfolgerungen: Notfälle in Pflegeheimen stellen sich als komplexe Notfallszenarien dar. Kontextbedingungen sind bedeutsam für den Umgang mit Not- fallszenarien in Pflegeheimen. Handlungsempfehlungen sollten sich an der Perspektive der in der Notfallversorgung beteilig- ten Akteure orientieren und die Kontextbedingungen stärker berücksichtigen. Schlüsselwörter: Pflegeheime, Notfälle, Geriatrie, interprofessionelle Zusammenarbeit, qualitative Methoden “… that's why I call the ambulance!” – A qualitative study of emergency scenarios in nursing homes Abstract: Background: In nursing homes, emergencies lead to frequent utilisation of emergency medical services (EMS) and emergency department visits. A broad interprofessional perspective of involved practitioners on emergencies in nursing homes has been little studied so far. Aim: Characterization, identification and prioritization of emergency scenarios by rele- vance and frequency in nursing homes. Methods: We conducted two multi-method, interprofessional group discussions with a total of 18 participants from nursing, medicine and science in January and February 2020. Group discussions were recorded, transcribed and analyzed using qualitative content analysis according to Mayring. Results: Emergency scenarios in nursing homes arise from interactions between person-related aspects and contextual conditions. The following person-related as- pects were named as relevant: Falls, unstable vital signs, abnormal behavior, neurological symptoms and lifelessness. Contex- tual conditions are classified into organizational-structural, political-legal and ethical aspects. The following were considered to be most relevant: lack of communication between the actors, uncertainties among staff, absent living wills and increasing workload in nursing. Conclusions: Emergencies in nursing homes turn out to be complex emergency scenarios. Contextual conditions are important for dealing with emergency scenarios in nursing homes. Recommended actions should be based on the perspective of involved practitioners on emergencies and take greater account of the contextual conditions. Keywords: Nursing homes, emergencies, geriatrics, interprofessional relations, qualitative methods © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind articlePflege (2021), 34 (3), 141–150 under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/) https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000804
142 J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen dem Krankenhaustransport der Bewohner_innen. Die Da- Was ist (zu dieser Thematik) schon bekannt? Notfallsituationen in Pflegeheimen führen oft zu vermeid- ten werden häufig retrospektiv mithilfe von Akten- und baren und ungewünschten Krankenhauszuweisungen und Krankenkassendatenanalysen erfasst (Burke et al, 2015; stellen in der Notfallversorgung beteiligte Akteure vor Her- Ouslander et al., 2010; Seeger et al, 2017). ausforderungen. Die Forschungsliteratur gibt einen guten Einblick über https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 Was ist neu? verschiedene Ursachen für Krankenhauszuweisungen aus Notfallszenarien können mithilfe eines Modells als Zu Pflegeheimen. Systematische Übersichtsarbeiten identi sammenwirken von personenbezogenen Anlässen und fizierten vor allem traumatische Ereignisse (z. B. Stürze), Kontextbedingungen konzipiert werden. Veränderungen des mentalen Status, Infektionen, Entzün- Welche Konsequenzen haben die Ergebnisse für die Pflege- dungen und Atemwegsbeschwerden als häufigste Ursachen praxis? für Krankenhauszuweisungen (Lemoyne et al., 2019). Dar- Handlungsempfehlungen sollten sich an der Perspektive über hinaus gibt es eine Diskussion über die Vermeidbarkeit der in der Notfallversorgung beteiligten Akteure orientieren von Rettungsdiensteinsätzen und Krankenhauszuwei und die Kontextbedingungen stärker berücksichtigen. sungen, in der strukturelle Umstände in den Pflegeheimen als Ursachen für Notfallsituationen benannt werden, z. B. Personalmangel, mangelndes Wissen und fehlende Um setzung von Advance Care Planning, fehlende Willens Einleitung bekundungen der Bewohner_innen sowie die eingeschränk- te Erreichbarkeit der Hausärzt_innen (Bleckwenn, Bell, In Deutschland werden über 800 000 pflegebedürftige Schnakenberg, Weckbecker & Klaschik, 2019; Chess, Whit- Personen in ca. 14 500 Pflegeheimen versorgt (Statista, man, Croll & Stefanacci, 2018; Dyntar et al., 2018). 2020). Aufgrund der demografischen Entwicklung in der Insgesamt weisen die Befunde daraufhin, dass bei Not- Gesellschaft werden altersassoziierte chronische Erkran- fallsituationen in Pflegeheimen mehrere Ebenen zu be- kungen immer häufiger und stellen die Versorgungsinsti- rücksichtigen sind. Ein ganzheitlicher und interprofessio- tutionen vor Herausforderungen (Robert Koch-Institut, neller Blick auf Notfallsituationen fehlt bisher. Um diese 2015). Komplexität zu eruieren, bedarf es einer berufsübergrei- Auftretende Notfälle in Pflegeheimen führen häufig zu fenden Perspektive von Akteuren, die in der Notfallversor- Krankenhauszuweisungen der betroffenen Bewohner_ gung in Pflegeheimen beteiligt sind (z. B. Pflegefachperso- innen (Kada, Janig, Likar & Pinter, 2013; Tiedtke et al., nen, Ärzt_innen, Rettungsdienst). 