Das Rahmenabkommen ist gescheitert - Er- nüchterung für EU-Schweiz-Beziehungen - Konrad ...

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Das Rahmenabkommen ist gescheitert - Er- nüchterung für EU-Schweiz-Beziehungen - Konrad ...
Mai 2021

Multilateraler Dialog Genf

Das Rahmenabkommen ist gescheitert – Er-
nüchterung für EU-Schweiz-Beziehungen

Einseitiger Abbruch nach sieben Jahren Verhandlung – Schweizer Bundesrat bekennt
sich zur Fortsetzung des bilateralen Wegs, stellt aber keinen Plan B vor

Olaf Wientzek, Katarzyna Gorgol-Mäder
Es hatte sich in den Tagen zuvor schon abgezeich-     Um den aktuellen Stand der Beziehungen zwi-
net: Am 26. Mai gab der Schweizer Bundesrat end-      schen der EU und der Schweiz zu verstehen, muss
gültig bekannt, dass er das mit der EU ausgehan-      man bis ins Jahr 1992 zurückgehen. Damals lehnte
delte Abkommen, das sogenannte Institutionelle        die Schweizer Bevölkerung die Möglichkeit eines
Rahmenabkommen (InstA), nicht unterzeichnen           Beitritts   zum   Europäischen      Wirtschaftsraum
wird. Begründet wird dies mit den "substanziellen
                                                      (EWR) ab - dem Abkommen, das Norwegen, Island
Unterschieden" zwischen der EU und der Schweiz.
                                                      und Lichtenstein an den EU-Binnenmarkt bindet.
Die Entscheidung beendet eine lange Zeit der Un-
                                                      In der Folge handelte die Schweiz mit der EU sekt-
gewissheit über das Abkommen, das darauf ab-
                                                      orale Abkommen ("Bilaterale Verträge") aus, die
zielte, den rechtlichen Rahmen zwischen der EU
und der Schweiz, der sich derzeit auf 120 sektorale   sich heute auf über 120 Abkommen in verschiede-
Abkommen stützt, zu modernisieren. Einen Alter-       nen Bereichen von der Personenfreizügigkeit über
nativplan präsentierte der Bundesrat hingegen         Steuern bis hin zur Landwirtschaft oder Statistik
nicht. Damit werden die Beziehungen beider Sei-       belaufen. Das bedeutet, dass die Schweiz keinen
ten weiter auf den bestehenden Verträgen basie-       vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt hat, sondern
ren, die allerdings nicht mehr aktualisiert werden.   nur in den Bereichen, die von den bilateralen Ab-
                                                      kommen abgedeckt werden. So decken die bilate-
                                                      ralen Abkommen beispielsweise keine Finanz-
Hintergrund                                           dienstleistungen oder das Gesundheitswesen ab.
                                                      Außerdem gilt das 1972 abgeschlossene Freihan-
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der
                                                      delsabkommen weiter.
Schweiz und der EU sind sehr eng. So stammen
70% der Schweizer Importe aus der EU, gleichzei-      Für zahlreiche Schweizer Unternehmen, aber auch
tig gehen 52% der Schweizer Exporte in die EU1.       für die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung, be-
Politisch sind sich die EU und die Schweiz in wich-   steht kein Zweifel: Die bilateralen Abkommen sind
tigen globalen Fragen wie dem Klimawandel, den        für die Schweiz von großem Nutzen. Laut einer
Menschenrechten oder geopolitischen Problemen         Studie des Verbands der Schweizer Unternehmen
einig. Dennoch sind die Beziehungen zwischen          Economiesuisse war 2016 das durchschnittliche
den Partnern komplex und das Institutionelle Rah-     Pro-Kopf-Einkommen in der Schweiz um 4.400
menabkommen (InstA) ist nicht der erste (geschei-     Franken höher als in einem Szenario ohne bilate-
terte) Versuch, einen Rahmen für die sehr enge        rale Abkommen. Andere Studien untermauern
