Demographischer Wandel und Beschäftigung - Plädoyer für neue Unternehmensstrategien - Memorandum-Initiative Neue ...
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Demographischer Wandel und Beschäftigung Plädoyer für neue Unternehmensstrategien – Memorandum –
Demographischer Wandel und Beschäftigung Plädoyer für neue Unternehmensstrategien – Memorandum –
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3 Arbeit und Demographie: die Chancen nutzen D ie Botschaft ist angekommen: Unsere Gesellschaft wird älter. Die Zahl der jungen Menschen nimmt immer mehr ab, die wieder gut zu machen und – mehr noch – sich an die Spitze einer Entwicklung zu setzen, die eine neue Qualität der Arbeit zu einem Zahl der Älteren nimmt zu, und das bei ins- erstrangigen Wettbewerbsfaktor in der gesamt sinkenden Bevölkerungszahlen. Auch Weltwirtschaft macht. die Gründe haben sich herumgesprochen: Mit diesem Memorandum und der Kam- sinkende Geburtenraten auf der einen Seite pagne ›30, 40, 50plus – Gesund arbeiten bis bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung ins Alter‹ will INQA deshalb dazu beitragen, des Einzelnen auf der anderen. Die Zukunft 왘 dass Wirtschaft und Gesellschaft ein Deutschlands wird demnach von einer im konstruktiveres, realistisches Bild von den Durchschnitt älteren Bevölkerung gestaltet Fähigkeiten und Kompetenzen Älterer werden. entwickeln, In der Arbeitswelt ist dieser demographi- 왘 dass sie diese Fähigkeiten und Kompeten- sche Wandel bereits Gegenwart. Zwar schätzt zen besser einsetzen und nutzen, man, dass erst in zehn bis zwanzig Jahren 왘 dass die betriebliche Gesundheitspolitik dem Arbeitsmarkt nicht mehr genügend Kurs darauf nimmt, die Beschäftigungs- qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stehen fähigkeit der heute noch jungen Mitarbei- könnten. Doch das Phänomen der alternden terinnen und Mitarbeiter langfristig zu Belegschaften ist schon jetzt sichtbar, und der sichern Alterungsprozess wird sich beschleunigen. Die 왘 und dass das produktive Miteinander von Unternehmen und Betriebe müssen also Jüngeren und Älteren sich zu einem schnell lernen, mit einer im Durchschnitt Erfolgsfaktor der Unternehmen entwickelt. älteren Belegschaft zu arbeiten und innovativ Wir sind fest davon überzeugt, dass INQA zu bleiben. Überdies müssen sie Wege finden, das ideale Instrument darstellt, um den zusätzliche Arbeitskraftpotenziale zu aktivie- notwendigen Wandel zu ›demographiefesten‹ ren, um auch in Zukunft im internationalen Unternehmen zu beschleunigen. INQA unter- Wettbewerb bestehen zu können. breitet den Unternehmen Angebote, wie sie Anders als in wichtigen anderen Industrie- Probleme erkennen und lösen und somit die nationen haben in Deutschland Politik, Wirt- Herausforderungen des demographischen schaft und Sozialpartner jahrelang eine syste- Wandels für die Arbeitswelt konstruktiv an- matische Verjüngung der Betriebe unterstützt. nehmen können. Wir laden Führungskräfte Jetzt ist es hohe Zeit zum Umsteuern. Eine und Belegschaftsvertreterinnen und -vertreter ganze Reihe von Unternehmen hat schon die gleichermaßen dazu ein, das auf dieser Platt- Zeichen der Zeit erkannt und bemerkenswerte form versammelte Know-how und Gestaltungs- Ansätze für eine demographiegerechte wissen für ihr Unternehmen zu nutzen und Arbeits- und Personalpolitik entwickelt. Die gleichzeitig durch die eigenen Erfahrungen zu Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) will stärken und weiter zu entwickeln. diese Ansätze bündeln, verstärken und zu ihrer raschen Verbreitung in Wirtschaft und Gesellschaft beitragen. INQA ist eine gemein- same Initiative von Bund, Ländern, Sozial- partnern, Sozialversicherungspartnern, Bertelsmann Stiftung, Hans Böckler Stiftung und Unternehmen. Damit ist die Initiative Bündnis und Netzwerk zugleich. In dieser Konstellation, davon sind wir überzeugt, liegt die große Chance, verlorenen Boden schnell
4 Inhalt 5 Zusammenfassung: Wie Unternehmen sich dem demographischen Wandel stellen können 7 1. Ein Wendepunkt: die neue Sicht auf das Alter 13 2. Die gesellschaftliche Realität: demographischer Wandel und Arbeitswelt 17 3. Die Praxis: Konsequenzen des demographischen Wandels für Unternehmen und Arbeitswelt 25 4. Die Partnerunternehmen der Kampagne 30 Literatur
5 Zusammenfassung Wie Unternehmen sich dem demographischen Wandel stellen können D as vorliegende Memorandum ist Teil der neuen INQA-Kampagne ›Arbeit und Demographie‹. Diese stellt sich den Fragen, Jahre bis 2020 konzentrieren. Bis 2010, so die Experten, wird der Anteil der Erwerbspersonen über 40 Jahre zunehmen – und ab 2010 steigt nicht nur den Betrieb als Ganzes einer Analyse zu unterziehen, sondern jede einzelne Abtei- lung, da die Alterszusammensetzung – und wie der demographische Wandel die Arbeits- dann der Anteil der über 50-Jährigen stark. damit ein etwaiger Handlungsbedarf – von welt verändert, was die Unternehmen tun Die Folge: Im Jahr 2020 wird mehr als jeder Forschung und Entwicklung bis zur Produk- können, um mit einer künftig älteren Beleg- dritte Erwerbstätige älter als 50 sein. Erstmals tion stark differieren kann. Ungleichgewichte, schaft wettbewerbsfähig zu bleiben, und wie wird es dann in den Betrieben mehr 50- die durch die Altersstrukturanalyse festgestellt sich Arbeits- und Gesundheitsschutz auf der Jährige als 30-Jährige geben. wurden, sollten möglichst frühzeitig korrigiert einen und betriebliche Belange auf der ande- Zu einem Problem kann künftig auch die werden. ren Seite erfolgreich miteinander verbinden komprimierte Altersstruktur vieler Betriebe Die zweite Aufgabe, der sich die Unter- lassen. Ihre Antworten darauf bündelt die werden: Weil ältere Arbeitnehmerinnen und nehmen im Rahmen des demographischen Kampagne unter dem Motto: ›30, 40, 50plus – Arbeitnehmer vom Personalabbau der ver- Wandels zu stellen haben, betrifft die betrieb- Gesund arbeiten bis ins Alter‹. gangenen Jahre besonders betroffen waren – liche Gesundheitsförderung. Dazu gehören: Das hier vorgelegte Memorandum will in und weil nur wenige jüngere Arbeitskräfte auf- 왘 Ergonomische Arbeitsplatzgestaltung und der Debatte über die Zukunft der Arbeit in grund der wirtschaftlich schwierigen Lage neu- klassische Arbeitsschutzmaßnahmen einer älter werdenden Gesellschaft Akzente eingestellt wurden –, sind heute die mittleren 왘 Förderung von Gesundheit und Fitness der setzen. Und die Schrift stellt die Partnerunter- Altersgruppen (die Generation der ›Baby- Mitarbeiter nehmen der Kampagne vor: Unternehmen, die Boomer‹) in vielen Unternehmen besonders 왘 Optimierte Arbeitsabläufe (Reduzierung von als Pioniere vorangehen. Wie deren Beispiel stark vertreten und machen