2014). Dabei werden Bewohner_innen fast doppelt so häu- fig hospitalisiert wie nicht-institutionalisierte Gleichal trige (Graverholt et al., 2011; Seeger, Ramos & Hoffmann, Ziele und Fragestellungen 2017; Wang, Shah, Allmann & Kilgore, 2011). Die kontinu- ierliche pflegerische Versorgung wird unterbrochen und Die vorliegende Studie hat das Ziel, Notfallsituationen in die Wahrscheinlichkeit negativer Begleiterscheinungen Pflegeheimen aus der berufsübergreifenden Perspektive wie Distress, Desorientierung, Verschlechterung exis beteiligter Akteure in der Notfallversorgung (Pflegefach- tierender Gesundheitsprobleme und Morbidität erhöht personen, Ärzt_innen, Rettungsdienst) zu charakterisie- (Fernandez, Callahan, Likourezos & Leipzig, 2008; ren, zu identifizieren und nach Häufigkeit und Relevanz zu Morphet, Innes, Griffiths, Crawford & Williams, 2015; priorisieren. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, Hand- Ouslander, 2019). Gleichzeitig werden zahlreiche Ret- lungsempfehlungen für ausgewählte Notfallsituationen tungsdiensteinsätze und Krankenhaustransporte aus Pfle- im Projekt NOVELLE partizipativ zu entwickeln, die Pfle- geheimen aus medizinischen Gründen als vermeidbar gefachpersonen mehr Handlungssicherheit in Notfallsitu- eingeschätzt und entsprechen häufig nicht den Behand- ationen geben. lungswünschen der Bewohner_innen (Burke, Rooks, Levy, Schwartz & Ginde, 2015; Dwyer, Gabbe, Stoelwinder & Lowthian, 2014; Ouslander et al., 2010). Als medizinischer Notfall werden laut Behringer, Buergi, Methoden Christ, Dodt & Hogan (2013) „alle Personen definiert, die körperliche oder psychische Veränderungen im Gesund- Kontext und Ethikvotum heitszustand aufweisen, für welche der Patient selbst oder eine Drittperson unverzügliche medizinische und pflege Die vorliegende Studie ist ein Teil des Innovationsfonds- rische Betreuung als notwendig erachtet“ (S. 625). Die Er- geförderten Projekts NOVELLE „Sektorenübergreifendes steinschätzung bei Notfällen im Pflegeheim findet durch und integriertes Notfall- und Verfügungsmanagement für Pflegefachpersonen statt, die dann entscheiden, in welcher die letzte Lebensphase in der stationären Langzeitpflege“ Form sie weitere Hilfe (z. B. Hausärzt_in, Ärztlicher Bereit- (Förderkennzeichen: 01NVF18007). Ein positives Ethik- schaftsdienst, Rettungsdienst) zu Rate ziehen. Die Begriffe votum der Ethikkommission der Medizinischen Hoch- „Notfall“ und „Notfallsituation“ werden gleichgesetzt und schule Hannover vom 27.01.2020 liegt vor (Nr. 8866_ primär assoziert mit dem Einsatz des Rettungsdienstes und BO_K_2020). Pflege (2021), 34 (3), 141–150 © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen 143 Studiendesign JP und SSch statt. Der zeitliche Umfang betrug 180 Minu- ten pro Termin. Die Inhalte wurden sukzessiv aufeinander Die Studie nutzt ein qualitatives Forschungsdesign zur aufgebaut. Für die Bearbeitung der Inhalte wurden ver- Rekonstruktion subjektiver Perspektiven und Deutungs schiedene qualitative Methoden und Moderationstechni- muster von Pflegefachpersonen, Ärzt_innen und dem ken eingesetzt. https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 Rettungsdienst auf Notfallszenarien in Pflegeheimen. In multimethodalen Gruppendiskussionen (berufsgrup- Qualitative Methoden können einen Einblick in die Innen- penheterogene und -homogene Gruppendiskussionen, perspektive der Beteiligten eröffnen und dadurch kontrol- Mehrpunktabfrage) wurden explorative und themenspezifi- liertes Fremdverstehen ermöglichen (Flick, Kardorff & sche Fragestellungen miteinander kombiniert. Die Modera- Steinke, 2012). Sie eignen sich besonders gut für derart of- tion erfolgte non-direktiv durch die Erstautorin und den fene und explorative Fragestellungen. Das berufsübergrei- Letztautor um viel Raum für Offenheit in der Diskussion zu fende Verständnis von Notfällen kann somit umfassend ermöglichen. In der ersten Gruppendiskussion sollten die eruiert werden. Aufgrund der Komplexität der Fragestel- Teilnehmenden in berufshomogenen Kleingruppen (1. Ärzt_ lungen (Charakterisierung, Identifikation und Priorisie- innen, 2. Pflegefachpersonen und Rettungsdienst) ihre Er- rung von Notfallszenarien) wurde ein multimethodaler fahrungen mit Notfällen im Pflegeheim darlegen und Cha- Ansatz gewählt, bei dem unterschiedliche Formen von rakteristika derselben zusammentragen unter der Leitfrage Gruppendiskussionen und Moderationstechniken (z. B. „Wodurch sind Notfallsituationen in Pflegeheimen gekenn- Mehrpunktabfrage) im Hinblick auf die Fragestellung mit- zeichnet?