Zusammenarbeit zu kreieren.                           diese Daten.2

1                                                     2
 https://www.eda.admin.ch/missions/mission-eu-brus-    Factsheet Bilateral agreements.pdf (econo-
sels/en/home/key-issues/economy-finance.html          miesuisse.ch)
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                     Mai 2021     2
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Doch mit der Zeit wurde die Verwaltung neuer Ab-      Gegenwind von Beginn an
kommen immer komplexer. Die EU kann der
Schweiz jedoch kein "sui generis"-Modell für den      Das bilaterale Abkommen zwischen der EU und
Zugang zum Binnenmarkt gewähren, das auf dem          der Schweiz hatte von Anfang an einen schwieri-
Herauspicken derjenigen Aspekte beruht, die für       gen Stand. Während die Verhandlungen formell
die Schweiz bequem sind. Aus diesem Grund be-         2018 abgeschlossen wurden, war das ganze Dos-
gannen die Parteien im Jahr 2014 mit Diskussio-       sier zunächst von den Parlamentswahlen 2019
nen über die Modernisierung der rechtlichen           und dann von der Perspektive des von der SVP ini-
Grundlagen der bilateralen Zusammenarbeit.            tiierten (und letztlich klar gescheiterten) Volksent-
                                                      scheids zur Abschaffung der Personenfreizügig-
                                                      keit überschattet. Heute, mehr als drei Jahre nach
Institutionelles Rahmenabkommen                       dem Ende der Verhandlungen zum InstA, ist die
                                                      Kommunikation auf beiden Seiten sehr unter-
Das InstA, das zwischen 2014 und 2018 verhandelt      schiedlich, was die gegenseitige Verständigung im-
wurde, war ein Versuch, einen solchen modernen        mer wieder erschwert.
Rahmen zu schaffen. Das Abkommen sollte fünf          Hinzu kam eine Reihe von aus Schweizer Perspek-
Sektoren umfassen: den freien Personenverkehr         tive inhaltlich sensiblen Punkten: Das Prinzip der
(einschließlich des Niederlassungsrechts und der      "dynamischen Übernahme von EU-Recht" und die
Entsendung von Arbeitnehmern), Industriegüter         Rolle des EU-Gerichtshofs wurden in der Schweiz
(Beseitigung technischer Handelshemmnisse), ei-       vielfach mit Skepsis betrachtet3. Die europaskep-
nige landwirtschaftliche Güter sowie den Land-        tisch-nationalkonservative SVP (Schweizerische
und Luftverkehr.                                      Volkspartei), die hinter verschiedenen Initiativen
Der sektorale Ansatz sollte es der Schweiz ermög-     zur Begrenzung der legalen Zuwanderung in die
lichen, ihre Autonomie in sensiblen Bereichen wie     Schweiz steht, und andere skeptische Interessen-
Energie oder Finanzdienstleistungen zu behalten,      vertreter befeuerten die traditionelle Angst vor
während die im InstA verankerte Flexibilität es den   "fremden Richtern", die den Schweizern diktieren,
Parteien ermöglichen würde, den Geltungsbereich       was sie zu tun und zu lassen haben. Die Frage der
des Abkommens in Zukunft auf neue Bereiche            Rolle des EuGH und die Wirkungen auf die direkte
auszuweiten.                                          Demokratie in der Schweiz beschäftigte jedoch
                                                      auch moderate Politiker und war vor allem für
Ein sogenannter Gemischter Ausschuss würde ge-
                                                      viele Christdemokraten der Partei "Die Mitte" ein
schaffen, um die Umsetzung relevanter EU-Rege-
                                                      Hauptgrund für ihre grundsätzlichen Bedenken
lungen in der Schweiz zu gewährleisten, nach dem
                                                      gegenüber dem Vertrag.
