Der Kampf gegen das Vergessen - Demenzforschung im Fokus - DemenzHilfe Oldenburg eV
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Der Kampf gegen das Vergessen Demenzforschung im Fokus Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unentgeltlich abgegeben. Sie ist nicht zum gewerblichen Vertrieb bestimmt. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerberinnen/Wahlwerbern oder Wahlhelferinnen/Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie für Wahlen zum Europäischen Parlament. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstal- tungen und an Informationsständen der Parteien sowie das Ein- legen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Unabhängig davon, wann, auf welchem Weg und in welcher An- zahl diese Schrift der Empfängerin/dem Empfänger zugegangen ist, darf sie auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Bundesregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen verstan- den werden könnte.
Der Kampf gegen das Vergessen Demenzforschung im Fokus Herausgeber Bildnachweis Bundesministerium Titel : für Bildung und Forschung (BMBF) Kurt Henseler Referat Publikationen; Internetredaktion 11055 Berlin Innenseiten: akg-images: S. 12 o. und u., S. 13 (Erich Lessing) Bestellungen Argum: S. 47 l. schriftlich an den Herausgeber Avenue Images: S. 57 Postfach 30 02 35 S. Bosch: S. 76 l. 53182 Bonn Prof. Eckard und Eva- Maria Mandelkow: S. 44 u. l. und u. r. Agentur Focus/SPL: S. 8 u., S. 9 l. und r., S. 11 u., S. 16, S. 32 o., S. 33, S. 35 oder per Agentur Focus: S. 74 o. (D. Courtinat / Rapho) Tel.: 01805-262 302 Das Fotoarchiv: S. 48 l. und r. (F. Stark) S. 71 (T. Bauer), S. 72 Mitte Fax: 01805-262 303 (T. Bauer) , S. 77 (R. Falco) (0,12 Euro/Min.) H. Gutzmann: S. 61 M. Haupt: S. 65 E-Mail: books@bmbf.bund.de Prof. Dr. F. Hentschel / ZI Mannheim: S. 18 Internet: http://www.bmbf.de Hermann + Bosch, Freie Architekten, BDA Stuttgart: S. 74 Mitte P. Kanzia: S. 75 l. und r., S. 76 l. und r. Redaktion laif: S. 8 o. (P. Granser), S. 47 r., S. 48 Mitte, S. 49 l. und r., S. 73 l. und r. Klartext, Stuttgart F. Mädje/von Lingen: S. 68 Okapia: S. 17 o. und u., S. 34 r., S. 50, S. 51 u., S. 53 Autoren Picture alliance: S. 11 o., S. 28 l. und r., S. 29 r. Roland Bischoff, Stuttgart Salk Institute for Biological Studies, La Jolla, California: S. 39 l. und r. Michael Simm, Offenburg G. Schiefer: S. 49 Mitte Rolf Andreas Zell, Stuttgart K. und M. Simons: S. 52 C. Thoelen: S. 26 l. und r., S. 27 o., S. 31, S. 63 o., S. 66 Gestaltung P. Thompson/UCLA School of Medicine, Los Angeles: S. 27 r. teamkom, Stuttgart M. Tuszynski/University of California, San Diego: S. 54 Horst Schüler alle übrigen Fotos: Kurt Henseler, Tübingen Druckerei FIBO Druck und Verlags GmbH, Neuried Illustrationen Ralf Bohde, Stuttgart Bonn, Berlin 2004 Bildredaktion Gedruckt auf Recyclingpapier Carola Reinmuth, Reutlingen
ANHANG T W Tacrin 53 Wachstumsfaktoren 53f Tageskliniken 10 Watson, James 32 Tagespflege 68 Wehner, Herbert 29 Tanz 58 Wein 37 Tanzi, Rudolf 35 Weyerer, Siegfried 26 Tau 33, 41f, 43f Wijsman, Ellen 35 – Diagnose 17 Willis, Thomas 13 Teilchenbeschleuniger 41 Wiltfang, Jens 17 Testament 67 Wilz, Gabriele 66 Therapie 10 Wohngemeinschaften 77 – Alzheimer-Therapiezentrum Wohnumfeld siehe Herausgeber Bildnachweis Bad Aibling 58 Lebensumfeld Bundesministerium Titel : – experimentelle 52f für Bildung und Forschung (BMBF) Kurt Henseler – Grafik 55 Z Referat Publikationen; Internetredaktion – Medikamente 50f Zacharias, Helmut 29 11055 Berlin Innenseiten: – nicht-medikamentöse 56f Zahlenverbindungstest 16 akg-images: S. 12 o. und u., S. 13 (Erich Lessing) – Nutzen 65 Zandi, Peter 49 Bestellungen Argum: S. 47 l. – Tiere 61 Zebrafische 34, 43 schriftlich an den Herausgeber Avenue Images: S. 57 Thompson, Paul 40 Zeitgefühl 69 Postfach 30 02 35 S. Bosch: S. 76 l. Tierversuche 34 Zelltransplantation 54 53182 Bonn Prof. Eckard und Eva- Maria Mandelkow: S. 44 u. l. und u. r. Training 48 Zentralinstitut für Agentur Focus/SPL: S. 8 u., S. 9 l. und r., S. 11 u., S. 16, S. 32 o., S. 33, S. 35 Transgene Tiere 34 Seelische Gesundheit 74 oder per Agentur Focus: S. 74 o. (D. Courtinat / Rapho) Tuszynski, Mark 53 Zigaretten 35f Tel.: 01805-262 302 Das Fotoarchiv: S. 48 l. und r. (F. Stark) S. 71 (T. Bauer), S. 72 Mitte Zuckerkrankheit 36 Fax: 01805-262 303 (T. Bauer) , S. 77 (R. Falco) U (0,12 Euro/Min.) H. Gutzmann: S. 61 Ubiquitin 44 M. Haupt: S. 65 Uhrenzeichentest 14, 16 E-Mail: books@bmbf.bund.de Prof. Dr. F. Hentschel / ZI Mannheim: S. 18 Umwelteinflüsse 33, 39 Internet: http://www.bmbf.de Hermann + Bosch, Freie Architekten, BDA Stuttgart: S. 74 Mitte P. Kanzia: S. 75 l. und r., S. 76 l. und r. V Redaktion laif: S. 8 o. (P. Granser), S. 47 r., S. 48 Mitte, S. 49 l. und r., S. 73 l. und r. VAD siehe Klartext, Stuttgart F. Mädje/von Lingen: S. 68 Demenz, vaskuläre Okapia: S. 17 o. und u., S. 34 r., S. 50, S. 51 u., S. 53 Validations-Therapie 58, 60 Autoren Picture alliance: S. 11 o., S. 28 l. und r., S. 29 r. vCJD 15 Roland Bischoff, Stuttgart Salk Institute for Biological Studies, La Jolla, California: S. 39 l. und r. Ventrikellehre 12 Michael Simm, Offenburg G. Schiefer: S. 49 Mitte Verhalten 25, 27 Rolf Andreas Zell, Stuttgart K. und M. Simons: S. 52 Verhaltensstörungen 61, 64 C. Thoelen: S. 26 l. und r., S. 27 o., S. 31, S. 63 o., S. 66 Verhaltenstherapie 59f Gestaltung P. Thompson/UCLA School of Medicine, Los Angeles: S. 27 r. Versuchstiere 34 teamkom, Stuttgart M. Tuszynski/University of California, San Diego: S. 54 Videomikroskopie 43 Horst Schüler Vitamine 48 alle übrigen Fotos: Kurt Henseler, Tübingen Vollmachten 67 Druckerei Vorbeugung 22, 46f FIBO Druck und Verlags GmbH, Neuried Illustrationen Ralf Bohde, Stuttgart Bonn, Berlin 2004 Bildredaktion Gedruckt auf Recyclingpapier Carola Reinmuth, Reutlingen 83
VORWORT Seit der ersten Beschreibung des Krankheitsbildes durch den deutschen Arzt Alois Alzheimer im Jahr 1906 haben deutsche Ärzte und Forscher maßgeblich Anteil gehabt an der Aufklä- rung des Morbus Alzheimer. Darunter sind in den letzten Jahren insbesondere Beiträge zur Aufklärung der molekularen Mecha- nismen zu nennen, die die Grundlagen für die Erkenntnis des Krankheitsprozesses und seiner Auslöser gelegt haben. Die Er- folge der Aufklärung der molekularen Mechanismen eröffnen zugleich erstmals die Perspektive, kausal in das Krankheitsge- schehen eingreifen zu können. Zunehmend identifiziert die Forschung aber neben dem Mor- bus Alzheimer auch weitere, vor wenigen Jahren noch unbe- kannte Krankheitsbilder, die zu Demenzen führen können. Ne- ben der Notwendigkeit der Entwicklung von wirksamen Therapieverfahren für alle diese Formen der Demenzerkrankungen sieht sich die Medizin damit zugleich auch vor weitere diagnostische Herausforderungen gestellt. Die vorliegende Broschüre will Betroffenen im Frühstadium und den Angehörigen der Erkrankten, aber auch allen anderen Interessierten, den Stand der Forschung nahe bringen und damit auch ein tieferes Verständnis für Demenzerkrankungen vermitteln. Damit soll auch ein Beitrag zur Aufklärung über eine Krankheit geleistet werden, deren Bedeutung in einer alternden Gesellschaft rasant zunimmt. Edelgard Bulmahn Bundesministerin für Bildung und Forschung 5
