DELIBERATIVE DEMOKRATIE UND ÖKOLOGIE - Eine Bestandsaufnahme des französischen Bürger_innenkonvents zum Klimaschutz
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PER SPEK T I V E Frankreichs Präsident Macron reagierte auf die »Gelbwes- DEM OK R AT I E U N D M ENSCH EN RECH T E ten«-Proteste, die sich an der Anhebung der Steuern auf Treibstoffe entzündeten, unter DELIBERATIVE anderem mit der Einberufung eines Bürgerkonvents für das Klima. DEMOKRATIE UND ÖKOLOGIE Dieses Bürgerkonvent, dessen Mitglieder per Losentscheid ausgewählt wurden, sollte Antworten darauf finden, wie Frankreich unter Beachtung der Grundsätze sozialer Ge- Eine Bestandsaufnahme des französischen rechtigkeit seine Treibhaus- Bürger_innenkonvents zum Klimaschutz gasemissionen bis 2030 um 40 Prozent mindern kann. Kollektiv OPD2020 April 2021 Nach mehrmonatiger Arbeit legte der Bürgerkonvent im Spätsommer 2020 schließlich 149 Vorschläge zum öko- logischen Umbau von Wirt- schaft und Gesellschaft vor.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Deliberative Demokratie und Ökologie DEM OK R AT I E U N D M ENSCH EN RECH T E DELIBERATIVE DEMOKRATIE UND ÖKOLOGIE Debatten und politische Empfehlungen
»Neun Monate lang haben wir gemeinsam eine außer- seiner Aufgaben» verfügt.1 Damit war der Bürger_innen- gewöhnliche und intensive menschliche Erfahrung ge- konvent aus der Taufe gehoben. Er bestand aus 150 per Los macht, durch die uns bewusst geworden ist, dass eine ausgewählten Bürger_innen, die in ihrer Zusammensetzung tiefgreifende Veränderung unserer Gesellschaft und un- repräsentativ für die Gesellschaft sein sollten. Dem Konvent serer Lebensweise dringend notwendig ist.« wurde aufgetragen »Strukturmaßnahmen zu entwickeln, um unter Beachtung der Grundsätze sozialer Gerechtigkeit (Schlussbericht des Bürger_innenkonvents die Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 zum Klimaschutz) um mindestens 40 Prozent zu reduzieren«. Auch sollte er empfehlen, in welcher Form seine Vorschläge umgesetzt werden sollten (Verordnung, Gesetz oder Referendum). WARUM EIN BÜRGER_INNENKONVENTS ZUM KLIMASCHUTZ? Im politischen System Frankreichs, dessen Funktionsweise dem Idealtyp einer Mehrheitsdemokratie entspricht, sind Der französische Bürger_innenkonvent zum Klimaschutz Wahlen das demokratische Moment schlechthin; die Betei- (Convention citoyenne pour le climat) hat seinen Ausgangs- ligung der Bürger_innen am politischen Entscheidungspro- punkt in den Protesten der »Gelbwesten«, einer Protestbe- zess bleibt im Wesentlichen auf dieses Moment beschränkt. wegung, die sich im Herbst 2018 zunächst in Reaktion auf Vor diesem Hintergrund markiert die Entscheidung von Prä- eine Anhebung der Verbrauchssteuer auf Treibstoffe und sident Macron, mit der Einberufung des Bürger_innenkon- der daraus resultierenden Erhöhung der Treibstoffpreise ge- vents für das Klima gleichzeitig den Forderungen der »Gelb- bildet hatte. Im weiteren Verlauf nahm die »Gelbwesten«- westen« und der Klimaschutzbewegung Rechnung zu Bewegung weitere Forderungen zum Erhalt der Kaufkraft tragen, eine beispielhafte Innovation der französischen De- sowie der Erweiterung demokratischer Teilhabe auf. Die mokratie. Macron sagte zudem zu, die Vorschläge des Bür- Ausweitung der Proteste im ganzen Land mit der Besetzung ger_innenkonvents »ungefiltert« umzusetzen bzw. der po- von Kreisverkehren und wöchentlichen Demonstrationen litischen Abstimmung zu übergeben.2 schuf ein Klima sozialer Konfrontation, das durch mehrere große Klimamärsche noch zusätzlich an Brisanz gewann. Wie funktionierte der Bürger_innenkonvent? Gibt es an- derswo ähnliche demokratische Experimente? Entsprachen Um aus dieser Situation einen Ausweg zu finden, initiierte die Vorschläge des Konvents dem Auftrag, der ihm erteilt Präsident Emmanuel Macron am 15. Januar 2019 die worden war? Auf diese Fragen soll der vorliegende Beitrag »Grand débat national« an, eine breit angelegte Befragung Antworten geben3. der Bürger_innen, die mit Unterstützung der lokalen Behör- den im ganzen Land durchgeführt wurde. In Reaktion auf diese Initiative richtete ein Kollektiv mit dem Namen Démo- 1 Auftragsschreiben von Premierminister Édouard Philippe an den Prä- cratie Ouverte, das sich aus Gelbwesten, Umweltaktivist_in- sidenten des CESE, Patrick Bernasconi, Paris, 2.7.2019. nen und Wissenschaftler_innen zusammensetzte, einen of- 2 »Ich verpflichte mich, die Beschlüsse dieses Konvents ungefiltert ent- weder im Parlament oder in einem Referendum zur Abstimmung fenen Brief an den Präsidenten, in dem Erwartungen an die zu stellen oder per Verordnung direkt zur Anwendung zu bringen«, Durchführung der Grand débat formuliert und die Einberu- Pressekonferenz vom 25.4.2019. fung einer durch Los bestimmten repräsentativen Bürger_ 3 Wichtigste Quelle dieses Beitrags ist der Schlussbericht des Bürger_ innenkonvents zum Klimaschutz (CCC 2020). Der 460-seitige Bericht, innenversammlung gefordert wurde, die Vorschlägen zum der mit 95 Prozent Ja-Stimmen fast einstimmig verabschiedet wurde, Klimaschutz erarbeiten solle, die später in einem Referen- enthält die 149 von den Konventsmitgliedern angenommenen Vor- dum der gesamten Bevölkerung zur Abstimmung gestellt schläge. Diese Vorschläge sind in fünf Themenbereiche gegliedert, ein zusätzliches Kapitel befasst sich mit Verfassungsänderungen. Im würden. Anschluss an die Vorschläge werden stets die entsprechenden Ziele dargestellt, die mit den Maßnahmen verfolgt werden sollen. Zu Präsident Macron kündigte dann anlässlich einer Pressekon- den Vorschlägen gibt es außerdem jeweils eine Stellungnahme des Rechtsausschusses bezüglich ihrer rechtlichen Umsetzung. Um seiner ferenz zum Abschluss der Grand débat national am 25. April Aufgabe bestmöglich nachzukommen, hat der Rechtsausschuss die 2019 tatsächlich die Einberufung einer solchen Bürger_in- Vorschläge zuweilen in Untervorschläge aufgeteilt, sodass der Be- nenversammlung an. Zwei Monate später, im Juli 2019, richt nunmehr 177 Vorschläge umfasst. Diese werden im zweiten Teil dieses Beitrags ausführlich behandelt. Eine weitere Quelle dieses Bei- wandte sich der seinerzeitige Premierminister Édouard Phi- trags sind leitfadengestützte Interviews, die Jean Bonardel im Rah- lippe an den Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat (CESE) mit men seiner Abschlussarbeit im dritten Studienjahr an der Sciences Po der Bitte, die Bürger_innenversammlung einzurichten und Grenoble mit Mitgliedern des Bürger_innenkonvents geführt hat (Bo- nardel 2019). Anhand dieser Interviews werden im ersten Teil dieses zu deren Durchführung einen Lenkungsausschuss zu bilden, Beitrags die Funktionsweise und der Ablauf des Bürger_innenkon- der »über eigene Entscheidungsbefugnisse bei der Erfüllung vents dargestellt. 