Das Rahmenabkommen ist gescheitert - Er- nüchterung für EU-Schweiz-Beziehungen - Konrad ...
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Mai 2021 Multilateraler Dialog Genf Das Rahmenabkommen ist gescheitert – Er- nüchterung für EU-Schweiz-Beziehungen Einseitiger Abbruch nach sieben Jahren Verhandlung – Schweizer Bundesrat bekennt sich zur Fortsetzung des bilateralen Wegs, stellt aber keinen Plan B vor Olaf Wientzek, Katarzyna Gorgol-Mäder Es hatte sich in den Tagen zuvor schon abgezeich- Um den aktuellen Stand der Beziehungen zwi- net: Am 26. Mai gab der Schweizer Bundesrat end- schen der EU und der Schweiz zu verstehen, muss gültig bekannt, dass er das mit der EU ausgehan- man bis ins Jahr 1992 zurückgehen. Damals lehnte delte Abkommen, das sogenannte Institutionelle die Schweizer Bevölkerung die Möglichkeit eines Rahmenabkommen (InstA), nicht unterzeichnen Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum wird. Begründet wird dies mit den "substanziellen (EWR) ab - dem Abkommen, das Norwegen, Island Unterschieden" zwischen der EU und der Schweiz. und Lichtenstein an den EU-Binnenmarkt bindet. Die Entscheidung beendet eine lange Zeit der Un- In der Folge handelte die Schweiz mit der EU sekt- gewissheit über das Abkommen, das darauf ab- orale Abkommen ("Bilaterale Verträge") aus, die zielte, den rechtlichen Rahmen zwischen der EU und der Schweiz, der sich derzeit auf 120 sektorale sich heute auf über 120 Abkommen in verschiede- Abkommen stützt, zu modernisieren. Einen Alter- nen Bereichen von der Personenfreizügigkeit über nativplan präsentierte der Bundesrat hingegen Steuern bis hin zur Landwirtschaft oder Statistik nicht. Damit werden die Beziehungen beider Sei- belaufen. Das bedeutet, dass die Schweiz keinen ten weiter auf den bestehenden Verträgen basie- vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt hat, sondern ren, die allerdings nicht mehr aktualisiert werden. nur in den Bereichen, die von den bilateralen Ab- kommen abgedeckt werden. So decken die bilate- ralen Abkommen beispielsweise keine Finanz- Hintergrund dienstleistungen oder das Gesundheitswesen ab. Außerdem gilt das 1972 abgeschlossene Freihan- Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der delsabkommen weiter. Schweiz und der EU sind sehr eng. So stammen 70% der Schweizer Importe aus der EU, gleichzei- Für zahlreiche Schweizer Unternehmen, aber auch tig gehen 52% der Schweizer Exporte in die EU1. für die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung, be- Politisch sind sich die EU und die Schweiz in wich- steht kein Zweifel: Die bilateralen Abkommen sind tigen globalen Fragen wie dem Klimawandel, den für die Schweiz von großem Nutzen. Laut einer Menschenrechten oder geopolitischen Problemen Studie des Verbands der Schweizer Unternehmen einig. Dennoch sind die Beziehungen zwischen Economiesuisse war 2016 das durchschnittliche den Partnern komplex und das Institutionelle Rah- Pro-Kopf-Einkommen in der Schweiz um 4.400 menabkommen (InstA) ist nicht der erste (geschei- Franken höher als in einem Szenario ohne bilate- terte) Versuch, einen Rahmen für die sehr enge rale Abkommen. Andere Studien untermauern Zusammenarbeit zu kreieren. diese Daten.2 1 2 https://www.eda.admin.ch/missions/mission-eu-brus- Factsheet Bilateral agreements.pdf (econo- sels/en/home/key-issues/economy-finance.html miesuisse.ch)