INHALT INHALT 2 Impressum 5 Vorwort Der Kampf gegen das Vergessen 6 INHALT Demenzforschung im Fokus 8 EINFÜHRUNG Oma hat schon wieder den Schlüssel verlegt. Hat sie Alzheimer? Der Name des deutschen Neurologen Alois Alzheimer (1864-1915) ist seit fast 14 DIAGNOSTIK einhundert Jahren untrennbar mit der Wie erkennt der Arzt eine Demenz? Wie sicher ist die Diagnose? häufigsten Demenzform, der Alzhei- mer-Demenz verbunden. Sein Ver- 19 ZEITLICHE TRENDS dienst war es, diese Erkrankung mit Titelbild: Im Konfokalmikroskop be- Warum nehmen Demenzkrankheiten zu? einer in Gehirnschnitten sichtbaren trachtet ein Forscher den Hirnschnitt Zerstörung von Nervenzellen in Verbin- einer gentechnisch veränderten Maus, 24 VERLÄUFE VON DEMENZEN dung zu bringen. Einführung Seite 8. die als Tiermodell für die Alzheimer- Verlaufen alle Demenzen gleich? Demenz dient. Auf dem Monitor (rechts im Bild) treten die einzelnen 28 KRANKHEITSERLEBEN Nervenzellen leuchtend rot hervor. Wie erleben demente Menschen ihre Krankheit? Zuwendung und Wissen um die völlig andere Welt, in der demente Menschen 32 GENETIK & RISIKOFAKTOREN leben, sind die beiden wichtigsten Gibt es eine Veranlagung für Demenz? Schlüssel im Umgang mit Erkrankten Sind andere Risikofaktoren bekannt? für pflegende Angehörige wie für pro- fessionelle Pflegekräfte. Alltagshilfen 38 NEUROBIOLOGIE Seite 62. Pflegeheime Seite 74. Bildgebende Verfahren spielen eine Was passiert bei Demenzen im Gehirn? wichtige Rolle beim Erkennen von Demenzen und beim Unterscheiden 46 SCHUTZFAKTOREN & VORBEUGUNG diverser Formen. Diagnose Seite 14. Kann man sich vor einer Demenz schützen? 50 MEDIKAMENTE Welche Arzneimittel helfen bei Demenzen? 56 ANDERE THERAPIEN Was hilft außer Medikamenten? 62 ALLTAGSHILFEN Was erleichtert Demenzkranken den Alltag? 66 BELASTUNG FÜR ANGEHÖRIGE Eines der Schlüsselmoleküle bei der Wie können Angehörige die Belastungen Entstehung von Demenzen ist das der Pflege meistern? körpereigene Eiweiß APP (links). Mole- kularbiologen (rechts) kennen die Rolle 71 KOSTEN solcher Moleküle inzwischen sehr genau. Genetik & Risikofaktoren Was kosten Demenzkrankheiten? Seite 32. Neurobiologie Seite 38. 74 PFLEGEHEIME Welche Formen der Rund-um-die-Uhr-Betreuung gibt es? 78 ANHANG Hilfsangebote für Angehörige, die 78 Adressen einen demenzkranken Menschen pfle- gen, unterstützen diese bei der 79 Literatur Bewältigung ihrer schweren Aufgabe. Belastung für Angehörige Seite 66. 80 Stichworte 6 7
EINFÜHRUNG EINFÜHRUNG ben. Die Pflege von Menschen mit Demen- ser Gruppe ist eine Demenz, die ihren An- zen erfordert nicht nur viel Zeit und Zuwen- fang in bestimmten Bereichen des Gehirns dung, personellen und finanziellen Einsatz, nimmt, nämlich dem Frontal- und Tempo- sondern sie erzeugt bei Pflegekräften wie rallappen. Sie wird daher als Frontotempo- bei pflegenden Angehörigen oft große rale Demenz (FTD) oder nach ihrem Ent- Frustrationen angesichts des sich ver- decker als Pick’sche Krankheit bezeichnet. schlechternden Zustands des Kranken. Die Vaskuläre Demenzen machen zehn bis drei Kapitel ab S. 62, 66 und 74 beschäftigen 20 Prozent aller Demenzen aus. Hierunter sich mit diesem Aspekt; das Kapitel ab S.71 fällt ein Bündel voneinander unterscheid- geht den Kosten nach und das Kapitel ab barer Krankheitsformen, etwa die Multi- S. 28 widmet sich dem Thema, wie demente Infarkt-Demenz. Rund weitere 20 Prozent Personen ihre eigene Situation erleben. aller Demenzen erweisen sich als Mischfor- men zwischen einer neurodegenerativen Unterschiedliche Demenzformen und einer vaskulären Erkrankung. Selten, aber für die Diagnostik sehr wichtig ist die Die Alzheimer-Demenz (AD) ist für viele das dritte Gruppe der Demenzen, die mit ande- Synonym für Demenzen schlechthin. Tat- ren Erkrankungen einhergehen. sächlich ist die AD mit 50 bis 60 Prozent Gesund – zwar die häufigste Demenzform, aber nicht die einzige. Nach der Art ihrer Entstehung lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Schubladendenken oder wertvolle Differenzierung? vergesslich – dement Alois Alzheimer (links) gehörte zu den ersten Neurologen, die Demenzen mit Demenzen, die ihren Anfang von sich ausweitenden Schadensprozessen in und an den Nervenzellen des Gehirns nehmen – Hinter dem Versuch, „Ordnung“ in die Viel- falt demenzieller Erkrankungen zu brin- gen, steckt mehr als medizinischer „Schub- Ein erster Blick auf die Demenzen der Zerstörung von Nervenzellen in sie heißen neurodegenerative Demenzen; ladisierungseifer“. So unterscheiden sich Verbindung brachten. An zwei Hirn- Demenzen, die sich als Folge von Gefäß- selbst innerhalb einer Gruppe die Krank- präparaten (unten) wird der Schaden sichtbar: links im Bild das Hirn eines schädigungen im gesamten Körperkreis- heitsformen erheblich: An AD erkrankte verstorbenen Patienten mit Alzheimer; lauf und damit auch im Gehirn entwickeln Menschen haben zunächst vor allem mit rechts das Präparat eines nicht-demen- ten Toten. Ihren Beginn nimmt die – sie werden als vaskuläre Demenzen (VAD) kognitiven Defiziten zu rechnen. Bei Men- Zerstörung durch Ablagerungen ver- bezeichnet; und schließlich schen mit LBD treten zudem Verwirrtheits- schiedener Eiweiße in und an einzel- Demenzen, die als Begleiterscheinung zustände auf, und es kann zur Schüttelläh- nen Nervenzellen (rechts unten). mung kommen, wie sie auch für eine Par- „Wo habe ich nur die Schlüssel hingelegt?