Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl

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Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
fünfkant // Ausgabe September 2020

3 | 2020
               Magazin der katholischen Gemeinden »An Bröl und Wiehl«

      Der Herbst des Lebens

    DAS BIBLISCHE ALTER        SENIOREN-INTERVIEWS           SENIORENARBEIT IM SB
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
3  | 2020
            Magazin der katholischen Gemeinden An Bröl und Wiehl

                             02 Auf ein Wort: Das Alter – eine lebenslange Aufgabe

                             04 Biblisches Alter und Alter in der Bibel

                             06 Alter – Zeit der Ernte

                             08 Christlicher Glaube ­angesichts der sich neigenden ­Lebenskurve

                             11 Alt werden in einer klösterlichen Gemeinschaft Eine Ordensfrau berichtet

                             12 Sehnsucht hört niemals auf Seelsorge in Altenpflegeeinrichtungen

                             14 »Es ist, was es ist, sagt die Liebe« Interview mit Roswitha Wieczorek (81)

                             16 Im Land der Alten

                             18 »Der Dieter ist der beste alte Mann...« Interview mit Dr. D. Fuchs (87)

                             20 Weisheiten zum Alter

                             22 Meditation Herbst des Lebens ist …

                             23 Johannes XXIII. – Ich bin Josef, euer Bruder (Gen 45,4)

                             24 »Benachteiligen wir uns nicht selbst, indem wir uns nicht beteiligen.«

                             26 Wie ist das mit den Alten? Was die Enkel so meinen oder Wir alle lieben Espresso

                             27 Helene Weber – Ein Leben für die Politik

                             28 Kurtzweyl im Dialog Ein »Selbstversuch-Interview«

                             29 Konrad Adenauer – erster Bundeskanzler

                             30 Schon gesehen? Filme über das Altern

                             31 Tipps zu weiterführenden Radio- und TV-Sendungen

                             32 Herbst des Lebens – Gebet eines älter werdenden Menschen

                             33   Personalien
                             34   Gottesdienste und Termine
                             36   Zu guter Letzt
                             37   Impressum und Quellennachweis
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
Der Herbst des Lebens
Liebe Leserinnen und Leser!

Viele Menschen verbinden mit dem                 lassen und in der Glaubensgemeinschaft      positive Einstellung zum Leben behal-
­Alterungsprozess nur Negatives: Demenz,         über Lebens- und Sinnkrisen hinweg-         ten sowie motiviert und körperlich wie
 Einsamkeit, Pflegeheim, körperliche             kommen.                                     geistig fit bleiben.
 ­Gebrechen und Verlust.                             Uns wird im Durchschnitt immer              Wer zeitlebens seinen Beitrag zum
      Dabei bringt der Herbst des Lebens         mehr Lebenszeit geschenkt und wir           Gelingen der Gesellschaft geleistet hat,
  bei allen Herausforderungen zahlreiche         werden dabei vor ganz neue Realitäten       darf erwarten, dass er seine letzte Zeit in
  positive Aspekte mit sich: Sei es das          gestellt, die wir akzeptieren müssen. Wir   Pflegeeinrichtungen verbringen kann,
  aufgeschobene Lieblingshobby oder die          sind aufgerufen, auch diese Zeit lebens­    die ihm ein angenehmes Umfeld, eine
  nun endlich vorhandene Zeit für die ge-        bejahend zu gestalten. Humor, ein           gute Allgemeinpflege und hochwertige
  liebten Mitmenschen. Senioren können           dankbarer Rückblick und ein Fokus auf       Nahrung bieten.
  durch weniger Verpflichtungen morgens          das, was ich im Hier und Jetzt imstande         Unsere Texte werden Ihnen dabei
  ausschlafen, ihr Leben entschleunigen          bin zu leisten, sind dabei ganz wichtig.    helfen, einen besonderen Lebensab-
  und sind auf diese Weise gelassener und        Wie glücklich sind z. B. berufstätige       schnitt mit ganz anderen Augen zu
  zufriedener. Das letzte Lebensdrittel gibt     Eltern, wenn Oma oder Opa mal die           sehen. Die Redaktion wünscht Ihnen viel
  ihnen die Freiheit, ganz neue Wege zu ge-      Kinder betreuen!? Später wird diese Zeit    Freude mit unserem neuen Heft.
  hen, ein soziales Engagement anzuneh-          mit den Großeltern oft als etwas ganz
  men oder sich der Spiritualität zu öffnen.     Besonderes empfunden.
  Mit einem positiven Gottesbild können              Die Gesellschaft der Jüngeren sollte
  sich viele auf den Prozess des A
                                 ­ lterns ein-   dazu beitragen, dass die Älteren eine                         Lothar-Pierre Adorján
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02
                                                  Auf ein Wort:

                 Das Alter -
         eine lebenslange Aufgabe
   Liebe Leserinnen und Leser!                  gen neue Möglichkeiten hinzufügt.             hat, in eine ungewisse Zukunft aufzu-
                                                Darum ist es wichtig und notwendig,           brechen oder an Elisabeth, die noch im
Ich möchte zu Beginn meines Beitrags            sich auf das Altern, Altwerden und            hohen Alter ein Kind empfängt. Mose
von einem kleinen Erlebnis erzählen, das        Altsein einzustellen. Das fällt aber vielen   ist ebenfalls schon ein betagter Mann,
ich vor einiger Zeit in der ­Pfarrgemeinde      Menschen schwer. »Keiner will alt sein,       als Gott ihm den Auftrag erteilt, das
St. Michael in Waldbröl hatte und das           doch jeder will alt werden«, so hört man      auserwählte Volk aus Ägypten heraus-
mich bis heute immer wieder zum                 spöttische Zungen oft sagen.                  zuführen. Auch im Neuen Testament
Schmunzeln veranlasst. Ich besuchte die             Warum steht das Altwerden in unse-        spielen ältere Menschen eine wichtige
Kinder unserer Kindertagesstätte. Als           rer Gesellschaft in keinem besonders gu-
ich den Kindergarten betrat, hörte ich,         ten Ansehen? Nun, das mag u. a. damit              »Auch heute brauchen
wie ein Kind zu den anderen rief: »Da           zusammenhängen, dass wir in einer Zeit
kommt der Opa von der Kirche!« Spätes-          leben, in der der jugendliche Elan, die                wir eine neue
tens seit diesem Augenblick wusste ich:         Schönheit des jungen Menschen, seine               Wertschätzung des alten
»Du gehörst auch zur Generation der             Vitalität und Kraft besonders hochge-                   Menschen.«
alten Menschen«. Denn der Mensch ist            schätzt werden. Demgegenüber ist das
offensichtlich nicht nur »so alt, wie er sich   Alter im Bewusstsein der Menschen
fühlt«, sondern auch so alt, wie er von         häufig von physischen, psychischen und        Rolle. So weisen Simeon und Hanna, die
seiner Umwelt, von seiner Umgebung              geistigen Einschränkungen geprägt.            beiden hochbetagten Menschen, darauf
wahrgenommen wird.                                  Wenn wir in die Geschichte der            hin, dass Jesus der Heiland und das Licht
    In dieser Ausgabe unseres fünfkant-         Menschheit schauen, war dies einmal           der Welt ist.
Magazins wollen wir uns mit dem Alter           anders. So achteten z. B. in der Antike           Auch heute brauchen wir eine neue
und Älterwerden auseinandersetzen.              die Spartaner den älteren Menschen so         Wertschätzung des alten Menschen.
Denn zum einen leben wir in einer immer         hoch, dass nur die über 60-jährigen in        Das bedeutet: Die Jüngeren müssen
                                                den politischen Ältestenrat aufgenom-         den Älteren wieder sagen, wie wichtig
                                                men wurden. Und auch der griechische          und kostbar sie für sie sind. Jeder alte
      »›Keiner will alt sein,                   Philosoph Platon konnte dem Alter             Mensch trägt die Wurzeln des jüngeren
        doch jeder will alt                     durchaus Positives abgewinnen: Wenn           Menschen in sich. Ältere und alte Men-
                                                jemand mit dem Alter Probleme habe            schen sind unsere lebendige Geschichte.
           werden.‹«                            – so Platon – dann liege das nicht am         Ohne sie, ohne unsere Wurzeln, können
                                                Alter, sondern am Charakter des Men-          wir nicht leben. Sie sind die gelebte
älter werdenden Gesellschaft, zum ande-         schen.                                        Geschichte unserer Vergangenheit, aber
ren ist das Alter heute nicht mehr Restzeit         Auch in der Hl. Schrift finden wir        auch für unsere Gegenwart unentbehr-
nach Jugend- und Erwachsenenjahren,             Beispiele für eine große Wertschätzung        lich.
sondern eine eigene, bedeutsame, oft            des alten Menschen. Denken wir an                 Als vor einigen Jahren ein Bischof in
jahrzehntelange Lebensphase, die den            Abraham, der noch im hohen Alter von          den Ruhestand trat, schrieb ihm jemand:
bisherigen Lebenszielen und -erfahrun-          Gott einen Auftrag erhält und den Mut         »Sie, verehrter Herr Bischof, werden jetzt
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
fünfkant – September 2020 – Auf ein Wort: Das Alter als Lebensaufgabe 03