Prinzip der "dynamischen Übernahme des EU-
Rechts". Das Konzept zielt darauf ab, den Schwei-     Dies sind nicht die einzigen Probleme mit dem
zer Zugang zum EU-Binnenmarkt zukunftssicher          Rahmenabkommen. Die Schweizer Gewerkschaf-
zu machen und die Entstehung neuer Handels-           ten verlangen, den im Schweizer Recht bestehen-
hemmnisse zu vermeiden. Außerdem sah der              den Lohnschutz vor den Risiken des "Sozialdum-
Streitbeilegungsmechanismus ein von beiden Sei-       pings" aus dem Ausland erhalten. Ein in den Me-
ten besetztes Schiedsgericht sowie eine verbindli-    dien oft zitiertes Beispiel ist die Anforderung, dass
che Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der       ausländische Unternehmen eine achttägige Kün-
Auslegung von EU-Recht vor.                           digungsfrist einhalten müssen, bevor sie Arbeit-
                                                      nehmer in die Schweiz entsenden können, wäh-
                                                      rend die Schweizer Behörden die Einhaltung von
                                                      Mindestlöhnen und Arbeitsbedingungen überwa-
                                                      chen4. Nach Beschwerden europäischer Unter-
                                                      nehmen forderte die Europäische Kommission
                                                      eine kürzere Kündigungsfrist von vier Tagen und

3                                                     4
  https://www.foraus.ch/posts/the-swiss-eu-institu-    Notification obligation when posting workers from
tional-agreement-an-eea-light-2-2/                    EU/EFTA countries to Switzerland - VISCHER
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                     Mai 2021    3
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ist nicht bereit, der Schweiz zusätzliche Flexibilität   ropa. In der Schweiz erregen die Beziehungen zwi-
einzuräumen.                                             schen der EU und der Schweiz viel mehr öffentli-
                                                         che Aufmerksamkeit, als in der EU. Das bilaterale
Die Unionsbürgerrichtline ist ein weiteres Streit-       Abkommen wird unter politischen Parteien, Ge-
thema: Viele Schweizer fürchten eine Einwande-           werkschaften, Unternehmen und der Bevölkerung
rung in das Schweizer Sozialsystem. Mithin for-          breit diskutiert. Es überrascht nicht, dass neben
derte die Schweiz eine Ausnahmeklausel, wonach           pragmatischen Argumenten nicht selten auch
sie nicht zur Übernahme der Richtline verpflichtet       emotionalere Fragen eine wichtige Rolle im öffent-
sei. Das lehnte die EU ab. Der bisherige (aber für       lichen Diskurs spielen. Entsprechend drang die Ar-
die Schweiz nicht ausreichende) Kompromiss: der          gumentation, die Auswirkungen bei den Fragen
Vertragstext erwähnt die Unionsbürgerrichtlinie          der Unionsbürgerrichtlinie und des Lohnschutzes
erst gar nicht.                                          wären in der Praxis sehr überschaubar, kaum
                                                         durch.
Schließlich sind staatliche Beihilfen ein Bereich, in
dem die Interessen der EU und der Schweiz aufei-
nanderprallen. Staatliche Beihilferegeln, die in der
                                                         Wachsende Skepsis und Zerreden des
EU eine selektive Begünstigung von Unternehmen
                                                         Vertragstexts
durch die öffentliche Hand verbieten, gibt es in der
Schweiz nicht. Die Schweiz hat zwar Regeln für
                                                         Bereits seit einigen Monaten waren verstärkte Ab-
Subventionen, aber das Regime ist anders, als in
                                                         setzbewegungen vom Rahmenabkommen zu ver-
der EU. In der Vergangenheit hat die Kommission
                                                         merken: Die Bedenken im Bereich des Lohnschut-
vorteilhafte Körperschaftssteuervorschriften eini-
                                                         zes führten letztlich zur Ablehnung durch die Ge-
ger Kantone mit dem Argument in Frage gestellt,
                                                         werkschaften, was wiederum die Sozialisten (oder
dass sie eine illegale staatliche Beihilfe darstellen
                                                         zumindest große Teile) ins Lager der Skeptiker
könnten. Die bestehenden Abkommen zwischen
                                                         wechseln ließ.
der EU und der Schweiz bieten jedoch keine
                                                         Doch auch in den moderaten bürgerlichen Par-
Rechtsgrundlage, um solche Fragen zu behan-
                                                         teien wuchsen Bedenken und Zweifel: Bei den
deln5. Das institutionelle Abkommen würde dies
                                                         Christdemokraten der Partei "Die Mitte" überwo-
durch ein horizontales Prinzip ändern, welches
                                                         gen vor allem die Bedenken mit Blick auf die Rolle
das EU-Modell der Beihilfenkontrolle erweitern
                                                         des EuGH und die Auswirkungen auf die direkte
würde.