“ kinsonerkrankung typisch ist. Patienten mit Wer hat sich das nicht selbst schon einmal einer FTD fallen häufig zunächst durch Ver- gefragt und – eher belustigt als ernst – ge- haltensänderungen auf: Sie werden etwa dacht, jetzt gehe wohl „der Alzheimer“ los. unzuverlässig oder entwickeln ein auffäl- Kaum ein Witz, kein noch so platter liges Sozialverhalten. Kalauer rund um unsere Vergesslichkeit Um abschätzen zu können, mit welchen kommt ohne den Namen des deutschen Veränderungen und Ausfällen man bei ei- Neurologen Alois Alzheimer aus, nach dem nem dementen Menschen zu rechnen hat, seit rund 100 Jahren die häufigste Demenz- ist es wichtig, die Demenzform möglichst erkrankung benannt wird. exakt diagnostisch zu ermitteln (die Verfah- Die Realität ist das Gegenteil von spaßig: ren hierzu finden Sie ab S.14). Dies ist auch Zwischen 900 000 und 1,1 Millionen Men- wichtig, um den Verlauf einer Demenz be- schen in Deutschland leiden unter einer urteilen zu können. Form von Demenz; die Zahl der Neuerkran- Neurodegenerative Demenzen wie die kungen pro Jahr liegt bei 120 000 und löschung der persönlichen Geschichte und anderer Erkrankungen – etwa einer Vergif- AD nehmen einen kontinuierlichen, schlei- nimmt jedes Jahr um weitere 20 000 Men- des individuellen Wissens. tung durch Alkoholmissbrauch oder einer chenden Verlauf. Oft lässt sich deren Be- schen zu (mehr dazu finden Sie ab S. 19). Körperliche Gebrechen – etwa Ein- Infektion des Gehirns mit Krankheitserre- ginn gar nicht präzise ermitteln, doch von Eine Demenz bedeutet für den Einzel- schränkungen der Beweglichkeit, der Kon- gern – auftreten. Die Medizin kennt rund dem Moment an, wo sich eine AD ausge- nen weit mehr als „nur“ Gedächtnisein- trolle der Muskulatur oder der Wahrneh- hundert solcher Erkrankungen, in deren prägt hat, muss man mit einem stetigen bußen. Kognitive Störungen bilden nur ei- mungsfähigkeit – können in späteren Verlauf eine Demenz auftreten kann. Verlust von Hirnfunktionen rechnen. Bei nen Symptombereich demenzieller Erkran- Krankheitsstadien hinzutreten. Zudem Die Alzheimer-Demenz gehört zur er- vaskulären Demenzen wiederum können kungen. Sie reichen von leichten Schwä- kann sich das Verhalten dementer Men- sten Gruppe. Die zweithäufigste Form der die Symptome im Vergleich zur AD gerade- chen bei der Suche nach dem geeigneten schen verändern, und zwar so dramatisch, neurodegenerativen Demenzen ist die Le- zu „schlagartig“ auftreten; dafür sind die Wort oder beim Orientierungs- und Erinne- dass Angehörige gar nicht glauben mögen, wy-Körperchen-Demenz (Englisch: Lewy Verluste teilweise reversibel – die Sympto- rungsvermögen bis zur kompletten Aus- tatsächlich dieselbe Person vor sich zu ha- Bodies, abgekürzt als LBD). Seltener in die- me des Patienten bessern sich also zeitwei- 8 9
EINFÜHRUNG EINFÜHRUNG FOKUS FORSCHUNG „Eine scharfe Grenze gibt es nicht“ lig, um später erneut und dann meist gra- vierender aufzutreten. Über unterschied- Diese Frage lässt sich mit einem klaren „Ja und Nein“ beantworten. Schadenspro- liche Verlaufsformen und Ausprägungen zesse im Hirn, wie sie für Demenzen typisch Interview mit dem Münchner Demenzexperten Prof. Hans Förstl informiert das Kapitel ab S.24. sind (siehe ab S. 38), lassen sich mit zuneh- Gerade bei der Entscheidung für eine mendem Alter bei einem größer werden- angemessene Therapie ist es bedeutsam, den Prozentsatz von Menschen feststellen, die Demenzform diagnostisch genau zu er- und auch das Schadensausmaß nimmt von fassen. So lässt sich inzwischen eine Infek- Gibt es eine klare Grenze zwischen dem altersbedingten Ver- über die nächsten fünf bis sie- Wird zwangsläufig tion mit dem AIDS verursachenden HI- lust von Hirnleistungen und dem Einsetzen einer Demenz? ben Jahre hinziehen. Ein weit- Virus, das zusätzlich eine Demenz hervor- Förstl: Britische Kollegen arbeiten momentan an einer Studie mit gehender Erhalt der Lebens- jeder Mensch dement, sofern rufen kann, medikamentös gut behandeln. vielen Hundert alter Menschen, um unter anderem auch diese Fra- qualität über fünf oder gar er nur alt genug wird, um Verursacht ein unerkannter Hirntumor ge zu klären. Im Jahr 2001 haben sie die ersten Ergebnisse publiziert. zehn Jahre wäre also ein enor- eine Demenz, so kann es für den Patienten Ihr Fazit lautet: Nicht nur die Gehirne dementer Menschen weisen mer Gewinn – viele würden das diese Krankheit noch lebensrettend sein, diese verborgene Ursa- die für diese Krankheiten typischen Veränderungen auf, sondern voll entwickelte Krankheitsbild zu erleben? Ja und Nein! che seiner Demenz zu erkennen und zu be- auch die der allermeisten nicht-dementen Personen. Daher glaube dann gar nicht mehr erleben. handeln. Andererseits kann die Gabe be- ich, dass wir gewissermaßen alle ‚Alzheimer’ im Kopf haben. Ent- stimmter Psychopharmaka, die bei AD-Pa- scheidend dafür, ob wir eine Demenz erleben, sind das Lebensalter, Die meisten dementen Men- tienten psychische Symptome lindern, bei das wir erreichen werden, und die Geschwindigkeit, mit der die schen werden zu Hause von einer LBD sogar nachteilig wirken. Mit den Schädigungen im Hirn ablaufen. Eine scharfe Grenze oder Schwelle, Angehörigen versorgt. Viele heutigen Therapiemöglichkeiten sowie mit von der ab der normale Alterungsprozess hinsichtlich der Demenz- belastet die Pflege aufs Äu- neuen, experimentellen Behandlungsan- entwicklung zum krankhaften umkippt, gibt es nicht. Prof. Hans Förstl ist Direktor der Klinik und ßerste. Durch welche Ange- sätzen beschäftigen sich die beiden Kapitel Jahrgang 1892: Lina Zimmer ist die älteste Deutsche und Poliklinik für Psychiatrie und Psycho- wahrscheinlich auch Alters-Weltrekordhalterin. bote könnte die Medizin die- ab S.50 und S.56. therapie des Klinikums rechts der Isar, Was bringt es, wenn ein Patient weiß, ob er an einer vaskulären Technische Universität München. sen Menschen helfen, mit der Demenz (VAD) oder an einer Alzheimer-Demenz (AD) leidet? Last besser klarzukommen? Nicht nur eine Frage des Alters Altersstufe zu Altersstufe zu. Zudem zeigen Förstl: Sie zweifeln dort zu Recht, wo eine aufwändige Differenzial- Förstl: Die Tatsache, dass die meisten Demenzpatienten zu Hause statistische Analysen, dass sich ab etwa dem diagnostik droht, zum Glasperlenspiel zu werden. Aber einige De- gepflegt werden, halte ich zunächst einmal für gar nicht so Das kognitive Leistungsvermögen eines 65. Lebensjahr das Risiko einer Demenz- menzen beruhen auf behandelbaren, zumindest aber beeinfluss- schlecht. Aber selbstverständlich muss man sehr genau hinschau- Menschen – beispielsweise die Fähigkeit, erkrankung im Fünfjahresabstand annä- baren Ursachen. Diese gilt es zu finden und etwaige Risikofaktoren en, wo die Last einfach zu groß wird. Aus meiner Sicht wäre es not- eine Fremdsprache zu erlernen – nimmt hernd verdoppelt. Beide Befunde sprechen gezielt zu minimieren. Außerdem ist die Differenzialdiagnostik für wendig, den Bereich der niederschwelligen Hilfsangebote auszu- mit dem Alter ab. Und das als „Altersver- also für ein klares „Ja“ als Antwort. die Wahl der Therapie wichtig. Wir müssen also die Demenzen in weiten, also beispielsweise Tageskliniken einzurichten, in denen ein gesslichkeit“ titulierte Phänomen beobach- Doch auch für ein „Nein“ gibt es fundier- unterschiedliche Schubladen