Das Obszöne im Roman 'Feuchtgebiete': Tabubruch oder Stilmittel? - von Sandra Schwab - Diplomica Verlag 2014

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Das Obszöne im Roman 'Feuchtgebiete': Tabubruch oder Stilmittel?
                                        von
                                   Sandra Schwab

                                       Erstauflage

                              Diplomica Verlag 2014

                              Verlag C.H. Beck im Internet:
                                      www.beck.de
                                ISBN 978 3 95850 790 6

      schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG
Leseprobe

Textprobe:

Kapitel: 3.7.1, Ist Helen eine glaubwürdige Erzählerin?
Die unwillkürliche Annahme vieler Leser (und auch Kritiker), dass Helen diese Dinge,
über die sich spricht, auch selbst gemacht hat, dass sie also die Wahrheit spricht, beruht auf dem
Kooperationsprinzip, d. h. wir unterstellen gewöhnlich unserem Kommunikationspartner, dass
seine Beiträge kooperativ gemeint sind und auf Verständigung zielen, besonders, wenn die
Äußerungen dem zunächst nicht entsprechen. Unser Gehirn schließt dann auf den dahinter
liegenden Sinn und interpretiert die Äußerung entsprechend.
Ausgehend von der Maxime der Qualität und der Relation kann man zusammenfassen, dass wir
davon ausgehen, dass die Aussagen wahr und relevant sind. Aus letzterem lässt sich auch das
Unbehagen der Leser erklären: Es ist Ihnen peinlich und sie empfinden es als böswillige
Unterstellung, dass solche Themen, wie Helen sie ungeniert anspricht, für sie relevant sein sollen.
Allerdings weiß jeder, der sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt, dass die Maxime der
Relevanz sich nicht unbedingt auf dem Zuhörer beziehen muss. Wir gehen davon aus, dass die
Informationen für uns (als Hörer bzw. Leser) relevant sind, aber das ist wohl nur in einer idealen
Kommunikation so, nicht jedoch im Alltag. Gerade Jugendliche bewerten ihre eigene Perspektive
oft höher als die des Gegenübers (wenn sie diese überhaupt beachten) und erzählen demnach
viele Dinge, die vor allem für sie selbst relevant sind aus den unterschiedlichsten Gründen, wie
zum Beispiel: Langeweile, das Gefühl, etwas sagen zu müssen, das Bedürfnis, etwas mitteilen zu
müssen, sich einfach ‚ausquatschen’, aber auch Freude am Schockieren, Neugierde bezüglich der
Rezeption oder das Erzeugen eines bestimmten Bildes von sich selbst.
Die Maxime der Qualität beinhaltet die Unterstellung, dass mein Gegenüber mir nicht wissentlich
etwas Falsches sagt. Dass das trotzdem der Fall sein kann, ist unbestritten, aber nur sehr
misstrauische Menschen gehen grundsätzlich davon aus, belogen zu werden. Und auch dies nicht
grundlos: Entweder wurden sie von anderen Gesprächspartnern schon angelogen und sie
misstrauen der Rede an sich oder das allgemeine Verhalten des Jetzigen Gegenübers erweckt
den Eindruck, dass dieser nicht die Wahrheit sagt. Dann ist zu untersuchen, ob Helen den
Eindruck vermittelt, nicht die Wahrheit zu sagen bzw. ob ihre Selbstaussagen wirklich der
Wahrheit entsprechen (bzw. welcher Wahrheit). Ist sie eine zuverlässige Erzählerin? Kann man ihr
und damit auch ihren Aussagen glauben? Und auch hier muss differenziert werden: Kann man all
ihren Aussagen trauen oder nur manchen? Und wenn man nicht allen Aussagen trauen kann,
welchen dann und welchen nicht und wie kann man die wahren von den erfundenen Geschichten
trennen?
Wie bereits erklärt, ergibt sich aus der Monopolstellung der Erzählerin die Konsequenz, dass nicht
alle Aussagen überprüft und nicht alle Handlungen referenzialisiert werden können. Das bedeutet
schlicht: Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob Helen die Wahrheit spricht. Und zusätzlich
ergibt sich, aus der objektiven Unwahrscheinlichkeit des Erzählten (Bsp.: Das Sterilisieren einer
18jährigen), ein berechtigtes Misstrauen der Erzählerin gegenüber. Es liegt der Verdacht nahe,
dass diese Erzählinstanz ein unreliable narrator sein könnte.
Dieses Konzept umfasst verschiedene Erzählertypen, von welchen besonders der ‚mad
monologist’ einige Charakteristika aufweist, die denen der Erzählerin Helen sehr ähnlich sind. So
kann zum Beispiel die ‘Semantisierung des Raums’ Hinweise auf die Perspektive des ‚mad
monologist’ geben: der Roman Feuchtgebiete spielt in einem Krankenhaus und Helen verlängert
die Zeit im Krankenhaus absichtlich und verhindert erfolgreich eine Entlassung nach Hause. Auch
die ‘häufig zu beobachtende geringe Spannung zwischen dem erzählenden ‚Ich’ und seinem als
Figur an der Handlung teilhabenden früheren ‚Selbst’’ ist bei Helen spürbar. Sie zeigt fast keine
Entwicklung oder Distanzierung zu früheren Einstellungen auf. In den seltenen Fällen, dass sie
eine solche erzählt (Bsp.: ‘Früher habe ich mich gar nicht rasiert.’ [S. 47] zu ‘Ich rasiere mich
schnell […] überall
drüber, und reiß mir alles mit der Klinge auf.’ [S. 57f.]), ist der Grund für diese unter- schiedliche
Einstellung Teil der Geschichte bzw. der Handlung (In diesem Beispiel die Rasur durch Kanell
[vgl. S. 49-58]. So kann man sagen, dass in Feuchtgebiete nicht die beiden unterschiedlichen
Zustände thematisiert werden, sondern die Handlung, die von einem Zustand zum anderen führte.
Eine Gemeinsamkeit der Erzähltypen ist die ‘Häufung von interner Fokalisierung bei der
Schilderung zurückliegender Ereignisse, durch die die Erzähler versuchen, ihre Gefühle so
wiederzugeben, wie sie diese erlebt haben’. Helen benutzt diese Technik, um ihre heutigen
Gefühle zu beschreiben und zu authentifizieren:

' Dieses luftige Gefühl hintenrum kenne ich aus meinem wiederkehrenden Kindheitsalptraum.
Grundschule. Ich stehe an der Haltestelle und warte auf den Schulbus. So, wie ich wirklich oft
vergessen hab, die Schlafanzughose auszuziehen, bevor ich die Jeans anziehe, hab ich an
diesem Tag vergessen, unter meinem Rock eine Unterhose anzuziehen. Als Kind merkt man so
was zu Hause nicht, in der Öffentlichkeit will man lieber sterben, als entdeckt zu werden, mit
nacktem Arsch unterm Rock' (S. 29).
Hier wird klar, dass die Ängste aus der Grundschulzeit bis zum Zeitpunkt der Handlung nicht
überwunden sind. Durch den Verweis: ‘dieses luftige Gefühl hintenrum kenne ich’ (S. 29) wird die
sich zeitlich in einigem Abstand befindende externe Analepse inhaltlich angebunden an die
Basiserzählung. Diesen ‘Typ von Retrospektionen, die elliptisch enden, ohne die Basiserzählung
wieder zu erreichen’ nennt Genette ‘partielle Analepsen’. Sie dient der einzelnen
Informationsbeschaffung und macht die auslösende Situation der Basiserzählung verständlich.
Wenn solche Anachronien ohne Auslöser scheinbar sinnlos erzählt werden, kann das also
Hinweis auf einen ‚mad monologist’ sein. Dies ist bei der Erzählerin Helen jedoch nicht der Fall:
Durch die inhaltlichen Zusammenhänge der jeweiligen Analepse mit der Basiserzählung zeichnet
sie ihre Gedanken mitsamt deren Sprüngen und Erinnerungen nach. Diese Sprünge sind immer
logisch nachvollziehbar und somit ein Anzeichen gegen einen denkbaren verrückten Erzähler. Die
auffälligste Übereinstimmung der Romanfigur der Helen mit den Ausführungen Gaby Allrathsist
die starke Ich-Fixierung der Monologisten, was ja bereits der kategoriale Terminus nahe legt: ‘Ihre
Sicht der Wirklichkeit steht im Zentrum ihrer Rede, ihr Monolog umkreis nur ihre eigenen
Erfahrungen und Ansichten, durch deren Darstellungen sie ihr Verhalten zu rechtfertigen suchen.’
So wird die Einsamkeit und Abkapselung des Erzählers betont, so dass diese Erzähler in ‘ihren
Beziehungen zur Außenwelt und in ihrer Kommunikationsfähigkeit mit ihren Mitmenschen[…] als
gestört’ erscheinen. Das Monologisieren an sich kann nach Allrath als
‘Verfremdungsprinzip’angesehen werden. Sie zieht daraus den Schluss, dass durch dieses ‘die
stark subjektive Färbung der Darstellung und die gestörte Kommunikation des Erzählers mit seiner
Umwelt betont wird’. Eine solche Deutung bleibt vage, wenn nicht geklärt wird, inwiefern und in
welchem Ausmaß die Kommunikation gestört ist. Helen kommuniziert sowohl mit dem
Krankenhauspersonal, als auch mit ihrer Familie; Von einer Störung der Kommunikation kann man
nur im Bezug auf ihre Kindheitserlebnisse sprechen, da diese und ihre Gefühle diesbezüglich
auffallenderweise in der Kommunikation mit ihren Eltern nicht nur innerhalb der beschriebenen
Zeitspanne nicht thematisiert werden, sondern auch erkennbar ist, dass sie gar nicht thematisiert
werden.
Dass auch die Erzählerin der Feuchtgebiete eine Monologistin ist, wird nicht bestritten (immerhin
macht ihre Redezeit im Roman mehr als 90 Prozent aus), aber vor dem Hintergrund der
Erfahrungen dieser Figur wäre es sich zu leicht gemacht, die Erzählerin als ‚mad monologist’