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Mai 2021 2 2 Doch mit der Zeit wurde die Verwaltung neuer Ab- Gegenwind von Beginn an kommen immer komplexer. Die EU kann der Schweiz jedoch kein "sui generis"-Modell für den Das bilaterale Abkommen zwischen der EU und Zugang zum Binnenmarkt gewähren, das auf dem der Schweiz hatte von Anfang an einen schwieri- Herauspicken derjenigen Aspekte beruht, die für gen Stand. Während die Verhandlungen formell die Schweiz bequem sind. Aus diesem Grund be- 2018 abgeschlossen wurden, war das ganze Dos- gannen die Parteien im Jahr 2014 mit Diskussio- sier zunächst von den Parlamentswahlen 2019 nen über die Modernisierung der rechtlichen und dann von der Perspektive des von der SVP ini- Grundlagen der bilateralen Zusammenarbeit. tiierten (und letztlich klar gescheiterten) Volksent- scheids zur Abschaffung der Personenfreizügig- keit überschattet. Heute, mehr als drei Jahre nach Institutionelles Rahmenabkommen dem Ende der Verhandlungen zum InstA, ist die Kommunikation auf beiden Seiten sehr unter- Das InstA, das zwischen 2014 und 2018 verhandelt schiedlich, was die gegenseitige Verständigung im- wurde, war ein Versuch, einen solchen modernen mer wieder erschwert. Rahmen zu schaffen. Das Abkommen sollte fünf Hinzu kam eine Reihe von aus Schweizer Perspek- Sektoren umfassen: den freien Personenverkehr tive inhaltlich sensiblen Punkten: Das Prinzip der (einschließlich des Niederlassungsrechts und der "dynamischen Übernahme von EU-Recht" und die Entsendung von Arbeitnehmern), Industriegüter Rolle des EU-Gerichtshofs wurden in der Schweiz (Beseitigung technischer Handelshemmnisse), ei- vielfach mit Skepsis betrachtet3. Die europaskep- nige landwirtschaftliche Güter sowie den Land- tisch-nationalkonservative SVP (Schweizerische und Luftverkehr. Volkspartei), die hinter verschiedenen Initiativen Der sektorale Ansatz sollte es der Schweiz ermög- zur Begrenzung der legalen Zuwanderung in die lichen, ihre Autonomie in sensiblen Bereichen wie Schweiz steht, und andere skeptische Interessen- Energie oder Finanzdienstleistungen zu behalten, vertreter befeuerten die traditionelle Angst vor während die im InstA verankerte Flexibilität es den "fremden Richtern", die den Schweizern diktieren, Parteien ermöglichen würde, den Geltungsbereich was sie zu tun und zu lassen haben. Die Frage der des Abkommens in Zukunft auf neue Bereiche Rolle des EuGH und die Wirkungen auf die direkte auszuweiten. Demokratie in der Schweiz beschäftigte jedoch auch moderate Politiker und war vor allem für Ein sogenannter Gemischter Ausschuss würde ge- viele Christdemokraten der Partei "Die Mitte" ein schaffen, um die Umsetzung relevanter EU-Rege- Hauptgrund für ihre grundsätzlichen Bedenken lungen in der Schweiz zu gewährleisten, nach dem gegenüber dem Vertrag. Prinzip der "dynamischen Übernahme des EU- Rechts". Das Konzept zielt darauf ab, den Schwei- Dies sind nicht die einzigen Probleme mit dem zer Zugang zum EU-Binnenmarkt zukunftssicher Rahmenabkommen. Die Schweizer Gewerkschaf- zu machen und die Entstehung neuer Handels- ten verlangen, den im Schweizer Recht bestehen- hemmnisse zu vermeiden. Außerdem sah der den Lohnschutz vor den Risiken des "Sozialdum- Streitbeilegungsmechanismus ein von beiden Sei- pings" aus dem Ausland erhalten. Ein in den Me- ten besetztes Schiedsgericht sowie eine verbindli- dien oft zitiertes Beispiel ist die Anforderung, dass che Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der