Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Wenn die alte Welt verlernt wird Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD
Diese Publikation erscheint als Nr. 120 in der Reihe EKD-Texte. Impressum Evangelische Kirche in Deutschland Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband (EKD) Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. Herrenhäuser Str. 12 · 30419 Hannover Caroline-Michaelis-Straße 1 · 10115 Berlin Telefon: + 49 (0) 511 - 27 96 - 0 Telefon: + 49 (0) 30 652 11 - 0 info@ekd.de diakonie@diakonie.de www.ekd.de www.diakonie.de Bestellung: versand@ekd.de Download: www.ekd.de/EKD-Texte www.diakonie.de/demenz ISBN 978-3-87843-031-5 Februar 2015 0800 - 50 40 60 2 SERVICE TELEFON Evangelische Kirche
Inhalt Vorwort 5 1 Einleitung 8 2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird 11 2.1 Wie kann man mit der Angst vor Demenz umgehen? 11 2.2 Was bedeutet die Diagnose »Demenz« für die Betroffenen? 15 2.3 Was bedeutet die Diagnose »Demenz« für die Angehörigen? 17 2.4 Was helfen kann in einem Leben mit dementiell erkrankten Menschen 21 2.5 Überlegungen zur geistlichen Dimension der Pflege 25 3 Medizinische, pflegerische und g esundheitspolitische Aspekte 28 3.1 Allgemeiner medizinischer Sachstand 28 3.2 Präklinische und prädementielle Diagnostik 31 3.3 Aspekte fürsorglicher Praxis (Care-Ethik) 34 4 Rechtliche Aspekte 36 4.1 Einleitung 36 4.2 Hilfeleistungen durch die gesetzliche Pflegeversicherung bei Demenz 36 4.2.1 Grundlagen 36 4.2.2 Begriff der Pflegebedürftigkeit und die Einordnung in die Pflegestufen 37 4.2.3 Leistungen 38 4.2.4 Besonderheiten für demenzkranke Menschen: »Pflegestufe 0« und weitere Reformbemühungen 40 4.3 Die rechtliche Betreuung 41 4.3.1 Grundlagen der rechtlichen Betreuung 41 4.3.2 Wichtige Aufgabenkreise 43 4.3.3 Sonstige Rechtsfragen im Bereich des Zivilrechts 44
Wenn die alte Welt verlernt wird 5 Ethische Aspekte der Demenzerkrankung: Menschenwürde, Personsein, Individualität und Leiblichkeit 46 5.1 Demenz und Menschenwürde 47 5.2 Demenz und Individualität 49 5.3 Die Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz achten 50 5.4 Die Fragmentarität des menschlichen Lebens 52 6 Aufgaben für die Zukunft 55 6.1 Gesellschaftliche Aufgaben 55 6.2 Politische Aufgaben 57 6.3 Aufgaben für die evangelische Kirche 60 6.4 Schlusswort 62 Anhang 63 Good practice Demenzeinrichtungen ambulant 65 Good practice Demenzeinrichtungen stationär 73 Internetseiten zum Thema Demenz 84 Literaturverzeichnis 88 4
Vorwort Wir leben in einer alternden Gesell- erheblich stärker personenbezogen re- schaft. Die demografische Entwicklung agieren können als bislang gewohnt. stellt unser Sozial- und Gesundheits- system vor vollkommen neue und drän- Neben diesen Fragen der Ausstattung gende Aufgaben. Eine dieser Aufgaben und der Konzeption gibt es aber einen besteht darin, die Unterstützungssys noch grundlegenderen Bereich, der un- teme für die künftig stark anwachsende serer Aufmerksamkeit bedarf. Es geht Zahl von pflegebedürftigen Menschen um unser Bild der Demenzerkrankung wirkungsvoll zu stärken und neue Be- und des dementiell erkrankten Men- treuungsformen und pflegerische An- schen. Der demenzkranke Mensch stellt gebote zu entwickeln. Unter den Pflege- unser Bild des starken, leistungsfähigen, bedürftigen sind dementiell erkrankte seiner selbst mächtigen Menschen in Menschen noch einmal eine besondere Frage, er fordert uns in besonderer Wei- Gruppe. Auch ihre Zahl wird nach allen se heraus, die Würde des Menschen als Prognosen stark ansteigen. Für ihre Be- Menschen, unabhängig von Leistung, treuung ist unser Gesundheitssystem Bewusstheit und Fähigkeiten, zu ach- allerdings erst unzureichend