Demokratie - ein Auslaufmodell?

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                                                                                                                            Ausgabe 1
                                                                                                                                 März 2021

Demokratie – ein Auslaufmodell?
                                                   Höhepunkt der Hexenjagd auf die Demokratie.         Die Staatsform der Demokratie
                                                   Aber abschreiben sollte man die Demokratie          und die Grundrechte als
                                                   auch in der heutigen Politsystematik noch           Legitimitätsgrund
                                                   lange nicht.                                        Dr. Dr. h.c. Bernhard Christ

                 Andrea Tarnutzer-Münch, MLaw
                                                   Was ist Demokratie heute? Tatsächlich die
                                                                                                       2
                 Advokat
                                                   Herrschaft des Staatsvolkes oder bloss die
                 ADVOKATUR AM BAHNHOF GmbH                                                             Demokratie als kulturelle
                                                   Herrschaft der Eliten, der Politikerkasten und      Errungenschaft
                                                   der Selbstdarsteller? Ist es nicht eine Illusion,   Prof. Dr. René Rhinow
                                                   dass sich ein Volk in der Demokratie selbst
                                                   regiert? Oder sind wir am Ende alle eigentlich      4
Geht sie unter, geht sie nicht unter, geht sie     nur Zuschauer, die mitverfolgen, wie ein
vielleicht doch unter? Der Untergang der Ver-      kleines Grüppchen in unserer eigenen Sache          Demokratie und Staat im Zeitalter
fassungsform der Demokratie – nach Platon          entscheidet? In dieser «tribune» liefern renom-     der Digitalisierung
                                                                                                       Prof. Dr. iur. Nadja Braun Binder und
eine der besten aller Staatsformen – ist heute     mierte Autorinnen und Autoren Antworten auf
                                                                                                       Prof. Dr. Ulrich Binder
in aller Munde. So wird nach verlorenen Volks-     die Frage, was die Demokratie ausmacht und
abstimmungen in der Schweiz seitens der Ver-       ob sie (noch) ein Modell für die Zukunft ist.       6
lierer regelmässig lauthals zur Abschaffung
des das demokratische Gleichgewicht fein           Hoffen wir mit Aristoteles, dass «eine gute         Demokratie – Next Generation
austarierenden Ständemehrs aufgerufen. In          Staatsform zwar zur Entartung neigt, aber aus       Una Schmid, Junger Rat Basel
Deutschland ruft die Bundeskanzlerin (ein          dieser entarteten Form dann immer die nächs-
unglaublicher Vorgang) gar zur Rückgängig-         te gute Form hervorgeht». Demokratische Frei-       8
machung einer nach ordentlichen Verfas-            heit ist jedenfalls mehr als die heutzutage in
sungsregeln erfolgten, aber dem politischen        ganz Europa und der Schweiz grassierende
Etablissement nicht genehmen Wahl auf. Der         Bürokratieherrschaft. Und nein – die Demokra-
Sturm auf das Weisse Haus ist ein kürzlicher       tie (bei uns) geht nicht unter!

                                                Jubiläumsstiftung
                                                 des Bankhauses La Roche & Co
Die Staatsform der Demokratie und die Grundrechte als Legitimitätsgrund

