DAS KUNSTWERK DES MONATS AUGUST 2022 - UNDERWOOD & UNDERWOOD, THE CHINESE GATE, 1904
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UNDERWOOD & UNDERWOOD (1881 — 1934) THE CHINESE GATE 1904 Albuminabzug auf Karton Erworben 1996 als Schenkung Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg Inv. 23.778/12 Juliane Peil Da sich die Schwarzweißfotografie im 19. Jahr- Kamerahersteller und Verlage spezialisierten sich hundert – zunächst gegenüber der Malerei – erst auf den Vertrieb von Stereoskopen, Stereokameras noch behaupten musste, arbeiteten seit der und dem zugehörigen Bildmaterial, wie etwa das Erfindung der Fotografie zahlreiche Forscher an US-amerikanische Unternehmen Underwood & neuen technischen Verfahren und deren stetiger Underwood. 1881 von den Brüdern Elmer und Bert Verbesserung. Eine der ersten Methoden war die Elias Underwood in Kansas gegründet, setzte das sogenannte Stereofotografie. Unternehmen – neben der Produktion von etwa 25.000 Stereokarten am Tag – zunehmend auf Eine Stereobildkamera simuliert das binokulare, die aktuelle Berichterstattung und agierte in den also das räumliche Sehen, indem sie zeitgleich Folgejahren als eine der ersten Bildagenturen mit zwei Bilder einer bestimmten Szene aufnimmt. Die Standorten in London, New York und Toronto. Distanz der beiden Kameraobjektive entspricht dem natürlichen Augenabstand von etwa 65 Häufig wurden die Stereokarten in thematisch sor- Millimetern. Auf diese Weise entstehen die soge- tierten Boxen angeboten und dienten zudem als nannten stereoskopischen Halbbilder, die minimal Anschauungs- und Lehrmaterial für Schülerinnen seitenverschoben sind. Um – wie beim beidäu- und Schüler. Insbesondere die Reisefotografie war gigen Sehen – eine räumliche Tiefenwahrneh- sehr beliebt, denn sie erlaubte es, ferne Orte wie mung herzustellen, muss das Bildpaar durch ein China, Ägypten oder Mexiko zu betrachten und in Stereoskop betrachtet werden. Der erste Apparat fremde Kulturen einzutauchen. Viele solcher Auf- wurde 1838 von dem britischen Physiker Charles nahmen sollten die Sensationslust des westlichen Wheatstone (1802–1875) entwickelt und durch den Publikums befriedigen und präsentierten deshalb schottischen Physiker David Brewster (1781–1868) möglichst spektakuläre, oft klischeehafte Motive. vereinfacht, indem er Prismen statt Spiegel ein- setzte. Brewster war es auch, der wenig später „The Chinese Gate“ aus dem Jahr 1904 gehört zu die erste zweiäugige Kamera veröffentlichte, um einem Konvolut, bestehend aus 92 Stereofoto- stereoskopische Bilder fotografisch festhalten grafien und 85 Stereoskopenbilder sowie einem zu können. Schließlich schaffte es der amerika- Begleitheft. Davon stammen 84 Reproduktionen nische Arzt Oliver Wendell Holmes (1809–1894), aus dem Haus Underwood & Underwood. Die ein Stereoskop zu konstruieren, das nicht nur das Bilder sind zwischen 1891 und 1908 in 18 verschie- meistverkaufte Betrachtungsgerät war, sondern denen Ländern entstanden, darunter in den USA, Anfang der 1860er Jahre auch eine regelrechte Indien, Sri Lanka, Palästina und Libyen. Für den „Stereomanie“ auslöste. Der nun erschwingliche Druck wurde Albuminpapier verwendet – das erste Stereobetrachter stillte den Bilderhunger der Fotopapier, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- Menschen und die Faszination für diese neue hunderts in hoher Auflage industriell hergestellt Technik. werden konnte und zu den beliebtesten Kopierpa- pieren zählte. So entwickelte sich das Sammeln und Betrach- ten von Stereokarten in der zweiten Hälfte des In der Regel wurden Stereofotografien auf Karton 19. Jahrhunderts zu einer beliebten Freizeitbe- kaschiert, aber auch in Form von Daguerreotypien, schäftigung, was wiederum die Entstehung eines Glasnegativen oder anderen Verfahren hergestellt. neuen Industriezweigs zur Folge hatte. Viele Die Kaschierung enthielt meist eine Bildunterschrift,