stecken. Aber mit diesem brauchba- dementer Mensch stundenweise beaufsichtigt und beschäftigt ist, tet jeder nicht mehr jugendliche Mensch an te Argumente: So sind ja nicht alle Hundert- ren Konzept fahren wir an die Wand, wenn es dazu führt, dass zwar während die pflegende Person nebenan in der Bibliothek ein Buch sich. Wird also zwangsläufig jeder dement, jährigen dement. Der mit dem Alter einher- ein Patient mit AD ein Antidementivum von der Krankenkasse er- lesen kann. Ein anderes Beispiel der Entlastung wären Pflegekräfte sofern er nur alt genug wird, um die Krank- gehende Leistungsverlust mag allen Men- stattet bekommt, die gleiche Substanz aber einem Patienten mit zu- für die Nacht. Bei vielen dementen Personen ist der Tag-Nacht- heit noch zu erleben? schen zu eigen sein; doch die Geschwindig- sätzlichen Hirngefäßveränderungen aufgrund der derzeitigen Re- Rhythmus erheblich gestört. Die Folge kann sein, dass die Pflegen- keit, mit der Hirnfunktionen abnehmen, ist gularien vorenthalten wird. den dann buchstäblich kein Auge mehr zumachen können. individuell unterschiedlich, sodass auch für einen sehr alten Menschen die Demenz Warum ist eine möglichst frühzeitige Diagnose so wichtig? In unserer älter werdenden Gesellschaft wird die Zahl der kein unausweichliches Schicksal darstellt. Förstl: Die Abnahme der kognitiven Leistungen bei vielen Demen- Demenzkranken deutlich ansteigen. Welche Strategien be- Diese Befunde haben für die Demenzfor- zen und ganz sicher bei AD folgt – über die Zeit betrachtet – einem nötigen wir, um mit diesem Problem fertig zu werden? schung eine entscheidende Konsequenz: stetigen Verlauf. Mit den besten der heute verfügbaren Medika- Förstl: An dieser Aufgabe müssen wir alle gemeinsam mitarbeiten. Wenn die mit dem Alter einhergehende Ab- mente lässt sich dieser Verlauf etwa um ein Jahr parallel nach hin- Für mich steht außer Frage, dass wir in Zukunft eine längere Lebens- nahme von Hirnleistungen unterschiedlich ten verschieben. Je früher eine Demenz diagnostiziert wird, desto arbeitszeit haben werden. Auch die abrupte Zäsur vom Berufsleben rasch ablaufen kann, ist es wichtig, all jene mehr Fähigkeiten sind noch intakt und desto mehr Lebensqualität zum Ruhestand wird es in Zukunft hoffentlich nicht mehr geben. Faktoren auszumachen, die diesen Prozess zieht der Patient aus diesem Zeitgewinn. Die Prognosen für das Jahr 2050 gehen von 2,5 bis drei Millionen beschleunigen oder verlangsamen. Erstere Demenzkranken in Deutschland aus. Ich kann mir beim besten Vaskuläre Demenzen (Grafik, links) sind Risikofaktoren, letztere Schutzfakto- breiten sich von Hirnarealen aus, in Welchen Therapiefortschritt halten Sie für möglich? Willen nicht vorstellen, dass wir für all diese Menschen ausreichend ren. Sind diese Faktoren etwa durch persön- denen Gefäßschäden auftraten. Die Förstl: Ich habe die ‚Parallelverschiebung’ der Leistungseinbußen viele Pflegekräfte werden ausbilden können – ganz zu schweigen Alzheimer-Demenz (Grafik, Mitte) liche Lebensweise oder Medikamente be- erwähnt, die sich medikamentös um etwa ein Jahr hinauszögern von den enormen Kosten einer überwiegend professionellen Pfle- beginnt meist in Hirnbereichen, in de- einflussbar, könnte es langfristig möglich lassen. Wir alle hoffen darauf, dass es Therapien geben wird, die das ge. Zudem wird das Modell der Pflege durch Angehörige in Zukunft nen das autobiographische Gedächtnis werden, sich vor einer Demenz zu schützen lokalisiert ist. Die Frontotemporale Fortschreiten der Erkrankung nicht nur verschieben, sondern die- nicht für alle Patienten anwendbar sein – denken Sie nur an die vie- – also ihren Beginn hinauszuzögern – und Demenz schreitet vom Stirnbereich ses sogar bremsen. Solche neuroprotektiven Therapien sind ein len kinderlos gebliebenen und alleinlebenden Menschen. seitlich nach hinten voran. Die Zer- Patienten, die eine Demenz entwickelt ha- Fernziel, von dem wir vielleicht noch einige Jahre entfernt sind. Deshalb sehe ich die Notwendigkeit für ein anderes Modell: Gesun- störung im direkten Vergleich (Foto): ben, besser zu behandeln. Um Risikofakto- rechts die auf CT-Bildern beruhende Doch auch bescheidenere Fortschritte würden den Demenzkran- de Alte werden kranke Alte pflegen. Dafür werden sie Anerkennung ren geht es ab S. 32 sowie im „Fokus For- Darstellung eines gesunden Gehirns, ken enorm nützen. So handelt es sich ja um Krankheiten, die meist und auch Geld erhalten. Im Blick auf das eigene Schicksal muss sich links ein vergleichbarer Schnitt durch schung“ ab S. 19; mit Schutzfaktoren be- erst im höheren oder ganz hohen Alter auftreten und sich dann eine neue Solidarität der Gleichaltrigen entwickeln. das Hirn eines Patienten mit AD. schäftigt sich das Kapitel ab S. 46. 10 11
EINFÜHRUNG EINBLICK Die Humoralpathologie des griechi- schen Arztes Hippokrates bildete das gedankliche Fundament der antiken Medizin. Demnach war auch für den nach Christus) verbindet psychische Störungen mit der Ventrikel- sische Neurologe Bewusstseinsstörungen nach der Art zu beschrei- „Altersblödsinn“ ein Ungleichgewicht lehre und meint so, den „Sitz“ dieser Störungen ausmachen zu kön- ben, wie sie bei organischen Hirnleiden zu beobachten sind. In der der „Kardinalsäfte“ verantwortlich. nen. Nach der Auffassung der mittelalterlichen Klostermedizin, de- Neurologie gewinnt die Vorstellung an Bedeutung, dass psychische ren bekannteste Vertreterin die Äbtissin Hildegard von Bingen Leiden eine Folge von „greifbaren“ Veränderungen im Gehirn sind. (1098-1179 nach Christus) ist, gelten Krankheiten als Teil des gött- Einer der Höhepunkte dieser hirnanatomischen Forschungsrich- lichen Plans, die entweder eine Strafe für begangene Sünden oder tung ist mit dem Namen des Nervenarztes Alois Alzheimer verbun- eine Prüfung Gottes darstellen. Zu heilen sind sie nur durch ein got- den. Dank der neuen Färbetechnik der Silberimprägnation ent- tesfürchtiges Leben. Unterstützend werden Heilkräuter eingesetzt, deckt Alzheimer im Gehirn der 1906 mit 54 Jahren verstorbenen Pa- die gemäß der antiken Humoralpathologie das Säftegleichgewicht tientin Auguste D. „argentophile intraneuronale Fibrillen“. Für sei- im Körper wiederherstellen sollen. nen Münchner Kollegen Emil Kraepelin ist dies ein wichtiger Auch der Humanismus und selbst die rationalistisch geprägte Befund, weil es Alzheimer gelungen war, diese Demenzerkrankung Die vergessene Aufklärung im 18. Jahrhundert brachen mit diesem Krankheitskon- mit Hirnschäden auf zellulärer Ebene in Verbindung zu bringen. In zept nicht völlig. In Anlehnung an das damalige, mechanistisch ge- Kraepelins Systematik der psychiatrischen