“. Ein Gesprächsleitfaden wurde nicht verwendet, einander kombiniert worden sind (Bohnsack, 2000; Przy- um die Diskussionen bewusst offen zu halten. Nach Zwi- borski & Riegler, 2010). schenauswertung der Ergebnisse erfolgte in der zweiten Sit- zung die themenspezifische Diskussion in berufsheteroge- nen Kleingruppen. Unter Vorgabe der entsprechenden Samplingstrategie Kategorien wurden weitere personenbezogene Anlässe so- wie ethische, politisch-rechtliche und organisatorisch-struk- Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgte von Oktober turelle Kontextbedingungen gesammelt und ergänzt. Im 2019 bis Januar 2020 in Stadt und Region Braunschweig. Plenum wurden die Ergebnisse in der Gesamtgruppe jeweils Es wurde eine interprofessionelle Zusammensetzung der verifiziert und konsentiert. Teilnehmenden nach folgenden vorab definierten Krite Die Priorisierung der personenbezogenen Anlässe und rien angestrebt (purposeful sampling): a) an der Notfall- Kontextbedingungen erfolgte im Termin 2 durch Mehr- versorgung in Pflegeheimen beteiligte Pflegefachpersonen punktabfrage im Plenum. Dabei erhielt jede / r Teilneh- aus unterschiedlichen Pflegeheimen, b) an der Notfall mende drei Klebepunkte und den Auftrag, diese zu be- versorgung in Pflegeheimen beteiligte Ärzt_innen aus ver- stimmten Fragestellungen nach subjektiver Einschätzung schiedenen Fachrichtungen (z. B. Allgemeinmedizin, Not- bestimmten Kategorien zuzuordnen (z. B. „Welche Katego- fallmedizin), c) vereinzelt Vertreter_innen aus dem rien sind Ihrer Meinung die häufigsten Kontextbedingun- Rettungsdienst, d) vereinzelt Wissenschaftler_innen aus gen?“). Die zu bepunktenden Kategorien sind zuvor offen dem Gesamtprojekt NOVELLE aufgrund der Verknüpfung gesammelt und auf Metaplankarten visualisiert worden. zu anderen Teilprojekten. Der Hauptfokus lag in der Rek- In den Gruppendiskussionen wurden zentrale Diskus- rutierung vom Pflegefachpersonen und Ärzt_innen. sionsaspekte von den Moderator_innen auf Metaplankar- Es wurde eine Mindesteilnehmeranzahl von 10 Perso- ten zusammengefasst (Ruddat, 2012), visualisiert und an nen pro Termin angestrebt. Dabei sollte die Hälfte der eine Pinnwand geheftet. So wurde sichergestellt, dass alle Teilnehmenden durch Pflegefachpersonen vertreten sein. Teilnehmenden jederzeit die erarbeiteten Ergebnisse ein- Das Forscherteam kontaktierte schriftlich und telefonisch sehen und nachvollziehen konnten. Nach jedem Arbeits- einen bereits bestehenden regionalen Arbeitskreis zur Ver- schritt wurden die Teilnehmenden nach Ergänzungen besserung der Versorgungssituation in Pflegeheimen und und Anmerkungen gefragt bis ein Konsens erreicht war. über alle am Gesamtprojekt NOVELLE teilnehmende Pfle- Auf diese Weise wurde die Sättigung der Ergebnisse er- geheime (14 Einrichtungen). Alle Interessierten erhielten reicht. Zudem wurden schriftliche Protokolle in den eine ausführliche Studieninformation, inkl. Informationen Kleingruppendiskussionen angefertigt. Die Ergebnisvor- zum Datenschutz und -management und gaben ihr schrift stellung und -diskussion wurden durch ein Audiogerät liches informiertes Einverständnis zur Teilnahme. aufgenommen, die Dateien wurden regelgeleitet transkri- Die Teilnehmenden erhielten pro Termin eine finanziel- biert und pseudonymisiert. le Aufwandsentschädigung in Höhe von 150 €, die Teil- nahme an allen Terminen stellte keine Bedingung dar. Datenauswertung Datenerhebung Die Datenauswertung erfolgte durch die Autor_innen JP, SSch und SF. Die drei Autor_innen waren zum Zeitpunkt der Zwei multimethodale Gruppendiskussionen fanden im Ja- Studie als wissenschaftliche Mitarbeiter_innen angestellt nuar und Februar 2020 unter Moderation der Autor_innen und haben diverse Projekterfahrungen mit qualitativen For- © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind articlePflege (2021), 34 (3), 141–150 under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
144 J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen schungsmethoden (Erhebung und Auswertung von Einzel- Tabelle 1. Beschreibung der Teilnehmenden (TN) pro Termin interviews und Gruppendiskussionen). Die Datenanalyse Datum TN-Zahl TN-Berufsgruppenverteilung Geschlechter erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring verteilung (Kuckartz, 2016; Mayring, 2008), unterstützt durch die Soft- Termin 1 17 Ärzt_innen: 7/17 männlich ware MAXQDA 2018. Die transkribierten Texte wurden sys- 6 (35,3 %) (41,2 %) https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 tematisch und regelgeleitet auf ihre wesentlichen Inhalte Pflegefachpersonen: 10/17 weiblich zusammengefasst. Dabei wurden inhaltlich-strukturierende 8 (47,1 %) (58,8 %) und zusammenfassende Analysetechniken genutzt. Die Notfallsanitäter_in: Entwicklung der zentralen Haupt- und Subkategorien er- 1 (5,9 %) folgte in einem induktiv-deduktiven Prozess auf Basis der Wissenschaftler_innen: empirischen Ergebnisse vor dem Hintergrund der Fragestel- 2 (11,8 %) lung. Der überwiegende Teil der Haupt- und Subkategorien Termin 2 16 Ärzt_innen: 6/16 männlich wurde deduktiv anhand vorgegebener Ordnungskriterien 4 (25,0 %) (37,5 %) aus den Fragestellungen, Präsentationen und Protokollen Pflegefachpersonen: 10/16 weiblich gebildet. Vereinzelte