1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Deliberative Demokratie und Ökologie Abbildung 1. Entstehung und Ablauf des Bürger_innenkonvents zum Klimaschutz 2018 Anfang Nov. Erhöhung der Steuern auf Treibstoffe: erste Aktionen von Demonstrant_innen in gelben Warnwesten, die Kreisverkehre in ländlichen Gebieten blockieren. 17.11. Akt I der Gelbwesten: Protestbewegung gegen die Erhöhung der Treibstoffsteuern. Der Innenminister spricht von landesweit mindestens 287.000 Demonstrant_innen, die Organisator_innen der Bewegung von 1,3 Millionen. 01.12. Gewalt und Vandalismus in zahlreichen Städten 05.12. Aussetzung der Erhöhung der Treibstoffsteuern für 2019 10. Dez. Rede von Emmanuel Macron, in der er ankündigt, den Mindestlohn um 100 Euro zu erhöhen; erneute Erhöhung der Sozialsteuer contribution sociale généralisée für bestimmte Rentner_innen 2019 05.01. Erneute Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrant_innen 07.01. Ankündigung eines neuen Gesetzes gegen Randalierer_innen 12.01. Akt IX der Gelbwesten: Wiederaufnahme der Demonstrationen nach dem »Tief« während der Feiertage 15.01. Beginn der Grand débat national, offener Brief des Kollektivs Démocratie Ouverte, Einsetzung einer Bürger_innenversammlung zur Beendigung der Krise 25.04. Ankündigung des Plans zur Bildung des Bürger_innenkonvents zum Klimaschutz 02.07. Beauftragung des Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrats (CESE) durch die Regierung; das Auftragsschreiben gibt die Organisation, das Mandat und die Leitung des Konvents vor 04.–06.10. Sitzung 1: Kennenlernen, Analyse des Auftrags des Konvents und des angestrebten Ziels, Auswertung des Klimawandels und seiner Folgen 25.–27.10. Sitzung 2: Auseinandersetzung mit den Themen: Bestandsaufnahme, Kontroversen, Handlungsansätze 15.–17.11. Sitzung 3: Vertiefung der Lösungssuche 2020 10.–12. 01. Sitzung 4: Priorisierung der vorgeschlagenen Maßnahmen 07.–09.02. Sitzung 5: Vertiefung und erste Entwürfe für den Schlussbericht des Konvents 06.–08.03. Sitzung 6: Bestätigung der Vorschläge und der einzelnen Kapitel des Schlussberichts 10.–21. 06. Sitzung 7: Korrekturlesen, Änderungen und formale Verabschiedung, dann Präsentation des Schlussberichts vor Regierung und Presse 29.06. Emmanuel Macron sagt zu, 146 der 149 Vorschläge des Bürger_innenkonvents zu übernehmen 12.10. Der Bürger_innenkonvent fordert die Regierung in einem Brief dazu auf, die Unterstützung der 146 im Juni übernommenen Vorschläge erneut zu bekräftigen 15.11. Die Petition zur »Rettung des Bürger_innenkonvents« wird gestartet 17.11. Abstimmung über den Gesetzentwurf zum Haushalt 2021, der keine der vom Bürger_innenkonvent ausgearbeiteten Vorschläge für steuerliche oder Haushaltsmaßnahmen enthält 2021 26.–28.02. 8. und letzte Sitzung des Bürger_innenkonvents mit dem Ziel, die Reaktion der Regierung auf den Schlussbericht auszuwerten 2
EINE ANTWORT AUF DIE KRISE DER – die Entsendung von Vertreter_innen, DEMOKRATIE? DIE FUNKTIONSWEISE – die Informationsgewinnung, DES BÜRGER_INNENKONVENTS – die Diskussion und – die Entscheidungsfindung. Die Durchführung des Bürger_innenkonvents durch den CESE erfolgte nach einem genauen Zeitplan (Abbildung 1). Methoden der Entsendung Jede der sieben Sitzungen des Konvents fand an einem drei- von Vertreter_innen tägigen Wochenende in Paris am Sitz des CESE statt. Erklär- In modernen politischen Systemen wäre die Implementie- tes Ziel war es, am Ende dieser sieben Sitzungen einen um- rung eines deliberativen Prozesses auf großer Stufenleiter fassenden Bericht vorzulegen, der unter Berücksichtigung aufgrund der Größe unserer politischen Gemeinschaften der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit konkrete Maßnahmen undenkbar. Für die Bildung einer Bürger_innenversamm- zur Reduzierung der französischen Treibhausgasemissionen lung ist daher die Auswahl einer kleinen Anzahl von Perso- um mindestens 40 Prozent bis 2030 vorschlägt. nen unerlässlich. Wie alle anderen »Mini-Publics« auf der Welt wurde so auch der Bürger_innenkonvent für das Klima Die erste Sitzung im Plenum fand drei Monate nach der aus Bürger_innen gebildet, die per Losentscheid aus der Auftragserteilung an den CESE statt. Bei dieser ersten Sit- Gesamtbevölkerung ausgewählt wurden. zung wurde der weitere Ablauf geplant und den Mitglie- dern durch Präsentationen, Vorträge und Diskussionen mit Im Vergleich zu anderen möglichen Auswahlmethoden Expert_innen aus allen relevanten Bereichen ein besseres (Wettbewerb, Wahl, Ernennung) hat das Losverfahren den Verständnis für die Bedrohungen des Klimawandels vermit- Vorteil, dass es zugleich Chancengleichheit, Unparteilichkeit telt. Danach wurde in bis zur siebten Sitzung im Juni 2020 und Repräsentativität der ausgewählten Bürger_innen ge- in Untergruppen in einem Rhythmus von etwa einem Wo- währleistet. Beim Losverfahren haben alle exakt die gleiche chenende pro Monat getagt. Während des Lockdowns zwi- Chance, ausgewählt zu werden. Vor allem aber werden alle schen März und Mai 2020 pausierten die