                                                         Demokratie in der Schweiz. Insgesamt reichte die
Nach dem Ende der Verhandlungen forderte die             Spannbreite in der "Mitte" von starken Skeptikern
Schweiz Nachbesserungen in diesen Bereichen.             des Vertragswerks bis zu Befürwortern einer Fort-
Zwar zeigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula             führung der Verhandlungen mit der Kommission.
von der Leyen sich offen für Klarstellungen in den       Auch in der bürgerlich-liberalen FDP, die lange zu
Fragen der staatlichen Beihilfen, der Unionsbür-         den entschiedenen Verfechtern des Abkommens
gerrichtlinie und des Lohnschutzes, doch ist aus         gehörte und deren Bundesrat Ignazio Cassis für
Sicht der Kommission das bestehende Abkommen             die Verhandlungen verantwortlich war, meldeten
eigentlich zu Ende verhandelt. Substantielle Nach-       sich zunehmend zweifelnde Stimmen, sodass
verhandlungen lehnte sie entsprechend ab.                letztlich nur noch die kleinste der sechs größeren
                                                         Parteien der Schweiz, die Grünliberalen, eindeutig
Das gegenseitige Verständnis wurde nicht zuletzt         hinter dem Vertragswerk standen.
auch durch eine Aufmerksamkeits-Asymmetrie
für das Abkommen erschwert: Auf der EU-Seite             Doch auch Wirtschaft und Zivilgesellschaft ergrif-
wird das Dossier ausschließlich von der Europäi-         fen zunehmend Partei: Mit der Initiative Kompass
schen Kommission bearbeitet, ohne gesteigerte            Europa brachten sich vor allem Unternehmer,
Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit in Eu-         aber auch Vertreter aus Kultur und Landwirtschaft

5
 mit Ausnahme des bilateralen Verkehrsabkommens,
das Vorschriften über staatliche Beihilfen enthält
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                          Mai 2021       4
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gegen das Abkommen in Stellung. Nicht unter-               päische Kommission, während Parmelin nach sei-
schätzt werden sollte die Auswirkung der (verzerr-         ner Rückkehr von fundamentalen Differenzen
ten) Wahrnehmung der Brexit-Verhandlungen:                 sprach.
Die Gegner des Vertrags argumentierten, Boris              Bemerkenswert: trotz der fehlenden politischen
Johnsons "Erfolg" zeige, dass sich eine unnachgie-         Unterstützung durch den Bundesrat genoss das
bige Haltung gegenüber Brüssel auszahle.                   Rahmenabkommen in einer Umfrage des Instituts
                                                           gfs. Bern im Mai eine Zustimmung von 64% (wobei
Demgegenüber formierten sich die Befürworter               49% der Befragten eher dafür waren, nur 15% be-
des Abkommens Ende Februar zum Bündnis Pro-                stimmt    dafür)   gegenüber     32%    Ablehnung.6
gresuisse, darunter zahlreiche Persönlichkeiten            Frühere Umfragen hatten ein weniger eindeutiges
aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik: Beson-           Bild gezeichnet. Die Erfahrung zeigte zwar, dass
ders bemerkenswert war die Unterstützung dieser            Umfragen vor dem wirklichen Beginn einer Ab-
Initiative durch die beiden vormaligen CVP-Bun-            stimmungskampagne nur bedingt aussagekräftig
desräte Doris Leuthard und Joseph Deiss. Auch              waren, doch weisen diese Werte darauf hin, dass
der Wirtschaftsverband Economiesuisse gehörte              – anders als von vielen Skeptikern kolportiert – das
stets zu den Befürwortern des Vertragswerks.               Abkommen bei einer Volksabstimmung ange-
                                                           sichts des meist pragmatischen europapolitischen
                                                           Abstimmungsverhaltens des Schweizer Stimm-
Ausbleibender Durchbruch beim Gipfel-                      volks durchaus nicht chancenlos gewesen wäre.