bis zur Hälfte der Routine, reduzierter Zeittakt) zeigt, kommt es dabei zunächst nicht so sehr Gesamtbelegschaft aus. Wenn diese Jahrgänge 왘 Individuelle Gestaltung der Erwerbsbio- auf praktisches Know-how, ausgeklügelte in den nächsten 10 bis 15 Jahren geschlossen graphie (bei Jobs mit begrenzter Tätigkeits- Checklisten oder ausgefeilte Arbeitsplatzmodi- in Rente gehen werden, droht den dauer vorausschauende Planung eines fikationen an. Wichtig ist vielmehr ein grund- Unternehmen ein dramatischer und Wechsels in andere Jobs) legendes Umdenken. Gemeint ist der Wechsel schlagartiger Verlust an Erfahrungswissen, der 왘 Aufbau eines systematischen betrieblichen vom sogenannten Defizit- zum Kompetenz- rechtzeitig kompensiert werden muss. Gesundheitsmanagements modell. Unter Experten schon seit langem un- Die Schaffung altersgemischter Teams, die Neben unmittelbar gesundheitsfördernden strittig, findet diese ›Revolution in den Köpfen‹ einen systematischen Transfer vorhandener Elementen sollen auch Arbeitsorganisation nun auch zunehmend Eingang in unter- Kenntnisse und Kompetenzen an Jüngere und Arbeitsgestaltung den besonderen Be- nehmerisches Denken. Sie besagt, dass ältere ermöglichen, wird damit zu einem zentralen dürfnissen wie den besonderen Kompetenzen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht Bestandteil künftiger Personalpolitik. Und: Die älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur – und nicht in erster Linie – Defizite Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der heute 35– Rechnung tragen. Dazu gehören etwa flexible gegenüber Jüngeren haben, sondern dass sie 45-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitszeitregelungen, aber ebenso eine Lauf- über eine Vielzahl von Fähigkeiten verfügen, Arbeitnehmer über die nächsten 15–25 Jahre bahngestaltung, die ein rechtzeitiges Verlassen die in der heutigen Wirtschaftswelt von zen- erhält unter diesem Aspekt einen ganz neuen physisch und psychisch belastender traler Bedeutung sind: Problemlösungskompe- betrieblichen Stellenwert. Darüber hinaus Tätigkeitsfelder und die Übernahme neuer tenz aufgrund von Erfahrungswissen, größere müssen die Unternehmen sich darauf ein- Aufgaben ermöglicht. Toleranz gegenüber abweichenden Meinun- stellen, zusätzliches Erwerbspotenzial zu Des Weiteren gilt es, gezielte Weiterbil- gen, hohe zeitliche Flexibilität, Zuverlässigkeit, rekrutieren (Ältere, Frauen, gesteuerte Zuwan- dungsmöglichkeiten für alle Altersgruppen zu realistisches Einschätzungsvermögen usw. derung), und nicht zuletzt sind unerwünschte erschließen, beispielsweise durch: (Kapitel 1, S. 7 bis 11) Kündigungen aufgrund von hoher Fluktuation 왘 Tätigkeiten, die per se Lernanreiz schaffen Wie wichtig dieser Paradigmenwechsel ist, zu vermeiden (Kapitel 3, S. 17 bis 24). (Lernfördernde Arbeitsgestaltung) zeigt ein Blick auf die Dynamik der demogra- In der Praxis gilt es zunächst zu klären, ob 왘 Intergeneratives Lernen in altersgemischten phischen Entwicklung (Kapitel 2, S. 13 bis 16). und inwieweit ein Unternehmen überhaupt Teams (Tandems, Patenschaften) Im Vergleich zum Status quo beschleunigt einen demographiebedingten Handlungs- 왘 Betriebliche Qualifizierungspläne für alle sich die Alterung der Belegschaft in den bedarf hat. Ein zentrales Mittel dazu ist die Altersgruppen nächsten vier Jahrzehnten um das Dreifache. Altersstrukturanalyse. Von Kleinstunterneh- 왘 Weiterbildung speziell für Ältere (zum Dieser Prozess wird sich hauptsächlich auf die men abgesehen ist es dabei immer sinnvoll, Beispiel zu neuen Technologien)
6 왘 Betriebsinterne Weiterbildungsberatung gaben gehören: Betriebsbindung bei den (Weiterbildungscoaching) Jüngeren erzeugen, die Arbeitsfähigkeit Eine entscheidende Rolle bei der Bewälti- Älterer bis zur Rente erhalten und rechtzeitig gung des demographischen Wandels spielen neue Arbeitskraftpotenziale in die Rekrutie- zudem die Unternehmenskultur und das rungsstrategien einbeziehen. Oder mit Verhalten der Führungskräfte. Unternehmen, anderen Worten: Ungleichgewichten in der die den demographischen Wandel bewältigen betrieblichen Altersstruktur muss frühzeitig wollen, werden künftig eine ›Renaissance des und gezielt entgegengewirkt werden. Stellenwertes des Menschen im Unterneh- Thematisch gesehen deckt unser Memoran- men‹ anstreben müssen: Es gilt ein positives dum ein ähnliches Feld ab wie die ebenfalls Betriebsklima zu pflegen, das von der Wert- von INQA herausgegebene Broschüre ›Mit schätzung aller Mitarbeiterinnen und Mit- Erfahrung die Zukunft meistern‹. Beide arbeiter und der Förderung des Potenzials des werden in der INQA-Kampagne ›Arbeit und Einzelnen geprägt ist. Vorurteile gegenüber Demographie‹ eingesetzt. Während sich die Älteren im Betrieb – und ebenso im übrigen eher populär gefasste Broschüre jedoch vor von Älteren gegenüber Jüngeren – müssen allem an die Betriebe wendet, gedacht zur thematisiert und gegenseitig ausgeräumt Information von Führungskräften und inter- werden. Das muss und kann nicht nur verbal, essierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern ganz praktisch und erfahrbar ge- und eine Fülle von konkreten Tipps und schehen, zum Beispiel in Form von moderier- Handlungsanweisungen enthält, versteht sich ten, altersgemischten Arbeitsgruppen, in das Memorandum als die fachliche Plattform denen Jüngere wie Ältere gemeinsam vonein- der Demographiekampagne. Die systema- ander lernen und praktisch profitieren kön- tische und fundierte Darstellung des Themas nen. referiert nicht nur die unterschiedlichen Gutes Führungsverhalten und gute Arbeit Aspekte des demographischen Wandels, von Vorgesetzten sind ein hochsignifikanter sondern erlaubt den Leserinnen und Lesern Faktor für eine Verbesserung der Arbeits- durch die Quellen- und Literaturhinweise eine fähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und eigenständige Bearbeitung des Themas. Damit Arbeitnehmer. Dazu gehören: schließt das Memorandum eine Lücke 왘 Realistische Einschätzung des Leistungs- zwischen der tagesaktuellen Berichterstattung vermögens Älterer der Medien einerseits und der kaum noch 왘 Förderung des intergenerativen Dialogs überschaubaren sozialwissenschaftlichen zwischen Älteren und Jüngeren Fachliteratur andererseits. Die Schrift wendet 왘 Kooperativer Führungsstil sich denn auch vorzugsweise an Multiplika- 왘 Rücksicht auf die individuelle Arbeits- toren in Medien, Politik und Verbänden, aber planung Älterer auch an ›Demographie-Beauftragte‹ in Unter- 왘 Anerkennung der Leistung Älterer, aber nehmen und Institutionen sowie an alle Lese- auch Thematisierung von Leistungsdefiziten rinnen und Leser, für die eine umfassende Er- und die gemeinsame Suche nach Lösungs- arbeitung des Themas wichtig und interessant wegen. ist. Und schließlich ist eine von der Unter- nehmensleitung geförderte, ›demographie- gerechte‹ Personalpolitik neuen Zuschnitts notwendig. Denn die Veränderungen, welche der demographische Wandel evoziert, bedür- fen professioneller Instrumente in Form einer neudefinierten Personalarbeit. Zu ihren Auf-