                                                alle noch als demokratisch gelten: So ist       en, sich beziehungsweise den halsstarri-
                                                die konstitutionelle Monarchie – Imboden        gen Schweizer Männern reichlich Asche
                                                nannte sie «Demokratien mit erblichem           aufs Haupt zu streuen. Wer gehört zum
                                                Staatsoberhaupt» – als legitime demokra-        Stimmvolk: Niedergelassene Ausländer?
                 Dr. Dr. h.c. Bernhard Christ
                                                tische Staatsform nicht bestritten. Demo-       Jugendliche vor Erreichen der Mündigkeit?
                 Advokat, Senior Counsel
                 VISCHER AG
                                                kratien sind auch diejenigen europäischen       Kinder? Strafgefangene? Oder brauchen
                 bchrist@vischer.com            Staaten, in denen die Mitwirkung des Volks      gar Tiere Anwälte, die für sie ein Stimm-
                                                auf eine sich nur alle paar Jahre wieder-       recht ausüben? Diese Frage, wie weit das
                                                holende Wahl der gesetzgebenden Be-             Stimmrecht auszudehnen ist, begleitet die
                                                hörde beschränkt. Selbst die Europäische        Demokratie, seit es sie gibt. Sie ist eine
                                                Union versteht sich als demokratisch legi-      politische, keine naturrechtliche Frage.
                                                timiert, obwohl die Distanz zwischen einem
Die Demokratie gilt seit dem Ende des           im Letzten bestimmenden Volk und den            Grosser Definitionsspielraum
Zweiten Weltkriegs als die einzige Staats-                                                      Ein noch weiterer Definitionsspielraum
form, die Anspruch auf volle Legitimität                                                        besteht in der Frage, wie weit der Grund­
erheben darf. Andere Staatsformen kön-                                                          rechtsschutz als Legitimitätsbasis der
nen höchstens als Entwicklungsstadien                                                           Demokratie gehen muss. Wie absolut
auf dem Weg in eine voll gültige demo-                                                          gilt die Rechtsgleichheit? Bedingt Gleich­
kratische Ordnung als annähernd legitim                                                         berechtigung immer auch Gleichstellung,
gelten. Ärgernis und Besorgnis erregen                                                          oder steht Gleichberechtigung der «affirma-
dann politische Systeme, die sich aus                                                           tive action» im Wege? Wie weit geht das
einer einmal erworbenen demokrati-                                                              aus der Versammlungs- und Meinungs­-
schen Verfassung wegbewegen. Aber                                                               frei­heit abgeleitete Demonstrationsrecht?
was ist in diesem Sinne Demokratie?                                                             Gehören kleinere oder auch merkliche
                                                                                                Sachbeschädigungen wie etwa Sprayen
Demokratie erfordert nicht die direkte                                                          dazu und sind sie im Interesse dieses Frei-
Herrschaft des Stimmvolks in Gemeinde-                                                          heitsrechts in Kauf zu nehmen? Ist demge-
versammlungen, Landsgemeinden oder                                                              genüber die nahezu vollständige Auf­hebung
Plebisziten. Die alte Typenlehre hatte                                                          der Kultusfreiheit, wie wir sie in Basel in der
schon Montesquieu relativiert und den                                                           Adventszeit erlebt haben, zulässig, wenn
Begriff der Demokratie an Prinzipien,                                                           sanitarische Zwecke dies nahelegen? Und
mehr als an die Strukturen der Organe                                                           wie steht es mit der Eigentumsgarantie; wo
des Staats gebunden. Und so ist es im                                                           stösst die Umverteilung an Grenzen?
Grunde auch heute. Versuchen wir diese
Prinzipien zu bezeichnen: das allgemeine                                                        Grundrechte als Legitimitätsbasis
Stimm- und Wahlrecht, die direkten und                                                          Bleiben wir deshalb beim Thema der
periodischen Wahlen in den gesetzgeben-                                                         Grundrechte als Legitimitätsbasis der
den Körper, das Mehrheitsprinzip, eine          Für die Einführung des Stimmrechts für Frauen   Demokratie. Die Schweiz hat die Europäi-
von den Exekutiv- und Verwaltungsbehör-         benötigte die Schweiz mehrere Anläufe.          sche Menschenrechtskonvention ratifi-
den unabhängige Justiz, die Bindung der                                                         ziert und sich dem Menschenrechtsge-
Staatstätigkeit an rechtliche Grundlagen,       Organen dieses Verbunds kaum grösser            richtshof in Strassburg unterstellt, obwohl
die Verantwortlichkeit der exekutiven Be-       sein könnte. Varianten bestehen beispiels-      sie für sich selbst eine umfassende Ver-
hörde und schliesslich und wesentlich: die      weise auch bei der Definition des Stimm-        fassungsgerichtsbarkeit durch das Bun-
Bindung des Rechts an in ihrem Kern­            volks: In unserer Demokratie, in der die        desgericht nicht kennt und deshalb bei
gehalt unentziehbare Grundrechte.               Ausdehnung des Stimmrechts auf die              der Neufassung der Bundesverfassung
                                                Frauen durch die Volksabstimmung muss-          bewusst darauf verzichtete, Bundesge­
Viele Varianten möglich                         te, brauchte es mehrere Anläufe. Das ver-       setze der gerichtlichen Kontrolle ihrer
Im Rahmen dieser Prinzipien sind dann           anlasst beim 50. Jahrestag dieses Schritts      Verfassungsmässigkeit und damit Grund-
allerdings viele Varianten möglich, die         die institutionelle Schweiz und ihre Medi-      rechtskonformität zu unterwerfen. Die