Erkrankungen steht fort- Krankheit prägte Bild vom „Menschen als Maschine“ entwickeln Mediziner so an die Alzheimersche Erkrankung für eine nicht-vaskuläre (arterio- genannte iatromechanische und iatrochemische Ideen einer De- sklerotische) präsenile Form der Demenz. Demenz im Spiegel der Epochen menz: Demnach verursacht entweder eine herabgesetzte Schwin- Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart schärft sich gungsfähigkeit der „Fasern“ im Gehirn Geisteskrankheiten, oder sie das Bild der Neurowissenschaften von den Demenzen. Es wird im- werden auf einen Mangel an Seelengeist (spiritus animalis) zurück- mer klarer, dass es keine scharfe Trennlinie zwischen präsenilen geführt, der die Nervenflüssigkeit „stocken“ lässt. So bleiben die ge- und senilen Demenzen gibt, also zwischen Demenzen, die bereits nannten Konzepte der antiken Humoralpathologie verhaftet. Demenzerkrankungen sind vermutlich so alt wie der Mensch selbst. Aristoteles (384-322 vor Christus), für den das Alter ebenfalls eine Erste Beschreibungen reichen bis ins zweite vorchristliche Jahrtau- „natürliche Krankheit“ darstellt, greift die Idee der Kardinalsäfte Revolutionäres Demenzkonzept send zurück. So schildert der Wesir Ptahhotep im Prolog zur alt- auf und verbindet diese mit seiner Vorstellung der vier Grundqua- ägyptischen Lebenslehre: „Der Mund ist schweigsam, er kann nicht litäten von Materie, nämlich kalt, warm, feucht und trocken. Das Trotzdem bringt diese Epoche einen ersten „Durchbruch“ in der De- mehr reden. Das Herz (nach altägyptischer Auffassung das Denk- Blut denkt er als feucht-warm, die Gelbe Galle als warm-trocken, die menzforschung. In Oxford bricht der Arzt Thomas Willis (1621-1675) organ) lässt nach, es kann nicht mehr des Gestern erinnern... Was Schwarze Galle als kalt-trocken und den Schleim als kalt-feucht. mit der mittelalterlichen Ventrikellehre. Stattdessen formuliert er das Alter den Menschen antut? Übles in jeder Hinsicht.“ In seiner Schrift „Über das Gedächtnis und die Erinnerung“ ent- eine Theorie über die unterschiedlichen Funktionen einzelner Hirn- Bis ins 17. Jahrhundert hinein werden Demenzen als „natürliche“ wickelt er eine Theorie über diese beiden Hirnleistungen. Erinne- abschnitte. Revolutionär ist sein Demenzkonzept, denn Willis Folge des Alterns beschrieben – unabwendbar, unheilbar. Die Medi- rungen stellt er sich als „Eindrücke“ (Engramme) in das Denkorgan grenzt unterschiedliche Formen von Demenz voneinander ab, etwa zin der alten Hochkulturen Kleinasiens, der römischen und griechi- vor, die durch äußere Reize das Gehirn via Sinnesorgane erreichen. eine angeborene Form von verschiedenen erworbenen Formen, die schen Antike wie der arabischen Welt schließt sich über Jahrtausen- Ist dieses Organ – bedingt durch einen Überschuss des „feucht-kal- durch äußere, das Gehirn vergiftende Einflüsse verursacht werden, de widerspruchslos dem Diktum des römischen Komödiendichters ten“ Schleims – zu feucht, kön- und schließlich Demenzen, die mit anderen Krankheiten wie Epi- Terenz (um 160 vor Christus) an: „Das Alter selbst ist die Krankheit“. nen die Reize keine bleibenden lepsie oder Schlaganfall einhergehen. Das Alter indes – nach der Dies ist ein Grund, weshalb sich die Medizin über so lange Zeit Gedächtnisspuren auf der Hirn- Humoralpathologie die entscheidende Ursache geistigen Verfalls – hinweg kaum mit Demenzen beschäftigt hat. Ein weiterer Grund oberfläche eingraben. Ist die- sieht Willis nur noch als eine von mehreren Demenzursachen an. liegt in der damaligen Seltenheit dieser tatsächlich altersassoziier- Oberfläche zu hart – bedingt Im 19. Jahrhundert beeinflussen zwei gesellschaftliche Verände- ten Krankheiten. Bis zum 18. Jahrhundert war die durchschnittliche durch einen Überschuss der als rungen die weitere Entwicklung der Demenzforschung. So lassen Lebenserwartung der Menschen – in Deutschland lag sie zwischen „trocken-kalt“ gedachten die sich allmählich bessernden Wohn- und Hygieneverhältnisse die Der Maler Jan Sanders van Hemessen (um 1500 – um 1557) hält auf dem Bild „Das Steinschnei- den“ eine bis weit über das Mittelalter hinaus praktizierte Form der „Therapie“ von Geistes- 1745 und 1865 bei unter 40 Jahren – einfach zu niedrig, als dass sich Schwarzen Galle – entsteht durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen steigen – De- krankheit fest: Ein Quacksalber entfernt den „Stein der Narrheit“. Demenzerkrankungen in nennenswertem Umfang hätten ausprä- ebenfalls kein bleibender Ein- menzen werden häufiger. Neu auftretende Risikofaktoren erhöhen gen können. Schätzungen zufolge erreichten bis zum Jahr 1800 nur druck im Gehirn. die Zahl der Demenzen zusätzlich: die Neurosyphilis und der sich fünf Prozent der Bevölkerung das 60. Lebensjahr, drei Prozent das So unwissenschaftlich dieses ausbreitende (Elends-)Alkoholismus. Zudem sinkt die Toleranz- relativ früh – zum Beispiel vor dem 60. Lebensjahr – auftreten, und 65. Lebensjahr. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg antike Konzept auch klingen schwelle der Bevölkerung gegenüber Menschen mit abweichen- solchen, die sich erst im hohen Alter ausprägen. Stattdessen zeigt die Lebenserwartung spürbar an. mag, in einem Punkt ist es gera- dem Verhalten – Irrenanstalten entstehen, in denen die Geistes- sich, dass es sich dabei um jahrzehntelange Schädigungen des Ge- dezu modern, denn es führt kranken zunächst lediglich weggesperrt, bald aber auch behandelt hirns handelt, deren Art, Umfang, Verteilung und Geschwindigkeit Vom Gleichgewicht der Körpersäfte Ganz im Geist der Aufklärung forderte der krankhafte psychische Zustän- werden. Es werden in der Folgezeit fast ausnahmslos Anstaltsärzte darüber entscheiden, wann es zu welcher Demenz kommt. Psychiater Philippe Pinel (1745-1826) de auf physische Veränderun- sein, die sich mit Demenzen beschäftigen. Fortschritte in der Genetik – vor allem in der Molekulargenetik – während der Französischen Revolution die Prägend für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit in der „Befreiung der Irren von ihren Ketten“. gen oder Schäden im Gehirn zu- Labortechnische Fortschritte – etwa neue Färbetechniken – ver- machen deutlich, welche Rolle Erbfaktoren als Verursacher und als Antike wie auch in späteren Epochen ist die hippokratische Vorstel- rück – eine Vorstellung, die erst bessern die Möglichkeiten, Hirnschädigungen sichtbar zu machen, Risikofaktoren von Demenzen spielen. Moderne bildgebende Ver- lung der Humoralpathologie: Vier Kardinalsäfte (lateinisch: „humo- mehr als 2000 Jahre später die naturwissenschaftlich orientierten die mit bestimmten Formen der Demenz einhergehen. Ärzte