7 1. Ein Wendepunkt: die neue Sicht auf das Alter Vom Defizit- zum Kompetenzmodell Auch bei uns setzt sich allmählich wieder die Erkenntnis durch, dass Ältere nicht nur – »Heute wird von der Hypothese eines In den sechziger Jahren des letzten Jahrhun- und nicht in erster Linie – Defizite gegenüber differentiellen Alterns ausgegangen, die derts war Älterwerden als ein Prozess des den Jüngeren haben, sondern dass sie auch besagt, dass sich während des Älterwerdens Verlusts, der Abnahme, des Weniger-Werdens über spezifische Kompetenzen verfügen, die unterschiedliche Leistungs- und Persön- beschrieben worden – von Kraft, Gesundheit, für Gesellschaft und Wirtschaft unverzichtbar lichkeitsbereiche unterschiedlich stark und von körperlicher Attraktivität, und eben auch sind. Das Defizitmodell, das bevorzugt auf die in verschiedene Richtungen verändern von Fähigkeiten, die man im Erwerbsleben im Alter nachlassenden Funktionen und können. « braucht. Älteren Menschen und insbesondere Fähigkeiten schaut, ist von wissenschaftlicher Gunda Maintz 2003 b älteren Beschäftigten wurden überwiegend Seite schwer erschüttert. In der gesellschaft- Defizite zugeschrieben – gemessen am Ideal lichen und betrieblichen Praxis ist es aller- der Jugend und deren Eigenschaften und dings häufig noch präsent. Einflüsse während des bisherigen Berufs- Qualitäten. lebens. Eine solche Sichtweise war möglich in einer Die Kompetenzen und Fähigkeiten Demnach verbieten sich pauschalisierende Gesellschaft, die die Jugend und Jugendlich- älterer Arbeitnehmerinnen und Aussagen über ›die Älteren‹ resp. ›die Jun- keit zum Kult erhoben hatte, in der es ge- Arbeitnehmer gen‹. Dennoch gibt es ein Muster von Eigen- nügend junge Menschen gab (›Baby-Boomer‹) schaften und Fähigkeiten, die auf die ver- und in der man zudem offenbar glaubte, auf- Zahlreiche Studien haben sich aus arbeitsorga- schiedenen Altersgruppen unterschiedlich grund der vielen, nicht zuletzt technologischen nisatorischer, arbeitsmedizinischer sowie aus verteilt sind bzw. die sich im Laufe eines Neuerungen die Innovationskraft der Jungen psychologischer Sicht mit den Fähigkeiten (Arbeits-)Lebens verändern. durch nichts ersetzen zu können. älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 왘 Eine Reihe von – vor allem körperlichen Dass auch eine andere Sicht auf das Alter bzw. mit den Unterschieden zwischen Älteren und sinnlichen – Fähigkeiten unterliegen möglich ist, wusste schon der Römer Marcus und Jüngeren befasst. dem, was die Fachleute den ›natürlichen Tullius Cicero im 1. Jahrhundert vor unserer Ihr erstes wichtiges Resümee: Alter lässt Altersgang‹ nennen. Das heißt, sie nehmen Zeitrechnung: sich nicht länger als statischer Zustand mit ab – wenn auch häufig nicht in dem Maß, bestimmten, vorwiegend negativen Begleit- wie früher oft angenommen wurde. erscheinungen betrachten. Vielmehr kann 왘 Am wichtigsten – weil sowohl für körper- »Nichtssagend sind also die Reden derer, man Älterwerden als einen dynamischen, liche als auch für geistige Prozesse zu- die dem Greisenalter ein tätiges Leben differenziert verlaufenden Wandlungsprozess treffend – ist das Nachlassen der Geschwin- absprechen wollen, und es ist ungefähr so, begreifen, in welchem im Laufe des Lebens digkeit von körperlichen und geistigen wie wenn man behaupten wollte, der Funktionen abnehmen, während sich andere Prozessen mit dem Alter. Zu den abneh- Steuermann tue bei der Schifffahrt nichts. Fähigkeiten erst entwickeln. Dieser Prozess menden Fähigkeiten gehören weiterhin Freilich tut er nicht das, was die jungen läuft bei jedem Menschen unterschiedlich ab. Sinnesfunktionen wie die Hör- und die Leute tun, dafür ungleich Wichtigeres und Fachleute sprechen vom ›differentiellen Altern‹ Sehfähigkeit. Besseres. Nicht durch Kraft oder körperliche und von einer ›interindividuellen Streuung‹ 왘 Die Hörfähigkeit etwa erfährt bereits im Behändigkeit und Schnelligkeit werden (Maintz 2003 a+b) der mit dem Alter sich Alter zwischen 20 und 40 Jahren erste große Leistungen vollbracht, sondern durch wandelnden oder gar erst entwickelnden Einbußen und geht danach weiter zurück. besonnenen Rat, das Gewicht der Fähigkeiten und Eigenschaften. Damit meinen Ähnliches gilt für das Sehen: Sehkraft und Persönlichkeit, gereiftes Urteil: Eigen- sie, dass die verschiedenen Leistungs- und Sehschärfe verschlechtern sich mit den schaften, die im Alter nicht verlorenzu- Persönlichkeitsbereiche jedes Menschen sich Jahren allmählich. Die genannten Einbußen gehen, sondern sogar noch zuzuwachsen im Prozess des Älterwerdens unterschiedlich sind allerdings nicht immer nur durch das pflegen.« stark, in verschiedene Richtungen und in Älterwerden bedingt. Ein Beispiel sind Marcus Tullius Cicero (106 AC – 43 AC): verschiedenen Zeithorizonten entwickeln Hörverluste, die sich schon im frühen Cato der Ältere über das Greisenalter. können. Eine große Rolle bei der jeweiligen Erwachsenenalter durch Lärmbelastung Stuttgart 1995 Ausprägung dieser Eigenschaften spielen, sowohl in der Freizeit als auch im Beruf neben anlagebedingten Faktoren und dem einstellen. persönlichen Lebensstil, arbeitsbedingte 왘 Die körperlichen Kräfte und damit bis zu
8 Historische Vorbilder: Alter in früheren Gesellschaften In früheren Gesellschaften waren ältere und alte Griechenland. So wurden Demokrit 90, Plato Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich die Menschen besser integriert, ihre Erfahrungen 80, Sokrates 70 (der noch älter geworden Strukturen der Familie ebenso wie der Status wurden geschätzt, ihre Weisheit geachtet. Die wäre, wenn er nicht als ›Aufrührer der Jugend‹ der Älteren erst mit dem Übergang von der Jugend begegnete ihnen mit Respekt. Waren sie den Schierlingsbecher hätte trinken müssen) vorindustriellen zur industriellen dann wirklich alt, so konnten sie im Schoß der und Aristoteles immerhin 62 Jahre alt. Die Gesellschaft grundlegend verändert haben. Großfamilie friedlich und umsorgt ihr Leben Philosophen, die alle dem griechischen Adel Die räumliche Trennung von Lebens- und beschließen. angehörten, wurden allgemein geachtet. Von Arbeitsstätte, Mobilität, veränderte Lebens- Aussagen dieser Art hört und liest man allen ist überliefert, dass sie stets jüngere formen der jungen Generation und sinkende immer