2
Institution des Menschenrechtsgerichts-       Justiz oder Gesetzgeber?                        Gefahren ihrer Entartung. Sie liegen nach
hofs in Strassburg war deshalb gedacht,       Beispielsweise die bisher geltende Rege-        seiner Meinung in der Übertreibung und
einen gemeinsamen Mindeststandard an          lung, wonach eine noch nicht 64jährige          damit Pervertierung der die betreffende
Grundrechten für ganz Europa zu gewähr-       Frau beim Tode ihres Mannes eine Witwen-        Staatsform tragenden Prinzipien. Legiti-
leisten, und das war sinnvoll. Denn ohne      rente bekommt, nicht aber ein noch nicht        mität braucht der Staat, um den Gehor-
solchen Grundrechtsschutz ist Demokra-        65jähriger Mann beim Tod seiner Frau,           sam der ihm Angehörenden zu finden. Der
tie nur eine formale Hülle. Inzwischen ist    macht eine Unterscheidung und wollte            Gehorsam wankt, wenn das Legitimitäts-
dieses Gericht dazu übergegangen, im          Ungleiches ungleich behandeln. Das mag          prinzip nicht mehr unbestreitbar ein-
                                              nicht mehr ganz in unsere heutige Arbeits-      leuchtet. Der Eingriff eines Gerichts in die
«Im Rahmen demo-                              welt passen. Nach unserem System muss
                                              es aber der Gesetzgeber sein, der die
                                                                                              Gesetzgebung ist in unserer Demokratie
                                                                                              dysfunktional und ist der Griff in einen mit
kratischer Prinzipien                         Anpassung dann vornimmt, wenn diese             äusserster Zurückhaltung zu öffnenden
                                              Regelung als nicht mehr tragbar erscheint.      Giftschrank, so wie es auch in einer Demo-
sind viele Varianten                          Was einmal sinnvoll und mit der Rechts-         kratie das Notrecht ist. Auch die Demo-
möglich.»                                     gleichheit vereinbar war, kann aus der Zeit     kratie ist darauf angewiesen, nach demje-
                                              fallen. Aber wann dies zutrifft, ist ein Ent-   nigen Gesetz zu funktionieren, unter dem
                                              scheid, der in die Hand des Gesetzgebers        sie angetreten ist. Die Verabsolutierung
Sinne einer dynamischen Auslegung der         gehört. Ein Gericht ist dazu nicht besser       eines ihrer Prinzipien stört dessen Funk-
einzelnen Menschenrechte ein Feintuning       legitimiert. Denn in der Schweiz hat das        tion als Basis der Legitimität. Das gilt für
des Grundrechtsschutzes nach dem              Volk die Möglichkeit, über die Initiative dem   einen dysfunktionalen Grundrechtsschutz
jeweils letzten Stand der universitären       Gesetzgeber Beine zu machen oder ihn            nicht weniger als für einen exzessiven
Wissenschaft vorzunehmen.                     über das Referendum zu bremsen. Auf             Gebrauch des Notrechts.
                                              diese Weise bleibt auch bei den Grundrech-
Strassburg geht zu weit                       ten die Kirche im demokratischen Dorf,          Merke: der Verlust der Legitimität wäre
Damit geht der Strassburger Gerichtshof       wohingegen sie sich (um in der Metapher         für den Staat der GAU.
inzwischen weit über jenes unverzichtbare     zu bleiben) im urbanen Strassburg zuwei-
Grundmass hinaus und bestimmt nun im          len recht weit daraus entfernt. Das Unbe-
Detail, was Rechtsgleichheit, was ein         hagen, das jeweils entsteht, wenn aus
rechtsstaatliches Verfahren, was persön-
liche Integrität, was das Recht auf Familie
und so weiter alles beinhaltet. Die Richter   «Der Gehorsam wankt,
sind von Behörden ernannt, deren Legiti-
mierung durch eine Volkswahl eher theo-
                                              wenn das
retisch ist. Als Ersatz für die demokrati-    Legitimitätsprinzip
sche Legitimierung kann, oder besser
gesagt: könnte der Menschenrechtsge-
                                              nicht mehr einleuchtet.»                          Dr. Dr. h.c. Bernhard Christ
                                                                                                ist Senior Counsel der Anwaltskanzlei
richtshof die Legitimität seiner Recht-                                                         VISCHER AG. Als Politiker war er Präsi-
sprechung nur aus der gewissermassen          Strassburg ein Urteil dieser spezifischen         dent des Grossen Rats des Kantons
naturrechtlichen Richtigkeit seiner Urteile   Art kommt, signalisiert eine Gefahr, die zur      Basel-Stadt und des Verfassungsrats.
begründen. Das ist ein hoher Anspruch,        Krise unserer Form der Demokratie führen          Der Evangelisch-reformierten Kirche
zumal es gegenüber dem Menschen-              kann. Und was hilft uns andrerseits der           Basel-Stadt diente und dient er als Mit-
rechtsgerichtshof keine korrigierende Ins-    Strassburger Grundrechtsschutz, wenn bei          glied des Kirchenrats und der Synode.
                                                                                                2008 ehrte ihn die Theologische Fakultät
tanz mehr gibt. Nach seiner heutigen          Pandemie-Alarm sogar der Kern der
                                                                                                der Universität Basel mit dem Ehren-
Praxis trifft er zunehmend Entscheide, die    Grundrechte weg­dekretiert wird?
                                                                                                doktor, und als Präsident der Karl-
nach unserem schweizerischen Begriff                                                            Barth-Stiftung erhielt er 2018 den ange-
der Demokratie dem Gesetzgeber vorbe-         Gefahr der Übertreibung                           sehenen Karl-Barth-Preis der Union
halten sein müssen, auch wenn jeder Akt       Und damit kommen wir noch einmal zu               Evangelischer Kirchen in Deutschland.
des Gesetzgebers die Grundrechte berüh-       Montesquieu: Er sieht wie bei jeder Staats-
ren kann.                                     form auch für die Demokratie mögliche