vorbereitet. ten. Auch in diesem Sinne ist der »Um- gang mit Demenz« eine »gemeinsame Dies betrifft auch die Ausstattung der Aufgabe« unserer Gesellschaft, wie es Pflegeangebote mit qualifiziertem Per- der Untertitel dieser Schrift sagt. sonal und mit finanziellen Ressourcen. Mit der Weiterentwicklung der Pfle Der hier vorliegende Band nimmt sich geversicherungsgesetzgebung hat die genau dieser Aufgabe an. Er wird Politik begonnen, auf die absehbare gemeinsam vom Rat der EKD und der Entwicklung zu reagieren. Es bleibt noch Diakonie Deutschland herausgegeben vieles zu tun! und vereint einen von der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD Über die Frage der Ressourcen hinaus erarbeiteten und mit der Diakonie geht es auch um die konzeptionelle Deutschland abgestimmten Text mit ei- Weiterentwicklung von Betreuungsan- ner Sammlung von guten Beispielen im geboten: Pflege muss auf die Problem- Umgang mit Demenz in Einrichtungen lagen von Familien und begleitenden der Diakonie. Ebenfalls enthalten sind Nächsten abgestimmt sein und damit Informationen über den Zugang zu wei- 5
Wenn die alte Welt verlernt wird teren Hilfsangeboten für ratsuchende demenzerkrankten Menschen in einem Menschen. Die gemeinsame Herausge- Menschenbild, in einer Anthropologie berschaft des Rates der EKD und der des verletzlichen und schutzbedürftigen Diakonie Deutschland macht auch Lebens. Die Würde und die Selbstbe- deutlich, dass sich die Kirchen und die stimmung des verletzlichen Lebens sind, Diakonie der demografischen Heraus- so entwickelt es unser Text, in unbe- forderung stellen und in ihren Gemein- dingter Weise zu achten. Diese Würde den, Einrichtungen und Werken daran des verletzlichen Lebens realisiert sich mitwirken, Ideen und Konzepte zu ent- in den sozialen Beziehungen eines gan- wickeln und praktisch umzusetzen. zen gelebten Lebens, in Ehe und Part- nerschaft, in Familie und Freundschaft, Unser Text nähert sich dem Thema in Beruf und Engagement. Aber: so tief, Demenz über die Perspektive der betrof- wie die Menschenwürde sozial veran- fenen Menschen: Was heißt es an De- kert ist, so weit reicht sie über den Be- menz zu erkranken? Was bedeutet es reich des Sozialen hinaus. Sie ist nach für Angehörige miterleben zu müssen, christlicher Überzeugung gegründet in wie der Vater oder die Mutter, die Part- der unbedingten schöpferischen Liebe nerin oder der Partner, Ehemann oder Gottes, die jeden Menschen umfängt, Ehefrau in einem zunächst schleichen- wie sie sich gezeigt und bewährt hat im den Prozess immer mehr an kognitiven Weg Jesu: In Kreuz und Auferstehung, Fähigkeiten einbüßt? Was geschieht, im Zerbrechen des alten Menschen und wenn die gewohnte gemeinsame Welt, in der Überwindung des Todes. wie es im Titel unserer Schrift heißt, Schritt für Schritt »verlernt wird«? In dieser Hinsicht zielt der Respekt vor der Würde des verletzlichen Lebens zu- Der Text gibt Informationen über die nächst auf die Abwehr des verfügenden pflegerischen, medizinischen und recht Zugriffs auf das Schwache und Schutz- lichen Aspekte der Demenzerkrankung. bedürftige. Gerade in diesem Respekt Er gibt Hinweise zu Leistungen der ge- liegt eine der entscheidenden Quellen setzlichen Pflegeversicherung und zu für die Anerkennung von Autonomie Fragen der Betreuung. Über diese Infor- und Selbstbestimmung. mationen hinaus bietet der Text aber in seinem Kern eine christliche, eine evan- Dies kann aber nicht nur sozusagen ne- gelische Perspektive auf die Demenz gativ, nur in der Schutzdimension, aus- erkrankung. Diese Perspektive ergibt gedrückt werden, so wichtig und zentral sich aus dem inhaltlichen Kern des dies ist. Die Achtung vor der Würde des Evangeliums von Jesus Christus: Der verletzlichen Lebens ohne Ansehen sei- Text verankert die Wahrnehmung des ner physischen und kognitiven Leis- 6
