Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit

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Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Nr. 40 Januar 2012

                                          die hallische Studierendenschaftszeitschrift

www.steinecke.info
Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Liebe Leser,
willkommen zur vierzigsten Ausgabe der Hastuzeit. Das           man sich an neue Gegebenheiten anpassen. Zur Vereinfa-
                                                                                                                                                                                         Inhaltsverzeichnis

                                                                                                                                     Interesse
erste Exemplar erschien im Mai 2005. 2005! Merkel wurde         chung kann man sich Lern- und Erinnerungsmethoden
Bundeskanzlerin, Deutschland Papst, und Schnappi, das           aneignen, zum Beispiel den berühmten Erinnerungsfaden

                                                                                                                                      Pause
kleine Krokodil, war zehn Wochen auf Platz eins der deut-       an den Daumen binden. Viele glauben auch, dass Sport                                                                                     02 Editorial – Das Wort zum Heft
schen Charts … Manchmal ist es gut, wie schnell die Zeit        der beste Ausgleich zum mental anstrengenden Lernen ist.
vergeht.                                                        Eine Redakteurin hat dazu skurrile Sportarten ausprobiert

                                                                                                                                     Uni
                                                                                                                               uni
    Manche Themen sind auch nach fast sieben Jahren             und sich für Euch, liebe Leser, herzlichst blamiert. Unsere
noch oder schon wieder aktuell: Die hastuzeit-Redaktion         gebündelten individuellen Erinnerungen ergeben ein sozi-
von damals beschäftigte sich mit der Einführung von Stu-        ales Gedächtnis, welches wiederum unsere Kultur formt.
diengebühren und sprach sich gegen Kürzungen an der             Der Zusammenhang zwischen Lernen, Erinnern und Ver-
                                                                                                                                                 04 So viel Zukunft, so wenig Zeit – Profildiskussion für den Wissenschaftsrat
Uni aus. Dieses Thema hat sieben Jahre später nicht an Bri-     gessen ist ein diffiziler Prozess. Eine Dysfunktion kann                         06 Der virtuelle Kampf gegen die Angst – Computertherapie für psychische Erkrankungen
sanz verloren: Die MLU möchte ihr Profil schärfen – ein         zum Beispiel dazu führen, dass wir uns nur an eine be-
netter Ausdruck für finanzielle Kürzungen. Außerdem hat         stimmte Zeit erinnern können und unser Kurzzeitgedächt-
sich ein Redakteur in die Tiefen der menschlichen Psyche        nis eingeschränkt ist.
gestürzt und sich in das hallische Angstlabor gewagt, wo            2005 hat sich die Redaktion mit dem Thema beschäf-
man lernen kann, seine Höhenangst oder Klaustrophobie           tigt, dass Halle erst auf den zweiten Blick eine schöne
zu bekämpfen.                                                   Stadt sei. In der jetzigen Ausgabe sind wir der Frage nach-
    Wir haben für unsere letzte Ausgabe in diesem Semes-        gegangen, ob aus dem ehemaligen Arbeiterviertel und
ter ein Titelthema ausgesucht, das die meisten von Euch,        jetzt »In«-Stadtteil das neue Paulusviertel werden könnte.
gerade jetzt, direkt betreffen dürfte: Rund ums Lernen              Wir hoffen, Ihr übersteht die Prüfungszeit gut, und ver-                     09 Memories – »Als ich noch klein war«

                                                                                                                                Interesse
und Erinnern geht es in unserem Interesseteil. Wie funk-        abschieden uns für dieses Semester von Euch. Die nächste
                                                                                                                                                 10 Dem Hirn beim Wachsen zuschauen – Was passiert beim Lernen im Kopf?
tioniert eigentlich der Prozess des Lernens, und wie be-        Ausgabe der hastuzeit erscheint im April. Wir wünschen

                                                                                                                                 Pause
wusst nehmen wir Lernen wahr? Lernen verändert sich im          Euch viel Spaß beim Lesen von Ausgabe 40.                                        11 Das Gedächtnis als Fotoalbum – Keiner kann sich alles merken …
Laufe des Lebens: Je älter man wird, umso schwerer kann                                                       Tom & Yvette
                                                                                                                                                 12 Wer rastet, der rostet – Lebenslang und multimedial an der MLU lernen

                                                                                                                                Uni
                                                                                                                     uni
                                                                                                                                                 14 Königsdisziplinen des Studierens – Lernen, Erinnern und Vergessen im Überblick
                                                                                                                                                 16 Zum Lernen gemacht – Neurowissenschaften leicht verdaulich aufbereitet
Impressum                                                                                                                                        18 Erinnerungskulturen – Über unser soziales und kulturelles Gedächtnis
                                                                                                                                                 20 Anterograde Amnesie – Ein Leben ohne Zukunft
hastuzeit, die hallische Studierendenschaftszeitschrift,
wird herausgegeben von der Studierendenschaft der               Druck: Druckerei & DTP-Studio H. Berthold,                                       22 Fantasie als Lernmethode – Kreatives Auswendiglernen für Fortgeschrittene
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und                  Äußere Hordorfer Straße 1, 06114 Halle (Saale)
erscheint in der Regel dreimal im Semester während              Der Umwelt zuliebe gedruckt auf Recyclingpapier.
der Vorlesungszeit.                                             Auflage: 4000 Stück
Chefredaktion: Tom Leonhardt (V. i. S. d. P.), Yvette
Hennig
                                                                Redaktionsschluss: 20. Januar 2012
                                                                hastuzeit versteht sich als Mitmachmedium.             Interesse
                                                                                                                        Pause
Redaktion: Konrad Dieterich, Katharina Deparade,                Über Leserbriefe, Anregungen und Beiträge freuen wir
                                                                                                                                                 23 Halle und die Straßenbahn – Ein Besuch im Museum
Julia Kloschkewitz, Sabine Paschke, Helena Werner               uns sehr. Bei Leserbriefen behalten wir uns sinnwah-
freie Mitarbeit: Caroline Bünning, Ronja                        rende Kürzungen vor. Anonyme Einsendungen werden                                 24 Vom Leerstand zum Wohlstand – Glaucha, ein Modephänomen?
                                                                                                                       Uni
                                                                                                          uni

Schlemme, Maria Weickardt                                       nicht ernst genommen. Für unverlangt eingesandte
Layout: Tom Leonhardt, Maria Weickardt                          Manuskripte übernimmt hastuzeit keine Haftung.                                   26 Offen für Neues – Kurioser Sport im Visier: Irish Dancing
Titelbild: Susanne Wohlfahrt                                    Neue Mitglieder sind der Redaktion herzlich                                      27 Stura aktuell – Neues und Wissenswertes aus Eurem Gremium
Lektorat: Konrad Dieterich, Caroline Bünning                    willkommen. Sitzungen finden in der Regel
Anschrift: hastuzeit, c/o Studierendenrat der MLU,              mittwochs um 20.00 Uhr im Gebäude des Stura
Universitätsplatz 7, 06108 Halle                                (Anschrift siehe oben) statt und sind öffentlich.
E-Mail: redaktion@hastuzeit.de                                  Während der vorlesungsfreien Zeit finden die
Website: www.hastuzeit.de                                       Sitzungen unregelmäßig statt.