                                                                                                                                           3
Demokratie als kulturelle Errungenschaft

                                                      Frage des Ausländerstimmrechts oder            alle eine faire Chance hatten, sich auf der
                                                      des Jugendstimmrechts. Immer mehr              Basis einer verlässlichen Informationsla-
                                                      Menschen sind einer Staatsgewalt unter-        ge einzubringen und nach dem Richtigen
                                                      worfen, über die sie nicht mitbestimmen        und Angemessenen zu suchen. In letzter
                 Prof. René Rhinow
                                                      können – eigentlich ein Widerspruch zur        Zeit mehren sich in der Wissenschaft wie
                 em. Ordinarius für Staats- und
                 Verwaltungsrecht Universität Basel
                                                      fundamentalen demokratischen Idee,             in der Wirtschaft die Stimmen, welche der
                 rene.rhinow@gmail.com                welche eine Identität von Regierenden und      direkten Demokratie eine gewisse Skepsis
                                                      Regierten anstrebt und gleiche Partizipa-      entgegenbringen. Diagnostiziert wird etwa
                                                      tionschancen für alle postuliert. Wege aus     eine quantitative und qualitative Überfor-
                                                      diesem Demokratiedefizit können entwe-         derung des Stimmvolkes. Ist das Volk in
                                                      der zur erleichterten Einbürgerung oder        der Lage – und wird es in die Lage ver-
                                                      zu einer Auflösung der strikten Verknüp-       setzt? –, sich eine sachhaltige Meinung zu
Die Demokratie – die Herrschaft des Vol-              fung von Stimmrecht und Bürgerrecht            bilden, gerade unter den modernen Bedin-
kes – gilt hierzulande als etwas Selbst-              durch Erweiterung des Stimmvolkes füh-         gungen einer medialen Öffentlichkeit, die
verständliches, als Identitätsmerkmal                 ren, wie Beispiele aus Kantonen und            geprägt ist von einer Ökonomie der Auf-
der Schweiz. Doch wirft sie auch in un-               Gemeinden zeigen.                              merksamkeit und einem Zerfall in immer
serem Land Fragen auf. Nachstehend                                                                   mehr Teilöffentlichkeiten?
sollen einige davon anhand von vier                   II Demokratie und Verfassungsstaat
Kernelementen der Demokratie beleuch-
tet werden: Ihr Verhältnis zum Volk, zum
                                                      Recht und Staat sind für eine Demokratie,
                                                      die diesen Namen verdient, konstituie-
                                                                                                     «Recht und Staat sind
Verfassungsstaat, zur Repräsentation und              rend. Beide werden zusammengehalten            für eine Demokratie
zu ihren Auswirkungen.                                im Verfassungsstaat und gipfeln in der
                                                      Rechtsstaatlichkeit, ohne die eine Demo-       konstituierend.»
I Demokratie und Volk                                 kratie nicht gedacht werden kann.
Demokratie basiert auf der Souveränität                                                              Auch das Volk kann irren
des Volkes (gr. «demos»). Doch wer gehört             Kein Volk über dem (Verfassungs-)Recht         Demokratie ist ein Prozess, kein Zustand:
zum Volk? Das Volk ist nichts Vorgegebe-              Demokratische Entscheide durch Minder-         Legitim erscheinen Mehrheitsentscheide
nes, sondern muss definiert werden.                   heitsmehrheiten finden ihre Grenzen an         zudem nur unter der weiteren Vorausset-
Wenn der Demos nichts Vorgegebenes,                   anderen Grundwerten der Verfassung. Es         zung, dass in unserer responsiven Demo-
natürlich Bestimmtes ist, so ist er auch              war ein Grundanliegen unserer Verfas-          kratie Minderheitsmeinungen respektiert
nicht sakrosankt. Fragen der Zugehörig-               sungsväter, die Macht im Interesse der         werden und die Diskussion weitergehen
keit und der Definition des Demos sind                Freiheit zu teilen – alle Macht, auch die-     kann und soll. Auch das Volk kann sich
immer wieder neu auszuhandeln. Die                    jenige des Volkes. Das schweizerische          irren! Volksentscheide sind – verfassungs-
Bundesverfassung bestimmt das Stimm-                  politische System zeichnet sich durch          rechtlich abgesichert – reversibel. Man
volk. Dieser «Demos» ist also «weniger»               eine Häufung von Machtteilungen und            muss sich aber fragen, ob es nicht gravie-
als das ganze Volk. Die am Abstimmungs-               Machtbremsen aus, institutionell sind vor      rende Entscheide gibt, die nicht oder
tag obsiegende Mehrheit stellt eigentlich             allem die Menschenrechte, der ausge-           kaum reversibel sind und die deshalb eine
eine Minderheit dar («Minderheitsmehr-                baute Minderheitenschutz, der Föderalis-       zweite Volksbefragung zwingend erhei-
heit»), denn sie beträgt zwischen 19 und              mus, das Zweikammersystem und die              schen. Wäre es nicht geboten, bei Schick-
23 Prozent des Schweizervolkes und unter              Kollegialregierungen zu nennen; politisch      salsabstimmungen (wie etwa über einen
15 Prozent der von unserem Recht betrof-              etwa das Vielparteiensystem.                   Beitritt zur Europäischen Union oder über
fenen Bevölkerung. Der oft ange­   rufene                                                            die Abschaffung der Armee) eine doppelte
Souverän und ebenso häufig beschwo-                   Demokratie stösst auf Skepsis                  Abstimmung vorzusehen, jedenfalls dann,
rene «Volkswille» sind Fiktionen einer                Unter welchen Voraussetzungen können           wenn der Ausgang der ersten Abstim-
inexistenten Einheit, die im Absolutismus             Entscheide einer Minderheitsmehrheit als       mung knapp erfolgte?
haften geblieben sind. Die Zusammen­                  legitim erachtet werden? In erster Linie ist
setzung des Stimmvolkes kann unter                    zu fordern, dass das Abstimmungsresultat       Bedenklicher «Initiativenbetrieb»
mehreren Gesichtswinkeln zum Legitima-                Folge eines freien und offenen Meinungs-       Der gegenwärtige Initiativenbetrieb auf
tionsproblem werden, so etwa in der                   bildungsprozesses darstellt, in welchem        Bundesebene erweckt mehrere Beden-

4
ken. Hier seien bloss drei erwähnt: Einmal     Ringen um eine optimale Verteilung der         treuen Staatsrechtler Carl Schmitt und
die hinkende oder gar fehlende Überprü-        politischen Verantwortlichkeiten zwi-          seinem Gefolge gepflegt wurde – was
fung von Initiativen auf ihre Konformität      schen Volk und Volksvertretung. Einer-         einen Politiker aus Herrliberg nicht daran
mit den Grundwerten der Verfassung                                                            hinderte, dasselbe zu tun.
sowie dem Völkerrecht, das Teil unserer
Rechtsordnung bildet. Dann ausufernde,
                                               «Demokratie ist ein                            IV Demokratie und Output-Dimension
schlecht formulierte und in ihren Konse-       Prozess,                                       Demokratie hat sowohl eine Input- als
quenzen unbedachte oder bewusst wider-                                                        auch eine Output-Dimension: Wir erwar-
sprüchliche Volksinitiativen, die nicht voll   kein Zustand.»                                 ten von der Demokratie nicht nur eine
umsetzbar sind, was regelmässig den                                                           möglichst breit abgestützte Volksbeteili-
politisch instrumentalisierten Vorwurf der     seits sollen dem Volk die grundlegen­          gung, sondern auch Ergebnisse, welche
Verfassungswidrigkeit nach sich zieht.         den politischen Entscheidungen zustehen        dem Volk bestmöglich dienen, vor allem
Und schliesslich werden Initiativen zum        und anderseits sachrichtige wie recht-         die Freiheit schützen, den Wohlstand för-
Anlass genommen, um Zeichen zu setzen,         zeitige Entscheidungen im Interesse von        dern und aktuelle Herausforderungen und
Unbehagen zum Ausdruck zu bringen.             Freiheit und Wohlstand ermöglicht wer-         Probleme meistern. Zwischen Input- und
Dass Initiativtexte zu Verfassungsände-        den. Dieses Ringen ist nie abgeschlos-         Output-Dimension tut sich ein Spannungs-
                                                                                              feld auf, das bis zur Krise anwachsen
                                                                                              kann. Die Legitimität einer Demokratie
                                                                                              droht zu schwinden, wenn die Ergebnisse
                                                                                              der Politik von einer Mehrheit des Volkes,
                                                                                              ja schon von einer radikalen Minderheit
                                                                                              nicht mehr akzeptiert werden.