wieder, wenn es um Veränderungen Schüler um sich hatten, die sie unterrichteten Geburtenraten haben dazu geführt, dass ein der Stellung und des Bildes der Generationen und mit denen gemeinsam sie ihre Zusammenleben mehrerer Generationen geht. Diese Aussagen enthalten zweifellos Gedankengebäude weiterentwickelten. heute – zumindest in den Städten – kaum einen wahren Kern. Sie sind aber nicht frei Besonderer Respekt wurde – und wird bis noch möglich ist. Und obwohl Alter in von Ideologie – »früher war alles besser«; heute – alten Menschen in Gesellschaften manchen Bereichen noch immer als Vorteil »früher ging es doch auch ohne teure Sozial- entgegengebracht, die noch keine Schrift und gilt (zum Beispiel in der Politik), werden systeme, da haben sich die Familien um die damit keine schriftliche Überlieferung kann- ältere Beschäftigte zunehmend vorzeitig aus Alten gekümmert« – ; und sie müssen hin- ten. Hier begründeten ihre Erfahrungen das dem Arbeitsleben gedrängt, auch wenn sie sichtlich ihres Wahrheitsgehaltes differen- Wissen und die Tradition der Gesellschaft. durchaus noch produktiv sein könnten. ziert betrachtet werden. Alter in vorindustriellen Die erste Frage lautet: Wie alt Gesellschaften waren die alten Menschen, die uns als Vorbilder im Kopf sind, Auch in den agrarischen Gesellschaften späte- wirklich? rer Jahrhunderte genossen die Alten Ansehen und Respekt. Das Spektrum der in solchen Als ältester, zumindest im westlichen Kultur- Gesellschaften zu verrichtenden Arbeiten war kreis bekannter, Mensch wird immer wieder breit genug, so dass auch Ältere weiterhin Methusalem genannt. »Methusalem, ein wertvolle und produktive Gesellschaftsmit- Nachfahre des Seth, Sohn des Hanok, Vater glieder sein und darüber hinaus Aufgaben in des Lamech und Großvater des Noah, wurde der Familie übernehmen konnten. 969 Jahre alt.« (1. Mose 5, 21.25–27) Auch Forscher sprechen allerdings vom ›Mythos wenn diese Altersangabe auf einer anderen der vorindustriellen Großfamilie‹ (Mitterauer/ Zählweise und Zeitrechnung beruht – Me- Sieder 1977) und warnen davor, die Familien- thusalem also nicht wirklich 969 Jahre alt verhältnisse der alten Menschen in vorindus- wurde – , gilt er bis heute als Inbegriff eines trieller Zeit pauschal zu idealisieren. Die sehr alten Menschen (vgl. zum Beispiel große, mehrere Generationen umfassende Schirrmacher 2004: Das Methusalem-Kom- Familie war schon aus demographischen plott). Die heute noch gebräuchliche, Gründen nicht sehr weit verbreitet: Die relativ respektvolle Bezeichnung ›ein biblisches geringe Lebenserwartung der Älteren, späte Alter‹ bezieht sich allerdings nicht auf Heirat und Familiengründung bei den Jünge- Methusalem, sondern ursprünglich auf die ren verkürzten die Zeit, in der tatsächlich drei achtzig Jahre, die im 90. Psalm als die (oder mehr) Generationen zusammenleben maximale Lebenszeit eines Menschen konnten. Zudem gab es regionale Unterschie- genannt werden – und die jetzt sogar die de. Und schließlich war auch das Zusammen- durchschnittliche Lebenserwartung sind leben in der Großfamilie – zumal in ärmeren (siehe dazu Kap. 2). ländlichen Gegenden – nicht frei von Konflik- Ein beachtliches Alter erreichten auch ten und materiellen Einschränkungen (vgl. manche Philosophen im klassischen auch Ehmer / Gutschner 2000).
9 einem gewissen Grad die körperliche Aus- Abbildung 1 dauer und Belastbarkeit der Beschäftigten nehmen ebenfalls schon im dritten, beson- Ältere sind oft besser in der Lage, ders stark dann im fünften Lebensjahrzehnt ab. 쐽 komplexe Aufgaben zu lösen 왘 An vielen der heutigen Arbeitsplätze ist die 쐽 offen für alternative Lösungen zu sein (weniger Eigenbetroffenheit, stärkere Körperkraft jedoch nicht entscheidend oder Toleranz) kann durch entsprechende Arbeitsgestal- 쐽 zeitlich flexibler zu sein (kinderfrei) tung kompensiert werden. Ebenso lassen 쐽 Entscheidungsprozesse und Handlungen zu optimieren sich nachlassende Hör- und Sehfähigkeit 쐽 eigene Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen korrigieren. 쐽 betriebsspezifische Erfahrungen einzubringen 왘 Dem gegenüber stehen Fähigkeiten, die 쐽 die subjektiven Faktoren realistischer zu beurteilen mit dem Alter zunehmen bzw. sich über- Ältere Ebert 0304 haupt erst entwickeln. Häufig sind das maintz.gunda@baua.bund.de Fähigkeiten und Kompetenzen, die mit Erfahrungen zu tun haben – Erfahrungen, die die Beschäftigten in ihrem beruflichen Abbildung 2 Vergleich der Eigenschaften/Leistungsparameter wie in ihrem privaten / persönlichen Leben von Jüngeren versus Älteren 2002 gemacht haben. Dazu gehören etwa Fähig- keiten wie komplexe Aufgaben zu lösen, Erfahrungswissen 3 44 53 offen für alternative Lösungen zu sein oder auch größere Toleranz sowohl gegenüber abweichenden Meinungen als auch Arbeitsmoral, -disziplin 4 66 30 gegenüber anderen Menschen zu zeigen. Ältere sind oft zeitlich flexibler (wenn die Qualitätsbewusstsein 4 70 26 Kinder erwachsen sind), sie können betriebsspezifische Erfahrungen einbringen, Loyalität 4 79 17 dadurch Arbeitsabläufe und Entschei- dungsprozesse optimieren helfen und auch Teamfähigkeit 11 82 7 die eigenen Möglichkeiten und Grenzen Psychische Belastbarkeit 12 75 13 (und die ihres Teams) besser einschätzen. Außerdem verfügen Ältere häufig – zu- mindest in Bezug auf ihren Arbeitsbereich – Theoretisches Wissen 13 71 16 über gute Ausdrucksfähigkeiten und damit Kreativität 18 75 7 kommunikative Kompetenzen. 왘 Schließlich gibt es auch eine ganze Reihe Flexibilität 19 73 8 von Arbeitsfähigkeiten, die über die Jahre konstant bleiben – sofern keine extreme Lernbereitschaft 22 73 5 Überforderung und damit vorzeitige Ab- nutzung vorliegt. Dazu zählen im Wesent- lichen alle Fähigkeiten, die man braucht, Körperliche Belastbarkeit 30 64 6 um sich normalen physischen und psychi- Lernfähigkeit 32 65 3 schen Anforderungen anzupassen und die während eines Arbeitstages erforderten Leistungen zu erbringen (Konzentrations- eher bei Jüngeren kein Unterschied eher bei Älteren fähigkeit, Anwendung von erworbenem Quelle: IAB-Betriebspanel 2002 Wissen, verbale Fähigkeiten; siehe Abb. 1)