ausländische Unternehmen eine achttägige Kün- Auslegung von EU-Recht vor. digungsfrist einhalten müssen, bevor sie Arbeit- nehmer in die Schweiz entsenden können, wäh- rend die Schweizer Behörden die Einhaltung von Mindestlöhnen und Arbeitsbedingungen überwa- chen4. Nach Beschwerden europäischer Unter- nehmen forderte die Europäische Kommission eine kürzere Kündigungsfrist von vier Tagen und 3 4 https://www.foraus.ch/posts/the-swiss-eu-institu- Notification obligation when posting workers from tional-agreement-an-eea-light-2-2/ EU/EFTA countries to Switzerland - VISCHER
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Mai 2021 3 3 ist nicht bereit, der Schweiz zusätzliche Flexibilität ropa. In der Schweiz erregen die Beziehungen zwi- einzuräumen. schen der EU und der Schweiz viel mehr öffentli- che Aufmerksamkeit, als in der EU. Das bilaterale Die Unionsbürgerrichtline ist ein weiteres Streit- Abkommen wird unter politischen Parteien, Ge- thema: Viele Schweizer fürchten eine Einwande- werkschaften, Unternehmen und der Bevölkerung rung in das Schweizer Sozialsystem. Mithin for- breit diskutiert. Es überrascht nicht, dass neben derte die Schweiz eine Ausnahmeklausel, wonach pragmatischen Argumenten nicht selten auch sie nicht zur Übernahme der Richtline verpflichtet emotionalere Fragen eine wichtige Rolle im öffent- sei. Das lehnte die EU ab. Der bisherige (aber für lichen Diskurs spielen. Entsprechend drang die Ar- die Schweiz nicht ausreichende) Kompromiss: der gumentation, die Auswirkungen bei den Fragen Vertragstext erwähnt die Unionsbürgerrichtlinie der Unionsbürgerrichtlinie und des Lohnschutzes erst gar nicht. wären in der Praxis sehr überschaubar, kaum durch. Schließlich sind staatliche Beihilfen ein Bereich, in dem die Interessen der EU und der Schweiz aufei- nanderprallen. Staatliche Beihilferegeln, die in der Wachsende Skepsis und Zerreden des EU eine selektive Begünstigung von Unternehmen Vertragstexts durch die öffentliche Hand verbieten, gibt es in der Schweiz nicht. Die Schweiz hat zwar Regeln für Bereits seit einigen Monaten waren verstärkte Ab- Subventionen, aber das Regime ist anders, als in setzbewegungen vom Rahmenabkommen zu ver- der EU. In der Vergangenheit hat die Kommission merken: Die Bedenken im Bereich des Lohnschut- vorteilhafte Körperschaftssteuervorschriften eini- zes führten letztlich zur Ablehnung durch die Ge- ger Kantone mit dem Argument in Frage gestellt, werkschaften, was wiederum die Sozialisten (oder dass sie eine illegale staatliche Beihilfe darstellen zumindest große Teile) ins Lager der Skeptiker könnten. Die bestehenden Abkommen zwischen wechseln ließ. der EU und der Schweiz bieten jedoch keine Doch auch in den moderaten bürgerlichen Par- Rechtsgrundlage, um solche Fragen zu behan- teien wuchsen Bedenken und Zweifel: Bei den deln5. Das institutionelle Abkommen würde dies Christdemokraten der Partei "Die Mitte" überwo- durch ein horizontales Prinzip ändern, welches gen vor allem die Bedenken mit Blick auf die Rolle das EU-Modell der Beihilfenkontrolle erweitern des EuGH und die Auswirkungen auf die direkte würde. Demokratie in der Schweiz. Insgesamt reichte die Nach dem Ende der Verhandlungen forderte die Spannbreite in der "Mitte" von starken Skeptikern Schweiz Nachbesserungen in diesen Bereichen. des Vertragswerks bis zu Befürwortern einer Fort- Zwar zeigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula führung der Verhandlungen mit der Kommission. von der Leyen sich offen für Klarstellungen in den Auch in der bürgerlich-liberalen FDP, die lange zu Fragen der staatlichen Beihilfen, der Unionsbür- den entschiedenen Verfechtern des Abkommens gerrichtlinie und des Lohnschutzes, doch ist aus gehörte und deren Bundesrat Ignazio Cassis für Sicht der Kommission das bestehende Abkommen die Verhandlungen verantwortlich war, meldeten eigentlich zu Ende verhandelt. Substantielle Nach- sich zunehmend zweifelnde Stimmen, sodass verhandlungen lehnte sie entsprechend ab. letztlich nur noch die kleinste der sechs größeren Parteien der Schweiz, die Grünliberalen, eindeutig Das gegenseitige Verständnis wurde nicht zuletzt hinter dem Vertragswerk standen. auch durch eine Aufmerksamkeits-Asymmetrie für das Abkommen erschwert: Auf der EU-Seite Doch auch Wirtschaft und Zivilgesellschaft ergrif- wird das Dossier ausschließlich von der Europäi- fen zunehmend Partei: Mit der Initiative Kompass schen Kommission bearbeitet, ohne gesteigerte Europa brachten sich vor allem Unternehmer, Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit in Eu- aber auch Vertreter aus Kultur und Landwirtschaft 5 mit Ausnahme des bilateralen Verkehrsabkommens, das Vorschriften über staatliche Beihilfen enthält
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Mai 2021 4 4 gegen das Abkommen in Stellung. Nicht unter- päische Kommission, während Parmelin nach sei- schätzt werden sollte die Auswirkung der (verzerr- ner Rückkehr von fundamentalen Differenzen ten) Wahrnehmung der Brexit-Verhandlungen: sprach. Die Gegner des Vertrags argumentierten, Boris Bemerkenswert: trotz der fehlenden politischen Johnsons "Erfolg" zeige, dass sich eine unnachgie- Unterstützung durch den Bundesrat genoss das bige Haltung gegenüber Brüssel auszahle. Rahmenabkommen in einer Umfrage des Instituts gfs. Bern im Mai eine Zustimmung von 64% (wobei Demgegenüber formierten sich die Befürworter 49% der Befragten eher dafür waren, nur 15% be- des Abkommens Ende Februar zum Bündnis Pro- stimmt dafür) gegenüber 32% Ablehnung.6 gresuisse, darunter zahlreiche Persönlichkeiten Frühere Umfragen hatten ein weniger eindeutiges aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik: Beson- Bild gezeichnet. Die Erfahrung zeigte zwar, dass ders bemerkenswert war die Unterstützung dieser Umfragen vor dem wirklichen Beginn einer Ab- Initiative durch die beiden vormaligen CVP-Bun- stimmungskampagne nur bedingt aussagekräftig desräte Doris Leuthard und Joseph Deiss. Auch waren, doch weisen diese Werte darauf hin, dass der Wirtschaftsverband Economiesuisse gehörte – anders als von vielen Skeptikern kolportiert – das stets zu den Befürwortern des Vertragswerks. Abkommen bei einer Volksabstimmung ange- sichts des meist pragmatischen europapolitischen Abstimmungsverhaltens des Schweizer Stimm- Ausbleibender Durchbruch beim Gipfel- volks durchaus nicht chancenlos gewesen wäre. treffen und einseitiger Abbruch Dennoch verlor das Abkommen auch im Bundes- Seit Ende 2020 begann der Bundesrat, seine Posi- rat zunehmend an Rückhalt: Hieß es zunächst tion zu definieren und setzte auf recht harte For- noch, es stehe zwischen Unterstützern und Skep- derungen bei den staatlichen Beihilfen, dem Lohn- tikern 3:47, stand am Ende nur noch die Christde- schutz und der Unionsbürgerrichtlinie, während mokratin Viola Amherd