Sitzungen. Die Personen als grundsätzlich kompetent angesehen, die der Zuteilung der Mitglieder des Konvents auf die verschiede- Versammlung anvertraute Aufgabe zu erfüllen, was eine nen Arbeitsgruppen erfolgte per Los. Dazwischen fanden gewisse Demut vor der Verantwortung hervorruft (Courant regelmäßig Plenartreffen statt, um die Zustimmung aller 2018: 257f): Es kann angenommen werden, dass die Teil- Konventsmitglieder einzuholen. In der abschließenden Sit- nehmer_innen verantwortungsvoll und besonnen sind und zung im Plenum wurden die Vorschläge erneut geprüft und sich denjenigen Personen, die nicht am Konvent teilneh- teilweise abgeändert, der Schlussbericht offiziell verabschie- men, nicht überlegen fühlen, weil sie genauso gut nicht det und kurz darauf der Regierung und der Presse vorge- hätten ausgewählt werden können. Der Konvent unter- stellt. strich diese Gleichbehandlung, indem er seine Mitglieder entschädigte, damit mit der Teilnahme keine finanziellen Um dem Bürger_innenkonvent eine fundierte Arbeit zu er- Nachteile verbunden waren. möglichen, zog der CESE zahlreiche Akteur_innen aus un- terschiedlichen Fachbereichen zurate. Ein von der Regie- Zur Bildung des Bürger_innenkonvents für das Klima führte rung unabhängiger Lenkungsausschuss wurde eingerichtet, der CESE im Sommer 2019 ein Losverfahren durch. Danach um den Konvent zu unterstützen, seine Unabhängigkeit zu wurden 300.000 Bürger_innen ausgewählt, von denen 30 wahren und die Achtung seiner Beschlüsse sicherzustellen. Prozent ihr Interesse bekundeten, an dem Konvent teilzu- Der Lenkungsausschuss bestand aus 15 nicht zum Konvent nehmen. Aus dieser Gruppe wurden schließlich auf Grund- gehörenden Fachleuten. Bei jeder Sitzung des Lenkungs- lage von sechs Kriterien 150 Bürger_innen sowie 40 Stell- ausschussses wurden zudem zwei Konventsmitglieder hin- vertreter_innen ausgewählt. Die herangezogenen zugezogen, die wieder per Los ausgewählt wurden. Darü- Auswahlkriterien waren das Alter, Geschlecht, Bildungsni- ber hinaus wurde noch ein Aufsichtsgremium eingerichtet, veau, der sozio-professionelle Status, die Größe und die Re- dem u.a. der Umweltaktivist Cyril Dion angehörte; dieses gion des jeweiligen Wohnorts. Ziel war es, ein möglichst Gremium sollte den Prozess von außen begleiten und seine repräsentatives Abbild der französischen Gesellschaft zu Unabhängigkeit garantieren. schaffen. Zwei Faktoren schränken die Repräsentativität al- lerdings ein: Zum einen führte eine Quotenregelung dazu, Auch wenn der Konvent in Frankreich eine demokratische dass die ausgewählte Gruppe nur in Bezug auf die heran- Neuheit ist, folgt er einer langen Reihe von deliberativen Ex- gezogenen Kriterien repräsentativ war, was bei einer reinen perimenten, die zu unterschiedlichen Themengebieten in Zufallsziehung nicht der Fall gewesen wäre. Zum anderen verschiedenen Teilen der Welt bereits durchgeführt wurden könnte die Möglichkeit, die Teilnahme am Konvent abzu- (Tabelle 1). Diese Experimente, die unter dem Sammelbe- lehnen, bei Menschen, die sich selbst vielleicht für nicht griff »Mini-Publics« zusammengefasst werden, stützen sich kompetent genug erachten, zu einer Selbstzensur geführt weitgehend auf das Modell des »Deliberative Polling« (Fish- haben. Dies führte zu einer gewissen Überrepräsentation kin 1995). Mittels eines Vergleichs mit anderen »Mini-Pu- von Personen, die sich ohnehin bereits politisch, insbeson- blics« untersuchen wir die Arbeitsweise des Bürger_innen- dere in Vereinen, engagieren. konvents anhand von vier Aspekten, die unserer Meinung nach den Kern jedes deliberativen Prozesses ausmachen: 3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Deliberative Demokratie und Ökologie T abelle 1. Ein Vergleich von Bürger_innenversammlungen auf der ganzen Welt Britisch- Ontario, Nieder- Island Belgien Irland Irland Frankreich Kolum- Kanada lande bien, Kanada 2004 2006 2006 2010 2011 2012 2016 2019 Rechtsrahmen Initiative Regierung Regierung Regierung Regierung Keine Regierung Regierung Regierung Thema Reform Reform Reform Politische Zukunft Verfas- Abtreibung, Absenkung des Wahl des Wahl des Wahl Zukunft des Belgiens sungsfra- Klima, des Treib- systems systems systems Landes gen Alterung, hausgas- Referenden, ausstoßes Parlament Art der Entsen- Art Losverfah- Losverfah- Losverfah- Losverfah- Losverfah- Losverfah- Losverfah- Losverfah- dung von Ver- ren nach ren nach ren nach ren nach ren nach ren nach ren nach ren nach treter_innen Quoten Quoten Quoten Quoten Quoten Quoten Quoten Quoten Zahl der 160 103 143 900 (an 704, an- 66 (+33 99 150 Mitglieder schließend schließend Abgeord- 25 zum 32 nete) Ausarbei- ten der Ver- fassung) Dauer und Art Dauer ge- 8 Monate 9 Monate keine 6 Monate 500 Tage 14 Monate 5 Monate 9 Monate der Informa- samt Angabe (für die 25 tionsgewin- Vertreter_ nung innen) Dauer der 3 Monate 7,5 Monate keine keine 3 Wochen- Abstim- keine 7 Wochen- Sitzungen Angabe Angabe enden für mungen Angabe enden die Gruppe bereits in der 32 den ersten Sitzungen Einsatz von Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Expert_in- nen Diskussions- Bildung von Ja (12) keine keine Ja (3) Ja (81) Ja Ja (14) Ja modalitäten Kleingrup- Angabe Angabe pen Regeln zur keine keine keine keine keine keine keine keine Wortmel- Angabe Angabe Angabe Angabe Angabe Angabe Angabe Angabe dung Mittel der Ergebnisse Abstim- Abstim- keine Aushändi- Abstim- Änderung 40 Empfeh- 150 Emp- Entscheidungs werden von mung für mung für Angabe gung der mung über von 8 Ver- lungen fehlungen findung der Ver- die Ände- die Ände- Vorschläge jeden der fassungs- sammlung rung des rung des der 25 an Vorschläge artikeln erarbeitet Systems Systems das Par- der Gruppe nach Ab- (146 ja, (94 ja, lament. der 32 und stimmung 7 nein) 8 nein) Durchfüh- Aushändi- der Bürger_ rung eines gung an innenver- Referen- alle Ab- sammlung dums geordne- ten Vorschläge Ja Ja Nein Ja Nein Ja Ja, aber keine werden ei- nur 3 Angabe nem Refe- rendum un- terzogen Erfolg oder Scheitern Scheitern Scheitern Scheitern Scheitern Erfolg Erfolg Keine Scheitern Ablehnung Ablehnung Ablehnung Aussetzung Kein politi- 62 % Zu- 66 % Zu- Angabe des Pro- von 58 % durch Re- durch die trotz des scher Auf- stimmung stimmung jekts (Schwelle ferendum Regierung erfolgrei- trag zur Homo- zur Legali- bei 60 %) (63,2 %) chen Refe- Ehe sierung der rendums Abtreibung Beteiligung 61,5 % 52,1 % 48,7 % 60,5 % 64,1 % keine (im Fall ei- Angabe nes Refe- rendums) 4