                                                                                              Zum Schluss: Demokratie ist eine gross-
                                                                                              artige kulturelle Errungenschaft. Sie ver-
                                                                                              langt Demokraten, die sie nutzen und
                                                                                              pflegen!

Senatus Populusque Romanus, «Der Senat und das römische Volk», das Hoheitszeichen der
Römischen Republik.                                                                             Prof. Dr. René Rhinow
                                                                                                ist emeritierter Ordinarius für Staats-
rungen führen, zu rechtlich verbindlichen      sen; die Reform der Volksrechte kann
                                                                                                und Verwaltungsrecht an der Uni­versität
Normen auf oberster Stufe, wird zuneh-         einem demokratischen Gebot entspre-              Basel und war dreimal Dekan der Juris-
mend verkannt oder bewusst negiert.            chen. Funktionen, Leistungsvorteile wie          tischen Fakultät. Weiter war oder ist er
                                               erfahrene Nachteile von repräsentativen          Rechtskonsulent bei Niederer Kraft & Frey
III Demokratie und Repräsentation              wie direktdemokratischen Elementen               Rechtsanwälte, Mitglied und letzter Prä-
In der Schweiz ist der Glaube fest veran-      müssen vorurteilsfrei, sachkundig und            sident (1984) des basellandschaftlichen
kert, unsere Volksrechte stellten das          emotionslos – zumindest auch emotions-           Verfassungsrates, Ständerat des Kantons
                                                                                                Basel-Landschaft 1987–1999, Präsident
Wesen der Demokratie dar. Doch so teuer        los – diskutiert werden können. Aus der
                                                                                                des Schweizerischen Roten Kreuzes
sie uns sind: Auch bei uns ist das Volk        Bedeutung von Parlament und Regierung
                                                                                                2001 – 2011, Präsident der Alzheimer-
auf verantwortliche Organe angewiesen,         als Kern einer substantiellen Demokratie         vereinigung beider Basel (2012 – 2015),
welche Entscheidungen vorbereiten und          leitet sich das Gebot ab, zu den Institutio-     VR-Präsident Vogt Schild AG Solothurn
fällen. Parlament und Regierung bilden         nen Sorge zu tragen. Es schadet der              (2006 – 2009) und Aquila & Co AG Zürich
einen unverzichtbaren Kern jeder Demo-         Demokratie, wer sich anmasst, das Par-           (2004 – 2016) und Ombudsmann der AZ
kratie. Die Ausgestaltung der Volksrechte      lament als Schwatzbude zu disqualifizie-         Medien (seit 2012).
als Menschenwerk widerspiegelt das             ren, wie es in der Nazizeit vom hitler­