für die Fortführung der man die Frage der Rolle des EuGH zu akzeptieren Verhandlungen ein. Ein von ihr vorgestellter Kom- schien. Die von der Schweizer Chefunterhändlerin promissvorschlag wurde jedoch von ihren Bun- Livia Leu geführten Gespräche führten zu keinem desratskollegen abgelehnt. Kurios: Letztlich rückte Durchbruch. Entsprechend reiste Bundespräsi- selbst Ignazio Cassis vom Abkommen ab, welches dent Guy Parmelin (SVP) – und nicht der inhaltlich sein eigenes Department verhandelt hatte und für zuständige Bundesrat Ignazio Cassis – am 23. Ap- welches er sich zu Beginn noch recht deutlich ein- ril nach Brüssel zu einem Gipfeltreffen mit EU- gesetzt hat. Gleichzeitig hatten sich die Außenpo- Kommissionspräsidentin von der Leyen. Doch litische Kommission des Nationalrats und auch die auch hier blieb der Durchbruch aus, die Brüsseler Kantone aber für eine Fortsetzung der Gespräche Seite nahm die Haltung der Schweiz als sehr hart ausgesprochen. und die Forderungen als ausgesprochen weitrei- chend und kategorisch war. In der Brüsseler Am 28. Mai verkündet der Bundesrat dennoch – in Wahrnehmung zog sich der Bundesrat sogar hin- recht brüskem Ton – das Ende der Verhandlun- ter die 2019 formulierte Positionen zurück. Man gen. Einen Alternativplan zur Sicherung des bilate- wolle aber weiterverhandeln, so versicherte die ralen Wegs präsentierte er jedoch nicht, sondern EU-Kommission. In den kommenden Tagen ver- forderte die EU lediglich auf, in einen "politischen härten sich die Fronten weiter: Die EU-Mitglied- Dialog" zu treten. Als Geste des politischen Willens staaten stellten sich geschlossen hinter die Euro- sicherte der Bundesrat zu, sich im Parlament für die Freigabe der ausstehenden Zahlung der so ge- nannten "Kohäsionsmilliarde" einzusetzen8. Diese war seit 2019 im Nationalrat blockiert worden. 6 https://www.gfsbern.ch/wp-content/uplo- Ueli Maurer, Simonetta Sommaruga (SP), Karin Keller- ads/2021/05/standort-schweiz_europafragen_kurzbe- Sutter (FDP) 8 richt.pdf Die Kohäsionsmilliarde ist ein Betrag welchen die 7 Schweiz den neuen EU-Mitgliedsländern für konkrete Viola Amherd (Die Mitte), Alain Berset (SP) und Ignazio Cassis (FDP) versus SVP-Bundesräte Guy Parmelin und
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Mai 2021 5 5 Konsequenzen des Scheiterns Bisher war die erste Reaktion der EU-Kommission auf die Schweizer Abbruchsankündigung diploma- Das Scheitern des Rahmenabkommens führt nun tisch. Der Schweizer Ansatz, das aktuelle Modell nicht unmittelbar zu einer großen Krise zwischen der 120 sektoralen Abkommen mit einigen Aktua- der Schweiz und der EU. Allerdings droht nun lisierungen hier und da fortzusetzen, wird jedoch mangels dynamischer Rechtsübernahme ein lang- auf lange Sicht nicht funktionieren: Die EU kann sames Auseinanderdriften beider Rechtsräume. der Schweiz kein "sui generis"-Modell für den Zu- Die EU-Kommission hatte mehrfach deutlich ge- gang zum Binnenmarkt gewähren, das auf dem macht, dass sie der Schweiz ohne ein Rahmenab- Herauspicken derjenigen Aspekte beruht, die für kommen keinen zusätzlichen Zugang zum Binnen- die Schweiz bequem sind. markt gewähren wird. Die bestehenden bilatera- Was die berühmte "Kohäsionsmilliarde" betrifft, len Verträge blieben in Kraft, würden nun aber mit der die Schweiz zur EU-Kohäsionspolitik bei- nicht mehr aktualisiert. Sie bieten mithin nur ein trägt, so ist es durchaus eine wichtige