»Altbischof« oder »Bischof i. R.« sein.    alles, dann bin ich alles!« Der Großvater   was mir nicht mehr wichtig ist. Ich kann
Vergessen Sie aber bitte nicht, dass das   dachte lange über die Antwort seines        Ja sagen zu jedem Tag, der mir von Gott
nicht nur »Bischof im Ruhestand« heißt,    Enkels nach. Dann wusste er, dass sein      geschenkt wird. Und schließlich bin ich
sondern auch »Bischof in Rufweite«!        Enkel recht hatte. Wenn ich alt bin, so     auch alles, sagte sich der Großvater. Ich
    Die älteren und alten Menschen sind                                                bin »Ich selbst« geworden durch mein
Menschen in »Rufweite«. Sie sind da,                                                   Leben. Ich bin dankbar in der Rückschau
wenn die Jüngeren einen Rat brauchen.          »Alt werden wir von der                 auf das Empfangene. Und ich bin sicher
Sie sind da, wenn sie einander helfend          ersten Sekunde unseres                 in der Gewissheit auf das Kommende.
und hilfreich zur Seite stehen. Sie sind                                                   Diese Haltung wünsche ich uns
da, wenn sie mit uns und für uns beten.               Lebens an.«                      allen, die wir von der ersten Sekunde
    Ich möchte meine Gedanken ab-                                                      unseres Lebens an alt werden.
schließen mit einer Wertschätzung des      sagte er sich, dann weiß ich alles, was
alten Menschen, die ich einmal irgend-     mir Gott in meinem Leben geschenkt                                         Ihr Pfarrer
wo gelesen habe. Ein Großvater fragte      hat. Dann weiß ich auch um meine End-                              Klaus-Peter Jansen
seinen Enkel: »Hör mal, was willst du      lichkeit und Begrenztheit. Wenn ich alt
denn einmal werden?« Der Enkel ant-        bin, dann kann ich auch alles. Ich kann
wortete: »Ich möchte alt werden, Groß-     annehmen, was auf mich zukommt.
vater.« »Alt, warum denn das?«, fragte     Ich kann verzichten auf das, was ich
der Großvater. Und der Enkel antworte-     nicht mehr haben und erfahren kann
te: »Dann weiß ich alles, dann kann ich    in dieser Welt. Ich kann auch loslassen,
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
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                          Biblisches Alter und
                           Alter in der Bibel
    Wenn ein Mensch heutzutage deut-        Sein Auge war noch nicht getrübt, seine        Greises ehren und deinen Gott fürchten.«
lich den Altersdurchschnitt übersteigt,     Frische war noch nicht geschwunden.«           (Lev 19,32) Und: »Stelle dich in die Schar
100 Jahre oder noch älter wird, spricht     (Dtn 34,7) In Psalm 90 sind wir dann in        der Ältesten, wer weise ist, dem schließe
man gerne von einem »biblischen Alter«.     etwa da angekommen, wie wir es heute           dich an!« (Sir 6,34) Die Alten haben also
Das kommt daher, dass am Beginn der         auch kennen: »Die Zeit unseres Lebens          die Funktion von Lehrern, Ratgebern, ja
Bibel Menschen mit einer geradezu           währt siebzig Jahre, wenn es hoch-             sogar Führern. Darum setzten sich auch
fantastischen Zahl an Jahren vorgestellt    kommt, achtzig.« Dass aber auch ein            die wichtigen regionalen Gremien aus
werden. Der bekannteste dürfte wohl         solches Alter nicht jedem vergönnt war,        alten oder älteren Männern zusammen,
Methusalem sein, dessen Alter mit 969       wissen wir aus Grabfunden. Das übliche         die bekannten »Ältestenräte«. Das waren
Jahren angegeben wird und der schein-                                                      nicht Greise in unserem Sinne, sondern
bar recht lange rüstig unterwegs war,                                                      wir würden heutzutage sagen, Männer
zeugte er doch noch im jugendlichen             »Jesus war mit 33 Jahren                   mittleren Alters. Aber wir erinnern uns,
Alter von 187 Jahren einen Sohn, der              für die damalige Zeit                    dass die Lebenserwartung auch viel
es ihm dann gleichtat. Das geht über                nicht mehr jung.«                      geringer war.
die ganze Liste der Urväter bis hinauf                                                         Die Bibel sieht ein langes oder sehr
zu Noah (vgl. Gen 5). Die Urväter von                                                      langes Leben als besonderen Segen und
Adam an wurden nach Aussage der Bibel       Alter lag wohl irgendwo zwischen 35            auch als Lohn für ein gottesfürchtiges
alle sehr alt; das unterscheidet sie von    und 50 Jahren. Insofern war auch Jesus         Leben an: »Ehre deinen Vater und deine
Rockstars.                                  mit seinen 33 Jahren für die damalige          Mutter, damit du lange lebst in dem
    Nach Noah ist damit Schluss. Gott       Zeit nicht mehr so jung, wie wir das           Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!«
begrenzt die Lebenserwartung seiner         heute empfinden.                               (Ex 20,12) Hier verknüpft sich die Verhei-
Schöpfung: »Mein Geist soll nicht für im-        Das Thema Alter und alte Menschen         ßung Gottes mit dem Gebot, die Eltern,
mer im Menschen bleiben, weil er eben       ist in der Bibel grundsätzlich positiv         die ja auch Ältere sind, zu ehren. Alt
Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit    besetzt. Hervorgehoben werden nicht            werden zu dürfen hat also etwas damit
hundertzwanzig Jahre betragen.« (Gen        etwa die Molesten und Beschwerlich-
6,3) Wie die biblischen Altersangaben       keiten des Alters, sondern seine Bedeu-
der Urväter zu verstehen sind, darüber      tung auch für die Gesamtbevölkerung                »›Stelle dich in die Schar
                                            – ­etwas, was wir Heutigen uns auch               der Ältesten, wer weise ist,
                                            wieder mehr zu eigen machen dürften;
    »Ein hohes Alter ist ein                da ist doch vieles verrutscht. Alte Men-            dem schließe dich an!‹«
     besonderer Ausweis                     schen sind gemäß der Bibel zu respek-
                                            tieren, denn ihnen kommt wegen ihrer           zu tun, wie man sich zum Alter anderer,
      göttlichen Segens.«                   Lebenserfahrung ein Führungsanspruch           besonders der Eltern und den Geboten
                                            zu: »Wie gut steht den Grauhaarigen            Gottes, verhält. Aber es geht nicht nur
streiten sich die Gelehrten. Jedenfalls     ein Urteil an und den Ältesten, Rat zu         um ein langes, sondern auch um ein
betrachtet die Bibel ein hohes Alter als    wissen. Wie gut steht den Alten Weisheit       erfülltes Leben: Man stirbt dann »betagt
einen besonderen Ausweis göttlichen         an und den Gerühmten Überlegung und            und satt an Tagen.« (Gen 35,29) Der
Segens. Danach werden die Angaben           Rat.« (Sir 25, 4-5) Die Jüngeren sollen sich   Idealzustand wäre das neue Paradies,
jedenfalls realistischer: »Mose war         dem unterordnen: »Du sollst vor ­grauem        wie der Prophet Jesaja es vorstellt: »Es
hundertzwanzig Jahre alt, als er starb.     Haar aufstehen, das Ansehen eines              wird dort keinen Säugling mehr geben,
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
fünfkant – September 2020 – Biblisches Alter und Alter in der Bibel 05

Immer mehr Menschen werden heutzutage 100 Jahre alt.