2                                                       hastuzeit 40                                                                                                      hastuzeit 40                                                   3
Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Uni                                                                                                                                                                                                                                       Uni
         Interesse                                                                                                                                                                                                                                 Interesse

                 So viel Zukunft, so wenig Zeit
         Für den Wissenschaftsrat gibt sich die Martin-Luther-Universität
                          auf die Schnelle ein Profil.
»Das Ganze eilt furchtbar. Wir bitten euch dringend             und dem Personalrat der Universität. Besonders ärgerte es
um eure Ideen und Mithilfe«, schrieben die studenti-            sie, dass das Rektorat seine Antworten weitgehend intern,
schen Senatoren und der Studierendenrat der MLU am              teilweise noch mit den Dekanen der Fakultäten ausgear-
28. November in einer E-Mail an alle Studierenden. Etwas        beitet und erst am 21. Dezember bei einer Sondersitzung
entspannter liest sich eine neue Mail acht Wochen später,       des Senats zur Diskussion gestellt hatte. Die Vertretun-
in welcher der Stura interessierte Studierende dazu ein-        gen der Studierenden und Beschäftigten fühlten sich aus-                                                                             Ende 2003 kündigte das Kultusministerium unter
lädt, ihre Ideen zu den Themen Hochschullehre, Beschäfti-       geschlossen von der Mitarbeit an einem Dokument, in            müssen. Ab 2015 erwartet das Rektorat, keine Fördermit-           dem Titel »Hochschulstrukturentwurf« weitere Kürzun-
gungsverhältnisse und Campus-Infrastruktur beizutragen.         dem die Universität nicht nur ihren gegenwärtigen Stand        tel mehr aus dem Hochschulpakt 2020 zu erhalten, mit de-          gen an: Die Hochschulen sollten bis 2006 durchschnitt-
    Aber der Reihe nach: Ende 2010 hatten sich die Lan-         beschreibt, sondern auch bereits ihre Vorstellungen zur        nen bisher zusätzliche Plätze für Studienanfänger finan-          lich 10 Prozent ihres Haushalts einsparen, die Uni Halle
desregierung und die Hochschulen Sachsen-Anhalts auf            zukünftigen Struktur und Entwicklung erläutert.                ziert werden.                                                     sogar 12 Prozent. Daraufhin brachen die Neuimmatriku-
Zielvereinbarungen für die nachfolgenden drei Jahre geei-           Doch besonders die ersten Fragen des Wissenschafts-            Und so überschatten finanzielle Erwägungen, die offi-         lationen an der MLU tatsächlich vorübergehend ein, aber
nigt. Laut Rahmenvereinbarung erarbeiten die Hochschu-          rates zum Leitbild und Profil der Hochschule hatten es         ziell (noch) nicht zur Debatte stehen, die Profildiskussion       nur, weil die Universität flächendeckende Zugangsbe-
len in dieser Zeit Struktur- und Entwicklungspläne nach         in sich, denn ein Leitbild hatte sich die Universität bisher   nun doch. Insbesondere Professoren und Mitarbeiter klei-          schränkungen eingeführt hatte. Außerdem strukturierte
Vorgaben des Landes. Zur Vorbereitung solle »hochran-           nicht gegeben, und ihr Profil hielt sie für nicht besonders    nerer Fächer oder solcher, die sich in den offiziell benann-      sie 2006 die Fakultäten neu und schloss den Fachbereich
gige externe Expertise, z. B. der Wissenschaftsrat, um die      vorzeigbar: es bestand hauptsächlich aus dem Lehramts-         ten Forschungsschwerpunkten nicht wiederfinden, fürch-            Ingenieurwissenschaften.
Erarbeitung einer Begutachtung gebeten werden [...]«            studium sowie den vier Forschungsschwerpunkten, zu de-         ten bereits um den Fortbestand ihrer Bereiche. Rektor                 Aktuell sind nur noch 1855 Mitarbeiterstellen an der
Der Wissenschaftsrat ist ein deutschlandweites Beratungs-       nen sie sich 2004 unter dem Druck der damaligen finan-         Sträter versuchte die Wogen zu glätten, indem er betonte,         Uni Halle vorgesehen, von denen laut Marquardt 100 nicht
gremium für Bund und Länder, das überwiegend aus Pro-           ziellen Kürzungen bekannt hatte und die vom Land unter         dass zu einer Universität nicht nur Forschungsschwer-             besetzt sind. Zugleich hat die Universität im Wintersemes-
fessoren und Bildungspolitikern besteht. Auch Wissen-           dem Schlagwort »Exzellenzinitiative« bevorzugt geför-          punkte gehörten. Und überhaupt: »Die Antworten an den             ter 2011/12 erstmals die Schwelle von 20 000 Studierenden
schaftsministerin Wolff und ihr Staatssekretär Tullner sind     dert werden.                                                   Wissenschaftsrat sind das eine. Unsere Profildiskussion           überschritten. Ganz so dramatisch ist das Missverhältnis
Mitglied in der Verwaltungskommission des Rats.                     Dieses Mal sollte die Profildiskussion grundsätzlich       werden wir auch danach fortsetzen.«                               in der Praxis nicht: Wo reguläre Beschäftigte fehlen, helfen
    So konnte es grundsätzlich nicht überraschen, dass          und unabhängig von möglichen Einsparungen geführt                                                                                die Fakultäten zunehmend mit (schlecht bezahlten und
sich der Wissenschaftsrat bei der Martin-Luther-Univer-         werden, erklärten Ministerin Wolff gegenüber der Mittel-       Tendenz fallend                                                   kurzfristigen) Lehraufträgen aus – diese sind nicht so ein-
sität für einen Besuch ankündigte. Für Unruhe sorgte je-        deutschen Zeitung und Rektor Sträter in der Onlineaus-         Dass Schlagwörter wie »Umstrukturierung«, »Entwick-               fach zu beziffern, weil sie nicht aus Personal-, sondern aus
doch der umfangreiche, immerhin 55 Punkte umfassende            gabe des hauseigenen Magazins »Scientia Halensis«.             lung« und »Profilbildung« letztlich für Kürzungen und             Sachmitteln finanziert werden und weil deren Verträge un-
Fragenkatalog, den die Universität im Oktober des vergan-       Zugleich bemühten sich beide erst gar nicht, das Offen-        Stellenstreichungen stehen, damit hat die Martin-Luther-          terschiedlich lange laufen. Vereinzelt kommen auch Mit-
genen Jahres erhielt und deren Antworten sie bis 13. Januar     sichtliche abzustreiten: dass demnächst wieder Kürzun-         Universität seit der Wende reichlich Erfahrung gesammelt.         arbeiter aus Drittmittelprojekten in der Lehre zum Ein-
einreichen sollte; die Frist wurde dann noch einmal um          gen in unbestimmter Höhe zu erwarten sind – schließlich        Bertolt Marquardt vom Personalrat der Uni rechnet vor,            satz. Mit diesen Notlösungen sind jedoch Personalrat wie
zwölf Tage verlängert.                                          sind die demographische Entwicklung und die Finanzsitu-        dass von 1989 bis heute 75 Prozent der Stellen weggefallen        auch Studierendenrat nicht zufrieden. Zwar bekennt sich
                                                                ation des Landes zwei wesentliche Gründe, aus denen die        seien: Wenn man die Beschäftigten mitzähle, die damals            die Universität in ihrer Antwort an den Wissenschaftsrat
Diskussion nicht beendet                                        Strukturdiskussion überhaupt geführt werden soll. Uni-         an der TH Merseburg und der PH Halle-Köthen angestellt            zur Einheit von Forschung und Lehre, aber die Rolle der
Der knappe Zeitrahmen stieß auf Kritik, unter anderem           Kanzler Hecht geht davon aus, dass bis zum Jahr 2014 von       waren und deren Bereiche 1993 in die Martin-Luther-Uni-           Mitarbeiter kommt gegenüber derjenigen der Professoren
bei den studentischen Senatoren, dem Studierendenrat            den 1855 Mitarbeiterstellen der MLU 100 abgebaut werden        versität integriert wurden, waren es seinerzeit 7001 Stellen      kaum zur Sprache. »Der Wissenschaftsrat wird nun ein-
                                                                                                                               (ohne den Bereich Medizin), die bis zum Jahr 2001 schritt-        mal von Professoren dominiert«, meint Marquardt – und
                                                                                                                               weise auf 2455 Stellen reduziert werden sollten.                  im Senat der Universität haben ebenfalls Professoren die
                                                                                                                                   Nach der Neuordnung der Hochschullandschaft kam               Mehrheit.
                                                                                                                               die nächste große Kürzung im Jahr 2000 auf die Universi-              In den kommenden Monaten wird eine Kommission
                                                                                                                               tät zu, als die Landesregierung beschloss, die Zahl der lan-      des Wissenschaftsrates die Hochschulen des Landes vor
                                                                                                                               desweiten Studienplätze bis 2004 auf 80 Prozent zu kür-           Ort besuchen. Als letztes wird am 2. und 3. Mai die Martin-
                                                                                                                               zen. Laut demographischer Prognosen benötige das Land             Luther-Universität in Augenschein genommen. Unterdes-
                                                                                                                               nämlich weniger Kapazitäten an den Hochschulen; statt             sen nimmt der Studierendenrat Rektor Sträter beim Wort
                                                                                                                               bisher 14 100 Studienplätzen sollte die MLU mit nur noch          und will die Profildiskussion weiterführen. Studentische
                                                                                                                               11 050 Studienplätzen planen, entsprechend sank auch die          Interessen sollen dabei stärker zum Tragen kommen.
                                                                                                                               Anzahl der Beschäftigten weiter. Allein die Zahl der Stu-                                                Text: Konrad Dieterich
                                                                                                                               dierenden stieg unbeirrt.                                                                      Illustration: Susanne Wohlfahrt