wie Ar- fahren liefern ein immer präziseres Bild vom Ort, der Art und dem res“), so beschreibt es Hippokrates um 400 vor Christus in seiner Neurowissenschaften wieder aufgreifen werden. nold Pick, Otto Binswanger und Alois Alzheimer beschreiben an der Ausmaß der neurodegenerativen Prozesse. Molekularbiologische Schrift „Über die Natur des Menschen“, wirken im Körper – das Blut, Die mittelalterliche Medizin vergräbt sich noch stärker in mysti- Wende zum 20. Jahrhundert unterschiedliche Demenzformen, die Methoden enthüllen schließlich ein detailliertes Bild von den Scha- die Gelbe und die Schwarze Galle sowie der Schleim. Befinden sich schen Vorstellungen. Um 400 nach Christus entwickelt der Bischof noch heute deren Namen tragen. Der Mediziner Emil Redlich stößt densabläufen bis auf die molekulare Ebene hinunter. diese Säfte im Gleichgewicht, ist der Mensch gesund. Ein Ungleich- Nemesius von Emesa in Phönizien die Ventrikellehre: Die verschie- in seinen Hirnpräparaten von dementen Patienten auf Plaques, die Mit diesem Wissen gerüstet, so hoffen die Mediziner heute, sollte gewicht indes erzeugt Krankheiten. Aufgabe des Arztes ist es, die denen Hirnleistungen lokalisiert er in je einem von drei Hohlräu- außerhalb der Nervenzellen liegen – er beschreibt das Bild als „mili- es möglich werden, diese Vorgänge im Gehirn zu bremsen oder zu Natur durch entsprechend wirkende Eingriffe zu unterstützen, um men oder Ventrikeln des Denkorgans (heute unterscheidet die Me- are Sklerose“ bei seniler Demenz. In dem 1897 erschienenen Buch stoppen, sich vielleicht sogar davor zu schützen. Die so lange von das Gleichgewicht der Säfte wiederherzustellen. dizin vier Ventrikel). Der arabische Arzt Haly Abbas (gestorben 994 „Gehirnpathologie“ von Constantin von Monakow versucht der rus- der Medizin „vergessenen“ Demenzen sind also endgültig entdeckt. 12 13
DIAGNOSTIK Detektivarbeit in der Praxis Spurensuche mit Psychotests und Hirnscans Beim Uhrenzeichentest sollen Patien- ten eine Zeitangabe des Arztes umset- zen und in Form eines Zifferblatts mit Zeigern darstellen.Viele Demente scheitern an dieser vermeintlich ein- fachen Aufgabe. „Schlechtes Gedächtnis? Tja, da kann man extreme Fälle beschränken, dominieren in dem muss der Arzt wissen, womit er es zu stufige Schätzskala von 1 (nicht krank) bis 7 leider nichts machen. So ist das eben im Al- der Praxis mehr oder weniger „gemischte“ tun hat. So kann er den Patienten vor unsin- (schwer krank). Bewährt hat sich bei fort- ter“. Mit ähnlich frustrierenden Auskünften Formen der Demenz. Dennoch hat die nigen oder gar schädlichen Therapien schreitenden Demenzerkrankungen auch endeten noch vor wenigen Jahren viele „Schubladisierung“ dieser Leiden durchaus schützen und sich darauf konzentrieren, eine dreiteilige Unterscheidung in leichte, Arztbesuche. Selbst Mediziner, welche die ihre Berechtigung. dem Kranken die bestmögliche Lebensqua- mittlere und schwere Stadien. Dabei sind in Demenz nicht zu den natürlichen biologi- Internationale Standardwerke, wie die lität zu sichern. Zudem kann er ihm die der untersten Stufe nur komplexe Alltags- schen Prozessen zählten, fühlten sich oft zehnte Überarbeitung der Internationalen Möglichkeit eröffnen, an einer klinischen tätigkeiten betroffen; in fortgeschrittenen hilflos, da es kaum wirksame Therapien Krankheitsklassifikation ICD-10, fungieren Studie teilzunehmen, bei der unter stren- Stadien vergessen die Patienten die Namen gab. Schließlich hatte man den hippokrati- dabei als Checklisten. Sie erleichtern nicht gen Auflagen eine neuartige Therapie er- vertrauter Personen und verstummen im schen Eid geschworen – und der verpflich- nur den Informationsaustausch zwischen probt wird. schweren Stadium zunehmend. Diese Ein- tet die Heilkundigen auf den Grundsatz den Experten, sondern schaffen auch die Zu den vergleichsweise gut behandel- teilung ist auch deshalb bedeutsam, weil „primum non nocere“. Wenn schon keine Grundlage, um die Wirksamkeit verschie- baren Demenzen gehören die durch gestör- bestimmte Arzneimittel nur für leichte und Aussicht auf Erfolg besteht, sollte man den dener Behandlungen zu messen und mit- ten Blutfluss verursachten („vaskulären“) mittlere Stadien zugelassen sind oder aber Patienten wenigstens die Nebenwirkungen einander zu vergleichen. Gedächtnisleiden mit einem Anteil von 16 erst bei schweren Demenzen eingesetzt nutzloser Arzneien ersparen. Unethisch ist Voraussetzung für die Diagnose eines Prozent. Drei Fünftel aller Patienten leiden werden dürfen. es auch, die Kranken mit Diagnoseprozedu- Demenzsyndroms ist laut ICD-10, dass meh- unter einer reinen Alzheimer-Demenz, de- ren zu peinigen, deren Resultate auf das rere höhere Geistesfunktionen wie Ge- ren Verlauf Ärzte bislang nur verlangsamen Fragebögen und Checklisten weitere Vorgehen keinen Einfluss haben. dächtnis, Denkvermögen, Orientierung, können. Mischformen zwischen diesen bei- Inzwischen hat sich das Blatt gewendet, Sprache und Urteilsfähigkeit über mindes- den Erkrankungen finden sich in etwa acht „Alzheimer oder nicht?“ – Diese Frage be- und die Auffassung setzt sich durch, dass tens sechs Monate abnehmen, und dass die- Prozent aller Fälle. Ebenso viele Menschen wegt nicht nur Betroffene und Angehörige. eine möglichst frühzeitige Diagnose dem se Schwierigkeiten den Kranken in seinem sind gleichzeitig von Alzheimer-Demenz Allein schon wegen der Häufigkeit des Lei- Patienten nützt, weil sie Alltagsleben beeinträchtigen. Außerdem und der Parkinsonkrankheit betroffen, dens spielt dessen Unterscheidung von an- behandelbare Ursachen einer Demenz muss sich der Arzt vergewissern, dass die während nur jeweils jeder Hunderste Ge- deren Demenzformen in der Praxis eine erkennen kann, Symptome schleichend beginnen und nicht Erst wenn die Ursache und das dächtnispatient an „reinem“ Parkinson, der überragende Rolle. Mit Sicherheit lässt sich eine möglichst frühzeitige Therapie er- etwa Folge sind von selteneren Ursachen, Frontotemporalen Demenz oder der Lewy- die Alzheimer-Demenz (AD) erst nach dem Stadium einer Demenz laubt sowie etwa einem Vitaminmangel, einer Hirn- Körperchen-Demenz erkrankt ist. Schließ- Tod durch den Nachweis charakteristischer Kranken und deren Angehörigen hilft, blutung, eines Tumors oder eines durch Al- bekannt sind, kann der Arzt lich können auch infektiöse Partikel das Ablagerungen im Gehirn feststellen. Selbst sich auf die Zukunft vorzubereiten. kohol ausgelösten Deliriums. Hirn oder die Hirnhäute schädigen – wie et- erfahrene Ärzte erreichen bei Patienten mit entscheiden, welche Mehr als 50 verschiedene Erkrankungen Diese Unterscheidungen sind keines- wa das