    der nur wenige Tage lebt, und keinen          Vater verspottet und die alte Mutter       die anderen die Erfahrung. Beides
    Greis, der seine Tage nicht erfüllt; wer      verachtet, das hacken die Raben am         zusammen bringt eine Gesellschaft
    als Hundertjähriger stirbt, gilt als junger   Bach aus, die jungen Geier fressen es      voran. Es gibt nicht nur Jugendwahn
    Mann.« (Jes 65,20)                            auf.« (Spr 30,17)                          und Altersschwäche, sondern ganz viel
        Die Bibel weiß aber auch um die rea-          Die Heilige Schrift stellt in Bezug    dazwischen. Das ist und war nicht jedem
    len Beschwernisse des Alters. So spricht      auf das Alter Ideale vor, sie weiß aber    immer klar, sonst gäbe es auch die
    Barsillai zu König David: »Ich bin jetzt                                                 biblischen Gebote dazu nicht. Aber es ist
    achtzig Jahre alt. Kann ich denn noch                                                    eigentlich ganz einfach. Jesus selbst sagt
    Gutes und Böses unterscheiden? Kann               »Die Heilige Schrift                   es: »Der eine trage des anderen Last. So
    dein Knecht noch Geschmack finden                weiß um die Realitäten                  erfüllt ihr Christi Gebot.«
    an dem, was er isst und trinkt? Höre ich                                                     So schließe ich mit dem alten Gruß:
    denn noch die Stimme der Sänger und                   des Lebens.«                       Ad multos annos! Auf viele Jahre! Und
    Sängerinnen? Warum soll denn dein                                                        mögen Sie unter Gottes Segen stehen!
    Knecht noch meinem Herrn, dem König,          auch um die Realitäten des Lebens,
    zur Last fallen?« (2 Sam 19,36) Sich um       wie lange es auch dauern mag. Wenn                                   Michael Weiler
    alte und hilflos gewordene Menschen,          man es genau bedenkt, hat sich seit                  Pfarrvikar, ehem. Kaplan im SB
    insbesondere die eigenen Eltern zu            biblischen Zeiten, jedenfalls was dieses
    kümmern, ist (religiöse) Pflicht. Wehe        Thema betrifft, nicht allzu viel geän-
    dem, der sich dem entzieht: »Wer den          dert. Die Generationen müssen in einer
    Vater misshandelt und die Mutter weg-         Gesellschaft miteinander auskommen
    jagt, ist ein verkommener, schändlicher       und sollen sich gegenseitig von Nutzen
    Sohn.« (Spr 19,26) »Ein Auge, das den         sein. Die einen haben die Arbeitskraft,
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
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                                         Alter –
                                      Zeit der Ernte
     Wenn ich an meine Großväter denke,      spüren: Nicht, was wir unseren Kindern     Versöhnung
dann sehe ich alte Männer. Damals war        vererben, ist wichtig, sondern was aus     Beim Nachdenken über die Vergan-
man in meinen Augen mit 70 alt, mit 80       uns geworden ist.                          genheit wird uns bewusst, dass vieles
sehr alt.                                        Auch im Herbst tragen wir noch         vorgegeben ist: Elternhaus, Familienge-
      Heute ist das anders. Gerade die       Frühling und Sommer in uns, und es         schichte, die Zeit, in der wir leben, das
­Älteren machen noch Kreuzfahrten,           gibt Möglichkeiten, die uns nur im         äußere Erscheinungsbild, ja auch die
 ­buchen Yoga-Kurse, haben Konzert-          Alter offenstehen.                         seelische Konstitution. Wir lernen dann,
  Abos, ­schreiben E-Mails und fangen                                                   uns auszusöhnen mit unserem Lebens-
  evtl. noch ein Studium an. In diesem       Erinnerungen                               rahmen.
  Alter fragt man: Gehören wir zum »Alten    Je älter wir werden, umso mehr                 Auch die beschwerlichen Seiten des
  Eisen« oder sind wir wertvolle »Antiqui-   Erinnerungen sammeln sich an. Sie          Alters wollen wir nicht verschweigen:
täten«?                                      können uns nicht genommen werden.          Die Leistungsfähigkeit lässt nach, auch
      Wenn wir im Kirchenjahr das Ernte-     In dieser »Schatzkiste« ruht vieles, was   die Mobilität, Krankheiten und Vergess-
dankfest feiern, denken wir zuerst an        glänzt, manches ist aber auch ver-         lichkeit stellen sich ein; vielleicht haben
die Früchte des Feldes. Wir dürfen den       staubt. Zu Erinnerungen gehören auch       wir Angst vor Vereinsamung, Depressio-
Begriff »Ernte« aber viel weiter fassen.     die Menschen, die uns vorausgegan-         nen, Demenz, vor dem Sterben.
Früchte, das sind auch: lebenslange          gen sind. So wie es »Trauerarbeit« gibt,       Das Annehmen des Lebensweges
Freundschaften, überwundene Krank-           so gibt es auch »Erinnerungsarbeit«.       kann befreien – befreiend auch, wenn
heit, gelungene Versöhnung, ausge-               Es ist gut, sich von Zeit zu Zeit      wir uns mit Menschen aussöhnen, die
räumtes Missverständnis, neu gewonne-        einen Lebensrückblick zu gönnen.           nicht mehr leben. Wir dürfen eigene
ne Erkenntnis.                               Das ist etwas Schöpferisches! Das hilft    Schuldgefühle abgeben und mit ihnen
                                             uns, ein »Ja« zu uns selbst zu finden,     Frieden schließen, da wo wir etwas
Herbst des Lebens                            Liebe zu uns selbst zuzulassen, mit uns    eingesehen haben und z­ urücknehmen
Es ist die wichtigste Zeit des Lebens.       selbst befreundet zu sein.                 möchten. Wir können ihnen aber auch
Vieles haben wir auf diese Lebensphase           Erinnerungen sind nichts Ob-           vergeben, wo sie an uns schuldig
verschoben – wenn ..., dann ... Wir fragen   jektives. Sie verändern sich ständig.      wurden und so mit ihnen ins Reine
uns: Was kommt noch? Es ist die Zeit der     Unbewusst »arbeiten« wir an ihnen.         kommen. ­Damit ändert sich die eigene
Rückschau, des Innehaltens, einer Le-        Wir legen sie uns so lange zurecht, bis    Zukunft; denn wir lösen damit eine
bensbilanz. Dieses innere Aufräumen hat      sie in unser Selbstbild passen. Wir sind   negative Gebundenheit. Voraussetzung
nichts mit runden Geburtstagen zu tun!       bemüht, unsere innere Ordnung auf-         hierfür ist innere Wahrhaftigkeit. Die
Die wirklichen Lebensabschnitte folgen       rechtzuerhalten. Wir möchten unsere        Wunden müssen verheilt sein; sonst
anderen, eigenen Gesetzen. In Zeiten         eingefahrenen Denkmuster beibe-            kann Verzeihen Züge von Hochmut
des Übergangs gibt es vielleicht Augen-      halten, weil es bequem ist. Vorurteile     bekommen. Wenn uns das gelingt, wer-
blicke, wo wir uns fremd sind, wenn wir      aufzugeben, eine neue Brille aufzuset-     den wir mehr Verständnis für Menschen
in den Spiegel schauen.                      zen, ist anstrengend. Warum haben          bekommen, die uns enttäuscht oder
    Im Lebensherbst denken wir zurück:       Geschwister z. B. oft ganz unterschied-    verletzt haben. Wenn wir so zu denken
an Gelungenes, aber auch an Versäum-         liche Erinnerungen an ihre Eltern?         gelernt haben, dann werden wir sicher
tes; an Lebenspläne, die ausgeführten        Wir sollten den roten Faden in un-         auch sensibler und offener bei neu-
und die unfertig gebliebenen; an Auf-        serem Leben entdecken mit seinen           en Begegnungen sein – auch bei der
erlegtes, das wir verarbeiten mussten;       Knoten und Verwicklungen. Uns wird         Wiederbegegnung mit alten Freunden.
an Schuld und Versagen; aber auch            dann bewusst, wo wir geirrt haben, wo      Warum sollten wir nicht im Alter noch
an Glücksmomente und gute Zeiten,            unsere Stärken und Schwächen liegen.       Kontakt suchen zu Menschen, die früher
in denen wir aufatmen konnten. Wir                                                      einmal wichtig waren?
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
fünfkant – September 2020 – Alter – Zeit der Ernte                                                                         07