lobenswerte trügerisches Gefühl der Sicherheit. Die Konse- Geste, dass der Bundesrat das Schweizer Parla- quenzen eines fehlenden neuen vertraglichen ment auffordert, die Mittel freizugeben. Aller- Rahmens wurden bereits in den letzten Monaten dings entspräche diese Summe ohnehin in etwa spürbar: Seit 2018 wurden keine größeren Koope- dem bilaterale Warenhandel zwischen der rationsprojekte mehr auf den Weg gebracht. Die Schweiz und der EU pro Arbeitstag"10. Schweizer Börse verlor 2019 den Äquivalenzsta- tus. Während sich die praktischen Folgen der Zu den Verlierern des Abbruchs gehören die Nichtverlängerung der Börsenäquivalenz in Gren- Grenzregionen beider Seiten, die auf engste Weise zen zu halten scheinen, hat dieser Schritt auf politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich mitei- Schweizer Seite dennoch für Unmut gesorgt, auch nander verflochten sind und das schleichende bei gemäßigten Stimmen. Auseinanderdriften beider Rechtsräume beson- Außerdem riskiert die Schweiz, bestehende Vor- ders stark spüren dürften. teile, wie den Zugang zu EU-Forschungsprogram- men und Studentenaustauschprogrammen, zu verlieren, wenngleich hier die Tür noch offen zu- Reaktionen in der Schweiz und in der EU stehen scheint, wenn sich die Schweiz konstruktiv zeigt. Der Export von Medizinprodukten in die EU Die Europäische Kommission nahm den einseitig könnte schwieriger werden, da das im Mai auslau- von der Schweiz erklärten Abbruch der Gespräche fende Abkommen über die gegenseitige Anerken- mit Bedauern auf und kündigte an, die Folgen nung von Standards bei Medizinprodukten (MRA) "sorgfältig analysieren" zu wollen. Ähnlich zurück- nun wohl nicht verlängert wird. Angesichts der ak- haltend äußerten sich Vertreter verschiedener tuellen Pandemie-Situation könnte eine Unterbre- Mitgliedstaaten. Deutlicher wurde Andreas chung des Handels mit Medizinprodukten weitrei- Schwab (CDU), Vorsitzender der Schweiz-Delega- chende Folgen für beide Seiten haben. Ein von der tion im Europaparlament und binnenmarktpoliti- Schweiz angestrebtes Abkommen im Gesund- scher Sprecher der EVP-Fraktion: Die Entschei- heitsbereich rückt nun in weite Ferne. Auch bei dung des Schweizer Bundesrates habe beträchtli- den 2007 begonnenen Verhandlungen zu einem chen Flurschaden angerichtet. Man habe mehr als Stromabkommen, das für die energiepolitische sieben Jahre Verhandlungen sinnlos vergeudet. Souveränität der Schweiz wichtig wäre, sind nun Solange das Vorurteil bedient werde, die EU ar- keine weiteren Fortschritte zu erwarten.9 beite gegen die Interessen der Schweiz, werde es schwierig, die künftige Zusammenarbeit zu orga- 10 Projekte und Programme zukommen lässt. Es handelt https://www.eda.admin.ch/missions/mission-eu-brus- sich hierbei nicht um einen Beitrag zum EU-Haushalt sels/en/home/key-issues/economy-finance.html 9 https://www.avenir-suisse.ch/verlust-an-energiepoliti- scher-souveraenitaet/