Mittel der Informationsgewinnung Alternativen mehr in Betracht ziehen. Um diesen Effekten Untersuchungen zur deliberativen Demokratie weisen zwar entgegenzuwirken, wird betont, wie wichtig eindeutige Re- regelmäßig auf die Bedeutung von Informationen für die geln sind, durch die eine geordnete, informierte und Mitglieder der Bürger_innenversammlungen hin, gehen wirklich kollektive Erörterung von entgegengesetzten Argu- aber fast nie auf die konkreten Modalitäten des Informati- menten in einem Klima des Vertrauens möglich wird, d. h. onsaustausches ein. Informationen sind jedoch ganz ent- eine Debatte, die ohne Meinungsführer_innen, ohne Angst scheidend, sei es in Bezug auf die Art und Weise der Infor- vor dem Urteil der anderen und ohne Tabus geführt wird mation (schriftliche oder mündliche Beiträge, Zeit zur (Thuderoz 2017: 330). Auswertung der Informationen usw.) oder in Bezug auf die Unterstützung durch Expert_innen (Auswahl der Expert_in- Die Arbeitsweise des Konvents folgte diesen Prinzipien nen, getrennte Präsentationen oder kontroverser Mei- weitgehend. »Der größte Teil des Austauschs findet in Un- nungsaustausch zwischen den Expert_innen usw.). Im We- tergruppen statt, damit die Mitglieder Zeit zum Gespräch sentlichen gibt es nur in einem Punkt Konsens: Die Qualität haben, sich wohlfühlen und gemeinsam produktiv sein kön- und die Vielfalt der Informationen sind entscheidend, um nen. Fachleute für den Bürger_innendialog begleiten diesen eine ausgewogene Debatte und sachgerechte Beratungen Austausch, ohne ihn jedoch zu beeinflussen: Das Wort ha- zu gewährleisten. ben die Mitglieder. In regelmäßigen Abständen teilt jede Gruppe den gesamten 150 Mitgliedern ihre Ergebnisse Bei Betrachtung anderer Experimente mit Bürger_innenver- mit.«5 Das System der Kleingruppen trägt dazu bei, die Mei- sammlungen wird deutlich, wie vielfältig die möglichen Vor- nungsvielfalt zu fördern und anhand individueller Erfahrun- gehensweisen sind. Im Fall Irlands sollten die Beiträge der gen Widersprüche aufzuzeigen. Expert_innen nicht unmittelbar zu einer Debatte führen: Die Referent_innen hielten Vorträge und stellten gegensätz- Innerhalb des Konvents wurden fünf thematische Gruppen liche Standpunkte und ihre jeweiligen Argumente vor, ohne gebildet. Der Zuständigkeitsbereich dieser Gruppen wurde zu einer Diskussion aufzufordern. Im Gegensatz dazu folg- bald erweitert. »Wir wurden auf fünf Arbeitsgruppen ver- ten im Fall der Niederlande auf die Expert_innenvorträge teilt, die später noch erweitert wurden, weil wir zusätzliche Diskussionen in Kleingruppen. In ähnlicher Weise präsen- Themen hatten, mit denen sich die Mitglieder beschäftigen tierten im Fall Belgiens jeweils zwei Expert_innen ein Thema wollten« (Interview mit Grégoire F.). und ermutigten die Bürger_innen, sich mit ihnen auszutau- schen, um die Diskussion in Gang zu bringen. Der Ansatz der Kleingruppen ist in »Mini-Publics« häufig zu beobachten (Tabelle 1). Dabei muss u. a. entschieden wer- Der französische Bürger_innenkonvent hat etwa 140 Ex- den, wie die Themen auf die Gruppen verteilt werden und pert_innen zu Wort kommen lassen. Ihre Rolle beschränkte ob die Mitglieder hier individuelle Wünsche äußern können. sich auf die Darstellung von Fakten und die Beantwortung Im Rahmen des Konvents beschäftigten sich die Mitglieder von Fragen der Konventsmitglieder, insbesondere zu den nicht unbedingt mit ihren bevorzugten Themen, sondern eher technischen Aspekten. Zudem wurde die Möglichkeit mussten diese anderen überlassen. des Gegenüberstellens konträrer Standpunkte genutzt. Vor allem aber konnten die Konventsmitglieder selbst Expert_ »Die Idee war, dass wir uns nicht aussuchen konnten, wor- innen hinzuziehen, wenn ihnen Informationen fehlten: an wir arbeiten wollten, weil wir aus der Sicht eines Bürgers »Wir haben regelrecht ›Einkaufslisten‹ geschrieben mit Leu- bzw. einer Bürgerin und nicht aus der Sicht eines Experten ten, die wir treffen wollten, und – wenn wir die Namen bzw. einer Expertin an die Sache herangehen sollten. Auch nicht kannten – Expertisen, die wir benötigten« (Interview wenn jeder und jede von uns eigenes Fachwissen mitbringt mit dem Konventsmitglied Grégoire F.). – in der Gruppe von 150 merkt man, wie wenig man eigent- lich weiß. Ich sage gerne, dass wir versuchen, wie ein Diskussionsmodalitäten Schwamm zu funktionieren: Man kommt so ausgetrocknet Am ausführlichsten werden in der Forschung zu deliberati- wie möglich an, um möglichst viele Informationen aufzu- ver Demokratie die Diskussionsmodalitäten behandelt. saugen und sich so eine Meinung als Halbprofi zu bilden« Bernard Manin listet in seinem Überblick über die Fachlite- (Interview mit Grégoire F.). ratur alle Möglichkeiten auf, wie der auf dem Austausch von Argumenten basierende Kommunikationsprozess zwi- Durch diese Herangehensweise kam der kollektive Aspekt schen den Mitgliedern einer Gruppe die Diskussion verzer- des Beratungsprozesses zum Tragen und zwischen den ren kann, bevor eine Entscheidung getroffen wird:4 Polari- Konventsmitgliedern entstand Vertrauen. sierung, sozialer Vergleich, Dominoeffekt, Segmentierung, Bestätigung usw. (Manin 2011: 85). Diese Verzerrungen Zudem erlaubte der Diskussionsprozess die Äußerung un- können entweder dazu führen, dass die Beratenden in ih- terschiedlichster Meinungen und einen regen Austausch ren Positionen immer extremer werden oder dass sie keine zwischen den Untergruppen. Die Beratungen waren so or- ganisiert, dass neben Diskussionen im Plenum und in den 4 Die Diskussion ist ein Prozess und keine Phase. Auch wenn einige Untergruppen auch Zeit für die Anhörung von Expert_innen Prozesse zeitlich begrenzt sind, sind sie durch Wechselwirkungen miteinander verbunden, die über definierte Zeitgrenzen hinausge- hen. So haben sich die beratenden Mitglieder wie bei einer Fortbil- 5 Convention Citoyenne pour le Climat (2020): Foire aux questions; dung auch weiter mit Expert_innen ausgetauscht. www.conventioncitoyennepourleclimat.fr/foire-aux-questions. 5