Subkategorien wurden mithilfe der zu- 8 (50,0 %) (62,5 %) sammenfassenden Inhaltsanalyse induktiv aus dem Materi- Notfallsanitäter_in: al heraus gebildet (z. B. interne und externe Bedingungen als 1 (6,2 %) Subkategorien der organisatorisch-strukturellen Kontextbe- Wissenschaftler_innen: 3 dingungen). Bei der Auswertung des Datenmaterials wur- (18,8 %) den nicht eindeutig zuordenbare Codes zwischen den betei- ligten Autor_innen offen kommuniziert, diskutiert und konsentiert. Eine Interraterreliabilität wurde nicht berech- gend anhand des Kategoriensystems berichtet und mit Zi- net. Das Kategoriensystem (siehe Tab. 2) wurde im interpro- taten aus Gruppendiskussionen illustriert. fessionellen Forscherteam konsentiert. Charakterisierung von Notfallszenarien Ergebnisse Für die Teilnehmenden sind Notfälle in Pflegeheimen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Merkmale gekenn- Sample zeichnet. Diese Merkmale tauchen im Versorgungsalltag häufig im Zusammenspiel auf und können als Notfall Von den 32 interessierten Personen nahmen insgesamt szenarien konzeptualisiert werden. 18 an der Studie teil. Gründe für die Nicht-Teilnahme wa- Für Pflegefachpersonen können beispielsweise sich ver- ren z. B. fehlende zeitliche Ressourcen oder Termin schlimmernde Schmerzen bei sterbenden Patient_innen überschneidungen. Die Mindestteilnehmeranzahl wurde trotz Vorausplanung der Situation zu einem Notfallszena- bei jedem Treffen erreicht und sogar übertroffen. Der rio werden, wenn die benötigten Medikamente nicht ver- Teilnehmerkreis war überwiegend konstant, da 15 von fügbar sind und der / die zuständige Hausarzt / -ärztin 18 Personen an beiden Terminen teilnahmen. Die Teil- nicht kurzfristig eingebunden werden kann: nehmenden setzten sich insgesamt zusammen aus acht Pflegefachpersonen (Pflegedienstleitungen und Pflegen- den aus sieben Einrichtungen), sechs Ärzt_innen (Allge- Tabelle 2. Kategoriensystem meinmedizin, Notfallmedizin, Palliativmedizin, Geriat- rie), drei Wissenschaftler_innen (Pflegewissenschaften, Hauptkategorien Subkategorien Art der Medizininformatik) und ein_e Notfallsanitäter_in. Eine Kategorienbildung Übersicht, wie sich die Teilnehmenden pro Termin zu- 1 Notfallszenario Personenbezogene Deduktiv sammensetzen, ist in Tabelle 1 dargestellt. Anlässe Kontextbedingungen Deduktiv 1.1 Personenbezogene Krankheitsbilder Deduktiv Kategoriensystem Anlässe Symptome Deduktiv Die Analyse der Daten ergab eine Konzeption von Not- Ereignisse Induktiv fallszenarien sowie ein daran anknüpfendes Kategorien- 1.2 Kontextbedingungen Politisch-rechtlich Deduktiv system mit zwei Hauptkategorien und je drei Subkatego Ethisch Deduktiv rien (siehe Tab. 2). Organisatorisch- Deduktiv Die Konzeption eines komplexen Notfallszenarios als strukturell Zusammenwirken von personenbezogenen Anlässen und a) Intern Induktiv Kontextbedingungen stellt das Kernergebnis der Arbeit b) extern Induktiv dar (Abb. 1). Die Ergebnisse im Einzelnen werden nachfol- Pflege (2021), 34 (3), 141–150 © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen 145 https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 Abbildung 1. Konzeption von Notfallsze- narien nach eigener Darstellung. „[…] Man hat einen Palliativpatienten und der ist prä- organisatorisch-strukturelle, und c) ethische Kontextbe- final und sieht er wird unruhig und man sagt beim dingungen. Notfallszenarien in Pflegeheimen können Hausarzt zu einer Zeit, wo er eben noch erreichbar ist: demnach als ein Zusammenwirken von personenbezoge- ‚Bitte […] geben Sie uns doch was an die Hand, wenn nem Anlass und Kontextbedingungen konzipiert werden. die Unruhe zunimmt, dass wir was haben. ‘[…] Und man bekommt nichts. […] Man kann es noch so dring- lich machen. Es wird gesagt: Ja, aber ich kann […] nicht Identifizierung und Priorisierung rauskommen und warten Sie erstmal ab.‘ Und dann ist von personenbezogenen Anlässen die Situation da, die Bewohnerin ist dann in der Final- phase und ist derart unruhig und man hat nichts an Die Teilnehmenden sammelten vor dem Hintergrund der der Hand, um […] helfen zu können und dann zu einer eigenen Erfahrung die häufigsten personenbezogenen An- Zeit, der Hausarzt ist nicht mehr zu erreichen. Und lässe in Pflegeheimen. Anschließend erfolgte eine Priori- dann kann man das mit ansehen, […] und die Frau so sierung hinsichtlich der Frage, für welche personenbezoge- versterben lassen oder man kann es nicht mit ansehen nen Anlässe der größte Bedarf an Handlungsempfehlungen […]. Da gibt es dann bestimmt Situationen, wo Fach- besteht (siehe Tab. 3). kräfte, die das dann nicht aushalten können, auch mal Aus der Perspektive der Teilnehmenden besteht der den Notdienst rufen“ (Pflegefachperson 4). größte Bedarf an Handlungsempfehlungen beim Umgang mit Stürzen, gefolgt von entgleisten Vitalwerten, auffälli- Trotz der erheblichen Schwere der Situation stellt sich gem Verhalten und neurologischen Symptomen. Leblo- die auftretende Krise für die Pflegefachperson nicht sigkeit, Luftnot, Schmerzen