Vorwort tungsfähigkeit bedarf auch der positi schiedlichen Bereichen des Gesund- ven Aufnahme in guten und konstrukti heits- und Sozialwesens. Der Text möch- ven Ideen für menschenwürdige Pflege te Impulse dafür geben, weitere Ange- und Betreuung, für ein Miteinander der bote und Arbeitsformen für die Beglei- Generationen und die Gemeinschaft tung demenzkranker Menschen und von demenzerkrankten und »gesunden« ihrer Angehörigen zu entwickeln und Menschen. In diesem Sinne haben die die rechtlichen, organisatorischen und demenzerkrankten Menschen und hat finanziellen Rahmenbedingungen dafür die Aufgabe des Umgangs mit pflege- bereit zu stellen. bedürftigen Menschen ihren Platz in der Mitte unserer Gesellschaft, unseres Ge- Der Rat der EKD und die Diakonie meinwesens und auch in der Mitte un- Deutschland danken der Kammer für serer Kirchen und Werke. Der Rat der Öffentliche Verantwortung, besonders EKD und die Diakonie Deutschland wol- dem Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Dres. len sich gemeinsam dieser Aufgabe h.c. Hans-Jürgen Papier, und der stell- stellen: In der Gestalt ihrer Gemeinden vertretenden Vorsitzenden, Frau Regio- und diakonischen Einrichtungen, im Zu- nalbischöfin Susanne Breit-Keßler, für sammenwirken mit gesellschaftlichen den hier vorgelegten Text. Wir hoffen Partnern, in der gemeinsamen Verant- und wünschen, dass dieser Text einen wortung auch im politischen Raum un- Beitrag zu einer langsam in Gang kom- seres Gemeinwesens. menden und höchst wichtigen gesell- schaftlichen Debatte sein möge, der Die Broschüre »Wenn die alte Welt ver- Debatte darüber, wie wir in einer altern- lernt wird« richtet sich an ratsuchende den Gesellschaft leben wollen. Der Betroffene als eine Ermutigung, sich kirchliche Beitrag soll aus der Botschaft vertieft mit dem Thema Demenz ausei- des Evangeliums geschöpft sein und nanderzusetzen. Sie richtet sich aber gleichwohl auch von denen gehört und ebenso an Verantwortliche und Mit in seinen Argumenten gewürdigt wer- arbeitende in der Kirche und an diejeni- den können, die den Glauben und die gen, die Verantwortung tragen in Politik Hoffnung der Christinnen und Christen und Verwaltung und in den unter- nicht teilen. Landesbischof Pfarrer Ulrich Lilie Dr. Heinrich Bedford-Strohm Präsident Diakonie Deutschland Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland 7
Wenn die alte Welt verlernt wird 1 Einleitung Das Thema Demenz ist in den letzten ge. Dadurch hat die Evangelische Kirche Jahren immer mehr ins Bewusstsein der in Deutschland einerseits primär die Öffentlichkeit gerückt. Es beschäftigt Nöte der dementiell erkrankten Men- nicht nur Politik, Medizin und Ethik, schen, ihrer Angehörigen und der pro- sondern auch Literatur und Filmkunst. fessionellen Pflegekräfte im Blick und Selbst Kinderbücher zur Demenz sind in nimmt sie sehr ernst. Sie möchte mit der Zwischenzeit erschienen. Dabei hat diesem Text aber andererseits auch die sich die Debatte verändert. Das Ver- positive gesellschaftliche Entwicklung ständnis für die Komplexität des The- hin zu einer vieldimensionalen Beschäf- mas hat sich vertieft, und der Ton der tigung mit dem Thema Demenz stärken. Debatte hat sich ausdifferenziert: neben problematisierende, ja alarmierende Im Rahmen einer Tagung, die die EKD Prognosen sind Erfahrungen und Er- bereits im Jahr 2008 zum »Leben mit kenntnisse getreten, die den Blick auf Demenz« durchführte, hielt der da das richten, was Menschen mit Demenz malige Präsident des Kirchenamtes noch (erleben) können. Auch die krea Hermann Barth eine Bibelarbeit zu tiven und humorvollen Seiten der Psalm 31.1 Insbesondere der Vers 13 b Krankheit traten ins Bewusstsein. Diese (»Ich bin geworden wie ein zerbroche- grundsätzlich zu begrüßende Entwick- nes Gefäß.