Underwood & Underwood, Handling the deadly hooded cobra—snake-charmers in the suburbs of Colombo Ceylon, 1908 Informationen zum Verleger oder zur Fotografie darstellungen von Drachen und Kranichen. Darüber selbst sowie eine längere Beschreibung auf der hinaus sind über dem Tor, das durch eine Flügeltür Rückseite. Auf den Stereokarten von Underwood geschlossen werden kann, menschliche Figuren plat- & Underwood erscheint der Kurztitel rückseitig ziert. Die Kanten der Dachschindeln repräsentieren das nicht nur in Englisch, sondern auch in Französisch, Familienwappen der Tokugawa – die in einem Kreis Deutsch, Spanisch, Norwegisch und Russisch. dargestellten drei Malvenblätter ziehen sich wie ein roter Faden durch die Architektur. Die Stereofotografien aus dem Sammlungsbe- stand des Landesmuseums haben eine durch- Obwohl die Stereofotografie bis zur Jahrhundertwende schnittliche Größe von 8,1 x 7,8 cm und sind auf einen regelrechten Boom erlebte, konnte sie sich auf- einem Karton mit den Maßen 8,8 x 17,8 cm montiert. grund des hohen technischen Aufwands nicht dauer- Bei der Bildkomposition achtete der Fotograf auf haft durchsetzen. Die neuesten Entwicklungen entfer- eine gestaffelte Vorder- und Hintergrundanord- nen sich immer mehr von der klassischen Fotografie. nung von Architektur und Personen – diese be- Dennoch kommt das Verfahren der Stereoskopie noch günstigt die räumliche Tiefenwirkung beim spä- heute zum Einsatz, etwa bei 3D-Filmen oder Virtual teren Ansehen durch den Stereobetrachter. „The Reality-Brillen. Chinese Gate“ bildet vier Männer ab, vermutlich buddhistische Mönche, die vor dem „Chinesischen Tor“ (‚karamon‘) des Tōshō-gū-Schreins und der dahinterliegenden Haupthalle stehen. Der Tor- eingang wird zu beiden Seiten durch eine Mauer verlängert, die ebenso zum Schutz der Zeremoni- en- und Schreinhalle beitragen soll. Das Ensemble gehört zu einer Tempelanlage in der japanischen Stadt Nikkō, die nördlich in den Bergen von Tokio liegt. Erbaut wurde sie 1617 zu Ehren des ersten Shōgun Tokugawa Ieyasu, dem Begründer der Edo-Zeit (1603–1868). Insgesamt besteht der Kom- plex aus mehr als 300 Schreinen und Tempel, die seit 1999 zum Weltkulturerbe zählen. Während sich der Name des Karamons von den zahlreichen geschnitzten Motiven aus der chine- sischen Mythologie ableitet, spiegelt es dennoch Underwood & Underwood, The Chinese Gate (Detail), 1904 den Baustil der japanischen Holzarchitektur wider. Besonders typisch ist das wellenförmig geschwun- gene Dach über dem Durchgang – auch Ortgang Literatur (‚karahafū‘) genannt – mit dem außerordentlich- dekorativ gestalteten Giebel. Entlang der Mauer Werner Pietsch: Stereofotografie, Halle 1959; Erich und auf dem Ziergiebel finden sich ornamentale Stenger: Zur Geschichte der Stereokamera, in: und florale Motive und Schnitzereien sowie Tier- Das Raumbild, Heft 6, 1937, S. 102-127.
Abbildungen © Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Sven Adelaide Niedersächsische Landesmuseen Oldenburg Damm 1 · 26135 Oldenburg Telefon (0441) 40570 400 info@landesmuseum-ol.de www.landesmuseum-ol.de
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