und akute Probleme von Pal- zwangsläufig als Notfall dar. Der Krankheitsverlauf war er- liativpatient_innen werden ebenfalls häufiger angeführt. wartbar und wurde vorausgeplant, die Schmerzen hätten In der Praxis stellen sich die personenbezogenen Anlässe bei vorhandener Bedarfsmedikation durch Pflegefachper- häufig nicht als klar abgrenzbare Phänomene dar. Bei den sonen gelindert werden können. Durch das Zusammen- Teilnehmenden wird beispielsweise anhand der Diskussion wirken von personenbezogenen Anlässen (starke Schmer- zum Thema ‚Sturz‘ deutlich, dass Ereignisse, Symptome zen) und unzureichenden Kontextbedingungen (fehlende und Krankheitsbilder zusammenfallen können: Bedarfsmedikation, Nicht-Erreichbarkeit des / der Haus- arztes / -ärztin) entsteht schließlich ein Notfallszenario, „Manchmal weiß man ja auch nicht, ob eventuell welches die Alarmierung des Rettungsdienstes zur Folge eine Entgleisung der Vitalwerte dazu geführt hat, haben kann. dass derjenige gestürzt ist. Der ist ja nicht immer ge- Als personenbezogene Anlässe wurden diverse pflege- stürzt, weil er irgendwie gestolpert ist oder was auch risch- und medizinisch-relevante Veränderungen von Be- immer, sondern aufgrund von einer Ischämie oder wohner_innen zusammengefasst. Dazu gehören verschie- entgleisten Vitalwerten also zu Boden gegangen ist. dene Krankheitsbilder (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall), Und da gibt es auch diese Situation, die man abklären Symptome (z. B. Schmerzen, Luftnot, Schwäche, Übel- muss“ (Pflegefachperson 2). keit, Verwirrtheit, Vigilanzminderung, Krampfanfälle) und Ereignisse (z. B. Sturz, Suizidversuch). Von den insge- Eine ähnliche Unschärfe findet sich bei den Themen samt 73 gesammelten Merkmalen beziehen sich 35 auf ‚auffälliges Verhalten‘ und ‚neurologische Symptome‘. Da- personenbezogene Anlässe (siehe elektronisches Supple- bei kann das auffällige Verhalten im Moment des Auftre- ment ESM1). tens nicht immer unmittelbar auf eine Ursache zurück Alle weiteren gesammelten 38 Merkmale lassen sich geführt werden, insbesondere wenn die medizinische den Kontextbedingungen zuordnen, die ihrerseits weiter Vorgeschichte der Bewohnerin / des Bewohners nicht nä- untergliedert werden können in a) politisch-rechtliche, b) her bekannt ist. © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind articlePflege (2021), 34 (3), 141–150 under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
146 J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen Tabelle 3. Priorisierung von personenbezogenen Anlässen Abweichungen von einer angenommenen Normalität. In einer akuten Situation sind diese personenbezogenen An- Ereignis Gesamt lässe nicht immer eindeutig bestimmbar. Sturz 12 Entgleiste Vitalwerte 7 https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 Auffälliges Verhalten 6 Identifizierung und Priorisierung Neurologische Symptome 5 von Kontextbedingungen Leblosigkeit 4 Luftnot 3 Kontextbedingungen sind vielschichtig und lassen sich in drei große Kategorien clustern: Ethisch, politisch-recht- Schmerzen 3 lich und organisatorisch-strukturell. Nach der intensiven Akute Probleme bei Palliativpatient_innen 2 Sammlung zugehöriger Merkmale, erfolgte eine Priorisie- Verschlechterung des Allgemeinzustand 1 rung hinsichtlich der Frage, welche Kontextbedingungen Schockzustände 1 am häufigsten für das Zustandekommen von Notfallsze- Husten 1 narien verantwortlich sind (siehe Tab. 4). Gesamt 45 Insgesamt wird den internen und externen organisato- risch-strukturellen Kontextbedingungen die größte Be- deutung für das Zustandekommen von Notfallszenarien „Verwirrtheit und Aggressivität, das könnte man na- zugeschrieben (n = 24). Interne Bedingungen (n = 13) spie- türlich unter neurologische Symptome oder Vigilanz- len dabei die größte Rolle, gefolgt von externen Bedin- minderung [einordnen]. Aber jetzt als doch extra gungen (n = 11) sowie Kontextbedingungen aus dem ethi- Symptom nochmal. Und damit einhergehend viel- schen (n = 11) und politisch-rechtlichen Bereich (n = 7). leicht so ein permanentes Schreien […], dass irgend- wie Patienten da einfach ja unangenehm auffallen, aber sich keiner näher mit beschäftigen kann, will Organisatorisch-strukturelle oder möchte. Warum, wieso, weshalb. Oder auch Kontextbedingungen nicht zu einem Ergebnis kommt, weil es einfach nur ein Schreien gibt“ (Notfallsanitäter_in). Für die Teilnehmenden stellen interne Bedingungen wie Ängste und Unsicherheiten des Personals und die Arbeits- Aus der Perspektive der behandelnden Akteure existiert verdichtung in der Pflege (v. a. durch Personalmangel) be- der personenbezogene Anlass nicht als gesicherte Diag sonders relevante Faktoren dar, die auf Notfallszenarien nose und Krankheitsbild, sondern als Auffälligkeit, d. h. Einfluss nehmen. Die mangelhafte Kommunikation und Informations- Tabelle 4. Priorisierung von Kontextbedingungen weiterleitung zwischen allen behandelnden Akteuren (Pflege – Hausärzt_in – Rettungsdienst) wurde als beson- Kontextbedingungen Aspekt