                                                                                                                                            5
Demokratie und Staat im Zeitalter der Digitalisierung

                                                         ausfiltern, aufbereiten und verteilen. Das              reitung von zuverlässigen und ausge­
                                                         ist ein Spannungsfeld, das sich gerade im               wogenen Informationen als auch das ein-
                                                         Vorfeld von Volksabstimmungen regel-                    zelne Individuum in der abwägenden
                                                         mässig öffnet.                                          Integration eben dieser Informationen vor
                                                                                                                 pikanten Herausforderungen.
                     Prof. Dr. iur. Nadja Braun Binder
                     Universität Basel
                                                         Konstellation mit Krux
                     nadja.braunbinder@unibas.ch         Bis hierher mögen diese Ausführungen                    Fragen um die Transparenz
                                                         nach angetrockneter Schulbildung getönt                 Einige davon seien zur Illustration ange-
                                                         haben. Aber die Krux der Konstellation ist              führt. Braucht es, zunächst auf der Seite
                                                         schon nach einer kurzer Tiefenbohrung                   des Staats gefragt, Transparenzbestim-
                                                         ersichtlich: Der Staat beschützt – negativ              mungen für politische Kampagnen? Und
                                                         – die Bürgerinnen und Bürger im Grunde                  – wenn ja – was gewährleistet im Dickicht
                                                         genommen auch vor sich selbst. Und er ist               der digitalen Welt Transparenz? Anders
                                                         gleichzeitig – positiv – ein wichtiger Akteur           gefragt: Sollen staatliche Behörden in
                     Prof. Dr.Ulrich Binder
                     PH Ludwigsburg
                                                         in eben dieser politischen Meinungsbil-                 eine Debatte eingreifen, in welcher unwah-
                     ulrich.binder@ph-ludwigsburg.de     dung. Weiter gedacht bedeutet dies, dass                re Aussagen kommuniziert werden? Und
                                                         der Staat – in Abwandlung des Böcken­                   – wenn ja –, einmal unbesehen der Prob-
                                                         förde-Diktums* – an den Voraussetzungen                 lematik einer staatlichen Definition von
                                                         mitwirkt, die seine Existenz garantieren,               «wahr»: Ab welchem Zeitpunkt? Womit?
                                                         wobei gerade diese Voraussetzungen stets                Und zu welchem Grad? Und auf Seite der
Die Digitalisierung und die damit ent-                   auch seine Existenz in Frage stellen kön-               Individuen gefragt: Was stimmt? Wem ist
standenen neuen Kommunikationska-                        nen. Qua Autorität des Staats wird die                  zu trauen? Wie sollen in dieser Gemenge-
näle haben den Prozess der Meinungs-                     diese Autorität des Staats hinterfragende               lage die staatlichen Informationen geprüft
bildung in Demokratien stark erweitert.                  Autorität des bürgerlichen Subjekts gebil-              und verwertet werden, zumal in Zeiten,
Welche Rolle spielt nunmehr der Staat?                   det; mündiges Abwägen, kritisches Prüfen                in denen vielerorts den «Mainstream-
Und muss er sie gegenüber dem vordigi-                   und Alternativen in Anschlag bringende                  Medien» – so sie überhaupt noch wahr-
talen Zeitalter neu definieren? – Notizen                Kritik werden zu Voraussetzung und Bürde                genommen werden – grundsätzlich mit
eines «Salongesprächs» zwischen einer                    zugleich (die Corona-Pandemie ist bered-                Skepsis begegnet wird?
Rechtswissenschaftlerin und einem Bil-                   ter Ausdruck dessen).
dungswissenschaftler.                                                                                            Die grosse Brüskierung?
                                                         Herausforderung Digitalisierung                         Zweifelsohne besteht angesichts dieser
Staat und Demokratie sind dialektisch                    Nun soll in diesem Beitrag nicht diese                  aktuellen Entwicklung grosser Diskuss-
verbunden. Der eine bedingt die andere,                  grundlegende Paradoxie auf den Prüf-                    ions- und Handlungsbedarf. Und ebenso
ohne darin aufzugehen. Das ist im                        stand gehoben oder gar die Legitimität                  fraglos gilt es, rechtliche Justierungen
Zusammenhang mit Herrschafts- und                        dieser Modi staatlicher Meinungsbildung                 vorzunehmen und Präventionen zu instal-
Regulierungsfragen augenfällig. Weitere                  in Abrede gestellt werden. Ganz im Gegen-               lieren. Metaphorisch ausgedrückt: Diver-
Begriffspaare, welche die dialektische                   teil: Wir diskutieren aktuelle Herausforde-             se Spielfiguren und -züge stehen zur
Interdependenz anzeigen, sind schnell bei                rungen für eben diesen Prozess. Die Rede                Debatte. Die Frage freilich ist, ob damit
der Hand: Dominanz und Partizipation,                    ist von den vielfältigen Entwicklungen im               auch die Spielregeln zur Verhandlung ste-
Loyalität und Emanzipation, Heteronomie                  digitalen Bereich. Wenn Meinungsbildung                 hen. Muss die Rolle des freiheitlichen
und Autonomie, Gewaltmonopol und Frei-                   heute grundsätzlich anders erfolgt als                  Staats angesichts der Herausforderungen
heit und weitere. Nicht anders verhält es                noch vor einem Jahrzehnt, wenn Fake-                    der Digitalisierung geändert werden? Der
sich bei der Frage nach der staatlichen                  Seiten und Social Media-Trolle Meinungs-                kulturpessimistische Sound der Stunde
Funktion und Leistung im Zusammen-                       bilder verfälschen können, wenn heute                   legt dies jedenfalls nahe. Wir möchten in
hang mit der Meinungsbildung, die ja eine                sich selbst regenerierende Meinungsver-                 die diesbezüglichen Debatten drei sehr
unabdingbare Voraussetzung für mannig-                   stärkungen durch bestimmte Algorithmen                  grundsätzliche Argumente, die nicht zum
faltige demokratische Prozesse ist. Hier                 stattfinden, wenn sich die Kommunikation                Standardrepertoire gehören, einbringen.
kommt dem Staat einerseits die Rolle                     aus dem Licht der Öffentlichkeit in Netz-
zu, die Wahl- und Abstimmungsfreiheit                    nischen, Filterblasen, Echokammern,                     Was steht auf dem Spiel?
der Stimmberechtigten vor unzulässiger                   Informationskokons und ähnliches verla-                 Klagen über Verfall setzen einen als «gut»
Beeinflussung zu schützen. Andererseits                  gert, dann stehen sowohl der Staat in                   geadelten Ist-Zustand voraus, der vorgeb-
muss er gleichzeitig Informationen dazu                  seiner Funktion der transparenten Aufbe-                lich verlustig zu gehen droht. Im vorlie-

* «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann» (Ernst-Wolfgang Böckenförde im Aufsatz «Die Entstehung des
Staates als Vorgang der Säkularisation» [1964])