treffen und einseitiger Abbruch
                                                           Dennoch verlor das Abkommen auch im Bundes-
Seit Ende 2020 begann der Bundesrat, seine Posi-           rat zunehmend an Rückhalt: Hieß es zunächst
tion zu definieren und setzte auf recht harte For-         noch, es stehe zwischen Unterstützern und Skep-
derungen bei den staatlichen Beihilfen, dem Lohn-          tikern 3:47, stand am Ende nur noch die Christde-
schutz und der Unionsbürgerrichtlinie, während             mokratin Viola Amherd für die Fortführung der
man die Frage der Rolle des EuGH zu akzeptieren            Verhandlungen ein. Ein von ihr vorgestellter Kom-
schien. Die von der Schweizer Chefunterhändlerin           promissvorschlag wurde jedoch von ihren Bun-
Livia Leu geführten Gespräche führten zu keinem            desratskollegen abgelehnt. Kurios: Letztlich rückte
Durchbruch. Entsprechend reiste Bundespräsi-               selbst Ignazio Cassis vom Abkommen ab, welches
dent Guy Parmelin (SVP) – und nicht der inhaltlich         sein eigenes Department verhandelt hatte und für
zuständige Bundesrat Ignazio Cassis – am 23. Ap-           welches er sich zu Beginn noch recht deutlich ein-
ril nach Brüssel zu einem Gipfeltreffen mit EU-            gesetzt hat. Gleichzeitig hatten sich die Außenpo-
Kommissionspräsidentin von der Leyen. Doch                 litische Kommission des Nationalrats und auch die
auch hier blieb der Durchbruch aus, die Brüsseler          Kantone aber für eine Fortsetzung der Gespräche
Seite nahm die Haltung der Schweiz als sehr hart           ausgesprochen.
und die Forderungen als ausgesprochen weitrei-
chend und kategorisch war. In der Brüsseler                Am 28. Mai verkündet der Bundesrat dennoch – in
Wahrnehmung zog sich der Bundesrat sogar hin-              recht brüskem Ton – das Ende der Verhandlun-
ter die 2019 formulierte Positionen zurück. Man            gen. Einen Alternativplan zur Sicherung des bilate-
wolle aber weiterverhandeln, so versicherte die            ralen Wegs präsentierte er jedoch nicht, sondern
EU-Kommission. In den kommenden Tagen ver-                 forderte die EU lediglich auf, in einen "politischen
härten sich die Fronten weiter: Die EU-Mitglied-           Dialog" zu treten. Als Geste des politischen Willens
staaten stellten sich geschlossen hinter die Euro-         sicherte der Bundesrat zu, sich im Parlament für
                                                           die Freigabe der ausstehenden Zahlung der so ge-
                                                           nannten "Kohäsionsmilliarde" einzusetzen8. Diese
                                                           war seit 2019 im Nationalrat blockiert worden.

6
  https://www.gfsbern.ch/wp-content/uplo-                  Ueli Maurer, Simonetta Sommaruga (SP), Karin Keller-
ads/2021/05/standort-schweiz_europafragen_kurzbe-          Sutter (FDP)
                                                           8
richt.pdf                                                    Die Kohäsionsmilliarde ist ein Betrag welchen die
7                                                          Schweiz den neuen EU-Mitgliedsländern für konkrete
 Viola Amherd (Die Mitte), Alain Berset (SP) und Ignazio
Cassis (FDP) versus SVP-Bundesräte Guy Parmelin und
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                         Mai 2021      5
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Konsequenzen des Scheiterns                                Bisher war die erste Reaktion der EU-Kommission
                                                           auf die Schweizer Abbruchsankündigung diploma-
Das Scheitern des Rahmenabkommens führt nun                tisch. Der Schweizer Ansatz, das aktuelle Modell
nicht unmittelbar zu einer großen Krise zwischen           der 120 sektoralen Abkommen mit einigen Aktua-
der Schweiz und der EU. Allerdings droht nun               lisierungen hier und da fortzusetzen, wird jedoch
mangels dynamischer Rechtsübernahme ein lang-              auf lange Sicht nicht funktionieren: Die EU kann
sames Auseinanderdriften beider Rechtsräume.               der Schweiz kein "sui generis"-Modell für den Zu-
Die EU-Kommission hatte mehrfach deutlich ge-              gang zum Binnenmarkt gewähren, das auf dem
macht, dass sie der Schweiz ohne ein Rahmenab-             Herauspicken derjenigen Aspekte beruht, die für
kommen keinen zusätzlichen Zugang zum Binnen-              die Schweiz bequem sind.