Gesamt ders relevante externe Kontextbedingung identifiziert. Politisch-rechtlich Eingeschränkte Handlungs 4 Hinzu kommt die strukturell bedingte, eingeschränkte spielräume Pflege Erreichbarkeit des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes sowie Haftung, rechtliche Unsicherheit 3 der Hausarztpraxen. Ethisch Fehlende, uneindeutige Patienten 5 verfügung „Das ist das beste Szenario, wenn es dann in der Wo- Bevollmächtige Angehörige mit 5 che passiert. Passiert mir das am Wochenende oder unterschiedlichen Meinungen Mittwochnachmittag, Freitagnachmittag, versuche Aktivistische Angehörige 1 ich die 116 117 in der Regel, in so einem Fall nicht an- Fehlende Entscheidungshilfe 1 zurufen, weil da muss ich sowieso bis zu drei Stunden für Notfall warten, ehe ich einen Arzt überhaupt habe, und ver- Organisatorisch- Ängste / Unsicherheiten 8 suche erstmal eine Stunde zu telefonieren, bis ich strukturell – intern des Personals überhaupt jemanden ans Telefon bekomme. Da gehe Arbeitsverdichtung / Personalmangel 5 ich dann wirklich in dem Fall über den Rettungs- Organisatorisch- Kommunikation zwischen 8 dienst“ (Pflegefachperson 1). strukturell – extern den Akteuren Unterschiedliche Vorgaben Pflege- 1 Rettungsdienst Ethische Kontextbedingungen Ärztlicher Bereitschaftsdienst 3 Gesamt 44* Im ethischen Bereich werden Unkenntnis und Unein deutigkeit des Patientenwillens als wichtige Kennzeichen Anmerkung: *Bei der Priorisierung der Begleitumstände hat eine Person einen Klebepunkt nicht genutzt. Daher ist hier die Gesamtzahl im Vergleich von Notfallszenarien genannt. Außerdem werden Situati- zu den personenbezogenen Anlässe um n = 1 geringer. onen mit Angehörigen (mit oder ohne Vorsorgevollmacht) Pflege (2021), 34 (3), 141–150 © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen 147 beschrieben, die Druck auf das Personal ausüben oder ge- In unserer Studie konnten relevante personenbezogene gensätzliche Vorstellungen haben. Anlässe und Kontextbedingungen identifiziert und priori- siert werden. Die Ergebnisse unserer Studie bestätigen „Ja, ich glaube das gehört mehr zu den aktivistischen Befunde aus verschiedenen Reviews (Lemoyne et al., Angehörigen. Keine Einigkeit unter den Akteuren. 2019), wonach traumatische Ereignisse (wie z. B. Stürze), https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 Geht so ein bisschen darum, wenn man mehrere An- Luftnot, ein veränderter mentaler Zustand sowie Erkran- gehörige hat und nur eine Bevollmächtigte und die kungen des zentralen Nervensystems besonders bedeut- sich mit den Geschwistern aber nicht verträgt“ (Pfle- sam sind. Interessant ist, dass die Teilnehmenden unserer gefachperson 2). Studie die personenbezogenen Anlässe eher auf der Ebene der Symptome und sichtbaren Wahrnehmungen beschrei- ben, während die quantitativen retrospektiven Daten aus Politisch-rechtliche Kontextbedingungen der Forschungsliteratur bisweilen sehr konkrete Diagno- sen als Ursachen für Notfälle ausweisen (Axon et al., 2015; Als besonders einschneidend erlebten die Teilnehmenden Morphet et al., 2015). Folglich finden sich in unserer Stu- die eingeschränkten Handlungsspielräume und Entschei- die beispielsweise nicht näher bestimmbares auffälliges dungskompetenzen der Pflegefachpersonen (u. a. im Be- Verhalten, Schmerzen oder eine Verschlechterung des reich der Bedarfs- und Notfallmedikation). Dies trägt zur Allgemeinzustandes. Diese Befunde lassen sich dadurch Rechtsunsicherheit und Unzufriedenheit bei. erklären, dass die Versorgungsakteure vor Ort häufig auf Grundlage der offensichtlichen Symptome eine Situa „Dann letztlich […] mit der ganzen Entscheidungs- tionseinschätzung vornehmen müssen, ohne dass sie be- kompetenz und den Handlungsbefugnissen im Be- reits eine gesicherte Diagnose feststellen können bzw. reich der Pflege […]. Nicht nur gibt es die ganzen Sa- dürfen. Für die Entwicklung von Handlungsempfehlun- chen (z. B. Medikamente, Salben) nicht, sondern gen zur konkreten, praktischen Verbesserung des Notfall- selbst wenn das da wäre, dürfte man nicht oder das managements in Pflegeheimen ist dieser Befund äußerst Beispiel, das Schmerzmedikament ist bei Bedarf für relevant, muss es doch darum gehen, mit Handlungsemp- Schmerzen in der linken Schulter, der hat aber erst fehlungen an der Wahrnehmung der Akteure in der Not- Schmerzen in der rechten Schulter, also geht das fallversorgung (Pflegefachpersonen, Ärzt_innen, Ret- nicht. […] Da ist eigentlich eine Handlungskompetenz tungsdienst) anzuschließen. da kraft Berufsausbildung und Erfahrung, aber das Die identifizierten Kontextbedingungen wirken stets wird irgendwo extern eingeschränkt und man kommt auf die personenbezogenen Anlässe und nehmen deshalb gar nicht dahin und dann führt das zu so einer ver- im Notfallszenario eine essenzielle Rolle ein. Einzelne As- meintlichen Notfallsituation“ (Ärzt_in 3). pekte sind im internationalen Kontext weitgehend be- kannt, eine Kategorisierung und umfängliche Darstellung Haftungsrechtliche Fragen auf Seiten der Pflegefach- im