Loslassen                                   man noch ein neues
Hierin drückt sich eine innere Haltung      Hobby anfangen, wieder
aus. Loslassen heißt: Einwilligen, Ab-      mal ein Märchen­buch
schiednehmen – auch von Tätigkeiten         lesen, flache Steine im
und Erwartungen. Immer wieder gilt          Wasser hüpfen lassen.
es, Abschied zu nehmen von Plänen           Warum eigentlich nicht?
und Lebensphasen, die vorbei sind.          Das ist inneres Jungsein.
Auch wer sich von liebgewordenen
Dingen trennen muss, lernt das Loslas-      Heiterkeit des Alters
sen. Das alles klingt nach Verzichten,      Die Fröhlichkeit der Ju-
Entsagen, sich fügen, Resignieren. Wir      gend gleicht oft einem
denken dann an Verpasstes, an uner-         Feuerwerk, das kurz auf-
füllte Wünsche.                             flammt. Das Feuer des
    Das Loslassen kann uns aber auch        Alters dagegen ist eher
bereichern. Es hält etwas Beglü-            eine stille Glut, an der
ckendes bereit, wenn wir Ballast der        man sich wärmen kann.
Vergangenheit abwerfen. Es ist gut,         Das Alter erlaubt eine
in Neues hineinzuwachsen, neugierig         gewisse Leichtigkeit. Ein
zu sein auf das, was noch kommt, mit        bisschen Leichtsinn darf
Überraschungen zu rechnen. Das wirk-        auch dabei sein. Ja, ein
lich Wichtige im Leben, das Bleibende,      schwebender »leichter
wird uns dann bewusster. Manchmal           Sinn« hat etwas Göttli-
braucht es Mut, um neue Schritte zu         ches. Im Bilde gespro-
wagen. Wir sollten auch den Zweifeln        chen: Wir brauchen nicht
nicht aus dem Wege gehen.                   in die Schlaglöcher des
                                            Lebens zu schauen, son-
Freiheit                                    dern auf den Regenbo-
Das ist ein Urbedürfnis des Menschen.       gen darüber.
Gerade im Alter dürfen wir uns neue              Wenn wir dankbar
Freiheiten herausnehmen. Wir dürfen         sind für unser Leben,
frei ­werden vom Urteil der Umwelt,         fällt uns vielleicht die Heiterkeit des Alters   Nicht in die Schlaglöcher des
von falscher Anpassung, von der             zu. Im Lächeln des heiteren Alten liegt          Lebens schauen, sondern auf
Vorstellung, es allen recht machen zu       keine Ironie, keine Häme, keine Bitterkeit.         den Regenbogen darüber.
müssen. Seien wir mutig zum Selber-         Glücklich, denen schon ein heiteres Na-
denken, zum Hinterfragen, zum Blick         turell angeboren ist. Viele müssen es sich
über den Zaun.                              erst erwerben. Auch das kann Lebensern-
                                            te sein.
Werden wie die Kinder                            Wir können unser Lebensgebäude
Wenn wir uns fragen: Wann war ich           vergleichen mit einem Schloss. Es hat
­besonders glücklich? Welches Erlebnis      viele Räume: bestimmt einen Festsaal,
 wünsche ich mir noch einmal zurück?        eine Küche, vielleicht eine Kapelle,
 Vielleicht waren es Zeiten, in denen wir   sicher auch Rumpelkammern; Fenster,
 träumten, statt zu grübeln? Wo wir         die man öffnen, bei denen man aber
 spielten, statt zu arbeiten? Wo wir Zeit   auch die Vorhänge zuziehen kann; ein
 ­vertrödelten und die Uhr vergaßen?        Tor, wo Menschen aus- und eingehen. In
  Wo wir absichtslos waren, statt zu        welchem Raum des Schlosses befinden                         Wolfgang Schmidt
  fragen:                                   wir uns selbst? Im dunklen Keller? Oder          Freie ev. Gemeinde Waldbröl
  Wie wirke ich? Was leiste ich?            auf dem Dachboden, wo wir ein Fenster
      Tief in uns steckt die Sehnsucht      offenhalten, um uns die Sterne vom Him-
  nach solchen unmittelbaren Erlebnis-      mel herunterzuholen?
  sen, die Sehnsucht, noch einmal Kind
  zu sein. Zu schnell denken wir: »Na,
  in meinem Alter!« Auch im Alter kann
Der Herbst des Lebens - 3 | 2020 - Seelsorgebereich an Bröl und Wiehl
08

Vor der letzten Reise: Angst und Vertrauen im Widerstreit

              Christlicher Glaube ­angesichts
             der sich neigenden ­Lebenskurve
            Eine persönliche Besinnung als Anregung

        Mein christlicher Glaube ist von der      Denn ich kriege das Gottvertrauen nicht   losigkeit oder andere schwer erträgliche
     Sehnsucht und dem Willen erfüllt, Gott       so hin, wie ich meine, es aufbringen      Nöte quälen.
     zu vertrauen. Er sagt mir aber auch: »Du     zu müssen und wie ich es aufbringen           Frage eins: Woher kommt die Idee, Gott
     musst ihm vertrauen; alles andere wäre       möchte.                                   vertrauen zu können und zu müssen? Sie
     Verweigerung, Gott als Gott anzuerken-           Die Gebrochenheit meines Ver-         kommt aus der Hl. Schrift. Die Hl. Schrift
     nen.« Von Gott zu sprechen geht also         trauens bezieht sich vor allem auf den    verkündet Gott als den, der liebt, aus Not
     gar nicht anders als zu sagen: »Da ist       Sterbeweg und die Zeit davor, nicht       befreit und nie jemanden verlässt. Sie
     jemand, dem ich vertrauen kann und           auf den Zustand ab dem Tod. Im Blick      verkündigt ihn aber auch als den, der uns
     der mein Vertrauen beanspruchen kann.        auf die letzte Wegstrecke ringen in mir   in – so möchte ich formulieren – heiliger
     Mein Vertrauen steht ihm einfach zu.«        Angst und Vertrauen. Beide schießen       Souveränität begegnet. Für mich hat diese
     Dabei bleibt Gott – so bin ich überzeugt –   sozusagen abwechselnd ein Tor, haben      Souveränität einfordernden Rang. Mir ist
     gegenüber denen, die dieses Vertrauen        abwechselnd die Nase vorn. Die Angst      darin gesagt: »Du darfst und sollst IHM
     nicht oder zu wenig aufbringen, sehr         besteht darin, dass mich eines Tages      vertrauen – in allem.«
     geduldig. Dafür bin ich sehr dankbar.        starke Schmerzen, Verlassenheit, Hilf-        Jesus setzt diese Verkündigung fort
fünfkant – September 2020 – Christlicher Glaube ­angesichts der sich neigenden L
                                                                                                                      ­ ebenskurve 09