markt gewähren wird. Die bestehenden bilatera-
                                                           Was die berühmte "Kohäsionsmilliarde" betrifft,
len Verträge blieben in Kraft, würden nun aber
                                                           mit der die Schweiz zur EU-Kohäsionspolitik bei-
nicht mehr aktualisiert. Sie bieten mithin nur ein
                                                           trägt, so ist es durchaus eine wichtige lobenswerte
trügerisches Gefühl der Sicherheit. Die Konse-
                                                           Geste, dass der Bundesrat das Schweizer Parla-
quenzen eines fehlenden neuen vertraglichen
                                                           ment auffordert, die Mittel freizugeben.        Aller-
Rahmens wurden bereits in den letzten Monaten
                                                           dings entspräche diese Summe ohnehin in etwa
spürbar: Seit 2018 wurden keine größeren Koope-
                                                           dem    bilaterale   Warenhandel      zwischen     der
rationsprojekte mehr auf den Weg gebracht. Die
                                                           Schweiz und der EU pro Arbeitstag"10.
Schweizer Börse verlor 2019 den Äquivalenzsta-
tus. Während sich die praktischen Folgen der
                                                           Zu den Verlierern des Abbruchs gehören die
Nichtverlängerung der Börsenäquivalenz in Gren-
                                                           Grenzregionen beider Seiten, die auf engste Weise
zen zu halten scheinen, hat dieser Schritt auf
                                                           politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich mitei-
Schweizer Seite dennoch für Unmut gesorgt, auch
                                                           nander verflochten sind und das schleichende
bei gemäßigten Stimmen.
                                                           Auseinanderdriften beider Rechtsräume beson-
Außerdem riskiert die Schweiz, bestehende Vor-
                                                           ders stark spüren dürften.
teile, wie den Zugang zu EU-Forschungsprogram-
men und Studentenaustauschprogrammen, zu
verlieren, wenngleich hier die Tür noch offen zu-          Reaktionen in der Schweiz und in der EU
stehen scheint, wenn sich die Schweiz konstruktiv
zeigt. Der Export von Medizinprodukten in die EU           Die Europäische Kommission nahm den einseitig
könnte schwieriger werden, da das im Mai auslau-           von der Schweiz erklärten Abbruch der Gespräche
fende Abkommen über die gegenseitige Anerken-              mit Bedauern auf und kündigte an, die Folgen
nung von Standards bei Medizinprodukten (MRA)              "sorgfältig analysieren" zu wollen. Ähnlich zurück-
nun wohl nicht verlängert wird. Angesichts der ak-         haltend äußerten sich Vertreter verschiedener
tuellen Pandemie-Situation könnte eine Unterbre-           Mitgliedstaaten.    Deutlicher    wurde     Andreas
chung des Handels mit Medizinprodukten weitrei-            Schwab (CDU), Vorsitzender der Schweiz-Delega-
chende Folgen für beide Seiten haben. Ein von der          tion im Europaparlament und binnenmarktpoliti-
Schweiz angestrebtes Abkommen im Gesund-                   scher Sprecher der EVP-Fraktion: Die Entschei-
heitsbereich rückt nun in weite Ferne. Auch bei            dung des Schweizer Bundesrates habe beträchtli-
den 2007 begonnenen Verhandlungen zu einem                 chen Flurschaden angerichtet. Man habe mehr als
Stromabkommen, das für die energiepolitische               sieben Jahre Verhandlungen sinnlos vergeudet.
Souveränität der Schweiz wichtig wäre, sind nun            Solange das Vorurteil bedient werde, die EU ar-
keine weiteren Fortschritte zu erwarten.9                  beite gegen die Interessen der Schweiz, werde es
                                                           schwierig, die künftige Zusammenarbeit zu orga-

                                                           10
Projekte und Programme zukommen lässt. Es handelt            https://www.eda.admin.ch/missions/mission-eu-brus-
sich hierbei nicht um einen Beitrag zum EU-Haushalt        sels/en/home/key-issues/economy-finance.html
9
  https://www.avenir-suisse.ch/verlust-an-energiepoliti-
scher-souveraenitaet/
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                        Mai 2021      6
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nisieren. Auch Felix Schreiner (CDU, Baden-Würt-        Kommentar & Ausblick
temberg), Vorsitzender der Deutsch-Schweizeri-
schen Parlamentariergruppe des Deutschen Bun-           Der Verhandlungsabbruch nach sieben Jahren
destages, äußerte Bedauern über den Abbruch11.          wirft Fragen auf und ist von außen betrachtet auf
                                                        den ersten Blick nur schwer verständlich. Der Ab-
Besonders erfreut zeigte sich auf Schweizer Seite
                                                        bruch der Gespräche löst keines der bestehenden
naturgemäß die SVP. Ihr Präsident Marco Chiesa
                                                        Probleme. Die Bedingungen für einen weitgehen-
frohlockte, dass der Abbruch des Rahmenabkom-
                                                        den Zugang zum Binnenmarkt der EU werden sich
mens ein Sieg für die Selbstbestimmung und die
                                                        auch für künftige Verhandlungen nicht verändern.