4                                                       hastuzeit 40                                                                                                                    hastuzeit 40                                                        5
Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Uni                                                                                                                               Uni
          Interesse                                                                                                                         Interesse

       Der virtuelle Kampf gegen die Angst
        Computersimulation als Therapie? An der MLU wollen Psychiater                                                           deshalb wird eine Angstreaktion ausgelöst. Daraus resul-            stehe: »Eine Schilddrüsenüberfunktion kann typischer-
           Angstpatienten mithilfe von »virtual reality« therapieren.                                                           tiert dann häufig das Vermeidungsverhalten, zum Beispiel            weise auch mit verschiedenen Symptomen wie vermehr-
                                                                                                                                eben nicht mehr auf hohe Türme zu gehen. Dazu kommt                 tem Schwitzen, Unruhe und erhöhtem Puls einherge-
                                                                                                                                häufig eine Erwartungsangst, also die Angst vor der Angst,          hen.« – und als Angststörung fehlgedeutet werden. Wenn
                                                                                                                                wenn man sich in die vermeintlich gefährliche Situation             man die organische Störung behandelt, kann es passie-
                                                                                                                                begibt. Wie es zu diesen falschen Verknüpfungen kommt,              ren, dass »sich dadurch auch die Symptome bessern oder
                                                                                                                                ist nicht komplett geklärt – die eine Ursache für Angst gibt        sogar völlig weggehen.« Wenn eine körperliche Ursache
                                                                                                                                es nicht. Es existieren verschiedene lerntheoretische, psy-         ausgeschlossen werden kann, beginnt man mit einer The-
»Ich bin selbst sehr gespannt, wie die Patienten darauf           im Alltag aber kein ausschließlich negatives Gefühl, häu-     chodynamische, neurobiologische und neurochemische                  rapie. Die Behandlung von Phobien kann durch Medi-
reagieren«, sagt die Psychiaterin Julia Friedemann, als           fig spielen wir sogar mit der Angst: in Horrorfilmen, bei     Ansätze: »Man geht von einem multifaktoriellen Modell               kamente, zum Beispiel Antidepressiva, unterstützt wer-
sie das virtuelle Angstlabor der Psychiatrischen Univer-          der Achterbahnfahrt oder im Extremsport. In all diesen        aus.« Mögliche Einflüsse können in Lernerfahrungen oder             den. »Der größere Komplex ist die Psychotherapie.« Am
sitätsklinik vorstellt. Bald sollen hier die ersten Angstpa-      Fällen sprechen Psychiater von »physiologischer Angst«,       in der Erziehung liegen: »Wie wurde mir beigebracht, mit            Anfang einer Therapie steht die »Psychoedukation«, das
tienten mithilfe von »virtual reality« therapiert werden.         also von einem normalen Gefühl wie jedem anderen auch.        Ängsten oder mit solchen Situationen umzugehen?« Aber               heißt die Aufklärung des Patienten über seine Krankheit.
Vorher muss aber noch ein TÜV-Zertifikat her. »Nicht                                                                            auch genetische Faktoren können eine Rolle spielen. »Es             Zusätzlich werden dem Patienten Werkzeuge zur Entspan-
nur wegen der elektrischen Geräte, die wir hier benut-            Wenn Angst krank macht                                        ist oft so, dass psychische Erkrankungen gehäuft in der             nung gegeben, wie autogenes Training oder Progressive
zen«, erklärt der Informatiker Frank Demel, der beim              Allerdings kann Angst auch zur Krankheit werden, The-         Familie auftreten.« Das Klischee-Bild, dass ein traumati-           Muskelrelaxation, die er auch nach der Therapie weiterhin
Projekt für die technische Umsetzung und Programmie-              rapeuten sprechen hier von pathologischer Angst. Die          sches Ereignis häufig der Auslöser einer speziellen Phobie          anwenden kann. Ein wesentlicher Bestandteil der Behand-
rung zuständig ist. Auch ein inhaltliches Gutachten muss          Angstsymptome treten dann auch in Situationen oder bei        ist, kann die Psychiaterin aus der eigenen klinischen Erfah-        lung ist die Reizkonfrontation. »Dabei gibt es zum einen
ausgestellt werden. Schließlich könne man nicht einfach           Gegenständen auf, die für uns keine unmittelbare Gefahr       rung nicht bestätigen.                                              die so genannte In-sensu-Konfrontation.« Der Therapeut
machen, was man denkt, und das dann am Patienten aus-             darstellen müssen: Bei Hunden oder Spinnen, in Kauf-                                                                              leitet den Patienten dazu an, sich in seiner Vorstellung dem
probieren. Eine Standardlösung für die virtuelle Thera-           häusern, Tunneln oder Straßenbahnen. Patienten mit            Angst auf allen Ebenen bekämpfen                                    angstauslösenden Reiz auszusetzen. »Der zweite große
pie gibt es bisher noch nicht. Deshalb musste das Team            der klinisch häufigen »Agoraphobie«, also der Angst           Psychische Symptome können auch Ausdruck einer orga-                Weg ist die In-vivo-Exposition, das heißt, dass der Patient
unter Leitung von Klinikdirektor Prof. Andreas Marneros,          vor beispielsweise Menschenmengen oder weiten Plät-           nischen Erkrankung sein. Deshalb sei es, so Friedemann,             real in der Umwelt übt und sich mit der angstauslösenden
das neben der Psychiaterin und dem Informatiker noch              zen, beschreiben häufig Angst vor einem Kontrollverlust:      sehr wichtig, dass an erster Stelle eine gründliche Pati-           Situation auseinandersetzt.« Patienten mit Höhenangst
aus zwei Hilfskräften besteht, alles von Anfang an selbst         Wenn sie in eine volle Straßenbahn einsteigen wollen, ver-    entenuntersuchung mit umfassender Organdiagnostik                   gehen also zum Beispiel auf einen Turm.
entwickeln. »Wir haben hier richtige Pionierarbeit geleis-        spüren sie Panik, und es schießen ihnen Gedanken in den
tet.« Technikfreaks wären allerdings beim ersten Anblick          Kopf – sie könnten jetzt in diesem Moment einen Herzin-
                                                                                                                                                                           hastuzeit-Autor Tom im virtuellen Angstlabor: Im Hintergrund läuft die Simulation für Höhenangst.
des »virtuellen Angstlabors« wahrscheinlich ein wenig             farkt erleiden oder umfallen, und keiner würde ihnen hel-
enttäuscht: Statt einer futuristischen Einrichtung erwartet       fen. Die Angstsymptome werden von den Patienten oft
den Besucher ein kleines Zimmer im Keller. Hinten in der          nicht richtig erkannt: Sie glauben, sie hätten Herzprob-
linken Ecke steht ein PC mit großem Bildschirm. Auf dem           leme, weil ihr Herz so schnell schlägt. So kann es vorkom-
Schreibtisch liegen Kopfhörer, Tastatur, Maus und – end-          men, dass eine Angsterkrankung über mehrere Monate
lich – eine futuristisch aussehende Brille. Die Brille setzen     bis Jahre unerkannt bleibt. Während dieser Zeit kommt
sich die künftigen Patienten während der Therapie auf und         es zu immer stärkeren Einschränkungen: Die Betroffenen
schauen so in eine virtuelle Welt, in der sie mit ihren Ängs-     vermeiden zunehmend alle Situationen, in denen sie das
ten konfrontiert werden sollen.                                   Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren. Statt durch einen
                                                                  Tunnel zu gehen, würden sie lieber einen kilometerweiten
Angst ist unser Freund                                            Umweg auf sich nehmen. Häufig wird eine Angststörung
»Angst ist an sich ein Gefühl, das angeboren ist«, erklärt        von weiteren psychischen Erkrankungen, wie beispiels-
Friedemann, »jeder Mensch hat Angst, jeder Mensch                 weise einer Depression, begleitet.
kennt Angst.« Und das ist auch gut so. Hätten sich
Urmenschen nicht vor Raubtieren gefürchtet, wären sie             Im Kopf falsch verschaltet
mit Sicherheit ausgestorben, und wir würden heute wahr-           Pathologische Ängste entstehen, wenn unser Gehirn
scheinlich gar nicht leben. Angst signalisiert uns Gefahr.        »falsch programmiert« ist: »Man nennt das dysfunktio-
Dabei schüttet unser Körper Adrenalin aus und bewirkt             nale Kognition. Das heißt, es gibt da eine Verknüpfung,
typische körperliche Veränderungen: Unser Herz schlägt            die eine Situation in irgendeiner Form als Gefahr bewer-
schneller, unsere Muskeln sind angespannt, der Blutdruck          tet.« Im Kopf von Patienten mit Höhenangst gibt es zum
steigt, und häufig fangen wir an zu schwitzen. Angst ist          Beispiel die Verknüpfung »Höhe bedeutet Gefahr«, und

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Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
uni
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                                                                                                                        Interesse
                                                                                                                         Pause

                       Nervenkitzel statt Höhenangst: Manche Fotografen suchen in schwindelerregenden Höhen nach einzigartigen Motiven.