deutschen Kontext fehlte bislang. So spielen beispiels- personen kennzeichnen ebenfalls häufig Notfallszenarien. weise die Erreichbarkeit von Hausärzt_innen, die Kommu- nikation zwischen den Versorgungsakteuren, Ängste und rechtliche Unsicherheiten der Pflegefachpersonen sowie unbekannte Behandlungswünsche von Patient_innen auch Diskussion in anderen Studien eine wichtige Rolle (Bleckwenn et al., 2019; Lemoyne et al., 2019). Eine Besonderheit in In dieser multimethodalen qualitativen Studie wurden Deutschland ist beispielsweise der Ärztliche Bereitschafts- Notfälle in Pflegeheimen analysiert. Aus interprofessio- dienst (ÄBD), welcher außerhalb der Öffnungszeiten von neller Perspektive stellen sich Notfallszenarien in Pflege- Hausarztpraxen eine eingeschränkte allgemeinmedizi heimen als ein komplexes Zusammenspiel zwischen per- nische Versorgung sicherstellen soll. Unsere Ergebnisse sonenbezogenen Anlässen (pflegerisch- und medizinisch deuten darauf hin, dass primär durch Wartezeiten bei der relevante Veränderungen) und organisatorisch-strukturel- Kontaktaufnahme mit dem ÄBD über seine bundesein- len, ethischen und politisch-rechtlichen Kontextbedin- heitliche Telefonnummer 116 117 Rettungsdiensteinsätze gungen dar. hervorgerufen werden. Insgesamt könnte diesbezüglich In der bisherigen Forschung werden Notfallsituationen eine Steigerung von Verbindlichkeit der hausärztlichen in Pflegeheimen überwiegend als medizinische Krank- Versorgung in Pflegeheimen (z. B. konstante Erreichbar- heitsbilder wahrgenommen, die zu Krankenhauszuwei- keit von hausärztlichen Praxen, reguläre Heimvisiten) Ab- sungen führen. Die berufsübergreifende und umfassende hilfe schaffen, um vermeidbare oder unerwünschte Kran- Betrachtung der Situationen fehlte bisher. Die Weiterent- kenhauszuweisungen von Bewohner_innen zu reduzieren wicklung dieses Konstruktes als Notfallszenario erlaubt (Marshall, Clarke, Peddle & Jensen, 2015; Pohontsch, ein differenziertes Modell für das Zustandekommen und Scherer & Eisele, 2017). Zudem könnte die Implementie- die systematische Bearbeitung von Notfallszenarien. Dort rung von Heimarzt-Modellen (am Beispiel des Berliner können Steuerungsinstrumente wie z. B. Handlungsemp- Projekts) eine weitere Maßnahme darstellen. Beispiels- fehlungen ansetzen. weise konnten Kliniksaufenthalte von Bewohner_innen © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind articlePflege (2021), 34 (3), 141–150 under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
148 J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen reduziert, die Menge von verordneten Medikamenten ge- NOVELLE Konsortium waren vor allem aufgrund der Ver- senkt und die Zufriedenheit der Betroffenen erhöht wer- knüpfung zu den Teilprojekten beteiligt und nahmen in den (Arbeitskreis Klinische Geriatrie der Ärztekammer den Diskussionen eine eher passive Rolle ein. Berlin, 2010). Aus Sicht der Teilnehmenden führen die eingeschränk- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 ten rechtlichen Befugnisse der Pflegefachpersonen bei der Schlussfolgerungen Umsetzung ärztlicher Leistungen (z. B. Verbot der Gabe von nicht-verschreibungspflichtigen Medikamenten) zu Notfälle in Pflegeheimen sind komplexe Szenarien, die Notfallszenarien. Hier geht es um die Frage, inwiefern die durch verschiedene Kontextbedingungen verursacht und Delegation von ärztlichen Leistungen auf Pflegefachper- beeinflusst werden können. Die Einordnung als Notfall sonen das Notfallmanagement verbessern kann. In Ver- szenario kann einen strukturierten Umgang mit derartigen bindung mit der ebenfalls benannten Problematik der teils Situationen unterstützen. Die Ergebnisse liefern Hinweise, unzureichenden Qualifikation des Personals in Pflegehei- dass insbesondere Pflegefachpersonen auf Notfallszenarien men könnte eine Orientierung an internationalen Struktu- in Pflegeheimen aufgrund der Kontextbedingungen unzu- ren hilfreich sein. So werden dort speziell ausgebildete reichend vorbereitet sind. Sie kommunizieren Unsicherhei- Fachkräfte, sogenannte Nurse Practitioner, mit speziali- ten bezüglich des richtigen Umgangs mit Notfallsituationen, siertem geriatrischen Wissen und koordinativen Aufgaben verfügen über ungenügende Ressourcen und fürchten juris- in Pflegeheimen eingesetzt. Studien zeigen, dass diese tische Konsequenzen. Die partizipative berufsübergreifende eine effektive Ressource darstellen, um Krankenhausein- Entwicklung von Handlungsempfehlungen für Notfallsze- weisungen von Bewohner_innen zu reduzieren (Christian narien kann ein Instrument sein, um Pflegefachpersonen & Baker, 2009) und die Lebensqualität von Bewohner_in- und Ärzt_innen vor Ort mehr Handlungssicherheit zu ge- nen zu verbessern (Arendts et al., 2018). ben. Hierfür sollten die Handlungsempfehlungen an dieser Im Einklang mit einer jüngst erschienen Studie von Notfallwahrnehmung anschließen und die rechtlichen, ethi- Blackwenn et al. (2019) legen unsere Ergebnisse nahe, schen und organisatorischen Kontextbedingungen vor Ort dass