und lässt sie in seinem Leben und Ster-   gehen?«, denke ich dann. Zum Glück ist       Himmels jenseits unserer Welt und des
ben in einer mich packenden Weise auf-    der Verlauf nicht bei allen Menschen so      Todes für sie nicht mehr zu denken war. Ihr
leuchten. Sein Sterben ist in all seiner Not
                                          schlimm. Von daher bleibt auch mir ein       Wirklichkeitsverständnis (Physik und ande-
zugleich ein Akt radikalen Vertrauens zu  Törchen zur Hoffnung, dass es nicht so       re Wissenschaften lassen grüßen) schließt
Gott hin. In diesem Sterben als radikalem schlimm wird. Und der andere Impuls          das einfach aus.
Vertrauensakt wird Jesus – unter Einbe-   klopft auch immer noch an: »Gott geht            Auch ich kann übrigens einen Him-
zug seines gesamten Lebens – von seinen   mit – wie bei Jesus – und wird mich          mel jenseits unserer Welt nicht denken
                                          durch alles, auch wenn‘s ganz schwer         und komme dennoch nicht davon los.
                                          wird, hindurchtragen.«                       Ich weiß nicht, ob ich diese Vorstellung,
    »Mein christlicher Glaube                 Frage drei: Woher kommt die              nach dem Tod in Gottes Liebe leben zu
    ist von der Sehnsucht und             Zuversicht  im Blick auf den Zustand ab      dürfen, empfinde oder fühle oder ob sie
                                          dem Tod? Ich gebe zu: Wissen über den        mich erobert bzw. durchdrungen hat, was
      dem Willen erfüllt, Gott            Zustand ab dem Todeszeitpunkt habe           dann letztlich für mich hieße: von Gott
            zu vertrauen.«                ich nicht im Geringsten. Die Aussicht        geschenkt. Ich kann nur sagen, wenn ich
                                          auf EIN ZIEL war mir aber immer mit          in mich hineinhorche, über mich medi-
                                          der wichtigste Grund Christ zu sein. Ich     tierend nachdenke, komme ich zur nicht
Schülerinnen und Schülern als Sohn Got- habe mein Christsein das ganze Leben           abzustreifenden Gewissheit, dass meine
tes erkannt. Sein Leben und Sterben wird hindurch mit der Erwartung verbunden,         Person, mein Ich, meine innerste Identität,
als göttliches Leben und Sterben erkannt, einmal ganz zum Himmel zu gehören,           vielleicht als Seele zu bezeichnen, dass ich,
das sich aber in unserer menschlichen     endgültig bei Gott zu sein, ewige Selig-     auch als Ergebnis meiner ganzen irdischen
Wirklichkeit abspielt und in Gott hinein  keit bzw. ewiges Leben zu erlangen und
mündet. Jesu Auferstehung ist dadurch     dass dies im Tod volle Wirklichkeit wird.
allen Menschen angeboten. Sie können      Ich hoffe, mit unendlich vielen Men-                »Auch im Tod ist für
sich in dieses göttliche Leben und Ster-  schen heimgeholt zu werden in einen                den Menschen Zukunft
ben vertrauensvoll hineinnehmen lassen, Zustand überbordender Lebendigkeit
damit daraus für sie Auferstehung wird.   und Freude bei völliger Freiheit von                   vorgesehen.«
Um diesen Vertrauensschritt ringe ich.    Angst, Beunruhigung, Schmerz und Not.
Mal meine ich, ganz nah dran zu sein und So u. a. verstehe ich jedenfalls die Worte
das Vertrauen so gut wie gewonnen zu      Jesu: »Ich gehe, um einen Platz für euch     Geschichte mit allen leib- und seelischen
haben. Mal erlebe ich mich von meinen     vorzubereiten …« (Joh 14,3), wenn ich        Erfahrungen, unauslöschlich bin. Biblische
Ängsten eingeholt und durchgeschüttelt. sie mit vielen anderen biblischen Texten       Botschaft trifft so fast perfekt auf mein
    Frage zwei: Wo kommt die Angst vor    zusammenbringe. Der christliche Glau-        Bewusstsein von mir selbst. Und ich kann
der letzten Wegstrecke und vor dem        be ist mir nie ohne dieses ZIEL sinnvoll     nicht anders, als diese Qualität jedem
Sterbeweg her? Bei mir ist sie aus einer  erschienen. Ein Glaube, der einschließen     Menschen zuzusprechen. Alle und mich
harten persönlichen Erfahrung erwach-     würde, mit dem Tod sei alles aus, hätte      selbst halte ich für eine einmalig kostbare
sen. Diese hat das langjährige Urver-     mich wahrscheinlich innerlich nicht          Besonderheit. Unmöglich für mich, dass
trauen, wie es seit der Kindheit zu Gott  erreicht.                                    auch nur ein einziger dieser Menschen
                                              Ich weiß allerdings von Christen und     einem radikalen Erlöschen, Vergessenwer-
                                          bestaune sie mit Respekt, denen die Lie-     den oder Ausradiertwerden anheimfällt.
       »Jesu Sterben ist in all           be Gottes in diesem Leben genügt und         Auch im Tod ist für den Menschen Zukunft
   seiner Not zugleich ein Akt            die darin den Himmel verwirklicht oder       vorgesehen. Er hat etwas an sich, das ich
                                          fast erreicht sehen. Ein ZIEL jenseits       nur als Unsterblichkeit bezeichnen kann.
      radikalen Vertrauens zu             des Todes ist ihnen nicht wichtig. Sie       Als böse eingeschätzte Menschen kann
              Gott hin.«                  möchten aus der Kraft und Liebe Jesu         und will ich dabei nicht ausnehmen.
                                          diese Welt jetzt gestalten in Richtung           Frage vier: Wie aber nehme ich meine
                                          des Reiches Gottes. Sie helfen, respek-      gesamte sonstige Lebensbilanz mit in die
hin gewachsen war, wankend werden         tieren, hören zu, bewahren Schöpfung,        letzten Runden des Lebenslaufes, vor allem
lassen. Dazu kommt die Beobachtung,       bringen in jede Begegnung Herzlichkeit       Schuld, Streit, Enttäuschungen, von Men-
dass es reichlich Menschen gibt, denen    ein und lassen dabei erkennen: »Du da        schen zugefügte seelische Verletzungen,
es zum Ende hin und oft auch schon        mir gegenüber bist mir jetzt wichtig«.       Benachteiligungen?
länger davor unglaublich schlecht geht.   Manche sind zu dieser Einstellung                Erste Antwort auf Frage vier: Die größte
»Warum soll es mir aufs Ende zu besser    gelangt, nachdem die Vorstellung eines       Infragestellung meines ewigen Heiles
10   Christlicher Glaube ­angesichts der sich neigenden ­Lebenskurve – September 2020 – fünfkant

Jesu Auferstehung ist allen Menschen angeboten.

     und damit eine große Beunruhigung           Versöhnung zu finden, entfalten. Hilf-      einiges an Frieden und Versöhnung zu-
     auf der letzten Wegstrecke kommt für        reich sind dabei die Erfahrungen derer,     gewachsen, ohne dass ich zu behaupten
     mich aus den Momenten, in denen ich         die große Freude gefunden haben, als        wage, die alten Dämonen wären völlig
     Menschen Liebe vorenthalten habe.           sie liebend mit Menschen umgegangen         verschwunden.
     Diese Versäumnisse – so verstehe ich        sind.                                           Zum Schluss kann ich nur sagen: Mit
     die Bibel – machen es Gott schwer,               Zweite Antwort auf Frage vier:         Gott im Gespräch zu bleiben, gibt den
     mich anzunehmen. Vorenthaltene Liebe        Versöhnung mit meiner vergangenen           größten Frieden für die letzte/n Phase/n
     erwächst meiner Erfahrung nach be-          Geschichte ist noch in anderer Hinsicht     meines Lebens. Dabei erfahre ich: Ich
     sonders aus Bequemlichkeit und Angst        wichtig. Manchmal melden sich die in        darf Ich sein; ich darf der sein, der ich
     vor irgendwelchen Nachteilen, Angst         Frage vier angedeuteten Dämonen von         bin; ich darf mich weiter mühen in alle
     z. B., dass ich Genuss versäume oder        Groll und Wut und Enttäuschung und          mir möglichen Richtungen hin zu Liebe
     mich überanstrenge oder mich in Gefahr      Bitterkeit. Zwei weitere Sätze des VATER-   und Verantwortung; ich darf mich aber
                                                 UNSER werden dann zur guten Hilfe.          auch freuen in alle mir möglichen Rich-
                                                      1. »Wie auch wir vergeben unseren      tungen. Und ich darf in mein Gespräch
        »Mit Gott im Gespräch zu                 Schuldigern«. Das heißt für mich: Was       mit Gott so viele mitnehmen wie ich nur
         bleiben, gibt den größten               Gott für mich an Verzeihung aufbringt,      kann. Denn alle brauchen Vergebung,
                                                 ist so überwältigend, dass meine Be-        Beistand, Hoffnung, Vertrauen und
                 Frieden.«                       ziehungen zu den Menschen, die mich         Frieden.
                                                 verletzt haben, auf den Weg der Heilung                                   Norbert Kipp
                                                 einschwenken können!                                                         Pfarrer i. R,
     bringe. Dass das Liebesgebot auch das            2. »Erlöse uns von dem Bösen!«. Das                ehemaliger Seelsorger im SB
     »wie dich selbst« enthält, ist dabei ein    übersetze ich so: Die Rätsel und Fragen
     eigenes Thema. Am dringendsten an-          um meine vermeintlich oder wirklich un-
     gesichts mangelnder Liebe bleibt dann       gerecht ausgestattete oder behandelte
     das ehrliche: »Vergib uns unsere (mir       irdische Existenz werden sich lösen oder
     meine) Schuld!« und das nie endende         keine Rolle mehr spielen. Ich kann da
     Bemühen, ein Liebender zu werden. Nur       ganz dem himmlischen Vater vertrauen.
     so kann sich die Hoffnung, zu innerlicher   Mit solchen Gedanken ist mir schon
Alt werden in einer
                 klösterlichen Gemeinschaft
                                                                                                             11
                          Eine Ordensfrau berichtet

  In verschiedenen Beiträgen berichten ältere Menschen über den »Herbst des Lebens« aus ihrer jeweils ganz
persönlichen Sicht. Wir wollten wissen: Wie verbringen die Frauen und Männer in den Ordensgemeinschaften
     diesen Lebensabschnitt? Wir haben daher Sr. Maria Goretti, den älteren Waldbrölern noch aus ihrer
   Tätigkeit im »Klösterchen« der Olper Franziskanerinnen bekannt, darum gebeten, einen Einblick in ihre
    ganz persönlichen Erfahrungen nehmen zu dürfen. Nach ihrer Waldbröler Zeit war sie fast 50 Jahre in
    Brasilien tätig. Dabei hat sie u. a. an der Konzeption und Einrichtung des Mädchenhauses »Traum der
      Aline« mitgearbeitet, das von zahlreichen Waldbrölern und der Kirchengemeinde unterstützt wird.
                 Wegen »Corona« konnten wir kein Interview führen. Daher hat uns Sr. Maria
                            Goretti ihre Gedanken in Briefform zukommen lassen.