direkte Demokratie der Schweiz sei. Zufrieden äu-
                                                        Für den Bundesrat ist der Abbruch nach sieben
ßerte sich der der zum Teil der SVP-nahestehende
                                                        Jahren kein Ruhmesblatt, nicht wenige Beobachter
Gewerbeverband sowie der eng mit den Sozialis-
                                                        bemängeln die fehlende politische Führung einer
ten verbundene Schweizerische Gewerkschafts-
                                                        ihrer Ansicht nach stark von Parteilogik getriebe-
bund. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass ei-
                                                        nen Bundesräte. Nicht nur die Sozialisten nehmen
nige Kommentatoren in den Landesmedien sich
                                                        dabei vor allem den zuständigen Bundesrat Ig-
hinter die Entscheidung des Bundesrats stellten,
                                                        nazio Cassis ins Visier; zu einem gewissen Grad
teilweise argumentierten, man hätte die Verhand-
                                                        mag das allerdings auch eine Strategie sein, um
lungen bereits 2018 abbrechen sollen12. Der Par-
                                                        den zweiten Bundesratssitz der FDP ins Wackeln
teipräsident von "Die Mitte", Gerhard Pfister, rief
                                                        zu bringen. Sollte die FDP bei den kommenden
dazu auf, Eskalationen zu vermeiden und Alterna-
                                                        Nationalratswahlen ihr Ergebnis nicht verbessern,
tiven zu entwickeln, wie das gute bilaterale Ver-
                                                        könnte daher der Druck größer werden, diesen
hältnis zwischen der EU und der Schweiz weiter-
                                                        Sitz den Grünen oder den Grünliberalen zukom-
entwickelt werden könne. Auch die FDP fordert
                                                        men zu lassen. Doch auch die Sozialisten haben
nun vom Bundesrat eine klare Ansage. Gleichzei-
                                                        sich in diesem Dossier nicht durch politischen Wa-
tig drückte sie Bedauern über den Abbruch aus
                                                        gemut hervorgetan.
(obwohl insbesondere die FDP-Bundesrätin Kel-
ler-Sutter genau diesen unterstützt hatte). Die         Spätestens wenn auch einzelne Wirtschaftsbran-
Grünen übten ebenfalls klare Kritik. Am deutlichs-      chen die negativen Folgen zu spüren bekommen,
ten wurden die Grünliberalen, die von einem "his-       wird der Bundesrat allerdings wohl Druck verspü-
torischen Fehlentscheid" sprachen. Bedauern             ren, der schleichenden Verschlechterung des Bin-
kam auch von Seiten der FDP-nahen EconomieSu-           nenmarktzugangs entgegenzuwirken. Das be-
isse. Die SP merkte an, die eigentlich beste Option     schwichtigende Bekenntnis wichtiger politischer
sei ein EU-Beitritt der Schweiz.                        wie wirtschaftlicher Kräfte zu den bilateralen Ver-
                                                        trägen ist löblich und sollte nicht als politische
Irritiert bis verärgert zeigten sich Schweizer Befür-
                                                        Floskel abgetan werden. Doch ändert es nichts da-
worter einer Fortsetzung der Gespräche auch, weil
                                                        ran, dass der bilaterale Weg basierend auf sekt-
sich nach der Entscheidung des Bundesrats so-
                                                        oralen Abkommen auf Dauer zu einer Sackgasse
wohl das Parlament als auch das Volk der Möglich-
                                                        wird. Der Bundesrat muss nun recht dringlich eine
keit beraubt sehen, sich zum Rahmenabkommen
                                                        Alternativlösung vorstellen, wenn sich der Scha-
zu äußern: Patrick Dümmler, Forschungsleiter
                                                        den für die Schweizer Wirtschaft in Grenzen halten
beim liberalen Think Tank Avenir Suisse merkte
                                                        soll. Die von einigen vorgebrachte Lösung, die
an, man stimme über Kühe mit Hörnern13 ab, aber
                                                        Schweiz werde einseitig in wichtigen Bereichen
nicht über die wichtigste wirtschaftliche und poli-
                                                        Regeln an EU-Recht anpassen, ist nicht mehr als
tische Frage der letzten zehn Jahre.