«) sprach ihn zu nächst an: lung birgt aber die Gefahr, dass das Lei- den der Betroffenen und ihrer Angehö- »Ich habe in den vergangenen zwei rigen verharmlost wird. Jahrzehnten in meiner Familie viermal erlebt, wie mir sehr nahestehende Men- Menschen mit Demenz sind im Bereich schen dement geworden sind. Ich finde der Kirchen an vielen Orten präsent: in das Bild vom ›zerbrochenen‹ oder vom den kirchlichen Einrichtungen der sta- ›zerbrechenden Gefäß‹ trifft sehr gut, tionären Altenhilfe, bei den ambulanten was ich dabei erlebt habe, vielleicht so- Pflegediensten, im Gemeindeleben, in gar, was die erkrankten Menschen selbst den Gottesdiensten und in der Seelsor- empfunden haben. Und nachdem ich an 1 Die ganze Bibelarbeit findet sich in: Evangelische Kirche in Deutschland: Leben mit Demenz. Beiträge aus medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht, Hannover 2008, S. 13 – 30, EKD-Texte 98, www.ekd.de/download/ekd_texte_98.pdf. 8
1 Einleitung der einen Stelle fündig geworden war, dass die Kontakte mit dem dementen las ich auch den Kontext mit neuen Menschen reduziert oder ganz unterlas- Augen: sen werden: in Vergessenheit geraten, als wäre er tot – weg aus dem Herzen. Mein Leben ist hingeschwunden in Kummer Psalm 31 macht das Leben mit Demenz und meine Jahre in Seufzen. durchsichtig auf seine dunklen Seiten Meine Kraft ist verfallen … – aber dabei hat es nicht sein Bewen- Vor all meinen Bedrängern bin ich ein den. Der Psalm quillt zugleich über von Spott geworden Aussagen des Gottvertrauens und der und vor meinen Nachbarn noch mehr Zuversicht, dass Gott auch in der aktu- und ein Schrecken meinen Bekannten. ellen Not seinen Beistand nicht versa- Die mich sehen auf der Gasse, gen wird: ›Herr, auf dich traue ich … Du fliehen vor mir. bist mein Fels und meine Burg … In dei- Ich bin vergessen in ihrem Herzen ne Hände befehle ich meinen Geist … Du wie ein Toter; stellst meine Füße auf weiten Raum … ich bin geworden wie ein Ich freue mich und bin fröhlich über zerbrochenes Gefäß. deine Güte, dass du mein Elend ansiehst … meine Zeit steht in deinen Händen … Diese Verse sprechen nicht speziell von Wie groß ist deine Güte, HERR, die du … dementen Menschen. Aber ihnen lässt erweisest vor den Leuten, denen, die auf sich, ohne dass sie dabei gegen den dich trauen.‹ (Verse 2 – 20). Die Entschei- Strich gebürstet würden, entnehmen, dung, diesen Psalm zum Gegenstand wie Demente sich – vermutlich – befin- der Bibelarbeit zu machen, ist nicht zu- den, und auch, was in denen ausgelöst letzt darin begründet, dass seine Aussa- wird, die mit ihnen zusammenleben und gen des Gottvertrauens wie eine Verhei- sie erleben: das Leben ›hingeschwun- ßung, wie ein großes Licht über den den‹, die Kraft ›verfallen‹, zum ›Spott‹ Dunkelheiten des Lebens mit Demenz geworden, vergessen, von manchen ge- stehen – und wieder: über den Dunkel- radezu gemieden. Mitzuerleben, was die heiten des Lebens derer, die erkrankt Demenz aus einem Menschen zu ma- sind, ebenso wie derer, die um sie sind. chen imstande ist, kann bei denen dar- Wenn wir in diesen Tagen über ein Le- um herum ein regelrechtes Erschrecken ben mit Demenz nachdenken und reden, auslösen: Möge mir nur das erspart dann würde es – so wenig wir hier ir- bleiben! Und weil es keine angenehmen gendetwas beschönigen dürfen – zu Gefühle sind, damit konfrontiert zu kurz greifen, uns die schmerzlichen Er- sein, was auch meine Zukunft werden fahrungen in der Konfrontation mit könnte, kommt es nicht selten dazu, Demenz ein weiteres Mal vor Augen zu 9
