Der Europäische Betriebsrat: Lieblingskind Europas, Stiefkind der Unternehmenspraxis?
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Europäische Sozialpolitk in der Unternehmenswirklichkeit Lars Jansson Der Europäische Betriebsrat: Lieblingskind Europas, Stiefkind der Unternehmenspraxis? A. Einleitung D er „Gedanke Europa“ gleicht eher einem Mythos denn einem von kol- lektivem Verständnis getragenen gemeinsamen Empfinden. Zu der Frage, was hinter ihm steht und was seine Ausprägungen insbesondere auf dem Gebiet der Personal- und Sozialpolitik sind oder besser sein sol- len, gibt es mindestens so viele Antworten, wie es Mitgliedstaaten gibt. Diese Empfindens- und Meinungsvielfalt multipliziert sich durch die verschiedenen nationalen wie übernationalen Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und NGOs. Im Zentrum dieses Schmelztiegels der Meinungsvielfalt, und damit diese Diskussion in die Unternehmenspraxis hineintragend, stehen die Europä- ischen Betriebsräte in ihrer vielschichtigen und heterogenen Ausgestal- tung. Allein auf Arbeitnehmerseite finden sich verschiedene Mitarbeiter- repräsentationssysteme und Philosophien schon im Umgang mit nationa- len Arbeitgebern zusammen. Diese durch nationales Recht aber auch stark von nationalen Gepflogenheiten geprägten Sichtweisen sollen nun, zu- sammengefügt in einem übernationalen Gremium, zu einer sozialpartner- schaftlichen Auseinandersetzung mit dem „europäischen Arbeitgeber“ führen. Dass dies nicht ohne Weiteres und nicht ohne gezielte Anstren- gungen zu einem Ergebnis führt, bedarf keiner gesonderten Erwähnung. Dieser Beitrag befasst sich mit den Herausforderungen, Spannungsfel- dern und Lösungsansätzen dieses „Abenteuers EWC“ am Beispiel des Europäischen Betriebsrats Clariant und unternimmt den Versuch einer Standortbestimmung. Mit Blick auf die Entwicklung der freiwilligen Ver- einbarung nach Artikel 13 der Richtlinie kann aufgezeigt werden, dass der Grundsatz der Subsidiarität auf diesem Gebiet keine falsche Zurückhaltung des europäischen Gesetzgebers ist. 255
B. Konstruktion des Europäischen Betriebsrats Clariant D er Europäische Betriebsrat (EWC) bei Clariant wurde über den Weg der privilegierten, freiwilligen Vereinbarung nach Artikel 13 der Richtlinie im Jahr 1996 gegründet. Da die Muttergesellschaft ihren Sitz in der Schweiz hat, wurde die bel- gische Landesorganisation als „principle agent“ mit der Verhandlung zur Gründung eines Europäischen Betriebsrats beauftragt. Aus diesem Grund liegt dem EWC das belgische Umsetzungsgesetz zugrunde. Ähnlich wie das französische, kennt das belgische Recht das Konstrukt, dass gewissen Gremien ein Arbeitgebervertreter vorsteht. Dies führte zu der, insbesondere für deutsche Delegierte im EWC, sehr ungewöhnlichen Situation, dass der Präsident des Europäischen Betriebsrats von der Arbeit- geberseite gestellt wird und der Arbeitnehmervorsitzende unter dem Titel „Vice-President“ firmiert. In den Europäischen Betriebsrat von Clariant werden in einem lokal zu definierenden Verfahren Delegierte aus den Ländern Frankreich, Spanien, Italien, England, Belgien, Schweden, der Schweiz und Deutschland ent- sandt, nachdem frühere Delegationen aus Portugal und Österreich entfal- len sind. Die Anzahl der Sitze pro Land ist in einem Appendix zur freiwilli- gen Vereinbarung festgehalten, ohne dass es eine automatische Deduktion von Delegiertensitzen aufgrund der Beschäftigtenzahl im Land gibt. Grundsätzlich findet einmal im Jahr eine Plenarversammlung mit dem gesamten Gremium statt. Diese teilt sich auf in eine vorbereitende Sitzung nur der Arbeitnehmerseite, gefolgt durch die eigentliche Plenarversamm- lung zusammen mit den Arbeitgebervertretern. Bei Bedarf können in Übereinstimmung zwischen Präsident und Vice- President jederzeit außerordentliche Plenarversammlungen einberufen werden. Die laufenden Geschäfte führt ein Lenkungsausschuss („Steering Com- mittee“), bei dessen Sitzungen regelmäßig der Präsident sowie der Se- kretär (neutrale von Arbeitgeberseite gestellte Person, die Präsident und Vice-President in rechtlichen und tatsächlichen Fragestellungen berät) teilnehmen. 256