Therapie am Computer                                                Immersion statt Perfektion
Die virtuelle Therapie soll einen Mittelweg der beiden              Der Erfolg der virtuellen Therapie, so Friedemann, hängt
anderen Verfahren darstellen. Anstelle der Vorstellung              natürlich davon ab, wie gut sich der Patient in die Situation
oder Realität tritt die virtuelle Welt. »Ein Vorteil ist die        hineinversetzen kann. »Wenn sich der Patient die ganze
geringere Hemmschwelle für die Patienten.« So könne                 Zeit nur vorstellt: Ich sitze hier an einen Computer, und
ein Angstpatient, der sich noch nicht traut, auf die Haus-          das ist alles nicht real, und hier ist überhaupt keine Spinne
manns-Türme auf dem Markt zu steigen, erst mal am                   – dann wird das nicht funktionieren.« Wenn der Patient
Computer üben und sich langsam an die Realität heran-               sich auf die Situation einlässt, wird er auch in der virtuellen
tasten. Dafür gibt es bereits ein fertiges virtuelles Szena-        Welt Angstsymptome erleben. Dafür muss die Grafik nicht
rio. Die Simulation beginnt vor dem Hochhaus, damit                 einmal perfekt sein. Es kommt viel mehr auf die spezifi-
der Patient sich selbst dafür entscheiden muss, hinaufzu-           schen Reize an, die die Angst auslösen: »Wenn in einem
gehen. Das Gebäude hat einen Fahrstuhl mit durchsichti-             spannenden Film mit aufregender Musik der Mörder um
gem Boden. Je höher man fährt, desto tiefer wird der Blick          die Ecke kommt, zuckt jeder zusammen. Und der Mör-
nach unten. Auf zwei Etagen kann der Patient dann aus-              der ist auch nicht real. Aber trotzdem passiert da was.«
steigen und sich der Höhe stellen. Die erste Etage ist unge-        Außerdem ist es häufig schwierig oder teuer, immer nur
fähr in der Mitte des Gebäudes. Die zweite Etage führt aufs         real zu üben: Für Patienten mit Flugangst könnten meh-
Dach. Hier kann man nicht nur frei herumlaufen und tief             rere In-vivo-Sitzungen ziemlich kostspielig werden. Ein
nach unten schauen, sondern auch in einen Bereich gehen,            weiterer Vorteil der virtuellen Therapie ist, dass man the-
der nicht durch ein Geländer beschränkt ist – herunter-             oretisch so viele Szenarien entwickeln kann, wie man will.
fallen kann man aber nicht. Auf dem Dach liegen aber                Und das Szenario ist besser kontrollierbar als das Üben in
einige Gegenstände, die man vom Haus herunterwerfen                 der Realität. Dadurch erhoffen sich die Therapeuten, dass
kann. Außerdem gibt es noch ein kleines Treppenelement,             mehr Patienten schneller und besser wieder ins normale
mit dem man noch höher gehen kann. Um die Wirkung                   Leben zurückkommen. Wichtig seien am Ende aber natür-
noch zu verstärken, bekommt der Patient eine Datenbrille            lich der Schritt in die Wirklichkeit und das weiterführende
aufgesetzt, mit der das Bild direkt vor die Augen proji-            selbständige Üben auch nach Abschluss der Therapie.
ziert wird. Die Brille reagiert dann auf die Kopfbewegun-
gen des Patienten, er kann sich also wirklich in der Welt                                                     Text: Tom Leonhardt
»umschauen«. Durch realistische Töne soll der Eindruck                                                   Fotos: Maria Preußmann
zusätzlich verstärkt werden.                                                                      epSos.de (via Creative Commons)

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Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
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               Illustration: Susanne Wohlfahrt
Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Interesse                                                                                                                                                                                                                                         Interesse