Wenn die alte Welt verlernt wird führen. Wir müssen, wir wollen auch sensible Gesellschaft zu machen, die lernen, wie das wahr wird bei Dementen respektvoll mit den an Demenz Er- und bei ihren Angehörigen, Freunden krankten umgeht. und Pflegern, dass Gott unsere Füße auf weiten Raum stellt.«2 Der auf diese Einleitung folgende Teil 2 der Schrift führt die Leserinnen und Le- Auf diesem Weg des gemeinsamen Ler- ser an das Thema »Demenz« heran, in- nens und Entdeckens, was für das Leben dem Fragen aufgegriffen werden, die mit Demenz in praktischer und in geist- sich im alltäglichen Umgang mit dieser licher Hinsicht hilfreich sein kann, be- bedrängenden Krankheit stellen. Vielfäl- findet sich die evangelische Kirche auch tige Erfahrungen aus dem Bereich der weiterhin. Und sie lädt mit dieser Schrift Seelsorge sind in diesen Teil eingeflos- dazu ein, diesen Weg mitzugehen. sen. In der seelsorglichen Praxis wird aber auch immer wieder deutlich, wie Ziele dieser Schrift sind besonders: wichtig und hilfreich umfassende me- dizinische Aufklärung, sachliche juristi- ■■ zur Sensibilisierung für das Thema sche Informationen und grundlegende Demenz beizutragen, Reflexionen der christlichen Anthropo- ■■ die ethischen Fragen in seelsorgli- logie und Ethik sein können. Diese ver- cher Perspektive aufzugreifen und tiefenden Hintergrundinformationen sie in Beziehung zur biblischen Ethik aus verschiedenen Fachbereichen fin- zu setzen, den sich in den anschließenden Teilen 3 ■■ den Betroffenen und ihren Angehö- bis 5 der Schrift. Und schließlich führen rigen einen kurzen Überblick über alle Kapitel des Textes hin auf die ge- die medizinischen und rechtlichen meinsamen Aufgaben, die sich auf- Aspekte der Erkrankung an die Hand grund der bereits großen und noch zu geben, steigenden Zahl dementiell erkrankter ■■ die anthropologischen Fragen, die Menschen stellen. Im abschließenden diese Erkrankung aufwirft, im Lichte Teil 6 werden die aus Sicht der evange- des evangelischen Verständnisses lischen Kirche anstehenden Aufgaben vom Menschsein zu beleuchten, für unsere Gesellschaft, die Politik und ■■ die ethischen Fragen in seelsorgli- die Kirche selbst entfaltet. cher Perspektive aufzugreifen und sie in Beziehung zur biblischen Ethik zu setzen, ■■ Herausforderungen für Politik und Kirche zu ermitteln, um sich gemein- sam auf den Weg in eine demenz- 10
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird 2.1 Wie kann man mit der Angst che dieser Verhaltensweisen auch be- vor Demenz umgehen? währen, wenn man im Alter unselbstän- diger wird, ohne an Demenz zu erkranken. »An einer Demenz zu erkranken und in deren Folge unselbständig und unzu- Beziehungen pflegen rechnungsfähig zu werden, ist das wahr scheinlich am meisten gefürchtete Ri Von großer Bedeutung für ein Leben im siko des Alters. Die bei fortgeschrittener Alter, insbesondere mit Demenz, sind in Demenz auftretenden kognitiven Ein- jedem Fall gute Beziehungen zur Fami- bußen werden von den meisten Men- lie, Freunden und weiteren Vertrauens- schen als Bedrohung der Person in ihrer personen wie z. B. dem Hausarzt. Wer Ganzheit betrachtet. Vor diesem Hinter- beizeiten Konflikte klärt, Kontakte grund erscheint verständlich, dass die pflegt, sich anvertraut, die Gemein- Konfrontation mit Demenzkranken nicht schaft sucht und (Nächsten-)Liebe übt, nur Unsicherheit, sondern auch massive der hat gute Chancen, in Zeiten zuneh- Ängste auslösen kann.