                                                        ein Notbehelf. Angesichts der erheblichen Diver-
                                                        genzen innerhalb des Bundesrats zur Europafrage

11                                                      12
  https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nach-dem-      https://www.srf.ch/news/schweiz/klares-signal-an-
aus-der-gespraeche-mit-der-eu-die-schweiz-kann-sich-    die-eu-mit-druck-erreicht-man-nichts?ns_source=mo-
nicht-dauerhaft-isolieren.f1e4ae3d-c6eb-461d-b760-      bile&srg_sm_medium=tw
                                                        13
9292d5ed9eff.html?reduced=true                             Spielt auf die so genannte Hornkuh-Initiative vom
                                                        25.11.2018 an.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Länderbericht                                                                                    Mai 2021       7
                                                                                                         7

ist aber fraglich, ob es zeitnah gelingen kann, eine    Die Irritation auf europäischer Ebene über den Ab-
solche Vision zu formulieren.                           bruch ist vollkommen verständlich. Man war in
                                                        vielen Fragen der Schweiz recht weit entgegenge-
Grundsätzlich bedarf es im Bundesrat und im             kommen und war auch jetzt zu weiteren Gesprä-
Grunde in der Schweiz einer fundamentalen De-           chen (wenn auch in einem eng abgesteckten Feld
batte über das Verhältnis zur EU: Wie Beobachter        und nicht zur Rolle des EuGH) bereit. Der Ent-
feststellen, steht das Verhältnis zur EU in einem       scheid des Bundesrats dürfte mithin im beidseiti-
Spannungsverhältnis von wirtschaftlichem Prag-          gen Verhältnis Spuren hinterlassen. Gleichwohl
matismus und politischer Skepsis gegenüber jeder        hat auch die EU politisch wie wirtschaftlich nach
Form von Souveränitätsübertragung. Ohne ein er-         wie vor ein erhebliches Interesse an einer engen
neuertes Souveränitätsverständnis wird dieses           Zusammenarbeit: die Schweiz ist nach wie vor der
Spannungsverhältnis nicht aufzulösen sein.              viertwichtigste Handelspartner in der EU und auf
                                                        internationaler Ebene ein zentraler Verbündeter.
Wenn man keinen neuen Anlauf mit einem inhalt-
                                                        Es wäre mithin ratsam, mit dem Ergreifen weiter-
lich sehr ähnlichen Abkommen möchte, hätte die
                                                        gehender Maßnahmen (Ausschluss aus dem EU-
Schweiz die folgenden Möglichkeiten: Beitritt zum
                                                        Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe)
EWR oder gar zur EU (was beides derzeit unrealis-
                                                        zurückhaltend umzugehen. Demonstrative Nadel-
tisch ist) - oder aber eine Art besseres Freihandels-
                                                        stiche haben in der Schweiz meist eine kontrapro-
abkommen, das eine deutlich schwächere Anbin-
                                                        duktive Wirkung. Sollte es in Zukunft einen neuen
dung an den Binnenmarkt in Kauf nimmt. Die von
                                                        Anlauf für ein Nachfolgeabkommen geben, sollte
einigen mit einem gewissen Trotz vorgebrachte
                                                        man die Emotionalität der Frage der Wirkung auf
Position, dann werde man sich eben stärker Rich-
                                                        das direktdemokratische System der Schweiz
tung anderer Märkte in Asien orientieren, wirkt
                                                        nicht unterschätzen.
wenig überzeugend: Die Schweiz – von EU-Län-
dern umgeben und einer der größten Profiteure
des Binnenmarkts – wird weiter eng mit der EU
und ihren Mitgliedstaaten verflochten bleiben.
Isolation ist keine attraktive Option.

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Dr. Olaf Wientzek
Leiter Multilateraler Dialog Genf
Europäische und Internationale Zusammenarbeit
www.kas.de
olaf.wientzek@kas.de

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gleichen Bedingungen 4.0 international”,
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