   Lieber Herr Clees!                                          du mir bitte dieses oder jenes?«, »Kannst du mir mal die Haare
                                                               schneiden?«, und so weiter. All dies tue ich gerne, weil ich ja
Nach einigem Zögern habe ich mich nun doch entschlos-          – Gott sei es gedankt – noch fitter bin als manche meiner Mit-
sen, meine Erfahrungen zum Thema »Herbst des Lebens«           schwestern. Aber oft ist der Tag noch mehr gefüllt als vorher.
den »fünfkant«-Lesern zu schenken. Sie wissen schon,           Dann freue ich mich abends auf mein eigenes Zimmer.
dass ich viel, viel lieber meinen Lebensabend in Brasilien
unter meinen dort geliebten Menschen verbracht hätte.          Vor der Corona-Krise gab es natürlich an manchen Nach-
Er wäre mit Sicherheit umfassender, lebendiger und krea-       mittagen in der Cafeteria zusammen mit den Senioren des
tiver gelebt worden.                                           Konstantina-Hauses Kulturprogramme: Bingo, Singen, Lesun-
                                                               gen, Modevorführungen und anderes. An einigen Tagen gab
Nun lebe ich seit Juli 2012 in Oberpleis in der Altenge-       es auch gemeinsamen Morgenkaffee oder Abendessen. Sonst
meinschaft des Theresia-Bonzel-Hauses. Heute sind wir          nehmen wir Schwestern die Mahlzeiten in unserem Refekto-
nur noch 16 Schwestern zwischen 75 und 97 Lebensjah-           rium (Speisesaal) ein. Dort werden auch die kirchlichen Feste
ren. In den acht Jahren meines Hierseins sind schon 20         sowie unsere Namens- und Geburtstage gefeiert. So erleben
Schwestern gestorben; drei waren fast 100-jährig.              wir auch gemeinsam manche Freude. Wir haben auch einige
                                                               Originale unter uns, die eine Witzschatulle in sich bergen. Wenn
Das Ordensleben ist von der Gründung her ein Leben in          die loslegen, nimmt das Gelächter kein Ende!
Gemeinschaft ohne Altersunterschied, mit einem festen
Gebets- und Regelprogramm. Erst in der Neuzeit gibt            Der Heimgang zu Gott ist ein Abschiednehmen, das bis zum
es die klösterlichen Altengemeinschaften. Solange eine         letzten Atemzug begleitet wird. Ich vergesse nie das Sterben
Schwester noch beweglich ist, wird sie in die vielfältigen     der ersten Schwester seit meiner Zeit in dieser Gemeinschaft.
Aufgaben dieser Gemeinschaft eingeordnet.                      Bevor der Sarg vom Begräbnisinstitut abgeholt wurde, saßen
                                                               wir alle im Sterbezimmer um den offenen Sarg. Unsere Oberin
Ich kam mit 82 Jahren nach Oberpleis und habe von 2013         leitete das Gebet. Sie dankte der Schwester für all ihr Gutsein
bis 2018 als Sakristanin in unserer Kapelle Dienst getan.      unter uns (sie war fast 100 geworden) und bat sie um Verzei-
Am Morgen meines 87. Geburtstages sagte ich zu meiner          hung, wenn wir ihr Leid zugefügt oder sie nicht verstanden
Oberin: »Heute ist mein letzter Arbeitstag!« Sie sagte: »Ich   ­hätten. – Das hat mir damals sehr geholfen, hier
verstehe deine Entscheidung!« Mehrere alte Schwestern           in Oberpleis Fuß zu fassen und zur Gemein-
waren froh, dass ich vom Kapellendienst befreit war. Nun        schaft dieser Schwestern zu gehören.
konnten sie Wünsche an mich haben. »Schwester, gehst
du mal für mich etwas einkaufen?«, »Machst du mir meine        In Herzlichkeit grüßt Sie und Ihre Frau
Habit-Ärmel auf der Nähmaschine etwas kürzer?«, »Flickst       Ihre Sr. Maria Goretti
12
              Sehnsucht
           hört niemals auf
             Seelsorge in
       Altenpflegeeinrichtungen
          Was ist, wenn es aus Altersgründen zu Hause alleine nicht mehr geht und auch ­Verwandte
        bzw. ambulante Dienste nicht mehr helfen können? Da bieten unsere ­Altenpflegeeinrichtungen
               ein neues Zuhause. Sie wollen schon lange keine »Verwahranstalten« mehr sein, ­
           sondern mit Herzenswärme Menschen in der dritten Lebensphase stärken und begleiten.

    Verschiedene neue Konzepte tragen      Mensch wird älter. Zunehmend treffe        ders wenn ich die Hinfälligkeit von
dazu bei. Auch die Seelsorge gehört        ich auch jüngere Bewohner*innen, die       Körper und Geist hautnah erlebe.
dazu. Sie ist ein wichtiges Qualitäts-     dauerhaft körperlich eingeschränkt sind.   Der ev. Pastor und Theologe Fried-
merkmal für viele Häuser, denn Men-        Ihnen allen ist ein Merkmal gemeinsam:     rich von Bodelschwingh, Begründer
schen brauchen Menschen. Christliche       Trotz der vielen Grenzerfahrungen hört     der heutigen Bodelschwinghschen
Hoffnung und Nähe werden so persön-        ihre Sehnsucht niemals auf.                Stiftungen Bethel, schrieb, dass er bei
lich erfahrbar und konkret.                                                           der Begegnung mit einem älteren und
    Auch wir Christen in den Gemeinden     Wie darauf antworten?                      kranken Menschen nicht nur dessen
sind gefragt, wenn es gilt, Christus im    »Ein Mensch ist manchmal wie ver-          Hinfälligkeit sieht, sondern zugleich
Altenheim in diesem Sinn berührbar zu      wandelt, sobald man menschlich ihn         ihn vorausblickend anschaut in der
machen. Monatliche Gottesdienste, Ge-      behandelt!« Dieser Vers des Humoristen     zukünftigen kraftvollen Gestalt, die
spräche und Geburtstagsbesuche sind        Eugen Roth gibt die Richtung vor. Es       ihm Gott durch Anteilgabe an der Auf-
ein Angebot, auf das sich die Menschen     geht bei der ökumenisch ausgerichteten     erstehung Jesu schenken will. Dieser
wirklich lange freuen und in Corona-Zei-   Altenheimseelsorge nicht um katholisch     Blick mit den Augen Gottes hilft auch
ten besonders schmerzlich vermissen.       oder evangelisch, sondern wesentlich       mir. Mein Gegenüber spürt ebenfalls
Als Altenheimseelsorger in sechs Häu-      um Nähe, Beziehung und Begegnung           – auch ohne Worte – diese positive
sern habe ich in 20 Jahren Menschen in     untereinander und zu Jesus Christus. »Es   Glaubenshaltung. Das ist wahr, denn
den verschiedensten Lebenssituationen      gibt nur einen Gott!«, höre ich immer      auch die Sehnsucht Gottes nach uns
erlebt. Ich denke z. B. an eine liebe      wieder gerade von älteren Menschen.        Menschen hört niemals auf. Zugleich
Bewohnerin, die wegen ihrer Sehbehin-      Und auch: »Ihr Wort hat mir jetzt gut-     ist es für viele ein guter Weg, im Alltag
derung schon vierzig Jahre froh und zu-    getan – Danke.« Beides macht auch mir      die Begrenzungen des Älterwerdens
frieden im Ernst-Christoffel-Haus Nüm-     Mut; ich bin Übermittler und zugleich      anzunehmen.
brecht wohnt. Solche Menschen gibt es      Beschenkter.                                    Was ich erlebt habe, können – wie
auch in anderen Häusern genauso wie                                                   eingangs erwähnt – so oder ähnlich
jene, die nur ein paar Wochen im Alten-    Worum geht es also?                        auch viele Ehrenamtliche aus unse-
heim verweilen und dann versterben. In     Durch meinen Dienst im Altenheim will      ren Gemeinden berichten. Wir haben
unseren Altenheimen leben Menschen         ich zu Christus hinführen, der Mensch      zurzeit drei Gottesdienstleiter*innen
aus allen Bevölkerungsgruppen. Die         geworden ist. Denn er ist das Leben,       in unseren Altenheimen, ebenso
einen waren aktive Mitglieder in ihren     nach dem sich Menschen sehnen.             verschiedene Besuchsdienste und
Kirchengemeinden, andere haben mit         Dennoch ist das auch für mich als          Freizeitinitiativen sowie ökumenische
Kirche »nichts am Hut«. Denn jeder         Glaubenden nicht immer leicht, beson-      Gottesdienste.
September 2020 – Sehnsucht hört niemals auf     13