einzustufen, auch wenn einige Charakteristika der Erzählerrede dafür sprächen: Textuelle Signale
für das Vorhandensein eines solchen Erzählers mögen erkennbar sein, dennoch liegt im Sprechen
der Erzählerin kein Anzeichen für eine Verrücktheit in Sinne von Realitätsverkennung und
Fehleinschätzungen der Zusammenhänge innerhalb der Realität, sondern vielmehr eine
Freudsche Fehlleistung, ein Überspitzen der Darstellung, das an Ironie erinnert. Freilich keine
zynische, bissige Ironie eines mondänen, weltgewandten Vamps, sondern diesen mimetisch
vorgeschoben, eine fordernde, schreiende Ironie, die nach Aufklärung verlangt. Helens
Argumentationen zeigen eine für ihr angegebenes Alter unübliche Akzentuierung, sind aber in sich
logisch verkettet. Daher ist sie als grundsätzlich glaubwürdige Erzählerin einzustufen, die bei der
Vermittlung ihrer Botschaft nicht immer wahrheitsgemäße (im formallogischen Sinn) Aussagen
macht, sondern rhetorische Stilmittel und psychologisch-kommunikative Sprechakte anwendet.
Manfred Jahn hat diesen Erzähltypus als ‘unverlässlich’ oder ‘unzuverlässig’ bezeichnet, dessen
‘Diskurs entgegen seinem Anspruch in Darstellung und Urteilfähigkeit Defizite aufweist und daher
nicht als glaubwürdig oder maßgeblich gelten kann’ und unter diesen mittels eines
‘sozialkognitiven’ Ansatzes eine breite Palette unverlässlicher Figuren aufgebaut, so auch ‘Lügner,
Heuchler, Angeber, Aufschneider, Täuscher, Getäuschte, Träumer, Naive, Engstirnige,
Besessene Unverbesserliche, Irre, Irrende, Verwirrte, Ignoranten, Blender, Blinde, verblendete,
Neurotiker etc.’. Unter diesen sehr weiten Unzuverlässigkeitbegriff fiele auch Helen. Allerdings
schreibt Jahn den Erzählern Unzuverlässigkeit als generelle Eigenschaft zu und missachte
demnach die Möglichkeit, dass eine narrative Person grundsätzlich glaubwürdig konfiguriert sein
kann und trotzdem situativ unvollständig oder gar unglaubhaft berichtet. Gerade dann muss die
Analyse durch einen sozialkognitiven und situativen Ansatz erfolgen. Gabriel spricht in diesem
Zusammenhang von der ‘emotiven Theorie der Literatur’, welche grundsätzlich gar keinen
Wahrheitsanspruch hat, sondern die Funktion, ‘Gefühle und Einstellungen zu vermitteln’, entweder
durch ‘Ursachen’ oder durch ‘Bedeutungen’, die dann vom Rezipienten interpretiert werden
müssen. Über diese teilweise unrealistisch anmutende Erzählung (im Engeren Sinne Genettes)
muss nun die zu erzählende Geschichte erschlossen werden. Jedoch muss man sich von
vornherein darüber im Klaren sein, dass diese Aufgabe nicht endgültig abgeschlossen werden
kann. Ähnlich dem Historiker, der weiß, dass er nie herausfinden wird, was wirklich geschah,
sondern immer nur eingrenzen kann, was höchstwahrscheinlich geschehen sein könnte, können
wir aus den Äußerungen Helens und der Art, uns diese mitzuteilen, darauf schließen, was
wahrscheinlich geschehen sein könnte und wie sie es empfunden haben könnte. Die
Unmöglichkeit des Erreichens des Ziels darf uns aber nicht davon abhalten, zumindest den
Versuch zu machen und zu sehen, wie weit man auf Basis der Interpretation der Erzählung
kommen kann.
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