«3 mender Unselbständigkeit Menschen an seiner Seite zu haben, die ihn begleiten. Ängste sowie Gefühle von Hilflosigkeit Sicher werden auch gute Beziehungen und Ohnmacht sind vermutlich die am durch die Symptome, die eine Demen- weitesten verbreiteten Reaktionen auf zerkrankung mit sich bringt, stark belas- den Gedanken, möglicherweise selbst tet, aber viele Beziehungen bewähren einmal von Demenz betroffen zu sein. Um sich auch in der Lebensphase der De- den eigenen Ängsten nicht wehrlos aus- menz. Mit vertrauten Menschen kann geliefert zu sein, ist es gut, sich die Frage man schon in gesunden Zeiten die eige- zu stellen, wie man sich bei Zeiten auf die nen Ängste besprechen, Wünsche for- Möglichkeit einer dementiellen Erkran- mulieren, mitteilen, wie man behandelt kung vorbereiten kann. Dies ist in mehr- werden möchte und was einem im Le- facher Weise möglich, wobei sich man- bensalltag wichtig ist. 2 A. a. O., S. 18 f. 3 Evangelische Kirche in Deutschland: Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Gütersloh 2010, www.ekd.de/download/im_alter_neu_werden_koennen.pdf. 11
Wenn die alte Welt verlernt wird Schriftliche Verfügungen verfassen kann auch gehören, besonders intime und Wünsche äußern und persönliche Dinge zu beseitigen. Wesentlich ist hier, die eigene Entschei- Eine sehr sinnvolle, fast unverzichtbare dung des oder der Betroffenen. Ange- Vorbereitung besteht in der Auswahl hörige erfahren bei der Regelung der einer Person, der man für den Fall der Angelegenheiten der ihnen anvertrau- eigenen Unselbständigkeit eine Vorsor- ten Personen manchmal unfreiwillig gevollmacht erteilen möchte. Ebenso Dinge, die sie lieber nicht gewusst hät- sinnvoll ist es, aufzuschreiben, was man ten. Deshalb kann es ein Akt der Fürsor- gerne isst, hört, fühlt, wie man sich klei- ge sein, Gegenstände zu vernichten, die det, welche Lieblingslieder man hat, im Leben anderer noch Verwirrung stif- welche Umgangsformen einem wichtig ten können. sind, ob man lieber kalt oder warm schläft, was man besonders genießt – Das Gedächtnis des Leibes pflegen5 also schriftlich festzuhalten, welche persönlichen Neigungen und Gewohn- Erfahrungen aus der Pflege und der heiten man gerne beibehalten würde. Seelsorge mit von Demenz betroffenen Gerade neuere biographieorientierte Menschen machen auch deutlich, wie Ansätze in der Pflege sind auf Wissen positiv sich von Jugend an Eingeübtes über die Persönlichkeit der Patienten auf ein Leben mit Demenz auswirken oder Patientin angewiesen: »Informati- kann. Auswendig gelernte Texte, gerne onen über die Biographien der Perso- gesungene Lieder, vertraute Musik, nen, über ihre Erfahrungen, Vorlieben handwerkliche Techniken, Rituale, Feste, und Werte spielen eine wesentliche Rol- Tischsitten, Spiele, Familiensprüche le, um individuelle emotional bedeutsa- oder Gebete – all das stellt einen Schatz me Kontexte in der Pflege und Betreu- im Leben eines Menschen dar, der auch ung zu ermöglichen, die gezielt das in der Demenz noch lange bereichernd Personsein fördern.«4 wirkt. Es gibt Gedächtniszentren, die »tiefer« liegen als kognitive Erinnerun- Zur Vorbereitung auf ein Leben mit gen und die viel mit eingespielten Be- möglicherweise eingeschränkter Fähig- wegungsabläufen und vertrauten Situ- keit zum selbstbestimmten Handeln ationen zu tun haben. Diese durch Mu- 4 Berendonk, C./Stanek, S.: Positive Emotionen von Menschen mit Demenz fördern. In: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 158. 5 Vgl. Fuchs, T.: Das Leibgedächtnis in der Demenz: In: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaft- lichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 231– 242. 12