       Dem Hirn beim Wachsen zuschauen                                                                                                               Das Gedächtnis als Fotoalbum
       In Jena untersuchen Neurowissenschaftler die Struktur des Gehirns.                                                            Einmal klicken und die Erinnerung ist festgehalten. So funktioniert das beim
       Christian Gaser ist einer von ihnen und sprach mit hastuzeit darüber,                                                         Fotografieren. Inzwischen sogar digital, mit nahezu unbegrenztem Speicher
                        was beim Lernen im Kopf passiert.                                                                                     – und was die Technik kann, kann der Mensch doch auch.
                                                                   wegen hat man lange Zeit nach Alternativen gesucht, um            Als Dr. Sven Blankenberger in seiner Vorlesung zur Allge-          shevsky, eine lange sinnlose mathematische Zeichenkette
                                                                   auch am Menschen nicht-invasiv messen zu können. Eine             meinen Psychologie I nach dem fotografischen Gedächt-              auswendig zu lernen. Dieser brauchte dafür nur wenige
                                                                   Technik, die das Ganze revolutioniert hat, ist die Magnetre-      nis gefragt wurde, war seine Antwort eindeutig. »Mum-              Minuten, und auch nach 15 Jahren noch konnte er die Zei-
                                                                   sonanztomographie, die auch im klinischen Alltag zum Ein-         pitz« nannte er das Phänomen und zweifelte die Existenz            chenkette fehlerfrei wiedergeben.
                                                                   satz kommt. Sie erlaubt es unter anderem, Funktionen des          stark an. Zwar gebe es enorme Gedächtnisleistungen, aber               Zu jeder Zahl und jedem Zeichen sah Shereshevsky ein
                                                                   Gehirns zu untersuchen, indem der veränderte Sauerstoff-          kein Mensch könne seine Umgebung tatsächlich abfoto-               Bild. Ein Wurzelzeichen wurde die Wurzel eines Baumes,
                                                                   gehalt, die Blutoxygenierung, gemessen wird. Damit lassen         grafieren, sagte er noch, und damit war das Thema dann             ein Minuszeichen eine Gehhilfe, die auf etwas zeigte. Er
                                                                   sich Bereiche im Gehirn nachweisen, die bei Lernprozes-           auch beendet.                                                      stellte die Bilder in einer Straße auf, die er »abgehen«
                                                                   sen aktiv sind. Außerdem kann man mit der Magnetreso-                 Dennoch gibt es Gegenbeispiele, wie den russischen             konnte. Was uns als relativ umständlich erscheint, kostete
                                                                   nanztomographie die Hirnstruktur, also die Anatomie des           Journalisten und Gedächtniskünstler Solomon Sheres-                Shereshevsky überhaupt keine Mühe und nahm nur wenig
                                                                   Gehirns, untersuchen. Damit kann man zum Beispiel nach-           hevsky. Sein Chefredakteur entdeckte als erster dessen un-         Zeit in Anspruch. Zudem war der Gedächtniskünstler Syn-
                                                                   weisen, welche Hirnregionen durch das Lernen an Größe             gewöhnliche Gedächtnisleistung. In der morgendlichen               ästhetiker, er sah zu jedem Ton eine Art Farbschleier.
                                                                   gewinnen.                                                         Redaktionsbesprechung nannte er seinen Mitarbeitern                Diese Eindrücke konnten seine Erinnerungsleistungen
                                                                   Mein Kopf hat aber nur ein gewisses Volumen … Wächst das          eine lange Liste von Namen, Adressen und Aufträgen. Als            noch verbessern.
                                                                   Gehirn wirklich?                                                  er bemerkte, dass Shereshevsky sich überhaupt keine No-                Die Entdeckung von Shereshevskys fantastischer Ge-
                                                                       Das Gehirn lässt sich mit einem Muskel vergleichen: Es        tizen machte, forderte er ihn auf, alle Instruktionen zu wie-      dächtnisleistung fand in den 20er Jahren statt, und perfekt
                                                                   lässt sich genauso trainieren und reagiert auch so. Häufig        derholen. Die Überraschung war groß, als der Journalist            war sie auch nicht. So konnte er sich beispielsweise
                                                                   verwendete Verbindungen werden gestärkt, und dadurch                                                                                 schlecht Gesichter oder Stimmen einprägen. Außerdem
 Was verstehen Sie unter Lernen?                                   kommt es zu einer Vergrößerung in bestimmten Regio-                                                                                  fotografierte er die Formeln oder Gedichte, die er lernen
    Lernen ist der Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten             nen. Was man nicht vergessen darf: Es geht nicht um gro-                                                                             sollte, ja nicht ab, sondern stellte sie sich stattdessen bild-
und Fertigkeiten. Das können geistige Fähigkeiten sein,            ße Prozesse, sondern um wenige Millimeter, die das Gehirn                                                                            lich vor.
aber auch körperliche und soziale. Lernen hat auch immer           wächst. Diese Veränderungen sind sehr gering, aber trotz-                                                                                Wenn sich Gedächtnisleistungen beobachten lassen,
etwas damit zu tun, dass man Spuren hinterlässt. Das pas-          dem schon innerhalb weniger Stunden nachweisbar.                                                                                     die einem fotografischen Gedächtnis nahekommen, dann
siert auch im Gehirn: Lernen als Prozess bildet und ver-           Was passiert bei diesen Veränderungen genau?                                                                                         meist bei Kindern oder Autisten. Wissenschaftler spre-
stärkt neuronale Verknüpfungen, die Synapsen. Wir als                  Das Wichtigste beim Lernen ist, dass die Synapsen ge-                                                                            chen dann lieber von einem eidetischen Gedächtnis. Dip-
Neurowissenschaftler interessieren uns insbesondere für            stärkt werden. Man kann sich das wie einen Trampelpfad                                                                               lom-Psychologe Andreas Melzer, Dozent für Allgemeine
die neuronale Plastizität. Das ist die Fähigkeit des Gehirns,      vorstellen. Häufig begangene Wege werden besser ausge-                                                                               Psychologie an der MLU, berichtet von einer Möglichkeit,
durch Erfahrungen und die Umwelt beeinflusst zu werden,            baut und lassen sich leichter benutzen. Andere, die im Prin-                                                                         ein tatsächlich fotografisches Gedächtnis zu beweisen:
das heißt zu lernen. Eine ganz wesentliche Regel, die beim         zip nie benutzt werden, verkümmern und sind damit schwe-                                                                             Nacheinander werden zwei Punktmuster gezeigt, die über-
Lernen immer wieder auftritt, ist die sogenannte Hebbsche          rer benutzbar. Und genau das passiert im Gehirn, das heißt                                                                            einandergelegt ein Wort ergeben. Schafft man es, die
Lernregel. Je häufiger ein Neuron gleichzeitig mit anderen         auf Neuronenebene oder auf Ebene der Synapsen, die auch                                                                                 Punktmuster mental übereinanderzulegen und das Wort
Neuronen aktiv ist, desto besser werden die beiden Neu-            dazu führen können, dass ganze Hirnareale größer werden.                                                                                zu erkennen, dann kann man sich zu einem fotografi-
ronen aufeinander reagieren. Hebb hat das im Englischen            Wovon hängt die Leistungsfähigkeit eines Gehirns ab?                           genau dies tat. Aber auch                              schen Gedächtnis gratulieren lassen. Allerdings kann ein
ganz schön ausgedrückt: »Cells that fire together, wire                Die Leistungsfähigkeit hängt interessanterweise nicht                   Shereshevsky war sehr erstaunt –                         großes Erinnerungsvermögen auch negative Seiten mit
together.«                                                         von der Größe des Gehirns oder der Neuronenanzahl ab.                 über die Verwunderung der anderen. Er hatte                    sich bringen. Shereshevskys Erinnerungen belasteten ihn
Der Lernprozess hinterlässt im Gehirn Spuren. Wie kann man das     Viel wichtiger für die Leistungsfähigkeit des Gehirns sind        angenommen, sein Gedächtnis sei wie jedes andere auch.             nach einigen Jahren so sehr, dass er sich beibringen
nachweisen?                                                        die Synapsen. Hier kommt es aber auch nicht auf die Anzahl        So aber ließ er es von dem Neuropsychologen Alexander              musste, wieder zu vergessen. Das mag kurios klingen, aber
    Man kann den Prozess auf verschiedenen Ebenen be-              an. Zum Beispiel haben Säuglinge einen regelrechten Sy-           Lurija untersuchen. Dieser überprüfte ihn in vielen Sit-           wer will schon 15 Jahre lang eine sinnlose Zeichenkette mit
obachten. Auf Zellebene untersucht man die Aktivität von           napsenüberschuss, der im Laufe des Lebens eben durch              zungen und stellte eine überdurchschnittlich gute Ge-              sich rumschleppen?
Nervenzellen, indem man sogenannte Zellableitungen                 Lernen abgebaut wird. Das Wichtige ist die Art der Verbin-        dächtnisleistung fest. Der Psychologe begleitete Shere-
misst. Dazu wird eine Elektrode ins Gehirn eingeführt und          dungen, also wie das Hirn vernetzt, verschaltet ist.              shevsky 30 Jahre lang und schrieb die Ergebnisse seiner
die elektrische Aktivität der Zelle gemessen. Das ist invasiv                                         Interview: Tom Leonhardt       Untersuchungen in dem Aufsatz »Kleines Porträt eines                                                     Text: Ronja Schlemme
und deshalb zumeist auf Tierexperimente beschränkt. Des-                                                              Foto: privat   großen Gedächtnisses« nieder. Einmal bat er Shere-                                             Illustration: Susanne Wohlfahrt

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Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Interesse                                                                                                                                                                                                                            Interesse

                             Wer rastet, der rostet
Wir können nicht aufhören zu lernen, aber wir können anders lernen. Einen
                Versuch startet das Lehr-Lern-Zentrum.