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genden Fall handelt es sich um die            nungen Anderer überprüft werden. Bestä-        zugleich. Und in der Retrospektive zeigt
Besorgnis, Abstimmungen könnten im            tigungsspiralen – intraindividuelle und        sich das Paradoxon von enormer Behar-
Soge der Digitalisierung nicht mehr           gesamtgesellschaftliche –, wie sie sich        rungs- und gleichzeitig Wandelfähigkeit.
«echt» oder «richtig», sondern «ver-          dann stabilisieren, sind nicht die Antithese
fälscht» sein, weil Informationen algorith-   dazu, weil auch sie erst durch ein Verglei-    Vor einem solchen relativierenden, abküh-
misch generiert werden, weil sie von          chen zustande gekommen sind. Staatli-          lenden Betrachtungswinkel besteht nicht
unkontrollierbaren Playern beeinflusst        cherseits kann insofern nicht Primärziel       nur die Hoffnung, sondern ganz stark die
sind et cetera. Abgesehen davon, dass         sein, qua Recht die Momente des mei-           Erwartung, dass auch die gegenwärtigen
dies im Umkehrschluss bedeuten würde,         nungsbildenden Kontrastierens zu deter-        Herausforderungen keine sind, die den
dass diese Informationen bis dato «echt»      minieren – abgesehen davon, dass dies          Staat und seine Gesetzgebung (bezie-
waren, beinhaltet diese Befürchtung die       unweigerlich die Frage nach einer Zensur       hungsweise das Informieren darüber) als
Annahme, Abstimmungen könnten nun             nach sich zöge. Paradoxerweise ist in          Verlierer charakterisieren werden. Auch
nicht mehr das «richtige» Ergebnis zeiti-     Bezug auf den «Fluss der Kommunikati-          wenn sich Geschichte weder als Wieder-
gen. Das ist selbstredend eine hochgradig     on» (Ralf Dahrendorf) das Gegenteil der        holung noch als Finalisierung kennzeich-
                                              Fall: Rechtlich muss nicht nur garantiert      nen lässt: Das Problem der staatlichen

«Muss die Rolle des                           werden, dass eine Vielfalt an Ansichten
                                              theoretisch möglich und geschützt ist,
                                                                                             Rolle im Kontext von Meinungsbildungen
                                                                                             wird sich auch diesmal wieder einpen-
Staats angesichts der                         sondern auch, dass diese ins Zirkulieren       deln. Und sollte sich darob dann wieder
                                              kommen können, auf die Gefahr hin, dass        Verdrossenheit breitmachen, ist das nicht
Digitalisierung geän-                         sie die Hand beissen, die sie füttert, res-    die Antithese, sondern gewissermassen
dert werden?»                                 pektive, dass die Rechtsetzung, die den
                                              Meinungspluralismus nicht nur schützt,
                                                                                             der Beleg für das Funktionieren.

                                              sondern ihn sogar fördert, von eben die-
illiberale Implikation. Sie würde ja bedeu-   sem auch konterkariert werden kann.
ten, dass Abstimmungen nicht grundsätz-       Um in Dahrendorfs Metapher zu bleiben:
lich ergebnisoffen sind. Rechtswissen-        Rechtliche Regulierung meint, die Fliess-
schaftlich betrachtet bleibt aus liberaler    richtung abzustecken und die Schleusen
Perspektive kein anderer Weg, als dass        adäquat zu öffnen. Sie soll aber nicht alle
der Staat im Pluriversum an Meinungen         entstehenden Nebenarme abdichten, um             Prof. Dr. Nadja Braun Binder, MBA
                                                                                               ist Professorin für öffentliches Recht an
auch eine Offerte in Umlauf bringt, wofür     so die Wassermenge und -qualität, Fisch-
                                                                                               der Universität Basel. Sie forscht und lehrt
– das ist die Ironie in der momentanen        arten und Pflanzenwuchs zu beeinflussen.         in den Bereichen Staats- und Verwaltungs-
Larmoyanz – dann wieder digitale Medien       Das wäre, liberal gedacht, unzulässig            recht, Europarecht, Finanz- und Steuer-
als gut genug angesehen werden.               paternalistisch.                                 recht sowie Verwaltungswissenschaften
                                                                                               und interessiert sich insbesondere für
Wie kommen Meinungen zustande?                Was war eigentlich früher?                       Rechtsfragen rund um die Digitalisierung
Der Wettstreit um das bessere Argument        Derzeitige Debatten werden von folgen­  -        in Staat und Verwaltung
mag viele Probleme mit sich bringen,          der Logik dominiert: Die Digitalisierung
im Kontext von Digitalisierung allemal,       gefährdet die etablierten Modi und Hori-
und er mag in sich die Gefahr einer           zonte. Damit wird suggeriert, die rechts-
Destabi­lisierung bergen. Doch einen Staat    staatliche Demokratie sei als Festung
als Schiedsrichter aufzubieten im Sinne       gesetzt, und feindliche Heere stürmten
von «Staat, was sollen wir meinen zu Kli-     gegen diese Burg. In einer historischen          Prof. Dr. Ulrich Binder
mawandel, Gender und Atomkraft?», ris-        Betrachtung zeigt sich freilich, dass            ist Professor für Allgemeine Pädagogik an
kiert Agitation und Populismus. Aber ist      das Prinzip «Demokratie» nie diversen            der PH Ludwigsburg. Er betreibt die Allge-
die Dramatik wirklich so dramatisch?          Entwicklungen gegenüberstand. Es kam             meine Pädagogik als Wissensforschung
Schliesslich braucht es, um einen eigenen     nicht, wie das momentan in Bezug auf             und geht der Frage nach, wie erziehungs-
Standpunkt einnehmen zu können, immer         Digitalisierung oftmals kommuniziert             wissenschaftliches und pädagogisches
                                                                                               Wissen konstruiert, definiert, legitimiert,
auch eine Alternative. Im kontrastiven        wird, immer wieder in Bedrängnis und
                                                                                               reglementiert, rezipiert und distribuiert
Abgleichen mit Anderen und Anderem            musste notgedrungen, quasi in letzter
                                                                                               wird und welche Wirkung es innerdiszipli-
bilden sich Meinungen – individuelle wie      Sekunde, gerettet werden. Vielmehr war           när und gesamtgesellschaftlich hat.
kollektive – heraus. Mit anderen Worten:      es mitten drin, Movens und Agens, Täter
Die eigene Meinung kann nur an den Mei-       und Opfer, Wackelkandidat und Retter