                                                                                             Unser erstes Projekt war, Ehrenamtliche
                                                                                             zu werben.
                                                                                                  Im ökumenisch ausgerichteten »Fo-
                                                                                             rum Altenheimseelsorge Oberberg-Süd«
                                                                                             treffen sich seitdem zweimal jährlich
                                                                                             haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter
                                                                                             von neun Altenpflegeeinrichtungen,
                                                                                             um seelsorgliche Fragen und die
                                                                                             ­Situation älterer Menschen in den Blick
                                                                                              zu nehmen, voneinander zu lernen und
                                                                                              Projekte für ältere Menschen zu starten.
                                                                                              Gottesdienste für demenziell Erkrank-
                                                                                              te und deren Angehörige waren die
                                                                                              aktuellen Aktionen. Die Verbindung zu
                                                                                              den Kirchengemeinden auf dem Gebiet
                                                                                              des künftigen Sendungsraums ist er-
                                                                                              wünscht. Evangelische und katholische
                                                                                              Seelsorger begleiten als Mitglieder oder
                                                                                              Gäste das Forum. Gäste und Koope-
                                                                                              rationspartner sind willkommen: Der
                                                                                              ambulante Johanniter-Hospiz-Dienst
                                                                                              Waldbröl, das Hospiz Wiehl und Fachre-
                                                                                              ferenten des Erzbistums Köln haben uns
                                                                                              bis jetzt besucht. Nach der Versetzung
                                                                                              von Herrn Trapp im Jahr 2011 habe ich
                                                                                              die Leitung übernommen.

                                                                                             Was sind Wünsche?
                                                                                             Altenheime werden oft vergessen –
Das Alter hält auch ein Lachen bereit.                                                       wie auch die Corona-Krise zeigte. Ich
                                                                                             wünsche mir nicht nur mehr engagierte
                                                                                             Christen mit Ideen, sondern vom Erzbis-
                                                                                             tum wieder einen Regionalreferenten
     Wie geht Seelsorge miteinander?             Altenheimseelsorge in Oberberg-Süd          für Altenheimseelsorge im Oberbergi-
     Bei der Vielzahl unserer Altenheime         vor 15 Jahren angeregte, das »Forum         schen, damit die Kirche zu den Men-
     werden das ehrenamtliche Engagement         Altenheimseelsorge Oberberg-Süd«            schen kommen und unser Forum weiter
     wie die Vernetzung untereinander immer      zu gründen. Die Sozialen Dienstlei-         bestehen kann.
     nötiger. Mit bis jetzt zehn und künftig     terinnen aus dem CBT-Haus und der
     zwölf Altenpflegeeinrichtungen im neu-      AWO in Waldbröl, aus dem Engelsstift
     en Sendungsraum sind wir mit Blick auf      und dem Ernst-Christoffel-Haus in                                      Michael Grüder
     die Zahl der Altenheime ein »Hot-Spot«.     Nümbrecht und unserem SB An Bröl                                      Pastoralreferent
     Beziehungen der Häuser und Aktiven          und Wiehl gehörten zu den Grün-
     untereinander sind in der Situation wich-   dungsmitgliedern. In den Jahren sind
     tig, weil Beziehungen generell größere      immer mehr Häuser dazu gekommen
     Räume strukturieren helfen.                 – aus Bielstein, Denklingen und Wiehl.
          Das wusste auch Pastoralreferent       »Menschen brauchen Menschen« – so
     Elmar Trapp, der als Regionalreferent für   war unser erster Flyer überschrieben.
14                                       »Es ist, was es ist,
                                          sagt die Liebe«
                                                    (Erich Fried)

                        Interview mit Roswitha Wieczorek (81)

   fünfkant: Was war im Rückblick        laut und störend empfunden. Nun          viele neue Aufgaben auf mich zu.
besonders gelungen in Ihrem Leben?       konnten die Kinder draußen rund ums      Plötzlich musste ich alles im Haus
Roswitha Wieczorek: Wir waren sehr       Haus und im nahen Wald spielen und       selbst organisieren und koordinieren.
froh, dass mein Mann Georg und ich       toben, und mein Mann konnte einen        Die Kinder, die zu dieser Zeit bereits
uns 1978 in Waldbröl ein eigenes Haus    großen Gemüsegarten anlegen und          aus dem Haus waren, haben mich
bauen konnten, in dem für unsere drei    bewirtschaften.                          dabei sehr unterstützt und im Rah-
Kinder und uns genügend Platz war. Bis                                            men des Möglichen entlastet. Zudem
dahin war es in den Mietwohnungen oft    Was hat Sie herausgefordert und Sie      haben sie immer wieder für schöne
eng, man konnte sich nicht frei bewe-    wachsen lassen?                          Überraschungen gesorgt. So standen
gen, und in manchen Häusern wurden       Als mein Mann im Alter schwer erkrank-   an Hl. Abend des ersten Jahres der
Kinder von vereinzelten Nachbarn als     te und pflegebedürftig wurde, kamen      Erkrankung meines Mannes unsere
fünfkant – September 2020 – »Es ist, was es ist, sagt die Liebe« Interview mit Roswitha Wieczorek (81)   15