Notfallszenarien in deutschen Pflegeheimen in ho- berücksichtigen. Dies wird in weiteren Teilprojekten von hem Maße durch solche unzureichenden Kontextbedin- NOVELLE adressiert und weiter bearbeitet. gungen geprägt sind und häufig durch eine Verbesserung organisatorischer, rechtlicher und ethischer Rahmenbe- dingungen abgewendet werden könnten. Elektronische Supplemente (ESM) Limitationen Die elektronischen Supplemente sind mit der Online-Ver- sion dieses Artikels verfügbar unter https://doi.org/ Die Datenerhebung fand in einem städtischen Versor- 10.1024/1012-5302/a000804. gungsbereich Norddeutschlands statt und spiegelt folglich ESM1. Tabelle E1. Kennzeichen von Notfallszenarien in nur die Erfahrungen der dort handelnden Personen wider. Pflegeeinrichtungen. Bei einer Verallgemeinerung der Ergebnisse müssen die lokalen Bedingungen berücksichtigt werden (z. B. was die Leistungsfähigkeit des ÄBD oder die hausärztliche Versor- Literatur gung betrifft). Darüber hinaus gibt es folgende Einschrän- kungen bei der Auswahl der Teilnehmenden zu beachten: Arbeitskreis Klinische Geriatrie der Ärztekammer Berlin. (2010). Einige der Teilnehmenden kannten sich schon aus dem Geriatriekonzept Berlin 2010. Demografischer Wandel und me- dizinische Versorgung. Berliner Ärzte, (3), 15 – 20. bestehenden Arbeitskreis in Braunschweig, sodass dies Arendts, G., Deans, P., O'Brien, K., Etherton-Beer, C., Howard, K., die Redebeteiligung beeinflusst haben könnte. Aufgrund Lewin, G. et al. (2018). A clinical trial of nurse practitioner care in der sehr begrenzten zeitlichen Ressourcen von den Pflege- residential aged care facilities. Archives of gerontology and geri- fachpersonen, Ärzt_innen und Rettungsdienst wurde als atrics, 77, 129 – 132. Axon, R. N., Gebregziabher, M., Craig, J., Zhang, J., Mauldin, P. & Anreiz für die Termine eine Aufwandsentschädigung von Moran, W. P. (2015). Frequency and costs of hospital transfers 150 € gezahlt. Dies sollte darüber hinaus insbesondere die for ambulatory care-sensitive conditions. The American Journal Beteiligung der Pflegefachpersonen sicherstellen, welche of Managed Care, 21(1), 51 – 59. auch erreicht wurde. Die Kontaktaufnahme zu den Ein- Behringer, W., Buergi, U., Christ, M., Dodt, C. & Hogan, B. (2013). richtungen erfolgte primär über die Pflegedienstleitungen, Fünf Thesen zur Weiterentwicklung der Notfallmedizin in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Notfall + Rettungs- weshalb diese überwiegend vertreten waren. Wünschens- medizin, 16 (8), 625 – 626. wert wäre ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Pfle- Bleckwenn, M., Bell, L., Schnakenberg, R., Weckbecker, K. & Kla- gefachpersonen mit und ohne Leitungsfunktion gewesen. schik, M. (2019). Ambulante Notfallversorgung von Pflegeheim- Die Perspektive des Rettungsdienstes wurde nur durch bewohner: Ein Status Quo aus pflegerischer Sicht. [Outpatient Emergency Care for Nursing Home Residents: A Status Quo eine / n Notfallsanitäter_in vertreten, welches im Vergleich From a Nursing Perspective]. Gesundheitswesen (Bundesver- zu den anderen Berufsgruppen eine deutliche Unterre band der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (Germa- präsentation darstellt. Wissenschaftler_innen aus dem ny)), 81(06), 486 – 491. Pflege (2021), 34 (3), 141–150 © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
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(In-)formal caregi- vers' and general practitioners' views on hospitalizations of ORCID people with dementia – an exploratory qualitative interview Juliane Poeck study. BMC Health Services Research, 17(1), 530. https://orcid.org/0000-0002-7814-7972 © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind articlePflege (2021), 34 (3), 141–150 under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
150 J. Poeck et al., Notfallszenarien in Pflegeheimen Juliane Poeck, M.Sc. Institut für Allgemeinmedizin Universitätsklinikum Jena Bachstraße 18k https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000804 - Thursday, July 15, 2021 11:36:02 PM - Ostfalia Hochschule Braunschweig Wolfenbüttel IP Address:141.41.74.29 07743 Jena Deutschland juliane.poeck@med.uni-jena.de Was war die größte Herausforderung bei Ihrer Studie? Pflegefachpersonen für die Teilnahme zu gewinnen. Die Kommuni- kation verlief meist über die Heim- und Pflegedienstleitungen, die Ressourcen in den Einrichtungen waren sehr begrenzt. Was wünschen Sie sich bezüglich der Thematik für die Zukunft? Mehr aktive Forschungsprojekte mit Pflegefachpersonen für Pflegefachpersonen. Was empfehlen Sie zum Weiterlesen / Vertiefen? Lemoyne, Herbots, Blick, Remmen, Monsieurs & van Bogaert (2019). Appropriateness of transferring nursing home residents to emergency departments: a systematic review. Siehe Literatur. Pflege (2021), 34 (3), 141–150 © 2021 The Author(s) Distributed as a Hogrefe OpenMind article under the license CC BY-NC 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
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