                                                                                                                                              7
Demokratie – Next Generation

                                                             Auch wenn die aktive Teilnahme                                 Wie halten Sie es mit dem Ausländer-
                                                             abnimmt?                                                       stimmrecht?
                                                             Dass in der Regel weniger als 50 Prozent                       Wer hier lebt und eine Arbeitsbewilligung
                                                             der Berechtigten wählen und abstimmen,                         besitzt, also Steuern bezahlt, sollte über
                       Una Schmid, stud. pharm.
                                                             finde ich sehr schade. Wie kann man ein                        Dinge mitentscheiden können, die ihn im
                       Universität Basel,
                       Beisitzerin Junger Rat Basel
                                                             solches Privileg nicht wahrnehmen? Viele                       täglichen Leben ja genau so betreffen wie
                       una.schmid@junger-rat.ch              Menschen denken wohl, ihre Stimme zähle                        uns, die den roten Pass haben.
                                                             nicht. Aber es sind in letzter Zeit viele Ini-
                                                                                                                            Und mit dem Ständemehr?
                                                             tiativen lanciert worden wie die Website
                                                                                                                            Das hatte sicher früher seine Berechtigung
                                                             easyvote.ch, die vor allem junge Leute
                                                                                                                            als demokratisches Korrektiv. Heute leben
Wie sieht die Generation Z die Demokra-                      mit einem neutralen und verständlichen
                                                                                                                            viel mehr Menschen in Städten und Agglo-
tie? Antworten einer Jungpolitikerin und                     Zugang zu politischen Fragen motiviert.
                                                                                                                            merationen. Dass dann kleinere Kantone
Beisitzerin des Jungen Rats Basel.                           Da geht etwas.
                                                                                                                            ein Volksmehr in eine Niederlage drehen
                                                                                                                            können, dünkt mich aus der Zeit gefallen.
Was bedeutet Ihnen Demokratie?                               Motivieren für Abstimmen mit 16?
Einerseits die Selbstverständlichkeit, seine                 Fast alle politischen Diskussionen, Vorla-                     Wie beurteilen Sie die Wirkung des
Meinung zu gesellschaftlichen und politi-                    gen und Entscheide betreffen ja die                            Jungen Rats?
schen Fragen frei äussern zu können und                      Zukunft. Unsere Zukunft! Deshalb finde                         Solche Gremien sind wichtig, weil sie jungen
gehört zu werden. Mitentscheiden und                         ich es extrem wichtig, dass sich junge                         Menschen zeigen, dass sie wichtig sind für
wählen zu können. Und andererseits die                       Leute früh dafür interessieren. Wer 16 ist,                    die Gesellschaft. Und dass sie etwas zum
Möglichkeit, sich selber zu einer Wahl in                    ist reif genug, sich eine Meinung zu bilden                    politischen Geschehen beitragen können,
ein Amt zu stellen und aktiv einzubringen.                   und dieser im demokratischen Prozess                           das gehört wird.
                                                             Ausdruck zu verleihen.
Taugt diese historische Herrschaftsform                                                                                         Der Junge Rat Basel
noch für die moderne Schweiz?                                Sollten die Jungen gar ein doppeltes                               ist eine Kommission des Erziehungsde-
                                                                                                                                partements BS. Er zählt aktuell 12 Schüle-
Die Form mag alt sein, aber sie wird                         Stimmrecht erhalten?
                                                                                                                                rinnen, Schüler und Studierende aus Basel
von den Menschen heute gelebt und hat                        Das wäre unfair gegenüber anderen Alters-                          und Riehen. Mit Aktionen und Anlässen
sich im Verlauf der Geschichte deren Vor-                    gruppen. Am Prinzip «One Person, One                               sensibilisiert der Rat Jugendliche für die
stellungen und Bedürfnissen angepasst.                       Vote» sollte man nicht rütteln, da finde ich                       Politik und vertritt ihre Interessen gegen-
                                                                                                                                über Verwaltung und Öffentlichkeit.
Solange das so ist, ist sie auch aktuell.                    Stimmrechtsalter 16 die bessere Idee.

Fotos: Seite 2: https://www.dewiki.de/wiki/Frauenstimmrecht_in_der_Schweiz resp. ETH-BIB-Zürich-Altstetten, Schulhaus Kappeli, erster Frauenstimmtag im
Kanton Zürich; Seite 5: https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie#/media/Datei:Spqrstone.jpg

    IMPRESSUM Nummer 1/2021, erscheint viermal jährlich.
    HERAUSGEBER: Handelskammer beider Basel (info@hkbb.ch), Advokatenkammer Basel, Basellandschaftlicher Anwaltsverband (maier@svwam.ch)
    grosszügig unterstützt von der Jubiläumsstiftung La Roche & Co
    REDAKTION: Dr. Philip R. Baumann, lic. iur. Roman Felix, Dr. iur. Alexander Filli, lic. phil. I Jasmin Fürstenberger, MLaw Andrea Tarnutzer-Münch, lic. phil. I Roger Thiriet
    LAYOUT: Elmar Wozilka, Handelskammer beider Basel, Druck: bc medien ag, Münchenstein
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               P.P. / Journal

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