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird sik, Kunst, leibliche Genüsse, Gottes- Individualität. Die Diagnose »Demenz« dienstbesuche und Handarbeit im um- verliert schon einiges von ihrer Bedroh- fassenden Sinne bewusst zu pflegen, ist lichkeit, wenn diese beiden Seiten der eine durchaus sinnvolle Vorbereitung Krankheit in den Blick kommen. Nie- auf eine Lebenszeit mit möglicherweise mand kann wissen, welche Seite der abnehmenden kognitiven Fähigkeiten. Krankheit für das eigene Leben mit De- menz bestimmend sein wird, und des- Sich umfassend informieren halb sollte man keine Patientenver fügungen verfassen, die ausschließlich Eine offene Auseinandersetzung mit mit dem Verlust von Lebensmöglich dem Alter kann zu dem Eingeständnis keiten rechnet. Patientenverfügungen führen, dass eine dementielle Erkran- werfen manchmal Interpretationspro- kung jeden Menschen und damit auch bleme auf, die für die konkrete Beglei- einen selbst treffen kann. Hat man hier tung dementiell erkrankter Menschen Befürchtungen, dann kann es hilfreich wenig hilfreich sind. Hat man aber zu- sein, sich ein umfassendes Bild von den sätzlich zu einer Patientenverfügung Erkrankungen, die unter dem Begriff einer vertrauten Person eine Vorsorge- »Demenz« zusammengefasst werden, zu vollmacht ausgestellt, kann diese die verschaffen, und das bedeutet, sich so- zuvor mitgeteilten Wünsche situations- wohl die Symptome, Verläufe, Verluste bezogen im Sinne des erkrankten Men- und Belastungen vor Augen zu führen, schen berücksichtigen und eine vorlie- als auch die Möglichkeiten, das Leben gende Patientenverfügung interpre mit dieser Krankheit noch wertschätzen tieren. Das schließt schwierige Abwä- zu können.6 Zur Demenz kann auch die gungsprozesse nicht aus.7 Erfahrung von neuen Freiheiten, andau- ernder Lebensfreude und neuer Nähe in Das eigene Selbstbild überprüfen Beziehungen gehören. Wenn man den Konformitätszwängen unserer Gesell- Die Auseinandersetzung mit der Mög- schaft nicht mehr Folge leistet, entste- lichkeit einer Demenz im Alter kann hen für manche Menschen mit Demenz unmittelbar in die Auseinandersetzung sogar neue Freiräume für Spontaneität mit dem eigenen Menschenbild und mit und Ausdrucksformen von persönlicher dem Verständnis von Menschenwürde 6 Umfassende, aktuelle und differenzierte Informationen kann man beispielsweise über die Internetseiten und Veröffentlichungen des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (www.kda.de), der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. (www.deutsche-alzheimer.de) oder auch des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (www.wegweiser-demenz.de) erhalten. 7 Dabrock, P.: Formen der Selbstbestimmung. Theologisch-ethische Perspektiven zu Patientenverfügungen bei Demenzerkrankungen, Zeitschrift für medizinische Ethik 53 (2007), S. 127 – 144. 13
Wenn die alte Welt verlernt wird führen. Dann kann sich die persönliche auch einer eventuellen dementiellen Frage stellen, was das eigene Mensch- Erkrankung nicht zerbricht. sein ausmacht: Was bleibt von mir, wenn ich mich nicht mehr ausdrücken Die Demenz ist eine Anfrage an die ein- kann? Was bleibt, wenn ich nichts mehr seitige Betonung dreier Werte, die das zustande bringe, sondern bei vielen Ver- individuelle wie das gemeinsame Leben richtungen des täglichen Lebens auf wesentlich bestimmen: Leistung, Wis- Hilfe angewiesen bin? Wer bin ich noch, sen sowie Selbstbestimmung. Diese wenn meine Erinnerungen dahin Werte haben die Menschen in unserer schwinden und meine Zukunft im »Ne- Gesellschaft mehr oder weniger verin- bel« liegt? Das Phänomen Demenz nö- nerlicht. Deshalb kann kaum jemand die tigt zu einer inneren Auseinanderset- Abnahme von eigener Leistungsfähig- zung mit der Unverfügbarkeit und Ab- keit, von kognitiven Fähigkeiten und hängigkeit des eigenen Lebens. Alles, von Selbständigkeit anders denn als was man in gesundem Zustand als schmerzlichen Verlust wahrnehmen Schattenseiten des Lebens unter Kont- und bewerten. Und