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Deliberative Demokratie und Ökologie und den informellen Austausch blieb. Dadurch fanden die DIE VORSCHLÄGE DES BÜRGER_ Mitglieder jeweils zum richtigen Zeitpunkt Antworten auf INNENKONVENTS: LÖSUNGEN FÜR ihre Fragen. In allen Gruppen wurden Gesprächsregeln ein- DEN ÖKOLOGISCHEN NOTSTAND? geführt, wie z. B. Tischumfragen oder die Begrenzung und gerechte Verteilung der Redezeit. Und nicht zuletzt wurden Im Spätsommer 2020 legte der Konvent schließlich 149 die Beratungen der offiziellen Konventssitzungen durch lau- Vorschläge vor (CCC 2020). Trotz zahlreicher Medienberich- fende Diskussionen über die sozialen Netzwerke ergänzt: te über einzelne Vorschläge, die manchmal fälschlicherwei- »Wir diskutieren auch viel unter uns, wir haben unsere se als Leuchtturm-Projekte dargestellt wurden, sind der Whatsapp-Gruppe, in der wir 90 oder 100 Leute sind und französischen Bevölkerung die meisten Vorschläge des Kon- jeden Tag über die Vorschläge sprechen« (Interview mit vents bislang allerdings weitgehend unbekannt geblieben. Grégoire F.). Diese Verwendung von Online-Tools für den Der symbolträchtigste Vorschlag ist der eines Referendums Informationsaustausch liesse sich sogar auf die gesamte Be- über die Änderung der Verfassungspräambel, mit welcher völkerung ausweiten. Der kürzlich gegründete »Verein der der Schutz der Umwelt in die Verfassung aufgenommen Bürger_innen des Klimakonvents« (Association des Ci- werden soll. Andere Maßnahmen wie die Herabsetzung der toyens de la Convention Climat) weist in diese Richtung. Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 auf 110 km/h sind äußerst unpopulär und wurden häufig von der Instrumente der Entscheidungsfindung Opposition benutzt, um die gesamte Arbeit des Konvents in Die Erfahrungen, die zu Bürger_innenversammlungen welt- Verruf zu bringen. Am häufigsten haben die Franzosen und weit vorliegen, lehren, dass Bürger_innen, wenn sie Wissen Französinnen von den Vorschlägen gehört, sämtliche nicht zu komplexen Themen vermittelt bekommen, durchaus in wärmeisolierten Gebäude energetisch zu sanieren, Inlands- der Lage sind, einen Beratungs- und Entscheidungsprozess flüge zu verbieten, wenn es eine alternative Bahnverbin- erfolgreich durchzuführen. Die erarbeiteten Vorschläge fin- dung unter vier Stunden gibt, Werbung für umweltschädli- den in den letzten Plenarsitzungen meist weitgehende Zu- che Produkte zu verbieten und bis 2040 einen Anteil von stimmung. Auch beim französischen Konvent für das Klima 50 Prozent ökologischer Landwirtschaft anzustreben. war das der Fall: Von den 150 diskutierten Vorschlägen wurde nur ein einziger verworfen. Umweltverbände und Umweltschützer_innen haben seit Ende des Konvents regelmäßig in den Medien kritisiert, dass Das Problem ist also nicht die Art der Entscheidungsfindung die Regierung diese Vorschläge entweder zerstückelt oder in den« Mini-Publics«, in denen meist Konsens herrscht, sogar völlig ignoriert hat. Über diese kritischen Medien sondern vielmehr, was aus den Vorschlägen wird, die sich kommentare versuchten sie auch die von den Konventsmit- aus den Beratungen ergeben: Sie können entweder der Ex- gliedern vorgeschlagenen Maßnahmen den Franzosen und ekutive, dem Parlament oder mittels eines Referendums un- Französinnen näherbringen. Im Folgenden werden die mittelbar der gesamten Bevölkerung vorgelegt werden. Bei Grundzüge der Vorschläge des Konvents herausgearbeitet. den anderen Experimenten weltweit (Tabelle 1) wurden in der Regel Referenden durchgeführt. Die Frage nach der Le- Dabei sind zunächst zwei einschränkende Bemerkungen zu gitimität der »Mini-Publics« ist hier entscheidend. Sie be- machen. Auch wenn parallel zu den Beratungen der Kon- trifft erstens die Veranlassung der »Mini-Publics« und die ventsmitglieder ein Rechtsausschuss eingerichtet wurde, Auswahl der Teilnehmer_innen (Legitimität durch die In- um die rechtliche Umsetzbarkeit der erarbeiteten Vorschlä- puts), zweitens die Qualität der Beratungen (Legitimität ge sicherzustellen, konnten nicht alle Vorschläge auf diese durch den Throughput) und drittens die Beziehung zwi- Weise für die Umsetzung vorbereitet werden. Darauf ver- schen dem »Mini-Public« und dem Volk als Souverän (Legi- weist der Konvent in seinem Abschlussbericht und räumt timität durch die Outputs). In diesem Rahmen kann die ein, dass bei der Umsetzung seiner Vorschläge weitere An- Durchführung eines Referendums zur Bestätigung der Ar- strengungen erforderlich sein werden. Dies ist ein wichtiger beit der Bürger_innenversammlung die Legitimität des Pro- Vorbehalt in Bezug auf die Arbeit des Konvents (CCC 2020: zesses erhöhen – und insbesondere auch mögliche Schwä- 453). Eine zweite Einschränkung besteht darin, dass zahl- chen auf der Input-Seite ausgleichen. reiche Vorschläge recht ungenau formuliert sind, sodass nicht klar wird, wie sie umgesetzt werden können. Die stell- Der französische Konvent unterscheidet sich von anderen te die Mitglieder des Rechtsausschusses häufig vor Proble- Bürger_innenversammlungen dadurch, dass er sich dazu me bei der Erarbeitung rechtlicher Umsetzungsmöglichkei- entschieden hat, zur Umsetzung seiner Vorschläge neben- ten untersuchte. Deshalb entschied er sich generell dazu, einander den Weg der Verordnungen, der Gesetze und des verschiedene Umsetzungsvarianten vorzuschlagen, die von Referendums zu wählen. Eine eingehende Untersuchung der einer einfachen Empfehlung bis hin zu einer Kodifizierung Vorschläge lässt erkennen, wie die Konventsmitglieder die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen reichen. ökologische Wende in Frankreich bewerkstelligen wollen. Abbildung 2 veranschaulicht die 177 Vorschläge und Unter- vorschläge des Bürger_innenkonvents in Bezug auf ihre rechtliche Umsetzbarkeit. Wir haben die Vorschläge in vier Kategorien unterteilt, die sich auch überschneiden können: 8 Prozent der Vorschläge sind rechtswidrig oder im beste- henden Rechtsrahmen nicht umsetzbar; 25 Prozent der 6