10 Abbildung 3 Wichtigkeit einzelner Eigenschaften/Leistungsparameter für die Arbeitsplätze in Betrieben 2002 Arbeitsmoral, -disziplin 137 Qualitätsbewusstsein 132 Damit schätzten sie Eigenschaften, die eher den Älteren zugeschrieben werden, vor Flexibilität 127 den ›modernen‹ Tugenden wie Flexibilität (Rang 3), Teamfähigkeit (Rang 8) und Krea- Erfahrungswissen 125 tivität (Rang 12) (siehe Abb. 3). Letzteres deckt sich wiederum mit Ergeb- Loyalität 123 nissen anderer Studien zum Kompetenz- modell, die ebenfalls gezeigt haben, »dass in Lernbereitschaft 121 der modernen Arbeitswelt gerade solche Faktoren gefragt sind, die bei Älteren besser Lernfähigkeit 120 ausgeprägt sind« (Maintz 2004 b). Hoch im Kurs stehen kommunikative Fähigkeiten, Teamfähigkeit 119 Lebens- und Arbeitserfahrung oder die Fähig- keit, komplexe Sachverhalte zu überblicken Psychische Belastbarkeit 108 und entsprechende Aufgaben einer Lösung zuzuführen. Theoretisches Wissen 107 Man spricht den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Gelassenheit, Körperliche Belastbarkeit 104 Zuverlässigkeit, realistisches Einschätzungs- vermögen, Krisenbeständigkeit etc. zu. Mit Kreativität 102 102 zunehmendem Alter verschieben sich die Kompetenzen also tendenziell von der dynami- 0 50 100 Prozent schen zur eher beständigen Seite. Dem stehen die Fähigkeiten der Jüngeren wie Flexibilität, sehr wichtig = 150 Prozent, wichtig = 100 Prozent, weniger wichtig = 50 Prozent Aufgeschlossenheit, Dynamik und Zu- Das bedeutet: Je höher der Durchschnittswert, desto wichtiger die Eigenschaft (Leistungs- kunftsorientiertheit gegenüber. Als gesichert parameter). kann gelten, dass die Betriebe mit den dyna- Quelle: IAB-Betriebspanel 2002 mischen Eigenschaften der Jungen alleine nicht bestehen können, sondern dass sie dazu Mit den genannten Befunden korrespon- Älteren keinen sehr großen Vorsprung zu gerade auch die Qualitäten und Kompetenzen dieren Ergebnisse von Befragungen in den haben scheinen. Hinsichtlich der ›psy- erfahrener, älterer Mitarbeiterinnen und Betrieben selbst. So hat das Institut für Arbeits- chischen Belastbarkeit‹ wurden die älteren Mitarbeiter brauchen. markt- und Berufsforschung Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegenüber Doch trotz der überwiegend positiven Ein- Arbeitgebervertretern und Personalverantwort- den jüngeren sogar etwas positiver schätzung der Kompetenzen älterer Beschäf- lichen in 16.000 Betrieben durchgeführt und eingeschätzt (siehe Abb. 2). tigter und deren Wertschätzung sieht die dabei gefragt, welche Kompetenzen eher älte- 왘 Besonders auffällig aber ist, dass gerade Praxis in den Betrieben leider häufig (noch) ren oder eher jüngeren Beschäftigten zuge- jene Eigenschaften, die von den Arbeit- anders aus. Hier herrschen oft noch über- sprochen werden (IAB-Betriebspanel 2002). geberseite eher den älteren Beschäftigten kommene Ansichten über die mangelnde Die Ergebnisse der Befragung bestätigen zugesprochen wurden, an anderer Stelle als Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen teilweise das Erwartete (Jüngere besser hin- besonders wichtig erachtet wurden: Gefragt und Arbeitnehmer vor – oder sie werden dazu sichtlich körperlicher Belastbarkeit, Lernfähig- danach, welche Qualitäten sie grundsätzlich benutzt, um keine Älteren einzustellen oder keit usw.). Teilweise sind sie aber auch über- als sehr wichtig für den Betrieb einschätzen, die Belegschaften aus ›Rationalisierungs- raschend: nannten die Arbeitgebervertreterinnen und - gründen‹ zu verjüngen. Erst vergleichsweise 왘 Überraschend ist zum einen, dass die Jün- vertreter mehrheitlich eher klassische wenige Betriebe mit einem Anspruch an eine geren aus Sicht der Betriebe bei Eigenschaf- Arbeitstugenden wie Arbeitsmoral und nachhaltige Personalpolitik setzen auf den ten wie Teamfähigkeit so gut wie keinen, bei -disziplin (Rang 1), Qualitätsbewusstsein gezielten Mix aus älteren und jüngeren Kreativität und Flexibilität gegenüber den (Rang 2) sowie Erfahrungswissen (Rang 4). Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mit
11 Forever young Die zeitgenössische Sicht auf Jugend und Alter ihrem umfassenden Kompetenzbündel im Team besonders erfolgreich arbeiten können. T rau keinem über 30«. Dieser Satz war ursprünglich ein kulturkritischer Aus- spruch der Studentenbewegung gegen das Tabu. Dahinter steht die Angst vor dem Verlust der eigenen Attraktivität und Fitness, der daran gekoppelten gesellschaftlichen Woher kommt die neue Sichtweise? sogenannte Establishment. Er richtete sich Anerkennung, die Angst vor dem eigenen gegen die als zu satt und angepasst empfun- Verfall und letztlich vor dem Tod. »Kein Der beschriebene Paradigmenwechsel mit der dene Elterngeneration und gegen autoritäre Mensch wird gerne alt.« (Schirrmacher neuen Sicht auf das Alter entwickelt sich Strukturen. Die 68er-Generation, die dieses 2004) natürlich nicht losgelöst von gesellschaftlichen Motto prägte, ist inzwischen auch älter Indes: Angesichts der nicht mehr über- Prozessen. Hintergrund ist der tief greifende geworden; viele ihrer Protagonisten sitzen in sehbaren demographischen Veränderungen demographische Wandel in unserer Gesell- Amt und Würden und sind selbst etabliert. lässt sich auch die Werbung langsam auf schaft, mit seinen – prognostizierten bzw. Die 68er-Studentenbewegung war Teil der Ältere als neue, kaufkraftstarke Zielgruppe teilweise schon sichtbaren – Folgen für Wirt- Generation der ›Baby-Boomer‹, der gebur- ein. Dabei fällt auf: Werbung / Marketing, die schaft, Kultur, die Sozialsysteme und eben den tenstarken Jahrgänge, die in den ersten bei- gezielt Ältere, die ›jungen Alten‹ (50plus) Arbeitsmarkt und die Betriebe. Angesichts den Jahrzehnten nach dem Zweiten Welt- ansprechen, betonen häufig deren Jugend- einer älter werdenden Gesellschaft und damit krieg auf die Welt kamen. Nicht alle ihre lichkeit (›gut gehalten‹), verkaufen Fitness- eines älter werdenden Erwerbspersonen- Angehörigen waren Teil der kritischen geräte und Anti-Aging-Produkte. Das heißt, potenzials werden wir es uns in Zukunft nicht Jugend- und Studentenbewegungen, aber sie sie brechen das Tabu des Alters nicht wirk- mehr leisten können, in den Betrieben allein haben – ausgehend von den USA – Kultur lich, sie schieben das Alter nur hinaus. auf die Dynamik und Tatkraft junger Mit- und Lebensstil in vielen westlichen Ländern arbeiterinnen und Mitarbeiter zu setzen und nachhaltig verändert. Dazu gehören etwa: Der Traum von der Unsterblichkeit gleichzeitig auf die Kompetenzen und Erfah- Musik (Pop & Rock), Mode, aber auch ver- rungen der Älteren zu verzichten. Und außer- änderte Lebensformen und Beziehungs- Darüber hinaus nähren die Medien gelegent- dem werden unsere Sozial- und Rentensyste- muster bis hin zur ›sexuellen Revolution‹. lich neue Träume von Unsterblichkeit: Mit me die wachsende Anzahl älterer Menschen Neben diesen innovativen, teilweise Hilfe der Gentechnik und der modernen auf Dauer nur verkraften können, wenn diese kritischen Momenten lösten die ›Baby Medizin sollen die Menschen immer älter länger als bisher ›in Lohn und Brot‹, das heißt Boomer‹ aber auch handfeste materielle werden (und dabei gesund bleiben); bald soll in Beschäftigung bleiben können. Impulse aus. »Ihre