Eingeschult mit sechs, lernen bis zum Schulabschluss und      rung, viele möchten aber auch soziale Kontakte pflegen«,        aller Institute und Fakultäten bereitstellen soll. Das Pro-
dann noch studieren. Aber dann, dann ist es mit dem Ler-      so Organisatorin Dr. Gisela Heinzelmann. Professor Lukas        jekt wurde bereits vom Bund bewilligt und ist für die kom-
nen wirklich vorbei. Nie wieder nicht enden wollende          bestätigt, dass die Teilnehmer des Seniorenkollegs zu sei-      menden fünf Jahre mit 6,5 Millionen Euro ausgestattet.
Nächte in der Bibliothek verbringen. Nie wieder der Nur-      nen aktivsten Mithörern gehören. »Die Senioren haben            Gegliedert in drei Bereiche wird die Serviceabteilung den
Noch-Eine-Stunde-Kaffee. Endlich arbeiten, endlich fer-       viel mehr Lebenserfahrung, sie gehören zu den besonders         größten Part ausmachen. Fünf Arbeitsgruppen kümmern
tig sein, wenn man nach Hause kommt. Die Couch ruft,          anspruchsvollen Studierenden meiner Vorlesung.«                 sich um je ein Fachgebiet und unterstützen die Lehrenden
Bier statt Kaffee. Lange Zeit wurde Lernen nur als Prozess                                                                    in allen Fakultäten bei der Umsetzung neuer Programme.
für Kinder ab einem bestimmten Alter verstanden, doch         Wie wollen wir leben?                                           Sie zeigen den Dozenten, wie E-Learning möglich ist,
dieser weitet sich aus. Dies geschieht sowohl nach vorn,      Es ist also kaum möglich, nicht zu lernen. Ob automatisch,      zeichnen beispielsweise Vorlesungen auf und bereiten
was man in der Einrichtung vieler Vorschulen erkennen         für sich selbst oder für andere. Denn auch im Berufsleben       diese technisch auf. Daneben soll ein Forschungsbereich
kann, als auch nach hinten. Auch als Berufstätiger ist man    ist man ständigen Anpassungsmechanismen ausgesetzt.             einschließlich einer Professur für pädagogische Psycho-
auf Weiter- und Fortbildungen angewiesen. Seit 2007 för-      Weil sich Anforderungsprofile ändern und bestimmte              logie eingerichtet werden, die den Schwerpunkt multi-
dert das EU-Bildungsprogramm für lebenslanges Lernen          Qualifikationsmerkmale gebraucht werden, ist die Gesell-        mediale Hochschullehre haben wird. »So stellt sich etwa
ebendiesen Prozess und unterstützt mit einem Budget von       schaft darauf angewiesen, dass sich Menschen weiterquali-       die Frage, wie sich E-Learning auf den Lernprozess aus-
circa sieben Milliarden Euro zum Beispiel das Erasmus-        fizieren. Es ist gut, nicht stehen zu bleiben, aber man setzt   wirkt«, erklärt Lukas, der als Kommissionsmitglied an der
programm. »Dadurch wird der Lernprozess gesellschaft-         sich auch einem ständigen Wettbewerb aus. Auch Lukas            Ausarbeitung des Antrags beteiligt war. Den dritten Part
lich begleitet«, erklärt Psychologieprofessor Josef Lukas     sieht darin ein Problem, welches nur von der Gesellschaft       stellt der Evaluationsbereich bzw. das Qualitätsmanage-
und empfindet diese Entwicklung als sehr sinnvoll. Ler-       gelöst werden kann. »Das ist eine politisch-soziologi-          ment dar. Etwa 16 Mitarbeiter wird das virtuelle Zentrum
nen findet aber meistens automatisch statt. Denn was          sche Frage. Nämlich: Wie wollen wir leben?« Als Gesell-         umfassen. Lukas erklärt, dass bei der Antragstellung des
auch immer wir tun: Wir machen ständig Erfahrungen, die       schaft wollen wir einerseits einen gewissen Wohlstand hal-      Projektes eine Stärke-Schwächen-Analyse verlangt wurde.
unser Verhalten verändern und damit die Anpassung an          ten, andererseits aber auch einen persönlichen Ausgleich        »In diesem Zusammenhang haben wir Umfragen unter
die Umwelt verbessern. Dessen ist man sich im Allgemei-       finden. In der öffentlichen Diskussion herrscht eine hohe       den Studierenden ausgewertet, aus denen hervorging,
nen nicht bewusst. Die grundlegende Lernfähigkeit ändert      Sensibilität für diese Problematik. Glücksforscher sind der     dass viele Studenten die Bereitstellung von Online-Lern-
sich auch im Alter nicht. »Aber es gibt viele physiologi-     Meinung, dass der höchste Grad an Wohlbefinden dann             angeboten vermissen. Ebenso ließ sich erkennen, dass die-
sche Veränderungen. Die Flexibilität der                                                        eintritt, wenn die Leis-      jenigen, die ein solches Angebot bereits nutzen können,          Prof. Dr. Josef Lukas
Gehirnstrukturen nimmt allmählich ab,          »Ich glaube, die Deutschen sind ein tungsanforderungen am                      hochgradig zufrieden sind.« Es entbindet Studierende, zu
und viele mentale Prozesse werden lang-                                                         besten zu unseren Fähig-      einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort
samer«, erklärt Lukas. Dass es Kindern           glückliches Volk.« (Josef Lukas)               keiten passen, also die       sein zu müssen. »Die Studierendenschaft ist eine äußerst         la »Bildung für alle«. Jeder könnte online zeit- und kos-
leichter fällt, eine Sprache zu lernen,                                                         gestellte Aufgabe gerade      heterogene Gruppe geworden, dem muss man Rechnung                tengünstig studieren. »Ob die Inhalte über die Univer-
liegt vor allem an ihrem besseren Gehör. Sie können die       gut zu schaffen ist.                                            tragen.« Für ausländische Studierende ist zum Beispiel           sität hinaus kostenfrei zur Verfügung stehen sollen, wird
Unterschiede in den Sprachlauten besser als ein Erwach-                                                                       eine Vorlesung in deutscher Sprache häufig schwer ver-           von den Instituten und den Dozenten abhängen, die die
sener aufnehmen, der auch mit Anstrengung kaum noch           Auch die Uni lernt nicht aus                                    ständlich. Wer nebenbei arbeitet oder ein Kind betreut,          Lehrprogramme entwickeln. Das Lehr-Lern-Zentrum
akzentfrei eine Fremdsprache erlernen wird. Dass sich die     Seit vielen Jahren gibt es Initiativen und Projekte, neue       kann oft an einer Lehrveranstaltung nicht teilnehmen. In         soll nicht selbst akademische Lehre anbieten, sondern vor
Anstrengungen des Lernens auch im Alter lohnen, beweist       Medien und Kommunikationsformen in der universitären            solchen Fällen ist es hilfreich, wenn man eine Lehrveran-        allem deren Entwicklung fördern und unterstützen«, so
indes das Seniorenkolleg. In diesem Semester haben sich       Lehre an der MLU zu nutzen. Vor etwa einem Jahr wurde           staltung noch einmal nachvollziehen kann. Lukas glaubt,          Lukas. Dieser Wunsch ist vielleicht auch noch Zukunfts-
560 ältere Menschen für Kurse, Projekte und wissenschaft-     eine Rektoratskommission zum Thema »multimediales               dass diese neue Art des Lernens aber auch den Spaßfaktor         musik, denn erst einmal gilt es, das Zentrum einzurichten.
liche Vortragsreihen an der Uni Halle eingetragen. Die        Lernen« eingerichtet, die sich zum Ziel gesetzt hat, diese      erhöhen kann. »Die Studierenden gehen mit den neuen              Projektbeginn ist der 1. April dieses Jahres, im kommenden
Teilnehmer kommen aus den unterschiedlichsten Sozial-         Initiativen zu unterstützen und neue Medien in den »ver-        Medien viel lockerer um als etwa mit Büchern, die nicht so       Jahr könne man die Angebote weitflächig nutzen.
und Bildungsschichten. »Vor allem Menschen, die von           staubten« Universitätsbetrieb großflächig einzuführen.          lustbetont wie audiovisuelles Material sind.« Die Aufbe-
vornherein sehr aktiv und wissbegierig sind, suchen in den    Ergebnis dieser Bemühungen ist ein Lehr-Lern-Zentrum,           reitung der Lerninhalte bietet aber auch die Chance, eine                                              Text: Yvette Hennig
Angeboten des Seniorenkollegs eine geistige Herausforde-      das Technik und Know-how für E-Learning-Angebote                größere Gruppe an Lernwilligen ansprechen zu können à                                               Foto: Maria Weickardt

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Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Uni                                                                                                                                                                                                                                     Uni
         Interesse                                                                                                                                                                                                                               Interesse
          Pause                                                                                                                                                                                                                                   Pause

           Königsdisziplinen des Studierens                                                                                                              »Warum können wir uns an die kleinste Einzelheit eines
      Vor jedem Semesterende ist es dasselbe Spiel: Es wird viel gelernt,
     kurz geprüft und dann schnell wieder vergessen. Das Gedächtnis läuft                                                                             Erlebnisses erinnern, aber nicht daran, wie oft wir es ein und
             auf Hochtouren, aber wie funktioniert es eigentlich?                                                                                        derselben Person erzählt haben?« (Prince de Marcillac)