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Mai 2021 6 6 nisieren. Auch Felix Schreiner (CDU, Baden-Würt- Kommentar & Ausblick temberg), Vorsitzender der Deutsch-Schweizeri- schen Parlamentariergruppe des Deutschen Bun- Der Verhandlungsabbruch nach sieben Jahren destages, äußerte Bedauern über den Abbruch11. wirft Fragen auf und ist von außen betrachtet auf den ersten Blick nur schwer verständlich. Der Ab- Besonders erfreut zeigte sich auf Schweizer Seite bruch der Gespräche löst keines der bestehenden naturgemäß die SVP. Ihr Präsident Marco Chiesa Probleme. Die Bedingungen für einen weitgehen- frohlockte, dass der Abbruch des Rahmenabkom- den Zugang zum Binnenmarkt der EU werden sich mens ein Sieg für die Selbstbestimmung und die auch für künftige Verhandlungen nicht verändern. direkte Demokratie der Schweiz sei. Zufrieden äu- Für den Bundesrat ist der Abbruch nach sieben ßerte sich der der zum Teil der SVP-nahestehende Jahren kein Ruhmesblatt, nicht wenige Beobachter Gewerbeverband sowie der eng mit den Sozialis- bemängeln die fehlende politische Führung einer ten verbundene Schweizerische Gewerkschafts- ihrer Ansicht nach stark von Parteilogik getriebe- bund. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass ei- nen Bundesräte. Nicht nur die Sozialisten nehmen nige Kommentatoren in den Landesmedien sich dabei vor allem den zuständigen Bundesrat Ig- hinter die Entscheidung des Bundesrats stellten, nazio Cassis ins Visier; zu einem gewissen Grad teilweise argumentierten, man hätte die Verhand- mag das allerdings auch eine Strategie sein, um lungen bereits 2018 abbrechen sollen12. Der Par- den zweiten Bundesratssitz der FDP ins Wackeln teipräsident von "Die Mitte", Gerhard Pfister, rief zu bringen. Sollte die FDP bei den kommenden dazu auf, Eskalationen zu vermeiden und Alterna- Nationalratswahlen ihr Ergebnis nicht verbessern, tiven zu entwickeln, wie das gute bilaterale Ver- könnte daher der Druck größer werden, diesen hältnis zwischen der EU und der Schweiz weiter- Sitz den Grünen oder den Grünliberalen zukom- entwickelt werden könne. Auch die FDP fordert men zu lassen. Doch auch die Sozialisten haben nun vom Bundesrat eine klare Ansage. Gleichzei- sich in diesem Dossier nicht durch politischen Wa- tig drückte sie Bedauern über den Abbruch aus gemut hervorgetan. (obwohl insbesondere die FDP-Bundesrätin Kel- ler-Sutter genau diesen unterstützt hatte). Die Spätestens wenn auch einzelne Wirtschaftsbran- Grünen übten ebenfalls klare Kritik. Am deutlichs- chen die negativen Folgen zu spüren bekommen, ten wurden die Grünliberalen, die von einem "his- wird der Bundesrat allerdings wohl Druck verspü- torischen Fehlentscheid" sprachen. Bedauern ren, der schleichenden Verschlechterung des Bin- kam auch von Seiten der FDP-nahen EconomieSu- nenmarktzugangs entgegenzuwirken. Das be- isse. Die SP merkte an, die eigentlich beste Option schwichtigende Bekenntnis wichtiger politischer sei ein EU-Beitritt der Schweiz. wie wirtschaftlicher Kräfte zu den bilateralen Ver- trägen ist löblich und sollte nicht als politische Irritiert bis verärgert zeigten sich Schweizer Befür- Floskel abgetan werden. Doch ändert es nichts da- worter einer Fortsetzung der Gespräche auch, weil ran, dass der bilaterale Weg basierend auf sekt- sich nach der Entscheidung des Bundesrats so- oralen Abkommen auf Dauer zu einer Sackgasse wohl das Parlament als auch das Volk der Möglich- wird. Der Bundesrat muss nun recht dringlich eine keit beraubt sehen, sich zum Rahmenabkommen Alternativlösung vorstellen, wenn sich der Scha- zu äußern: Patrick Dümmler, Forschungsleiter den für die Schweizer Wirtschaft in Grenzen halten beim liberalen Think Tank Avenir Suisse merkte soll. Die von einigen vorgebrachte Lösung, die an, man stimme über Kühe mit Hörnern13 ab, aber Schweiz werde einseitig in wichtigen Bereichen nicht über die wichtigste wirtschaftliche und poli- Regeln