Tochter mit Schwiegersohn und den En-       Kinder. Sie machen ihre eigenen            Alter einsetzen. Aber das erweckt bei
keln vor der Türe. Zuvor hatten sie schon   Erfahrungen und lernen daraus. Bei         den Jüngeren den Eindruck, als würden
einen kleinen geschmückten Weihnachts-      konkreten Fragen gebe ich natürlich        sie nicht gebraucht. Vielleicht fänden die
baum aufgestellt. All dies hat mir damals   eine Antwort.                              Gottesdienste bei Kindern und Jugend-
und bis heute immer wieder gezeigt, dass                                               lichen, aber auch bei Erwachsenen,
ich nicht alleine und vergessen bin.        Was stimmt Sie heiter, wenn Sie an         mehr Akzeptanz, wenn Lieder und Texte
                                            Ihr Alter denken?                          in zeitgemäßer Sprache ausgewählt
Gibt es besondere Gaben, die Sie ent-       Nach dem Tod meines Mannes habe            würden. So manche Wörter gehören
wickeln konnten und warum konnten           ich das Haus, das für mich alleine ja      nicht mehr zum Alltagswortschatz und
Sie das?                                    viel zu groß war, verkauft und bin ins     bedürften der Erklärung.
Mein Mann verlor im Verlauf seiner          CBT-Wohnheim gezogen. Das hat mich
Krankheit immer mehr an Kräften. Dies       sehr entlastet. Viel Freude machen mir     Wie gehen Sie mit dem Nachlassen
hat mich immer mehr gefordert. Es gab       auch die Pilates-Kurse und die Treffen     Ihrer Kräfte um? Wovon müssen Sie
zwar die vielfältigen Hilfen des ambulan-   der kfd-Gruppe 50Plus.                     sich da verabschieden? Was fällt be-
ten Pflegedienstes, doch in vielem war                                                 sonders schwer? Was fällt eher leicht,
ich trotz der großen Unterstützung durch    Haben Sie noch Pläne?                      ist eventuell sogar entlastend?
die Kinder auf mich allein gestellt. Sehr   Derzeit habe ich dank »Corona«             Ich bedauere sehr, dass ich nicht mehr
froh war ich, dass stets eines der Kinder   und angesichts meines derzeitigen          an den Caritas-Fahrten teilnehmen
am Samstagabend ins Haus kam und ich        Gesundheitszustandes keine Pläne.          kann. Zudem fallen mir viele Arbeiten
so Zeit fand, zur Abendmesse zu gehen.      Ich hoffe aber, bald wieder in die Stadt   im Haushalt schwer. Doch da erfahre ich
Dies hat mir stets neue Kraft gegeben.      gehen und selbst (ohne Mundschutz)         viel Hilfe durch die Kinder und Enkel.
                                            einkaufen zu können.                       Stets heißt es »Mutter lass das! Das
Was konnten Sie nicht entwickeln?                                                      machen wir!« Im Alter sorgen nun an-
Was stand dem im Wege?                      Was möchten Sie noch erreichen?            dere für mich, so, wie ich früher für die
Gerne wäre ich öfters mit der Familie       Ich würde mich freuen, wenn ich nach       Familie gesorgt habe. Das ist eine sehr
verreist, um auch andere Landesteile        den Corona-bedingten Einschrän-            schöne und entlastende Erfahrung!
kennenzulernen. Doch zum einen war          kungen wieder ins CBT-Haus gehen
mein Mann lieber in den eigenen vier        und dort meinen Küsterdienst wieder        Sie mussten von einem geliebten
Wänden und im Garten, und zum ande-         aufnehmen darf.                            Menschen Abschied nehmen. Was
ren war das ja auch eine Kostenfrage.                                                  erleichtert den Abschied?
Ich habe nach dem Tod meines Mannes         Was soll von Ihnen in Erinnerung           Die Ärzte hatten uns darauf vorberei-
mehrfach an den von der Caritas organi-     bleiben?                                   tet, dass mein Mann angesichts seiner
sierten Senioren-Reisen teilgenommen.       Ich würde mich freuen, wenn ich als        Erkrankung plötzlich ersticken könnte.
Das waren stets Gruppen von etwa 20         Mutter und Oma sowie als Nachbarin         Gott sei Dank, dass ihm dies erspart
Teilnehmerinnen, und oft traf man auf       und Küsterin im CBT-Haus in guter          geblieben ist. Er durfte sanft beim
den Reisen die gleichen Mitreisenden        Erinnerung bliebe.                         nächtlichen Schlaf ohne Qualen und
wieder. Leider kann ich aus gesundheit-                                                Schmerzen versterben. Dies hat uns den
lichen Gründen nun auch nicht mehr an    Welche Erkenntnis haben Sie ge-               Abschied erleichtert.
diesen Reisen teilnehmen; ich wäre eine  wonnen, die in Erinnerung bleiben
zu große Belastung für die Mitreisenden  sollte?                                       Haben Sie Angst vor dem Tod?
und die Betreuer.                        Es sollten viel mehr Jugendliche in           Nein – im Gegenteil. Ich weiß nicht,
                                         Ämter und für Aufgaben berufen                was auf mich zukommen wird. Aber ich
Gibt es einen Gedanken, einen Rat,       werden. Man sollte ihnen Verantwor-           bin schon neugierig auf das, was dann
den Sie aus Ihren Erfahrungen an-        tung übertragen und ihnen Vertrauen           kommen wird.
deren, jüngeren Menschen geben           schenken, selbst dann, wenn nicht
würden?                                  alles sofort »100-prozentig« perfekt
Mit Ratschlägen an andere halte ich mich und »richtig« gemacht wird. Es ist
lieber zurück. Die Kinder haben inzwi-   schön, dass sich die Lektor*innen und                               Das Gespräch führte
schen ihre eigenen Familien und eigene Kommunionhelfer*innen bis ins hohe                                        Wolfgang Clees
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                           Im Land der Alten
    Deutschlands Einwohner                   turstärke einer Stadt oder eines Kreises      geschäfte, Banken, Bäcker, Fleischer oder
werden­­immer älter und selbst die           zusammen: wie stark die Wirtschaft dort       Ärzte verschwinden ganz oder können
­Zuwanderung von jungen Migranten            ist und ob es Kultur-, Event- und Freizeit-   ihre Dienste nur noch sehr eingeschränkt
 verlangsamt diesen Trend nur wenig.         angebote, Kitas, Schulen oder Studien-        anbieten. Gaststätten schließen und mit-
     Besonders betroffen ist Ostdeutsch-     plätze gibt. Strukturstarke Regionen sind     telständische Unternehmen finden keine
land. Das Durchschnittsalter der             gerade für junge Menschen attraktiv. Sie      Auszubildenden mehr.
Bevölkerung von Heidelberg (40) in           verlassen ihre schwache, oft ländliche            Ein Teufelskreis, denn ist ein Ort erst
Baden-Württemberg und Suhl (50) in                                                         mal geschrumpft und seine Wirtschaft
Thüringen differiert um rund 10 Jahre.                                                     am Boden, ist es fast unmöglich, diese
Nur in 5 von 402 kreisfreien Städten und         »Einwanderung kann die                    Entwicklung wieder umzukehren. Denn
Landkreisen ist das Durchschnittsalter           demografische Alterung                    um eine solche Region für junge Leute
seit 1995 leicht gesunken, während                                                         wieder attraktiv zu machen, muss viel Geld
das Alter überall sonst ansteigt. Zahlen,         abmildern, aber nicht                    in die Hand genommen werden, das aber
die von Vergreisung, wirtschaftlichem                  aufhalten.«                         gerade in überalterten, strukturschwachen
Niedergang und der Wanderung junger                                                        Regionen aufgrund geringer Steuerein-
Leute in die prosperierenden großen                                                        nahmen fehlt. So ist die Infrastruktur kaum
Städte zeugen. Diese Entwicklung             Heimat und ziehen dorthin, wo sie sich        ausbaufähig.
stagniert durch eine hohe Außen- und         eine bessere Zukunft erhoffen. Diese              Langfristig lässt sich der deutsche Alte-
Binnenwanderung vorübergehend nur            Wanderungsbewegung bestimmt stark,            rungsprozess wohl nicht aufhalten. Zwar
in den Großstädten. Jedoch schrumpft         wie sich die Altersstruktur in einem          kann Einwanderung die demografische
und altert der ländliche Raum hierdurch      Kreis entwickelt. Trotz einer bundesweit      Alterung abmildern, sie kann den Prozess
noch schneller.                              niedrigen Geburtenrate wird der Trend         aber nicht aufhalten. Dafür wären unrealis-
     Ein Trend, der sich schon seit Jahren   zu einer immer älteren Bevölkerung in         tisch hohe Zuwanderungszahlen notwen-
überall zeigt: Deutschland wird ein Land     strukturstarken Regionen auf diese Wei-
der Alten. Niedrige Geburtenzahlen           se abgemildert. In Städten und Kreisen,
sowie eine steigende Lebenserwartung         die von Abwanderung betroffen sind,              »Letztlich kommen immer
schrauben das Durchschnittsalter der         steigt das Durchschnittsalter dagegen             mehr Rentner auf immer
Deutschen weiter nach oben. Nach den         schon seit rund zwei Jahrzehnten stark
Bevölkerungsdaten der Statistischen          an. Vor allem in den 90er-Jahren sind             weniger Beitragszahler.«
                                             viele junge Menschen wegen besserer
                                             Jobchancen von Ost- nach Westdeutsch-
   »Strukturstarke Regionen                  land gezogen. Die Ost-Bevölkerung, die        dig. Aktuelle Bevölkerungsvorausberech-
     sind gerade für junge                   vor der Wende jünger war als im Westen,       nungen des Statistischen Bundesamts
                                             wurde immer älter, besonders in den           prognostizieren, dass das Durchschnitts-
     Menschen attraktiv.«                    ländlichen Regionen.                          alter in Deutschland bis 2060 auf 47,6 bis
                                                 Die Vergreisung der Bevölkerung           50,6 Jahre steigen wird. Dies ist abhängig
                                             geht oft mit einer generellen wirtschaft-     von der Entwicklung der Zuwanderung
Landesämter ist Sachsen-Anhalt mit 47,4      lichen Schrumpfung einher. Erst stehen        und der Geburtenrate. Zum Vergleich:
Jahren das älteste Bundesland, Ham-          einzelne Wohnungen und Häuser leer,           1990 lag das Durchschnittsalter noch bei
burg mit 42,3 Jahren am jüngsten.            dann werden es mehr, bis irgendwann           39,3 Jahren, 1970 nur bei 36,2 Jahren. Dar-
   Wie sind die regionalen Unterschie-       der Immobilienmarkt einbricht. Die            aus folgen große gesellschaftliche Verän-
de zu erklären?                              Kaufkraft sinkt, weil ältere Menschen im      derungen: Der Anteil der Demenzkranken
   Das Durchschnittsalter in den Regi-       Durchschnitt weniger Geld zur Verfü-          und der über 85-Jährigen wird sich bis
onen hängt wesentlich mit der Struk-         gung haben als junge. Einzelhandels-          2050 von derzeit rund 1,6 auf rund 2,7 Mio.
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