Europäische Sozialpolitk in der Unternehmenswirklichkeit C. Herstellung „kultureller Handlungsfähigkeit“ des Europäischen Betriebsrats D ie Frage nach der „kulturellen Handlungsfähigkeit“ ist zu trennen von rein rechtlichen Rahmenbedingungen, die sich mehr oder weniger klar aus der Richtlinie, den Umsetzungsgesetzen sowie den (freiwilligen) EWC-Vereinbarungen selbst ergeben. In Deutschland kennen wir den Spruch „jedes Unternehmen hat den Betriebsrat, den es verdient“. Wenn auch mit anderen Vorzeichen ist dies letztlich auf den Europäischen Betriebsrat übertragbar. Ein Gremium jedoch, mit dem von Beginn an gearbeitet werden kann, ist in den Bereich des Wunschdenkens zu verbannen. Vielmehr entsteht ein Mitarbeitervertretungskörper, an dem zu arbeiten ist, bevor man mit ihm arbeiten kann. Die grundlegende Thematik zur Erreichung kultureller Handlungsfähig- keit ist nicht etwa die Sprachbarriere, obwohl sie sich als Problem zunächst scheinbar aufdrängt. Grundlegend ist vielmehr die Erkenntnis der Vielseitigkeit landesbezo- gener Rechtsordnungen und gewachsener Riten im nationalen betriebs- und sozialpartnerschaftlichen Miteinander, die jedem Delegierten eine gewisse Grundprägung natürlich auch in einem europäischen Rahmen mitgeben. Mithin stellt sich nicht vordergründig die Frage nach dem Miteinander mit dem Arbeitgeber, sondern nach eben jenem unter den Arbeitnehmervertretern selbst. So beginnt die „Stunde Null“ des Europäischen Betriebsrats erst dann, wenn das Gebaren in den jeweiligen eigenen Ländern nicht mehr a priori den Anspruch absoluter Richtigkeit postuliert und hiervon abweichendes Verhalten in anderen Ländern als per se unvernünftig betrachtet wird. Stellvertretend für die in diesem Kontext auftretenden Verständnis- probleme sei hier das Verfahren bei der lokalen Behandlung im Zuge von Betriebsänderungen genannt: Für einige italienische und französische Betriebsräte/Gewerkschaften (insbesondere CGT, Lutte Ouvrière) ist es selbstverständlich, zur Unter- mauerung des eigenen Standpunkts vor Beginn von Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite streikähnliche Aktionen durchzuführen, was deut- schen Betriebsräten fremd ist. Dieses Verhalten wiederum ist eingebettet 257
in das nationale System der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten, somit also eben nicht per se unvernünftig, zumal auch die nationale Ar- beitgeberseite unterschiedliche Herangehensweisen hat. Hier ist einzig hilfreich, den aus dem Bilanzvergleichsrecht bekannten Grundsatz des „true and fair view“ heranzuziehen und bei allen Delegier- ten zu schärfen. Dies wiederum geschieht nicht evolutionär, sondern muss gezielt angegangen werden. Aus eigener Erfahrung drängen sich hier Schulungsveranstaltungen auf, die sich mehrere Tage mit diesen Themen beschäftigen. Tatsächlich waren deutliche Erfolge nach einem durch die Europäische Kommission unter- stützten Projekt zu verzeichnen, das sich insbesondere mit Fragen der In- terkulturalität auf rechtlichem und tatsächlichem Terrain befasst hat. Die- ses half auch, die herrschende Mystifizierung des Systems der deutschen Betriebsverfassung bei den nicht-deutschen Delegierten zu begrenzen, insbesondere zu erkennen, dass Mitbestimmung auch Mitverantwortung bedeutet. Eine auf diese Art verbesserte Herstellung des „inneren Friedens“ des Gremiums ist allerdings nur ein Baustein auf dem Weg zu einer echten sozialpartnerschaftlichen Beziehung zum Europäischen Betriebsrat. D. Herstellung „tatsächlicher Handlungsfähigkeit“ des Europäischen Betriebsrats D ie Frage nach der Herstellung tatsächlicher Handlungsfähigkeit ist eng verknüpft mit dem Verständnis von Rolle und Auftrag eines Europä- ischen Betriebsrats. Damit einher geht die Frage der Abgrenzung und die Rollenverteilung der lokalen Gremien. Auch hier ist vermeintlich alles klar geregelt; das praktische Erleben während Plenarversammlungen gibt jedoch ein anderes Zeugnis. Im Vergleich der nationalen betriebsverfassungsrechtlichen Systeme ist zunächst festzustellen, dass die Begriffe Information und Konsultation zwar im Grunde überall existieren, jedoch in verschiedenen Phasen recht- liche Relevanz erlangen. Während etwa bei mitbestimmungsrelevanten Fragestellungen in Deutschland die Information eine Vorstufe entweder zur Prüfung eines Mitbestimmungsrechtes oder aber zur Durchführung der Mitbestimmung selbst darstellt, verlagert sich zum Beispiel nach französi- 258
Europäische Sozialpolitk in der Unternehmenswirklichkeit schem Recht alle Macht der Betriebsräte in diese Vorstufe („Livre IV“). Hier ist der Formalisierungsgrad der Information für den französischen Arbeit- geber bedeutend höher und ausgestalteter, doch endet dieser Prozess nach Erfüllung des Anspruchs abrupt; die Maßnahme kann ohne weitere Hürden durchgeführt werden. Zudem ist feststellbar, dass deutsche Arbeitnehmervertreter, sei es auf- grund gesetzlicher Vorgaben (z.B. paritätisch besetzter Aufsichtsrat, Wirt- schaftsausschuss) oder qua gemeinsam getragener Betriebspartnerschaft (zumindest in der deutschen chemischen Industrie), über lokale Themen besser informiert sind als ihre „ausländischen“ Kollegen. Dieses lokal ge- nerierte Informationsdefizit soll – auch bei rein lokalen Angelegenheiten, für die der Europäische Betriebsrat eigentlich nicht zuständig ist – über den EWC ausgeglichen werden. Somit verlagert sich der Existenzgrund fak- tisch teilweise von einem übergeordneten kollektiven Gremium zu einer Ausbesserungsanstalt von lokalen Informationsdefiziten, was wiederum jede Entwicklung in Richtung Konsultation auf europäischer Ebene hemmt. Hierbei soll nicht der Eindruck erweckt werden, solche Missstände seien Schuld der Arbeitnehmervertreter im Europäischen Betriebsrat. Es ist klare Obliegenheit des übergeordneten (europäischen) Managements, für die Kanalisierung und Katalogisierung von Informationen zu sorgen und somit ein Informationsmanagement aufzubauen, das es ermöglicht, im Rahmen des EWC auf die lokalen Informationsstränge abschließend zu verweisen und sich den „echten“ europäischen Themen zuzuwenden. Die beigefügte Darstellung auf Seite 260 zeigt grafisch die Bemühungen, im EWC Clariant dieses Dilemma aufzugreifen und zu ordnen: Selbst nach Klärung der Arbeitsgrundlagen eines Europäischen Betriebs- rats verbleibt außerhalb der Behandlung „weicher Themen“ das Problem, den Widerstreit zwischen den per definitionem vorgegebenen europä- ischen Interessen einer Arbeitnehmervertretung auf Gemeinschaftsebene und den Singularinteressen der nationalen Mitarbeitervertretung aufzu- lösen. Dies wird besonders deutlich bei Produktionsverlagerungsprojekten zwischen zwei europäischen Ländern. Hier ist im Grunde die Behandlung im EWC als Kollektivorgan faktisch ausgeschlossen, da jede „Partei“ für sich selbst kämpft. Hier ist die einzige Chance für einen Gleichstand an 259