an EU-Recht anpassen, ist nicht mehr als tische Frage der letzten zehn Jahre. ein Notbehelf. Angesichts der erheblichen Diver- genzen innerhalb des Bundesrats zur Europafrage 11 12 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nach-dem- https://www.srf.ch/news/schweiz/klares-signal-an- aus-der-gespraeche-mit-der-eu-die-schweiz-kann-sich- die-eu-mit-druck-erreicht-man-nichts?ns_source=mo- nicht-dauerhaft-isolieren.f1e4ae3d-c6eb-461d-b760- bile&srg_sm_medium=tw 13 9292d5ed9eff.html?reduced=true Spielt auf die so genannte Hornkuh-Initiative vom 25.11.2018 an.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Mai 2021 7 7 ist aber fraglich, ob es zeitnah gelingen kann, eine Die Irritation auf europäischer Ebene über den Ab- solche Vision zu formulieren. bruch ist vollkommen verständlich. Man war in vielen Fragen der Schweiz recht weit entgegenge- Grundsätzlich bedarf es im Bundesrat und im kommen und war auch jetzt zu weiteren Gesprä- Grunde in der Schweiz einer fundamentalen De- chen (wenn auch in einem eng abgesteckten Feld batte über das Verhältnis zur EU: Wie Beobachter und nicht zur Rolle des EuGH) bereit. Der Ent- feststellen, steht das Verhältnis zur EU in einem scheid des Bundesrats dürfte mithin im beidseiti- Spannungsverhältnis von wirtschaftlichem Prag- gen Verhältnis Spuren hinterlassen. Gleichwohl matismus und politischer Skepsis gegenüber jeder hat auch die EU politisch wie wirtschaftlich nach Form von Souveränitätsübertragung. Ohne ein er- wie vor ein erhebliches Interesse an einer engen neuertes Souveränitätsverständnis wird dieses Zusammenarbeit: die Schweiz ist nach wie vor der Spannungsverhältnis nicht aufzulösen sein. viertwichtigste Handelspartner in der EU und auf internationaler Ebene ein zentraler Verbündeter. Wenn man keinen neuen Anlauf mit einem inhalt- Es wäre mithin ratsam, mit dem Ergreifen weiter- lich sehr ähnlichen Abkommen möchte, hätte die gehender Maßnahmen (Ausschluss aus dem EU- Schweiz die folgenden Möglichkeiten: Beitritt zum Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe) EWR oder gar zur EU (was beides derzeit unrealis- zurückhaltend umzugehen. Demonstrative Nadel- tisch ist) - oder aber eine Art besseres Freihandels- stiche haben in der Schweiz meist eine kontrapro- abkommen, das eine deutlich schwächere Anbin- duktive Wirkung. Sollte es in Zukunft einen neuen dung an den Binnenmarkt in Kauf nimmt. Die von Anlauf für ein Nachfolgeabkommen geben, sollte einigen mit einem gewissen Trotz vorgebrachte man die Emotionalität der Frage der Wirkung auf Position, dann werde man sich eben stärker Rich- das direktdemokratische System der Schweiz tung anderer Märkte in Asien orientieren, wirkt nicht unterschätzen. wenig überzeugend: Die Schweiz – von EU-Län- dern umgeben und einer der größten Profiteure des Binnenmarkts – wird weiter eng mit der EU und ihren Mitgliedstaaten verflochten bleiben. Isolation ist keine attraktive Option. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Dr. Olaf Wientzek Leiter Multilateraler Dialog Genf Europäische und Internationale Zusammenarbeit www.kas.de olaf.wientzek@kas.de Der Text dieses Werkes ist lizenziert unter den Bedingungen von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international”, CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecom mons.org/licenses/ by-sa/4.0/legalcode.de) www.kas.de
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