AIDS-Virus HIV, Syphilis- und Borre- demenziellen Symptomen bestenfalls eine verbergen sich hinter dem Sammelbegriff wegs nur für Akademiker interessant. Man- Behandlung die beste ist liosebakterien oder Prionen, wie bei der 90-prozentige Genauigkeit, indem sie der Demenz, der sich vom lateinischen demen- che Demenzen lassen sich nämlich mit heu- Creutzfeld-Jakob-Krankheit (CJD) und der Reihe nach andere Ursachen einer Demenz tia – Unvernunft – herleitet. Je nachdem, te verfügbaren Medikamenten gut behan- damit eng verwandten „menschlichen“ ausschließen. Bei frühen Stadien der De- welche Hirnregionen die unterschiedlichen deln, andere bestenfalls für einen begrenz- Form der Rinderseuche BSE, vCJD. menz ist diese Trefferquote viel niedriger. Krankheitsprozesse zuerst beeinträchtigen, ten Zeitraum in Schach halten. Für einige Fast genauso wichtig wie die Unterschei- Bei der Abklärung der Krankheitsursa- variieren Art, Reihenfolge und Stärke der Arten des Gedächtnisschwunds gibt es mo- dung zwischen den Demenzformen ist auch chen teilen sich die Hausärzte die Arbeit Beschwerden. Während Lehrbücher sich mentan überhaupt noch keine wirksamen die Bestimmung des jeweiligen Schwere- mit den auf Hirnerkrankungen spezialisier- meist auf eindeutige und damit oftmals Behandlungsmöglichkeiten – und trotz- grads. Hier nutzen Ärzte meist eine sieben- ten Neurologen und Psychiatern. Zwar sind 14 15
DIAGNOSTIK DIAGNOSTIK FOKUS FORSCHUNG es die Hausärzte, die in Deutschland über einander unterscheidet. Dennoch gewin- sprünglich 1000 MCI-Patienten bei etwa 280 Demenzkranken eine DAS BRAIN-NET: EINE BANK 90 Prozent aller Demenzkranken betreuen nen erfahrene Ärzte aus den Testergebnis- vollständige Datenauswertung möglich ist, von denen etwa die DER BESONDEREN ART und sich dabei pro Arztpraxis um durch- sen wichtige Hinweise, die zumindest die Hälfte an Alzheimer erkrankt sein wird. Mehrere Hundert Menschen haben ihr schnittlich gut zwei Dutzend Patienten Sicherheit der Diagnose erhöhen. So haben Gespeist werden die Datenbanken unter anderem mit den Resul- Gehirn in den vergangenen Jahren dem kümmern. Da aber Hausärzte per Defini- Alzheimer-Kranke nicht nur Schwierigkei- taten verschiedener neuropsychologischer Tests. Weder für die frü- Brain-Net gespendet. Dieses vom tion keine Spezialisten sind, beschränken ten, Begriffe aus einer Wortliste sofort oder hen Demenzformen noch für das MCI gibt es hierfür jedoch inter- Bundesministerium für Bildung und sie sich oft auf die Erhebung der Kranken- nach einer kurzen Zeitspanne wiederzuge- national verbindliche Kriterien. Diesem Missstand wollen die Pro- Forschung seit 1999 geförderte Projekt geschichte (Anamnese) und die Befragung ben, sondern auch zuvor gezeigte Wörter fessoren Alexander Kurz von der Technischen Universität München hat das Ziel, eine deutsche Hirngewebe- der Angehörigen hinsichtlich auffälliger wiederzuerkennen. Bei nicht-dementen und Friedel M. Reischies von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie Einblicke ins lebende Gehirn: Mit dem Kernspintomographen lassen sich Veränderungen des bank zu etablieren. Qualifizierte Wis- Verhaltensänderungen. Erhärtet sich dabei Gleichaltrigen oder depressiven Menschen Denkorgans millimetergenau dokumentieren. und Psychotherapie der Berliner Charité an der Humboldt-Univer- senschaftler können dort Proben anfor- der Verdacht auf eine Demenz, helfen funktioniert die Speicherung noch recht sität Berlin abhelfen. Durch Schulungen und mit einem Handbuch dern, wovon man sich unter anderem unterschiedliche Gedächtnistests, die Grö- gut, doch ist der Zugriff erschwert. Mit dem schufen sie an den 14 beteiligten Kliniken die Voraussetzung für eine verbesserte und standardisierte ße des Problems zu erfassen. Wiedererkennen bereits gesehener Worte einheitliche Befragungen und Bewertungen. Nur so lässt sich im Diagnose von Hirnleiden verspricht. Zahlreiche psychologische Tests sind da- haben diese Menschen jedoch weniger Pro- Rückblick feststellen, welche Eigenschaften beispielsweise jene In Ländern wie Großbritannien, den für etabliert, bei denen mit standardisier- bleme als Alzheimer-Kranke. MCI-Patienten gemeinsam hatten, die später an Alzheimer erkrank- Niederlanden, Österreich, Frankreich und den Vereinigten Staaten gibt es sol- ten Fragebögen das geistige Leistungsver- mögen gemessen wird. Am weitesten ver- Blick unter die Schädeldecke Früher – zuverlässiger ten oder welche Charakteristika umgekehrt bei jenen Probanden vorherrschten, die von einer Demenz verschont blieben. che „Brain Banken“ schon seit langem; auch ein grenzübergreifendes Projekt breitet ist der „Mini-Mental-Test“ (MMT), bei dem elf Fragen oder Aufgaben zu bewälti- Immer wieder geistern Meldungen durch – billiger Das zweite Standbein der Diagnose sind Bilder des Gehirns, die mit dem Kernspintomographen aufgenommen werden. Drei ver- der Europäischen Union ist inzwischen gen sind. Die maximal erreichbare Punkt- den Blätterwald, wonach es gelungen sei, schiedene Varianten dieser Methode kommen zum Einsatz; darun- geplant. zahl beträgt 30. Erreichen die Patienten nur ausschließlich mit „Hirnscans“ die Alzhei- „Früh- und Differenzialdiagnostik demenzieller Erkrankungen“ ter auch eine, mit der das Volumen des Hippocampus gemessen Acht Brain Bank-Zentren sind die 20 Punkte oder weniger, so spricht das für mer-Demenz noch vor dem Ausbruch zu heißt eines der drei Module des Kompetenznetzes Demenzen, das wird, einer für die Gedächtnisbildung entscheidenden Hirnregion. Haupteinheiten des Brain-Net, erklärt eine krankhaft verminderte Hirnleistung, entdecken oder gar zweifelsfrei von ande- vom Bundesforschungsministerium mit insgesamt 12,5 Millionen Dadurch wird man objektive Messwerte gewinnen und die Wir- dessen Sprecher Prof. Hans Kretz- was Ausdruck einer mittelschweren De- ren Demenzen zu unterscheiden. Bei nähe- Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren gefördert wird. „Unser kung der jeweils verordneten Arzneien in Zahlen fassen können. schmar, der diesen Verbund vom Insti- menz ist. Wiederholt man derartige Tests rer Betrachtung erweisen sich diese Aus- Ziel ist es, Demenzerkrankungen früher als bisher zu erkennen und Umfangreich wird die neurochemische Komponente der Daten- tut für Neuropathologie der Münche- im Abstand mehrerer Monate oder Jahre, sagen jedoch als reines Wunschdenken. ebenso zuverlässig wie kostengünstig voneinander zu unterschei- sammlung sein, also der Nachweis ausgesuchter Biomoleküle im ner Ludwig-Maximilians-Universität zeigen abnehmende Punktwerte an, dass Dennoch sollte eine bildgebende Unter- den“, erklärt Prof. Jens Wiltfang von