Information zu sorgen; eine Konsultation im wohlverstandenen Sinne ist kaum möglich. An dieser Stelle sei kurz auf das Dilemma der rechtzeitigen Information und Konsultation eingegangen. Definitorisch bedeutet Konsultation, den Betriebspartner so rechtzeitig und umfassend zu informieren, dass auf die abschließende Entschei- dungsfindung des Unternehmens Einfluss genommen werden kann. Diese Definition steht im Spannungsfeld einerseits zwischen der grundsätzlichen Bereitschaft der Unternehmen, den EWC so rechtzeitig einzubinden, dass eine sinnvolle Konsultation ermöglicht wird, und bör- senrechtlichen Vorschriften andererseits. Gerade bei den für Betriebsräte interessanten Fragestellungen wird in der Regel zugleich die börsenrecht- liche Relevanz der Information im Hintergrund stehen. So ist es zwar nicht verboten, einen Europäischen Betriebsrat auch über börsenrelevante Vor- gänge zu informieren, doch löst dies die Verpflichtung einer ad hoc Publi- zität zur Gleichbehandlung aller anderen Stakeholder aus. Somit wird die strategische Frage nach der Wahl des Zeitpunkts einer Verkündung auf Un- ternehmensseite durch die Erfüllung der Konsultationspflicht konterkariert beziehungsweise vorgegeben. Dieses Dilemma lässt sich gerade nicht 260
Europäische Sozialpolitk in der Unternehmenswirklichkeit durch eine Legaldefinition der Konsultation in einer europäischen Richtli- nie auflösen. Nach alledem ist aber noch nicht die Frage nach der Verankerung eines Europäischen Betriebsrats in den Belegschaften Europas aufgeworfen. Die Richtlinie geht davon aus, dass Kommunikationsverfahren etabliert werden, um aus dem Europäischen Betriebsrat heraus die Belegschaften zu informieren. Die Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit eines solchen In- formationsverfahrens wiederum hängt eng mit den hier aufgeworfenen Fragen der inneren und äußeren Funktionsfähigkeit eines EWC zusammen. Dass hier noch viel Arbeit zu leisten ist, steht außer Frage. Jedenfalls ist der EWC noch nicht wirklich in Europa angekommen, solange Belegschaf- ten von seiner Existenz kaum etwas mitbekommen, geschweige denn sie sich in irgendeiner Form von diesem Gremium vertreten fühlen, sofern Letzteres überhaupt vorstellbar ist. E. Handlungsfähigkeit durch Verhandlungslösungen S eit der Erstverhandlung im Jahr 1996 wurde die bei Clariant bestehende freiwillige Vereinbarung mehrfach weiterentwickelt. So wurde mit dem Europäischen Betriebsrat eine Sozialcharta verab- schiedet, die zum einen die vier Grundprinzipien der ILO festschreibt und unternehmensspezifisch interpretiert, und zudem einen Transfer zu „Vision, Mission und Werte“ von Clariant herstellt. Zeitlich vor den Ansätzen zur Revision der Richtlinie 94/45/EG wurden Begriffsbestimmungen zu Information und Konsultation in die freiwillige Vereinbarung aufgenommen. Zudem wurde zwar keine zweite ordentliche Plenarversammlung ver- einbart, doch wurde gemeinsam der entsprechende Passus zu außeror- dentlichen Plenarversammlungen so gefasst, dass sich der Ermessensspiel- raum zum Ablehnen einer solchen Versammlung bei Vorliegen indikativer Kriterien stark einschränkt und sich quasi bis auf Null reduzieren kann. Beides sind Punkte, die später im Zuge der Revisionsdiskussion der Richtlinie breiten Raum einnahmen, hier aber ohne dahingehende Ver- pflichtung im Wege der Verhandlungslösung aufgenommen wurden. 261
F. Fazit E uropäische Betriebsräte stehen, gemessen an ihrer auf dem Papier festgelegten Anforderung als europäisches Kollektivorgan, in mehreren tatsächlichen, wie rechtlichen Spannungsfeldern. Die Entwicklung eines solchen Gremiums und die Definition eines Mehrwertes für beide Partner, gipfelnd in der Realisierung eines sozialen Dialogs zwischen diesen eu- ropäischen Betriebspartnern, der diese Bezeichnung auch verdient, ist kein automatisches Ergebnis von Zusammenkünften über mehrere Jahre, sondern bisweilen zähes, aufwendiges und perpetuiertes Ringen. Hierbei haben Freiräume zum Finden von Lösungen auf dem Verhandlungswege die besten Aussichten auf Erfolg. In diesem Verständnis ist kein Unternehmen gut beraten, Europäische Betriebsräte als Stiefkind zu betrachten und zu behandeln. 262
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