Masse«, so der Publizist es möglich sein, die ›biologische Uhr‹ anzu- Zu den gesellschaftlichen und wirtschaft- Frank Schirrmacher (2004), »schuf eine halten. lichen Fakten, die hinter der Diskussion um Kaufkraft, wie sie noch niemals zuvor in Und wie sähen unsere Gesellschaft und den demographischen Wandel stehen, er- den Händen einer Jugend lag«. Allein ihre ihre Mitglieder dann aus: ›Alt wie Methu- fahren Sie mehr im folgenden Kapitel 2. An Masse, und die Masse des Geldes, über das salem‹ oder doch ›forever young‹? dieser Stelle soll nur noch einmal darauf sie verfügten, machte sie zur wichtigsten hingewiesen werden, dass wir auch selbst – als Zielguppe der Wirtschaft / der ›Konsum- Gesellschaft und als Individuen – unser Bild gesellschaft‹. Das, was heute gelegentlich als vom Alter werden überprüfen und korrigieren ›Jugendwahn‹ beschrieben wird, wäre müssen, wenn wir in der veränderten, älteren demnach auch ein ›Kaufkraftphänomen‹ Gesellschaft zurecht kommen wollen. Oder, (Schirrmacher). um mit dem Publizisten Frank Schirrmacher (2004) zu sprechen, »wir müssen ... eine Alter als Tabu spektakuläre Kulturwende einleiten« und den immer noch dominierenden »negativen Aber schon die Tatsache, dass sich dieser Altersvorstellungen« mit aller Entschiedenheit ›Wahn‹, das alles dominierende Ideal der und im eigenen Interesse entgegentreten. Jugendlichkeit so hartnäckig hält – auch wenn die ›Baby Boomer‹ inzwischen älter geworden sind – lässt vermuten, dass noch andere Motive dahinter stehen: Altern war und ist in unserer Gesellschaft fast schon ein
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13 2. Die gesellschaftliche Realität: demographischer Wandel und Arbeitswelt Demographischer Wandel: zu Kaisers Zeiten also auch schon Demogra- Form und geriet ins Ungleichgewicht – und Was ist das? phie; von demographischem Wandel konnte das gleich mehrfach. Besonders gravierend damals allerdings keine Rede sein. Im Gegen- waren die Veränderung am Fundament der Für den Namen Demographie standen die alten teil: Die demographische Struktur der Bevölke- Pyramide: Es schmolz geradezu dahin. Der Griechen Pate: ›Demos‹ heißt im Altgriechi- rung war zumindest in einem wichtigen Punkt Grund: Die Zahl der Geburten sank rapide. schen Volk und ›graphein‹ steht für schreiben. durchweg konstant: Stets übertraf die Zahl der Während etwa im ›Baby-Boom‹ der 1960er Demographie ist also ›Volksschreibung‹ – oder Geburten die der Todesfälle, und sehr alte Jahre die durchschnittliche Geburtenrate je mit den Worten der Wissenschaft ausgedrückt: Menschen gab es nur wenige. Optisch Frau einen Höchststand von 2,5 Kindern er- statistisch fundierte Bevölkerungslehre. betrachtet ähnelte der Altersaufbau der Gesell- reichte, sank sie bereits im folgenden Jahr- Im weiteren Sinne versteht man darunter schaft daher in etwa einer Pyramide. Die hohe zehnt deutlich ab und hat sich inzwischen bei eine Teildisziplin der Sozialwissenschaft, Zahl der Kinder und Jugendlichen bildete den 1,4 Kindern eingependelt. Umgekehrt wurde deren Erkenntnisobjekt das Werden, Leben breiten Sockel, die wenigen ›Methusaleme‹ die die Spitze der Pyramide immer üppiger – eine und Vergehen menschlicher Bevölkerung ist – dünne Spitze der Pyramide, und dazwischen Entwicklung, die sich freilich schon länger allerdings nicht aus philosophischer, sondern lagen die mittleren Jahrgänge. abzeichnete. Der Grund ist die steigende aus statistischer Perspektive. Kurzum: Die Diese demographische Struktur, die als Lebenserwartung des Einzelnen: Infolge der Demographie interessiert an der Bevölkerung ›Alterspyramide‹ in den allgemeinen Sprach- Fortschritte in Gesundheitswesen, Hygiene, alles, was sich in Zahlen erfassen und messen gebrauch einging, erwies sich als ungeheuer Ernährung sowie des allgemein gestiegenen lässt. Zu wichtigen demographischen Faktoren beständig: Sie überdauerte nicht nur Monar- Wohlstands und der Verbesserung der Lebens- gehören die Geburtenrate, die Sterberate und chie, Weimarer Republik und die Nazidiktatur, bedingungen nahm die Lebenserwartung in das Migrationsverhalten der Bevölkerung. sondern reichte auch noch bis weit in die den letzten hundert Jahren kontinuierlich zu. Die demographischen Daten, die hierzu- Bonner Demokratie. Auch heute bröckelt die Pyramide weiter lande das Statistische Bundesamt regelmäßig Erst Anfang der 1970er Jahre begann dann und entwickelt sich optisch immer mehr in ermittelt und veröffentlicht, wurden in das, was man heute demographischen Wandel Richtung ›Pilz‹. Anders gesagt: Die Bevölke- Deutschland erstmals 1871 erfasst. So gab es nennt: Die Pyramide verlor ihre klassische rung schrumpft zahlenmäßig – und der Anteil Abbildung 4 Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland ... Alter in Jahren Alter in Jahren ... am 31.12.1910 ... am 31.12.2001 und am 31.12.2050 Männer Frauen Männer Frauen 31.12.2001 31.12.2001 Tausend Personen Quelle: Statistisches Bundesamt 2003-15-0220
14 jüngerer Menschen an der Gesellschaft wird unter 80 Millionen liegen und dann bis zum legt – bis 2030 auf 71 und bis zum Jahr 2050 immer geringer, während die Zahl der alten Jahr 2050 auf gut 75 Millionen Einwohner sukzessive auf 78 ansteigen. und immer älteren Menschen stets zunimmt. sinken.1 Dieses Phänomen meint, wer heute vom de- Wie schon seit 30 Jahren, so werden auch in Arbeitswelt und Altersstruktur mographischen Wandel spricht (siehe Abb. 4). den nächsten Jahrzehnten in der deutschen Bevölkerung jährlich mehr Menschen sterben Wie wirkt sich diese Entwicklung nun auf Der demographische Wandel in der als zur Welt kommen. Die heutige jährliche Arbeitswelt und Arbeitsmarkt aus? Was das Forschung Geburtenzahl von ca. 730.000 Babys wird auf Erwerbspersonenpotenzial betrifft, so gehen etwa 560.000 im Jahr 2050 sinken und dann die Prognosen des Statistischen Bundesamtes Zum Thema des sich abzeichnenden demo- nur noch halb so hoch sein wie die Zahl der davon aus, dass dieses kaum vor dem Jahr graphischen Wandels und seiner Folgen für jährlich Gestorbenen. Bis 1997 konnte dieses 2015, sondern eher erst ab 2020 unter das Unternehmen und Wirtschaft liegen bereits ›Geburtendefizit‹ rein zahlenmäßig durch derzeitige Niveau von rund 40 Millionen seit 15 Jahren Forschungsergebnisse vor. 1989 Zuwanderung ausgeglichen werden. Seither sinken wird. In diesem Zeitraum wird es also hatte das Bundesministerium für Bildung und sinkt die Bevölkerungs-Gesamtzahl in noch nicht zu einem Rückgang des Arbeits- Forschung (BMBF) den Arbeitsschwerpunkt Deutschland ab und wird sich – wie gezeigt – kräfteangebots auf breiter Front kommen. – ›Demographischer Wandel‹ eingerichtet. Über nach allen Prognosen