Vorschläge entsprechen bereits geltendem Recht; 27 Pro- Abbildung 3. zent der Vorschläge sind zu unkonkret und 52 Prozent der Die Zielgruppen der Vorschläge des Bürger_innenkonvents Vorschläge sind unmittelbar in geltendes Recht umsetzbar. 100 Tatsächlich kann also Macrons Versprechen, die Vorschläge des Konvents »ungefiltert« zu übernehmen, nur für etwa die Hälfte davon gelten. 75 Abbildung 2. 50 Die Umsetzbarkeit der Vorschläge des Bürger_innenkonvents in geltendes Recht (in Prozent) 56 25 50 29 100 0 Einzelpersonen Privatunternehmen Staat 75 Ja Nein 50 52 Vielfältige Instrumente 25 Da die Vorschläge des Konvents bereichsübergreifend sind, 25 27 8 bietet es sich an, die Art der vorgeschlagenen Instrumente 0 zu betrachten (Abbildung 4). »Anreize und vertragliche Ins- ög g h Re its t r Re in t tz / ch ba ch m dri lic se t trumente«, also die Erteilung von bestimmten Rechten, Ge- m kre em ere es ar un wi nd zb t u on nd b er hts lte et lte cht nehmigungen und Zulassungen betreffen 17 Prozent der ch k ge ms ni un od Rec ge pri U Zu ts Vorschläge. »Steuerliche und wirtschaftliche Instrumente« En Ja Nein wie Subventionen, Finanzhilfen, Abgaben, Steuern und Zöl- le machen 34 Prozent der Vorschläge aus. »Gesetze und Verordnungen« kommen in 56 Prozent der Vorschläge zur Ressortübergreifende Vorschläge Anwendung. Instrumente der »Information und Kommuni- Die Vorschläge des Konvents sind als »einheitliches Ganzes kation« betreffen schließlich 31 Prozent der Vorschläge. gedacht, das in den nächsten zehn Jahren Hunderttausen- Diese Instrumente werden sehr oft miteinander kombiniert. de von Arbeitsplätzen schaffen und den Franzosen und Französinnen ein besseres Leben ermöglichen kann, ohne Besonderes Augenmerk wurde auf die Verfassungsände- jemanden außen vor zu lassen« (Mélanie, Konventsmitglied, rungen und Finanzierungsmethoden gelegt. Die Zustim- anlässlich der Rede von Emmanuel Macron vor den 150 mung zu diesen Vorschlägen fiel geringer aus und lag zum Mitgliedern des Konvents am 29. Juni 2020 im Élysée-Pa- Teil bei weniger als 60 Prozent. Gesetze und Verordnungen, last). Sie verlaufen quer zu allen Politikbereichen und Ziel- die überwiegend Verpflichtungen und Verbote vorsehen, gruppen: Ein Viertel der Vorschläge betrifft Privatpersonen, wurden am häufigsten als Instrument eingesetzt – deutlich etwa die Hälfte den Staat und private Unternehmen (Abbil- häufiger als steuerliche Instrumente. Dies ist typisch für eine dung 3). dezentralisierte Politik und wirft die Frage nach dem Staats- verständnis des Bürger_innenkonvents auf. Die Vorschläge sind in fünf Themengebiete unterteilt. Das Kapitel »Konsum« beinhaltet Anregungen, wie weniger Abbildung 4. und besser konsumiert werden kann. Das Kapitel »Produk- Art der vorgeschlagenen Instrumente tion und Arbeit« enthält Vorschläge, wie nachhaltiger und 100 ohne Umweltbelastung produziert werden kann. Das Kapi- tel »Mobilität« befasst sich mit einer neuen Raumordnung 75 und Änderungen im Hinblick auf Verkehrsmittel. Die Vor- schläge im Kapitel »Wohnen« zielen auf die energetische 50 Sanierung sowie nachhaltiges Bauen ab. Ziel des Kapitels »Ernährung« ist es, die Treibhausgasemissionen der Lebens- 56 25 mittelproduktion zu reduzieren und gleichzeitig eine gesun- 34 31 de, nachhaltige und qualitativ hochwertige Ernährung zu 17 0 fördern. Die Einordnung dieser Vorschläge belegt, dass Um- In trag eize m e n te In haf iche m e te en ik d nu nd ru ch r u ch io un un en en weltpolitik »nicht nur einen Politikbereich im traditionellen ng at rd u st li st tli r r sc rl ve An m n ro tze irt ue m tio Sinn betrifft, sondern oft quer zu vielen herkömmlichen Be- w te Ve ese Ko rma d S G d fo reichen wie Landwirtschaft, Energiegewinnung, Gesund- un In un heit usw. verläuft« (Lascoumes 2008: 29). Instrument genutzt Instrument nicht genutzt 7
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Deliberative Demokratie und Ökologie Der Staat als Regulierer gesetzt, inwieweit ihre Vorschläge von der Regierung auf- Um zu verstehen, welche Rolle die Konventsmitglieder dem genommen wurden und Eingang in die Gesetzesinitiative Staat zumessen, haben wir die Vorschläge des Konvents »Klima und Resilienz« gefunden haben. Ihre Bilanz fiel er- entsprechend der vier Grundtypen staatlicher Politik - regu- nüchternd aus: 56 Prozent sind unzufrieden mit dem Aus- lative, distributive, redistributive und konstitutive Politik - maß, in dem ihre Vorschläge aufgenommen wurden, zugeordnet. gegenüber nur 7 Prozent, die sich zufrieden zeigen. 