Beim Lernen unterscheidet man zwischen assoziativem             dreas Melzer, Dozent für Allgemeine Psycho-                                      der University of Washington in Se-           vermutlich dadurch, dass eine Erinnerung überschrieben
und nicht-assoziativem Lernen. Unter das assoziative Ler-       logie an der MLU.                                                                    attle, führte dazu einige Experi-         wird. Diese Überschreibungen oder Interferenzen können
nen fallen instrumentelle und klassische Konditionierung.                                                                                                mente durch. Sie zeigte zum           sowohl retroaktiv als auch proaktiv sein. Ein Beispiel für
Das bekannteste Beispiel für die klassische Konditionie-        Erinnern                                                                                 Beispiel Probanden Fotos, in          proaktive Interferenz begegnet uns beim Vokabellernen.
rung ist Pavlovs Hund, der bei dem Klingeln einer Glocke        Obwohl Wissenschaftler von                                                               denen sie sich als Kinder in ei-      Je mehr Listen wir schon auswendig gelernt haben, desto
schon anfing zu sabbern. Doch die klassische Konditionie-       einem unendlichen Speicher-                                                            nem Heißluftballon sahen. Die           geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns an die
rung funktioniert nicht nur bei Tieren. In einem Experi-        platz im Langzeitgedächtnis                                                           meisten Probanden konnten                neue Liste korrekt erinnern. Die retroaktive Interferenz
ment von Rachman und Hodgson von 1968 wurden sieben             ausgehen, fällt es uns manch-                                                          sich daraufhin an eine aufre-           funktioniert genau andersherum, hier überschreiben neue
Männern Dias von nackten Frauen vorgeführt (unkondi-            mal schwer, Erinnerungen                                                                gende Ballonfahrt erinnern,            Lerninhalte alte Erinnerungen.
tionierter Reiz) und vor jedem der Nacktbilder wurde            abzurufen. »Man kann sich                                                                obwohl sie in die Bilder ledig-           Doch nicht alle Menschen vergessen. Die Amerikane-
ihnen ein Bild von schwarzen Stiefeln gezeigt (zunächst         das so vorstellen: Die Infor-                                                             lich hineinmontiert worden           rin Jill Price schreibt in ihrem autobiografischen Buch The
neutraler Reiz). Die nackten Frauen riefen die unkondi-         mation ist hinter einer ver-                                                               waren und in Wirklichkeit           Woman Who Can‘t Forget darüber, wie es ist, wenn man
tionierte Reaktion einer Erektion hervor und nach eini-         schlossenen Tür, und es fehlt                                                              nie eine Ballonfahrt stattge-       nicht mehr vergisst. Sie kann sich seit ihrem elften Lebens-
gen Durchgängen Schuhe–Nacktbild–Erektion wurden                uns nur der richtige Schlüssel,                                                             funden hatte. Wenn die Erin-       jahr an jeden Tag detailliert erinnern. Das heißt, sie durch-
fünf der sieben Männer schon von dem Bild der Schuhe            um sie hervorzuholen.« so Mel-                                                             nerungen schwammig sind,            lebt in jedem Moment der Gegenwart ihre komplette Ver-
erregt. Die Assoziationen lassen sich auch wieder löschen:      zer. Diese Schlüssel werden auch                                                       erfindet das Gedächtnis De-             gangenheit. Sie kann sich an jeden Streit, an jeden Fehler
Indem der konditionierte Reiz immer wieder alleine auf-         Abruf-Cues genannt. Verschiedene                                                      tails. Dabei greift es auf Ge-           und jeden traurigen Moment erinnern. Ihre Erinnerungen
tritt, schwächt sich auch die konditionierte Reaktion ab,       Hinweise können Erinnerungen her-                                                          wohnheiten und Schemata             sind klar und deutlich und vor allem allgegenwärtig. Für
bis die Auftrittswahrscheinlichkeit für das konditionierte      vorrufen, so zum Beispiel Umgebungs-                                                        zurück, so dass die Erinne-        sie ist ihr überdurchschnittlich gutes Gedächtnis eine Last.
Verhalten gegen null geht. Das instrumentelle Konditio-         kontexte, Stimmungskontexte oder phy-                                                     rung echt scheint. Erinne-           Vergessen ist also nicht nur ein Fluch, sondern zu einem
nieren funktioniert ähnlich, nur wird hier die Wahrschein-      siologische Kontexte. So heißt es, dass                                                 rungen lassen sich leicht mani-        gewissen Grad wichtig. »Vergessen ist eine Arbeitserleich-
lichkeit für ein bestimmtes Verhalten durch Belohnung           unter dem Einfluss von Alkohol gelernte Fak-                                          pulieren, schon die Wortwahl             terung. Einerseits werden unschöne Dinge vergessen oder
oder Bestrafung verstärkt. Es gibt primäre und sekundäre        ten oder Verhaltensweisen auch unter dem-                                          kann sie beeinflussen. In einem an-         in ihrer Präsenz abgeschwächt, andererseits passiert so
Verstärker. Als primäre Verstärker wird das Stillen physio-     selben Einfluss am besten abgerufen werden                                      deren Experiment von Loftus zeigte             eine Vereinfachung. Es werden nur Kernpunkte gespei-
logischer Bedürfnisse bezeichnet, wie zum Beispiel Hun-         können. Das Lernen bei lauter Musik ist auch                                sie Probanden Videos von Autos und                 chert«, erklärt Melzer. Es werden Informationen gefiltert
ger und elementare Bedürfnisse nach Geborgenheit oder           deswegen ein Problem, weil das Gelernte in der                           fragte anschließend, wie schnell die Autos            oder unangenehme Erinnerungen verdrängt. Motiviertes
Zuneigung. Sekundäre Verstärker müssen erst erlernt wer-        Prüfungssituation in einem sehr stillen Raum abge-                    gefahren seien. Dabei benutzte sie in der Frage          Vergessen dagegen bezeichnet die unbewusste Verdrän-
den. So kann Geld nur als Belohnung empfunden wer-              rufen werden muss. Dieser Umstand wird als Enkodier-              verschiedene Formulierungen: Wie schnell waren               gung traumatischer Erfahrungen. »Bewusst kann man
den, wenn gelernt wurde, dass damit primäre Bedürfnisse         spezifität bezeichnet: Erinnerungen aus dem episodischen       die Autos, als sie zusammencrashten? Oder: Wie                  nicht verdrängen, denn wenn ich mich dafür entscheide,
gestillt werden können. Wir lernen aber nicht nur durch         Gedächtnis können dann am besten abgerufen wer-              schnell waren die Autos, als sie sich berührten? Die              an etwas nicht mehr zu denken, rufe ich es mir dabei auto-
Konditionierung, sondern auch nicht-assoziativ durch            den, wenn die Umstände des Abrufs denen des Erwerbs        Wortwahl wirkte sich stark auf die Einschätzung der Ge-             matisch in Erinnerung.« Wir können uns also nicht im-
implizites Lernen. Darunter versteht man die »unbeab-           ähneln. Erinnerungen können beim Speichern durch die       schwindigkeit aus. Erinnerungen können also durch Sug-              mer auf unser Gedächtnis verlassen. Manchmal lässt es
sichtigte Bildung eines Gedächtnisinhaltes. Wenn zum            Umgebung gestört werden. Hier kommt wieder die laute       gestivfragen manipuliert werden. Das kann drastische                sich manipulieren oder füllt Lücken mit falschen Erinne-
Beispiel häufig das gleiche Lied im Radio gehört wird, pas-     Musik zum Tragen. Die Musik kann die Speicherung der       Auswirkungen bei Zeugenbefragungen haben.                           rungen. Aber meistens leistet es gute Arbeit, auf die wir
siert dabei ein automatischer Übergang ins Gedächtnis,          neuen Lerninhalte stören, indem sie jene überschreibt                                                                          nicht nur in der Prüfungszeit angewiesen sind.
und plötzlich können wir das Lied mitsingen, ohne den           oder blockiert.                                            Vergessen
Text je gezielt auswendig gelernt zu haben,« erklärt An-            Außerdem gibt es verzerrte oder »erfundene« Erinne-    Vergessen wird unterteilt in zufälliges und motiviertes                                                  Text: Ronja Schlemme
                                                                rungen: Elizabeth Loftus, Professorin für Psychologie an   Vergessen. Zufälliges oder inzidentelles Vergessen passiert                                    Illustration: Susanne Wohlfahrt

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Die hallische Studierendenschaftszeitschrift - Nr. 40 Januar 2012 - Hastuzeit
Uni                                                                                                                                                                                                                                       Uni
         Interesse                                                                                                                                                                                                                                 Interesse
          Pause                                                                                                                                                                                                                                     Pause

      Literaturrecherche auf dem Laufband                                                                                                                     Zum Lernen gemacht
     Sportplatz oder Schreibtisch – dazwischen gab es früher eigentlich nichts.                                                           Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm,
                       Dies hat sich mittlerweile geändert.                                                                                gibt einen umfangreichen Einblick rund um das Thema Lernen.