auch weiterhin rück- Allerdings sind die Auswirkungen des demo- das Rahmenkonzept ›Innovative Arbeits- läufig entwickeln. graphischen Wandels auch branchenabhängig, gestaltung – Zukunft der Arbeit‹ wurden in Das niedrige Geburtenniveau auf der einen da einzelne Branchen sowohl unterschiedliche den letzten fünf Jahren die Weichen zu einer und die gestiegene Lebenserwartung auf der Altersstrukturen mit teilweise sehr ausge- deutlichen Lösungsorientierung gestellt. Mit anderen Seite haben nun erhebliche Auswirkun- prägten Kohorten aufweisen und sich außer- dem Transferverbund ›Öffentlichkeits- und gen auf die Altersstruktur der Bevölkerung: dem hinsichtlich der Belastung der Arbeits- Marketingstrategie demographischer Wandel‹ Die jüngeren Altersjahrgänge (bis etwa zum fähigkeit des Einzelnen und damit dem Alter wurden betriebliche und überbetriebliche 50. Lebensjahr) werden generell schwächer des Arbeitsausscheidens erheblich unter- Ansätze zur Bewältigung des demographi- besetzt sein als die älteren. Der Anteil der scheiden (Beispiel: Fluglotsen, Dachdecker). schen Wandels bis hin zu Handlungshilfen unter 20-Jährigen wird von heute 20 Prozent Ab 2020 wird es jedoch zu einem Rückgang entwickelt (www.demotrans.de; Buck/Schletz der Bevölkerung auf 16 Prozent im Jahr 2050 des Erwerbspersonenpotenzials kommen – der 2002). zurückgehen. Der Anteil der mindestens auch durch Zuwanderung nur begrenzt 60-Jährigen wird dann mit 37 Prozent mehr abgemildert wird: Selbst wenn man weiterhin Zahlen & Fakten zum als doppelt so groß sein. Und ganze 12 Prozent von einer jährlichen Zuwanderung von demographischen Wandel der Bevölkerung werden im Jahr 2050 200.000 Personen (mit günstiger Erwerbs- 80 Jahre oder älter sein (gegenüber knapp biographie und guten Qualifikationen) Die neuesten Zahlen zum demographischen 4 Prozent im Jahr 2001). ausgeht, wird das Arbeitskräftepotenzial bis Wandel stammen aus dem Jahr 2003, aus der Die zu erwartenden Verschiebungen im 2050 nach den Prognosen der Statistiker auf ›10. koordinierten Bevölkerungsvorausberech- Altersaufbau zeigen sich besonders stark beim 30 Millionen Personen sinken (ohne Zuwan- nung› des Statistischen Bundesamtes. Sie sogenannten Altersquotienten, der beschreibt, derung allerdings auf 24 Millionen). prognostiziert die Bevölkerungsentwicklung wie viele Menschen im Rentenalter (60 und Erheblich früher wird sich eine andere bis zum Jahr 2005 und bestätigt die oben älter) auf 100 Erwerbspersonen (Alter von 20 Entwicklung auswirken. Die Rede ist von der bereits angeführte Tendenz: Die Bevölkerung bis 59 Jahren) kommen. Lag dieser Quotient Alterung der erwerbstätigen Bevölkerung und in unserer Gesellschaft wird weniger und älter. im Jahr 2001 noch bei 44, so wird er – sofern damit der Betriebsbelegschaften. Dieser Was die Einwohnerzahl Deutschlands man weiterhin das heutige durchschnittliche Prozess ist bereits in vollem Gange. Er wird betrifft, kommen die Statistiker zu folgenden Rentenzugangsalter von 60 Jahren zugrunde sich in Zukunft beschleunigt fortsetzen und Prognosen: Von aktuell 82,5 Millionen Ein- sich hauptsächlich auf die Jahre bis 2020 1 Diese Zahlen beziehen sich auf die ›mittlere‹ von insgesamt wohnern wird die Bevölkerungszahl nach drei Varianten, welche die Statistiker kalkuliert haben. Dieser konzentrieren. Bis 2010, so die Experten, wird einem geringen Anstieg auf 83 Millionen Prognose liegen folgende Annahmen zugrunde: Konstante der Anteil der Erwerbspersonen über 40 Jahre Geburtenhäufigkeit von durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau; ab dem Jahr 2013 zurückgehen, zehn Jahre Erhöhung der Lebenserwartung (bei Geburt bis zum Jahr 2050) zunehmen – und danach steigt dann der für Jungen auf 81,1 Jahre und für Mädchen auf 86,6 Jahre und später (2023) wieder annähernd auf dem Anteil der über 50-Jährigen stark an. Im Jahr ein jährlicher positiver Wanderungssaldo von rund 200.000 heutigen Stand sein, 2035 erstmals knapp Personen (Quelle: Statistisches Bundesamt 2003) 2020 wird mehr als jeder dritte Erwerbstätige
15 Abbildung 5 Anteil der Erwerbstätigen unter den 55- bis 64-Jährigen im internationalen Vergleich Schweden 68,3 Schweiz 64,8 älter als 50 sein. Erstmals wird es dann in den Betrieben mehr 50-Jährige als 30-Jährige Japan 61,6 geben. Der Alterungsprozess, um den es hier geht, USA 59,5 lässt sich gut mit dem Bild der ›wandernden 57,3 Dänemark Kohorten‹ beschreiben: Die ursprünglich größte mittlere Altersgruppe der 35- bis 49- Großbritannien 53,3 Jährigen, die heute mit fast 20 Millionen Kanada 50,4 Menschen knapp 40 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter stellt, wird bereits in den Niederlande 41,8 nächsten Jahren deutlich abnehmen. Ab 2010 steigt dann der Anteil der über 50-Jährigen Spanien 39,7 stark an. Deutschland 38,4 Der Grund für diese Entwicklung liegt darin, dass die geburtenstarken Jahrgänge, die Frankreich 34,2 so genannten Baby-Boomer, älter werden. Diese Kohorten der heute ca. 35- bis 49-Jähri- Italien 28,9 Quelle: OECD gen werden in den nächsten beiden Jahrzehn- abgedruckt in: DER SPIEGEL 17/2004 ten zwangsläufig in die Gruppe der ›Älteren‹ hineinaltern. Auch deshalb tun die Unter- nehmen gut daran, den demographischen zent. Die Erwerbslosenquote Älterer ist durch- schen. Ähnlich wie Deutschland schneiden Wandel möglichst umgehend in ihrer Perso- gängig höher als im Bevölkerungsdurch- Frankreich (34,2 Prozent) und Italien (28,9 nalstrategie zu berücksichtigen. schnitt. Prozent) ab. Im Schnitt liegen die anderen Erinnern wir uns an die Prognosen, wonach Industrieländer rund zehn Prozent über den Status quo: Erwerbsquote und die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen deutschen Werten. Unser Land belegt damit Arbeitslosigkeit Älterer Alter ab etwa 2020 zurückgehen wird: Wirt- einen unteren Mittelplatz in der Statistik schaft und Unternehmen werden gut daran (Quelle: OECD 2003; siehe Abb. 5). Die Tatsache, dass das Durchschnittalter der tun, das vorhandene Erwerbspersonenpoten- Einer der hauptsächlichen Gründe für das Erwerbstätigen bereits seit Jahren steigt, be- zial der Älteren – wie im übrigen auch das der ungünstige Abschneiden Deutschlands ist deutet jedoch nun keineswegs, dass alle poten- Frauen, deren Erwerbsbeteiligung in Deutsch- politischer Natur. Während man sich in ande- ziellen älteren Erwerbstätigen auch tatsächlich land immer noch unter dem Durchschnitt ren Nationen sehr früh Gedanken machte, wie beschäftigt sind. Eher das Gegenteil ist der anderer westlicher Länder liegt – besser aus- man die Arbeitsfähigkeit Älterer erhalten und Fall: Nach den Zahlen des Mikrozensus von zuschöpfen. durch gezielte Maßnahmen für