71 Pro- zent sind der Auffassung, dass die Regierungsvorschläge Der Konvent hat einen Schwerpunkt auf regulative Politik nicht ausreichend sein, um die dem Bürgerkonvent gestell- gelegt (44 Prozent), die sich direkt auf das Verhalten der ten Ziele zu erreichen. Dem kontrastiert die positive Ein- Menschen auswirkt, gefolgt von der konstitutiven Politik schätzung der Konventsmitglieder, dass ihre Arbeit nützlich (32 Prozent), die sich indirekt auf die Lebensumstände der war im Kampf gegen den Klimawandel und dass der Kon- Menschen auswirkt (Abbildung 5). Diese beiden Arten von vent zu einer Verbesserung des demokratischen Lebens bei- staatlicher Politik gehören zu den Merkmalen, die einen re- getragen habe (CCC 2021: 161ff). gulierenden Staat kennzeichnen (Casella-Colombeau 2019: 679). Dieser Art staatlicher Politik haben die Konventsmit- Das demokratische Experiment in einen politischen Erfolg glieder den Vorrang gegenüber den Modellen eines inter- umzuwandeln, bleibt die größte Herausforderung für den ventionistischen bzw. eines gestaltenden Staates einge- Konvent. Der Schlussbericht der Konventsmitglieder bestä- räumt. tigt, dass das Experiment des Bürger_innenkonvents gelun- gen ist und dass dieser unter Beachtung der Grundprinzipi- Abbildung 5. en der demokratischen Entscheidungsfindung seinen Teil Die Vorschläge des Bürger_innenkonvents nach Politiktyp erfüllt hat. Die anhaltenden Zweifel an der endgültigen Übernahme seiner Vorschläge zeigen, dass ein rechtlicher 100 Rahmen fehlt, der die effektive Umsetzung der Vorschläge 75 in geltendes Recht sichergestellt hätte. Dies ist eine Hürde, an der auch andere »Mini-Publics« in der Welt gescheitert 50 sind. Frankreich hat unter diesem Gesichtspunkt nicht aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt. 25 44 30 32 Institutionalisierte Verfahren für Bürger_innenversammlun- 13 gen wären ein großer Fortschritt für die Funktionsweise mo- 0 Distributive Regulative Konstitutive Redistributive derner Demokratien. Doch nur mit echten rechtlichen Ga- Politik Politik Politik Politik rantien für die politische Umsetzung ihrer Vorschläge Ja Nein können deliberative Prozesse gelingen und kann die Bür- ger_innenbeteiligung gestärkt werden. Eine Verfassungsre- form könnte insbesondere die Durchführung eines Referen- dums im Anschluss an jede Bürger_innenversammlung SCHLUSSFOLGERUNG vorschreiben und so einen neuartigen Mechanismus schaf- fen, der deliberative Demokratie und direkte Demokratie Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre eine abschließende Bi- miteinander verbindet (Gougou / Persico 2020). lanz des Bürger_innenkonvents zum Klimaschutz zwangs- läufig unvollständig, da nach wie vor ungewiss ist, wie es mit seinen Vorschlägen weitergeht. Zwar sind einige davon im Sommer 2020 umgesetzt worden, viele befinden sich jedoch noch in regierungsinternen Beratungen und Ver- handlungen und einige sind bereits abgelehnt worden. So wurde, noch während die Regierung daran arbeitete, die Vorschläge des Konvents in einen Gesetzestext zu überfüh- ren, eine Unterschriftenkampagne zur »Rettung« der Vor- schläge gestartet, die zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes bereits ca. eine halbe Million Unterzeichner_innen hatte. Und auch die Konventsmitglieder äußerten Zweifel an der von Präsident Macron zugesagten »ungefilterten« Übernahme ihrer Vorschläge. »Die Befürchtung haben wir […]. Ich sage mir, wir machen unseren Job, wir tun, was wir tun müssen, und dann wird jeder das seine tun; wenn mor- gen die Regierung oder der Präsident beschließen, unsere Arbeit nicht zu berücksichtigen, werden sie dafür die Ver- antwortung übernehmen« (Interview mit Mélanie B.). In ei- ner letzten Sitzung Ende Februar 2021 haben sich die Mitglieder des Konvents explizit mit der Frage auseinander- 8
LITERATUR Bonardel, Jean (2019): Le renforcement de la démocratie face à la crise environnementale. Abschlussarbeit des dritten Studienjahrs, Sciences Po, Grenoble. Casella-Colombeau, Sara (2019): Types, in: Boussaguet, Laurie et al. (Hrsg.): Dictionnaire des politiques publiques. 5. komplett überarbeitete Auflage, Presses de Sciences Po, Paris, S. 673–678. CCC – Convention Citoyenne pour le Climat (2020) : Les Propositions de la Convention Citoyenne pour le Climat. Version vom 29.1.2021, in: https://propositions.conventioncitoyennepourleclimat.fr/pdf/ccc-rapport- final.pdf CCC – Convention Citoyenne pour le Climat (2021) : Avis de la Convention Citoyenne pour le Climat sur les réponses apportées par le gouvernement à ses propositions. Version vom 2.3.2021, in : https:// www.conventioncitoyennepourleclimat.fr/wp-content/uploads/2021/03/ CCC-rapport_Session8_GR-1.pdf Courant, Dimitri (2018): Penser le tirage au sort. Modes de sélection, cadres délibératifs et principes démocratiques ; in: Chollet, An- toine / Fontaine, Alexandre (Hrsg.): Expériences du tirage au sort en Suisse et en Europe: un état des lieux. Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz Nr. 74, Bern, S. 257–282. Fishkin, James (1995): The Voice of the People: Public Opinion and Democracy. Yale University Press, New Haven. Gougou, Florent / Persico, Simon (2020): Décider ensemble. La Convention citoyenne pour le climat et le défi démocratique. In: La Vie des idées, 29.5.2020; https://laviedesidees.fr/Decider-ensemble.html. Lascoumes, Pierre (2008): Les politiques environnementales. In: Borraz, Olivier / Guiraudon, Virginie (Hrsg.): Politiques publiques. 1. La France dans la gouvernance européenne. Presses de Sciences Po, Paris, S. 29–67. Manin, Bernard (2011): Comment promouvoir la délibération démocra- tique? Priorité du débat contradictoire sur la discussion. In: Raisons poli- tiques 42, S. 83–113. Thuderoz, Christian (2017): Décider à plusieurs. Presses Universitaires de France, Paris. 9