                                                                                                                                 Lernen wird von den meisten als etwas Unangenehmes               gessen wird. Im Widerspruch dazu muss das Lernen aber
                                                                                                                                 empfunden. Fakten lernen für eine Klausur oder münd-             auch schnell erfolgen, damit sich der Organismus
                                                                 einer positiven Grundeinstellung lernt es sich also besser      liche Prüfung sowie das Zuhören und Mitschreiben in              schnellstmöglich an seine Umwelt anpassen kann, das
                                                                 und effektiver.                                                 Seminaren und Vorlesungen werden häufig als notwendige           heißt, lebensnotwendige Dinge erlernt, wie die Reaktion
                                                                     Verschiedene Sportarten trainieren unterschiedliche         Übel und Verringerung unserer Freizeit gesehen.                  auf lebensgefährliche Situationen. Spitzer verdeutlicht,
                                                                 Gehirnareale. »Mannschaftssportarten mit ihren spezifi-             Manfred Spitzer erklärt in seinem Buch »Lernen. Ge-          dass sich unser Gehirn an diese Situation anpasst: Je besser
                                                                 schen Taktiken beispielsweise schulen Problemlösefähig-         hirnforschung und die Schule des Lebens«, dass die Ein-          wir unsere Umwelt und die Vorgänge in ihr kennen, umso
                                                                 keiten«, erläutert Stoll. Das Verstehen dieser Taktiken er-     teilung in die unliebsame Zeit zum Lernen und die freie          langsamer lernen wir. Da wir im Kindesalter unsere Um-
                                                                 fordert ebenso wie das Verstehen wissenschaftlicher             Zeit hinfällig ist. Das menschliche Gehirn sei geradezu          welt noch nicht so gut kennen und kaum Erfahrungen in
                                                                 Theorien »analytisches Denken. Der Transfereffekt ist           zum Lernen gemacht und verarbeite zu jeder Zeit alle äu-         ihr gemacht haben, lernen wir sehr rasch. Wird unser Er-
                                                                 zwar fraglich, aber plausibel.«                                 ßeren Einflüsse, kurz: Unser Hirn lernt immer. Unter den         fahrungswert größer, lernen wir gemäß dem Anpassungs-
                                                                     Einen Sportler in der Wettkampfvorbereitung treibt          Begriff Lernen fasst Spitzer nicht nur das bewusste Aus-         prozess langsamer.
                                                                 sein Ziel an, eine bestimmte Platzierung zu erreichen. Ei-      wendiglernen von Sachverhalten, sondern auch die Ver-                Manfred Spitzer gelingt es, wissenschaftliche Erkennt-
                                                                 nen Prüfling treibt das Ziel an, eine bestimmte Note zu be-     wertung von Erfahrungen aus alltäglichen Situationen wie         nisse über das Lernen in einer sehr lesenswerten Art und
                                                                 kommen. »Motivation ist in jedem Fall ein ganz wichtiger        dem Besuch eines Einkaufszentrums oder des                       Weise aufzubereiten. Dabei hält das Buch trotz der Ein-
                                                                 Punkt«, so Stoll. Vor allem im Jugendalter seien Leis-          Fitnessstudios.                                                  fachheit der Sprache ein wissenschaftliches Niveau und
                                                                 tungssport und schulisches Lernen ohne Frage eine Dop-              Als zentrales Objekt, um etwas über das Lernen zu ler-       verzichtet außerdem auf Pseudo-Geheimrezepte zum Ler-
                                                                 pelbelastung, aber viele der Jugendlichen fänden dann ir-       nen, sieht Spitzer den Hippocampus, was übersetzt See-           nen. Es werden lediglich die Vorgänge deutlicher gemacht,
Wer ab und an ins Uni-Fitnessstudio geht, wird – vor allem       gendwann ein Thema oder Fachgebiet außerhalb des                pferdchen bedeutet. Mit Hilfe von Experimenten, zu de-           die während der Lernprozesse ablaufen.
jetzt, kurz vor und in der Prüfungsphase – auf den Cross-        Sports, das sie besonders interessiert. In diesem zeigten sie   nen es mehrere Abbildungen gibt, erklärt der Autor leicht                                              Text: Sabine Paschke
trainern und Laufbändern häufig Kommilitonen mit Lern-           dann auch besonders gute Leistungen. Als Beispiel hob           verständlich, was der Hippocampus ist und wofür er ge-
unterlagen antreffen. Jeder Mensch hat sein bevorzug-            Stoll die erfolgreiche Wasserspringerin Katja Dieckow           braucht wird. Er ist verantwortlich für das Lernen und Ver-
tes Lernumfeld. So können manche besonders gut beim              hervor, die im vergangenen Jahr ihr Studium an der MLU          ankern neuer Sachverhalte. Spitzer führt als Beispiel das
Sport lernen, andere direkt danach, wieder andere haben          als Diplom-Biologin abschloss. Zudem holte sie 2011 eine        Kennenlernen unbekannter Orte und das Zurechtfinden
in den Lern- und Prüfungsphasen überhaupt keine Zeit für         Bronzemedaille bei den Europameisterschaften. Im Januar         in diesen an.
Sport. Aber gibt es eine Verbindung zwischen Sport und           belegte sie bei den Deutschen Wintermeisterschaften den             Auf über 500 Seiten beschäftigt sich das Buch mit um-
Lernen?                                                          ersten Platz vom Einmeterbrett. Bei solchen Erfolgsge-          fangreichen Fragen zum Thema Lernen. Wie hängen
    In jedem Fall keine pauschal gültige. Welche Auswir-         schichten spielt neben dem durch Sport geförderten              Schlaf und Lernen miteinander zusammen? Welche Rolle
kungen Sport auf das Lernvermögen hat, ist bis heute             Durchhaltevermögen auch Motivation eine entschei-               spielen Emotionen beim Lernen? Was genau hat es mit der
nicht gänzlich geklärt. Eine weit verbreitete Theorie geht       dende Rolle: Wer im Sport die Erfahrung gemacht hat,            PISA-Studie auf sich? In seinen Ausführungen greift der
davon aus, dass Sport die Sauerstoffversorgung und damit         dass sich Training lohnt, wird auch eher bereit sein, Zeit in   Autor immer wieder auf vorangegangene Beispiele zurück,
Stoffwechselvorgänge im Gehirn sowie im gesamten Kör-            das Lernen und Verstehen von Theorien und Co zu                 um anhand ihrer weitere Sachverhalte zu erläutern. So ent-
per verbessert und das Gehirn so leistungsfähiger macht.         investieren.                                                    steht ein roter Faden im Buch, der das Lesen und Verste-
»Auch das ist bislang nur Spekulation«, so Prof. Dr. Oliver          Eine weitere wichtige Parallele zwischen dem Lernen         hen sehr einfach und dennoch interessant gestaltet. Spit-
Stoll, Leiter des Arbeitsbereichs Sportpsychologie, Sport-       theoretischer Sachverhalte und sportlichem Training sei         zer beschäftigt sich außerdem mit der abnehmenden
pädagogik und Sportsoziologie an der MLU. Belegt sei bis-        der Übungseffekt, betont Stoll. Sowohl im sportartspezifi-      Lerngeschwindigkeit im Alter. Er erklärt diese als Anpas-
lang nur, dass Sport, insbesondere Ausdauersport, das            schen Training als auch in der Vorbereitung auf mündliche       sungsprozess des Gehirns.
Selbstwertgefühl stärke und die Einstellung zum eigenen          oder schriftliche Prüfungen wird vor allem wiederholt:              Immer dann, wenn gelernt wird, nimmt die Stärke der
Körper verbessere. Diesen Effekt kann man sich besonders         Ein Sportler übt und wiederholt bestimmte Bewegungsab-          Verbindung zwischen Neuronen zu. Neurobiologisch be-
beim Aneignen koordinativer Fähigkeiten zunutze ma-              läufe, bis er sie aus dem Effeff beherrscht; ebenso wieder-     trachtet bedeutet das, dass sich die Stärke der synapti-
chen. Wer durch Sport mehr Vertrauen in seinen Körper            holt ein Prüfling den zu lernenden Stoff, bis er ihn verin-     schen Übertragung dabei verändert. Die Veränderung er-
hat, transportiert dieses Vertrauen auch in andere Situatio-     nerlicht hat.                                                   folgt dabei stets nur ein kleines Stück weit und sehr             Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die
nen. Zu diesen zählt auch die Vorbereitung auf Prüfungen,                                              Text: Caroline Bünning    langsam, da nur so sichergestellt werden kann, dass Altes         Schule des Lebens. 512 Seiten, Spektrum Akademischer
in denen theoretische Sachverhalte abgefragt werden. Mit                                       Illustration: Falko Gerlinghoff   beim Erlernen neuer Sachverhalte nicht gleich wieder ver-         Verlag, 20 Euro.

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