der Klinik mit Poliklinik für Blut und im Nervenwasser – der Flüssigkeit, die das Gehirn und das aus koordiniert. Jedes Zentrum ist zu- die Demenz fortschreitet. Konstante Ergeb- suchung mittels Computer- oder Magnet- Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Erlangen-Nürn- Rückenmark umgibt. Hier fahnden die Forscher nach Eiweißen und ständig für einen oder mehrere The- nisse im MMT sprechen dafür, dass der Pa- resonanz-Tomographie (abgekürzt CT und berg. Zusammen mit Prof. Johannes Kornhuber koordiniert Wilt- -bruchstücken, die in direktem Zusammenhang mit dem Krank- menschwerpunkte. Stirbt ein Spender, tient auf die verabreichten Medikamente MRT) bei jedem Patienten mit Verdacht auf fang von Erlangen aus das Projekt. heitsverlauf stehen. Aus deren Konzentrationsveränderungen und so organisiert die rund um die Uhr be- angesprochen hat oder von anderen Thera- eine Demenzerkrankung zumindest einmal Daten von insgesamt 2000 Patienten aus 14 Kliniken gilt es nach Mengenverhältnissen lassen sich beispielsweise Hinweise auf die setzte Zentrale in München die Über- pien – etwa einer Gedächtnissprechstunde Hinweisen zu durchsuchen, welche frühen Krankheitszeichen eine Art und den Umfang von Hirn- führung des Leichnams ins nächstgele- – profitiert hat. Fragebögen sind schließlich gute Vorhersage über das weitere Schicksal der Patienten ermög- schäden gewinnen. gene Zentrum, wo die Obduktion statt- auch hilfreich, um abzuklären, ob objektiv lichen. Gelänge es nämlich, den Zeitpunkt einer korrekten Diagno- Dass dieses Prinzip funktio- findet. Da sich die Ursache vieler De- vorhandene Gedächtnisprobleme nicht se vorzuverlegen, könnte man die bereits heute verfügbaren Arz- niert, hat Wiltfang mit japani- menzen mit 100-prozentiger Sicherheit Ausdruck einer Depression sind. neien besser nutzen. „Zeit ist Hirn“, bringt Wiltfang die Denkweise schen und deutschen Kollegen meist erst bei solch einem Eingriff fest- Zusammen mit dem Mini-Mental-Test der Experten auf den Punkt. bereits im Jahr 2001 für den Bio- stellen lässt, dient diese Untersuchung kommt meist auch der Uhrenzeichentest Sogar vorbeugende Maßnahmen wären möglich, wenn man mit marker Phospo-Tau 199 berich- auch als Rückversicherung für die An- zum Einsatz, der besonders wenig Zeit be- hoher Sicherheit wüsste, dass der heute noch völlig unauffällige tet. In einer Studie mit 570 Pro- gehörigen, und sie hilft den Ärzten, in ansprucht. Hier kommt es darauf an, wie Herr Mustermann ein besonders hohes Risiko trägt, binnen weniger banden war die durchschnitt- Zukunft immer genauere Diagnosen zu gut der Patient eine Uhrzeit, die ihm der Chromosomenanalyse unter dem Mikroskop: In den Körper- Jahre sein Gedächtnis einzubüßen. Bereits im Stadium einer leich- Blutproben enthalten zahlreiche Eiweiße, liche Konzentration dieses Mo- zellen dieses Demenzpatienten liegen drei Kopien des Chro- aus deren Konzentrationen Forscher Hin- stellen. Darüber hinaus sind viele Fort- Arzt als Aufgabe stellt, mit Zifferblatt und ten kognitiven Störung (im Englischen als „mild cognitive impair- leküls in der Nervenflüssigkeit mosoms Nr. 21 (weiße Punkte). Normal sind nur zwei Kopien. weise auf den Krankheitsverlauf gewinnen. schritte im Verständnis von Krankhei- korrekter Zeigerstellung auf einem Blatt ment“, MCI, bezeichnet) müsste dafür die Diagnose erfolgen. Zwar von Alzheimer-Patienten fast ten und viele neue Therapien den fein- Papier darstellen kann. weiß man, dass jährlich etwa ein Achtel der MCI-Patienten in das doppelt so hoch wie bei ande- geweblichen und biochemischen Konzentration, Verarbeitungsgeschwin- eingesetzt werden. Bei unklaren Demenzen Stadium einer Demenz übertreten werden, doch ist diese Statistik ren Demenzformen und Gesunden. Mit 85-prozentiger Sicherheit Untersuchungsverfahren am Gewebe digkeit und psychomotorische Koordina- könnten auch mehrfache Aufnahmen sinn- unbrauchbar, um das Schicksal Einzelner vorherzusagen. konnten die Forscher an Phospho-Tau 199 ablesen, ob ein Proband Verstorbener zu verdanken. tion misst der Zahlenverbindungstest, bei voll sein. Beide Methoden können die „wei- Welche Tests sind dafür geeignet? Welche ist die sicherste Me- an Alzheimer litt oder nicht. Auch mehrere Patientenverbände dem die ungeordnet über ein Blatt Papier chen“, nicht-knöchernen Hirnstrukturen thode, welche die billigste und welche Untersuchungen liefern die Um diese Quote weiter zu erhöhen, sucht man in der nun ange- unterstützen das Brain-Net. So konnten verteilten Zahlen 1 bis 16 durch eine Linie zu sichtbar machen, wobei die weiter verbrei- zuverlässigsten Prognosen? Die Antworten, davon sind Wiltfang laufenen Studie des Kompetenznetzes Demenzen zwei weitere bis Anfang 2004 etwa 35 wissenschaft- verbinden sind. Eine relativ neue Untersu- tete CT mit Röntgenstrahlen arbeitet, die und Kornhuber überzeugt, kann nur ein umfangreicher Vergleich Spielarten des Tau-Proteins sowie unterschiedlich lange Formen liche Untersuchungen auf Gewebepro- chung ist der DemTect®, der acht bis zehn MRT dagegen mit starken Magnetfeldern. mit einer hohen Zahl von Patienten bringen. Binnen zwei Jahren von Aß (gesprochen „A beta“). Ein „Demenzchip“ soll die biochemi- ben des Brain-Net zurückgreifen. Den- Minuten beansprucht. Hier haben erfahre- Tatsächlich kann ein erfahrener Radiologe sollen deshalb 1000 Versuchsteilnehmer gewonnen werden, die be- sche Rasterfahndung weiter vereinheitlichen und automatisieren. noch übersteigt der Bedarf bei weitem ne Psychologen die Fragen so ausgewählt, aus Hirnscans bestimmte Demenzursachen reits im Stadium der frühen Demenz sind. Dazu kommen weitere Viele Jahre wird es dauern, den selbst erzeugten Datendschun- das Angebot. „Wir brauchen dringend dass man besonders gut zwischen Gesun- auf einen Blick erkennen, wenn sie – wie et- 1000, die sich noch im Stadium des MCI befinden. Beobachtungen gel zu durchforsten und daraus neue Therapievorschläge zu erar- mehr Gehirne“, lautet deshalb Kretz- den und Kranken unterscheiden kann. wa ein Schlaganfall oder ein Tumor – zu anderer Arbeitsgruppen aus den vergangenen Jahrzehnten erlau- beiten. „Wenn unser Projekt eindeutige Daten hervorbringt, sollten schmars Appell an die Bürger. Noch gibt es keinen Test, der die ver- charakteristischen Veränderungen der Ge- ben es den Wissenschaftlern im Kompetenznetz vorherzusagen, sich aber auch die Fachgesellschaften von diesen Vorschlägen über- schiedenen Demenzformen eindeutig von- webestruktur führen. dass am Ende des dreijährigen Beobachtungszeitraums von den ur- zeugen lassen“, gibt sich Kornhuber optimistisch. 16 17
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