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Deliberative Demokratie und Ökologie Weitere Publikationen des Pariser Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung: Caroline Roussy Morin, Chloé; Perron, Daniel Frankreich im Sahel Für einen neuen Blick auf das Älterwerden Warten auf die Europäische Union? Überlegungen im Nachgang der Covid-Krise in Frankreich IPSOS-Studie für die Jean-Jaurès-Stiftung und die Paris, August 2020 Friedrich-Ebert-Stiftung Europäische Souveränität: Fokus Frankreich Bellais, Renaud Paris, Februar 2021 Dienstpflicht statt Wehrpflicht Der Service national universel in Frankreich Nicolas Leron Paris, Juli 2020 Regionale Ungleichheit in Frankreich Debatten und politische Empfehlungen Zemmour, Michaël Paris, Januar 2021 Sozialpolitik und Covid-Pandemie in Frankreich Soziale Schieflage trotz umfassender Mobilisierung des Bruno Ducoudré, Mathieu Plane, Raul Sampognaro sozialstaatlichen Instrumentariums und Xavier Timbeau Paris, Juli 2020 Frankreichs Recovery-Strategie Auf dem Weg in eine klimaneutrale und digitale Billion, Didier Zukunft? Frankreichs Mittelmeerpolitik Paris, Dezember 2020 Ambitionierte Initiativen, überschaubare Resultate Berlin, Juni 2020 Borgnäs, Kajsa; Kellermann, Christian Deutschlands Recovery-Strategie Le Bras, Hervé und Warnant, Achille Auf dem Weg in eine klimaneutrale und digitale Ungleiches Frankreich Zukunft? Radiografie der sozioökonomischen und regionalen Paris, Dezember 2020 Disparitäten Paris, Mai 2020 Hadrien Clouet und Catherine Vincent Home Office in Frankreich Laurent, Éloi Erfahrungen während der Pandemie Kommunen und sozial-ökologische Wende Paris, November 2020 Erfahrungen aus Frankreich Paris, März 2020 Camus, Jean-Yves Die Profiteure der Angst? Frankreich Bréchon, Pierre Rechtspopulismus und die COVID-19-Krise in Europa Die Werte der Franzosen Paris, November 2020 Entwicklungen, die Anlass zu Optimismus geben Paris, Februar 2020 Simon, Edouard Die deutsch-französischen Beziehungen Rossignol, Laurence; Fourtic, Yseline Eine Wiederbelebung in schwierigen Zeiten Politische Parität in Frankreich Paris, November 2020 Was ein Gesetz kann - und was nicht Paris, Februar 2020 Finchelstein, Gilles Sozial-ökologischer Block in Frankreich Guillou, Antoine Neue Perspektiven für die Präsidentschaftwahl Eine wirksame und gerechte CO2-Steuer Paris, Oktober 2020 Paris, Januar 2020 Maulny, Jean-Pierre Gliniasty, Jean de Nach dem Brexit Die Russlandpolitik Präsident Macrons Europäische Sicherheitspolitik aus französischer Paris, Januar 2020 Perspektive Paris, September 2020
IMPRESSUM ÜBER DIE AUTOR_INNEN IMPRESSUM OPD2020* ist ein Autorenkollektiv aus Lehrenden und Stu- Friedrich-Ebert-Stiftung Paris dierenden des Studiengangs „Ökologische Transformation“ 41 bis, bd. de la Tour-Maubourg | 75007 Paris | France an der Sciences Po Grenoble. www.fesparis.org Kontakt: fes@fesparis.org Das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankreich wurde Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert-Stif- 1985 in Paris eröffnet. Seine Tätigkeit zielt darauf ab, unter- tung (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche halb der Ebene des Austauschs und der Zusammenarbeit Zustimmung durch die FES nicht gestattet. zwischen den Regierungen Deutschlands und Frankreichs eine Vermittlerfunktion im deutsch-französischen Verhält- Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten nis zu erfüllen. Dabei steht im Mittelpunkt, Entscheidungs- nsichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich- A trägern aus Politik und Verwaltung sowie Akteuren der Zi- Ebert-Stiftung. vilgesellschaft Gelegenheit zu geben, sich zu Themen von beiderseitigem Belang auszutauschen und die Probleme Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung dürfen nicht für und Herausforderungen, die die jeweils andere Seite zu be- Wahlkampfzwecke verwendet werden. wältigen hat, kennenzulernen. Deutsche und französische Partner der FES können dadurch zu gemeinsamen Positio- nen insbesondere zur europäischen Integration gelangen und bei der Formulierung von Lösungen für die jeweils eigenen Probleme auf vorhandene Kenntnisse und Erfah- rungen des Nachbarlandes zurückgreifen. Langjährige Ver- anstaltungsreihen sind die Deutsch-französischen Strategie- gespräche (»Cercle stratégique«) über aktuelle außen- und sicherheitspolitischen Themen, Jahreskonferenzen zu aktu- ellen wirtschaftspolitischen Fragen (»Deutsch-Französischer Wirtschaftsdialog«) und das Deutsch-französische Gewerk schaftsforum. * Dieses Gemeinschaftsprojekt wurde im Rahmen des von Florent Gougou geleiteten Seminars »Wege der Bürger_innenbeteiligung und Entscheidungsfindung« durchgeführt. An der Erstellung dieses Dokuments waren beteiligt: Henintsoa Andriamandroso, Bérénice Blondel, Jean Bonardel, Ugo Capolungo, Emma Daurel, Florent Gougou, Guillaume Lane, Robin Large, Sasha M ackiewicz, Clara Pineda und Grégoire Ruivard.
DELIBERATIVE DEMOKRATIE UND ÖKOLOGIE Eine Bestandsaufnahme des französischen Bürger_innenkonvents zum Klimaschutz Frankreichs Präsident Macron reagierte Der Konvent setzte sich aus 150 Bür- Am Ende einer mehrmonatigen Arbeit auf die »Gelbwesten«-Proteste, die sich gerinnen und Bürger zusammen, die legte der Bürgerkonvent im Spätsom- an der Anhebung der Steuern auf Treib- einerseits per Losentscheid ausgewählt mer 2020 schließlich 149 Vorschläge stoffe entzündeten, unter anderem mit wurden, andererseits durch Anwen- zum ökologischen Umbau von Wirt- der Einberufung eines Bürgerkonvents dung sozialer Filter auch ein »Spiegel- schaft und Gesellschaft vor. Zeigte er für das Klima, der »Convention Citoy- bild« der französischen Gesellschaft sich mit deren Aufnahme durch die enne pour le Climat«. Damit wagte er in abgeben sollten. Ihnen wurde in einem französische Regierung insgesamt we- einer schwierigen gesellschaftlichen Si- von Konflikten geprägten sozialen und nig zufrieden, bewerteten die Mitglie- tuation ein für Frankreich bis dahin bei- politischen Klima die Aufgabe über- der des Konvents ihre Arbeit allerdings spielloses demokratisches Experiment. tragen, Antworten darauf finden, wie als wichtigen Beitrag zur Überwindung Frankreich unter Beachtung der Grund- des ökologischen Notstands und zur sätze sozialer Gerechtigkeit seine Treib- Verbesserung der Qualität der Demo- hausgasemissionen bis 2030 um 40 kratie. Prozent mindern kann an, dessen Mit- glieder per Losentscheid ausgewählt wurden, sollte in einem konfliktiven so- zialen Klima. Weitere Informationen zum Thema erhalten Sie hier: www.fesparis.org
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