deren Verbleib 2001 (der letzte, für den eine nach Alter im Betrieb sorgen konnte, betrieb man hier- differenzierte Auswertung vorliegt) war nur Deutschland im internationalen zulande gleich mehrfach eine Politik der ein gutes Drittel der 55- bis 64-Jährigen hier- Vergleich frühen ›Externalisierung‹, d.h. vor allem der zulande noch erwerbstätig (Koller u.a. 2003). frühen Verrentung älterer Arbeitnehmerinnen Besonders wenige Erwerbstätige gab es in der Wie ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt, und Arbeitnehmer. Gruppe der über 60-Jährigen, von denen viele ist die geringe Erwerbsquote und die hohe Inzwischen ist diese deutsche Praxis an ihre – vor allem Frauen – bereits regulär verrentet Arbeitslosigkeit Älterer keineswegs durch- Grenzen gestoßen. Die Weichen für Verän- sind bzw. über Vorruhestandsregelungen oder gängig ein internationales Phänomen. Wäh- derungen sind gestellt. Ein frühes Entlassen auch über Arbeitslosigkeit aus dem Erwerbs- rend der Anteil der Erwerbstätigen unter den der Beschäftigten in die Rente ist immer weni- leben ausgeschieden sind. Dagegen waren 55- bis 64-Jährigen in Deutschland im Jahr ger finanzierbar. Außerdem hat man erkannt, unter den 55- bis 60-jährigen Männern 68,5 2003 bei 38,4 Prozent liegt, beschäftigen dass der Volkswirtschaft durch diese Praxis (alte Bundesländer) bzw. 59,7 Prozent (neue Schweden (68,3 Prozent), die Schweiz (64,8 enorme finanzielle Schäden entstehen: zum Bundesländer und Ost-Berlin) erwerbstätig, Prozent), Japan (61,6) und die USA (59,5) einen durch den Ausfall von Steuern und bei den Frauen waren es 48,5 resp. 48,6 Pro- einen erheblich größeren Teil älterer Men- Beiträgen zur Sozialversicherung und zum
16 anderen durch die Verschwendung von nötig, der eine bewusste Gestaltung von auf ein Arbeitsleben – wörtlich genommen Humankapital: Wenn ein Teil des vorhande- neuen, verlängerten Erwerbsbiographien er- werden. nen Produktionsfaktors Arbeit nicht genutzt möglicht (siehe Kapitel 3). wird, bedeutet dies aus volkswirtschaftlicher Bedürfnisse einer älter werdenden Sicht Verluste an Wertschöpfung in Milliar- Die Auswirkungen Gesellschaft denhöhe. auf die Unternehmen Schließlich spricht noch ein weiterer Aspekt Erwerbsbiographie: »Ranklotzen Weil ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeit- für die Beschäftigung Älterer: Nicht nur die bis 55 und dann tschüss« nehmer vom Personalabbau der vergangenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Jahre besonders betroffen waren – und weil sondern auch die Konsumentinnen und Die deutsche Praxis der Frühverrentung – nur wenige Jüngere aufgrund der wirtschaftlich Konsumenten werden älter. Damit verändern gesellschaftlich lange Zeit nicht nur toleriert, schwierigen Lage neu eingestellt wurden –, sich deren Anforderungen an Produkte wie an sondern durchaus positiv besetzt – hatte in sind heute die mittleren Altersgruppen (Baby- Dienstleistungen und Beratung. Produkte vielen Betrieben problematische Folgen. Die Boomer) in den Unternehmen besonders stark müssen diversifiziert und auf die Bedürfnisse Notwendigkeit, Arbeitsplätze und betriebliche vertreten und machen bis zur Hälfte der älterer Menschen abgestimmt werden. Und: Karrieren so zu gestalten, dass sie bis zum Gesamtbelegschaft aus. Betriebe mit einer Ältere möchten gerne von Älteren bedient und Erreichen der Altersgrenze reichten, schien solchen ›komprimierten Altersstruktur‹ (Buck beraten werden: »Es klappt nicht, wenn eine ebenso zu entfallen wie die Weiterbildung u.a. 2002: 51) sind in vielen Branchen anzu- 21-Jährige im Stilbereich Gelsenkirchener älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. treffen. Das Problem für die Unternehmen Barock beraten und verkaufen soll.« (Reinhold Und obwohl durchaus nicht sicher ist, dass besteht nun darin, dass diese Jahrgänge ge- Gütebier, Vertriebsleiter des bayerischen ältere Beschäftigte immer freiwillig aus dem meinsam, sozusagen ›en bloc‹, altern und in Möbelhauses Segmüller, in: Frankfurter Rund- Betrieb ausscheiden, scheint sich bis heute in den nächsten 10 bis 15 Jahren nahezu geschlos- schau vom 11.05.2004). vielen Köpfen Älterer als Ziel ihrer Erwerbs- sen in Rente gehen werden. Konkret bedeutet Es geht also um nichts weniger als um den biographie die Maxime festgesetzt zu haben: das: Es droht ein dramatischer und schlag- Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Unter- »Ranklotzen bis 55 und dann tschüss« (vgl. artiger Verlust an Erfahrungswissen, der kaum nehmen und der Qualität ihrer Produkte – Behrens u.a. 2002). Dadurch entwickelten noch zu kompensieren ist, wenn die Mitarbei- aber ebenso um den Erhalt der Gesundheit sich stabile soziale Erwartungsmuster in terinnen und Mitarbeiter erst in Rente gegan- und Beschäftigungsfähigkeit der Arbeit- Bezug auf ein frühes Ausscheiden aus dem gen sind. nehmerinnen und Arbeitnehmer und die Arbeitsleben, die auch heute – wo die Nicht- Die Schaffung altersgemischter Teams, die Beteiligung älterer und älter werdender fortsetzbarkeit der Praxis der Frühverrentung einen systematischen Transfer vorhandener Menschen in Arbeitswelt und Gesellschaft. offensichtlich ist – weiterwirken. Steigende Kenntnisse und Kompetenzen an Jüngere Arbeitsbelastung und nicht alternsgerechte ermöglichen, wird damit zu einem zentralen Arbeitsbedingungen werden im Hinblick auf Bestandteil künftiger Personalpolitik. Auch ein baldiges Ausscheiden von Älteren in den die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der heute Betrieben weiterhin stillschweigend toleriert. 35–45-jährigen Arbeitnehmerinnen und So wurden in Deutschland durch die politi- Arbeitnehmer über die nächsten 15–25 Jahre sche Strategie der Frühpensionierung, ver- erhält unter diesem Aspekt einen ganz neuen bunden mit der Philosophie der ›Defizithypo- betrieblichen Stellenwert. Und es muss these‹, nicht nur bis heute weiter wirkende sichergestellt werden, dass sowohl jüngere als negative Verhaltens- und Handlungsmuster auch ältere Beschäftigte kontinuierlich an geschaffen, sondern auch viele Chancen Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, um verschenkt. Angesichts der geschilderten ihre Kompetenzen nicht nur zu erhalten, demographischen Entwicklung ist es höchste sondern ständig zu erweitern und auf den Zeit, diese Chancen erneut aufzugreifen und neuesten Stand zu bringen. Das Schlagwort im Interesse von Arbeitgebern wie Arbeit- vom ›lebenslangen Lernen‹ erhält in einer nehmerinnen und Arbeitnehmern zu nutzen. älter werdenden Arbeitswelt eine neue Hier ist nicht zuletzt ein Mentalitätswechsel Bedeutung: Es muss – zumindest mit Bezug
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