Erfahrungen des rolle zu halten versucht, die Unvernunft, Verlustes sind meistens mit Leiden ver- das Unbewusste, das Vergessen, Ver knüpft. Demenz bedeutet in der Regel luste und Verfall, die Ohnmacht, die Schmerz und Leid und Trauer. Dieses Verletzlichkeit und Unberechenbarkeit nicht einzugestehen wäre ein Zeichen des Lebens, verschafft sich in dieser mangelnden Respekts vor den Betroffe- Krankheit unüberhörbar und unüber- nen und ihren Angehörigen. Gleich sehbar Ausdruck. Viele Menschen, die zeitig verweist die Demenz aber auf von Demenz persönlich oder als Ange- Dimensionen des Lebens, die oft über- hörige betroffen sind, geraten dadurch sehen werden. So beschreibt zum Bei- in eine Grenzsituation. Die Möglichkeit, spiel Arno Geiger in seinem Roman »Der diese Grenzsituation zu bewältigen, alte König in seinem Exil«, was er über hängt aber entscheidend davon ab, wel- das Leben der so genannten Gesunden che sozialen oder religiösen Praktiken durch den Umgang mit seinem demen- und welche tragfähigen Perspektiven ten Vater alles erfahren hat: das Ver jemandem zur Verfügung stehen, um wirrende der Welt, das Fragmentarische die Veränderungen durch die Krankheit des Lebens, die grundsätzliche Heimat- in das eigene Leben einzuordnen. Des- losigkeit des Menschen, die positive halb kann es für die innere Vorbereitung Bedeutung der menschlichen Sterblich- auf das Älterwerden wichtig sein, sich keit.8 um eine Lebenspraxis und eine Lebens- deutung zu bemühen, die an der abneh- menden Leistungsfähigkeit im Alter und 14
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird Abschiedliches Leben einüben neren Unruhe, das einem bei Menschen mit Demenz häufig begegnet, in christ- Je weniger man sich schon in gesunden licher Perspektive als Sinnbild der exis- Zeiten über Wissen, Leistung und tentiellen Heimatlosigkeit des Men- Selbstbestimmung definiert und je we- schen auf Erden gedeutet werden. Diese niger das Verständnis eigener Würde Überzeugungen machen den alltägli- von diesen Werten abhängig gemacht chen Umgang mit der Krankheit De- wird, desto besser lässt sich wahr- menz nicht leichter, aber sie sind ein scheinlich eine dementielle Erkrankung Gegengewicht zur der verzweifelten ertragen. Die beste innere Vorbereitung Frage: Was bleibt? Auch wenn ein auf ein Leben mit Demenz ist vielleicht Mensch alles verliert: seine Geschichte, die Einübung in ein »abschiedliches Le- die Kontrolle über sich selbst, seine Aus- ben, … das auch in gesunden Tagen drucksfähigkeit, seine Persönlichkeit, lernt loszulassen«9. Aus biblischer Sicht sein Leben, so geht er selbst doch nicht gründet das Loslassenkönnen in der verloren, sondern wird von Gott aufer- Dankbarkeit für das eigene Leben mit all weckt zum Leben in einem »geistlichen seinen Höhen und Tiefen. Wer auch die Leib« (vgl. 1. Kor 15, 42 ff.). eigenen Fähigkeiten und Erfolge als Geschenk und Gnade Gottes empfinden kann, der hat weniger Grund zu hadern, 2.2 W as bedeutet wenn die Zeit kommt, in der man wieder die Diagnose »Demenz« loslassen muss, was einem gewährt für die Betroffenen? wurde, ohne dass man irgendeinen An- spruch darauf gehabt hätte. Aus christ- Anzeichen einer beginnenden Demenz licher Sicht geschieht dieses Loslassen können sehr unterschiedlich sein, so in dem Vertrauen darauf, dass es Gott dass nur eine ärztliche Diagnostik Ge- ist, der unser Leben am Ende gut macht wissheit geben kann. Wenn sich bei äl- und vollendet. teren Menschen Anzeichen von Ge- dächtnis- oder Wortfindungsstörungen Durch eine dementielle Erkrankung zeigen, sind diese ernst zu nehmen. Ein kommt manches zutiefst Menschliche gewisses Maß an Vergesslichkeit kann deutlicher zum Vorschein als bei gesun- im Alter zwar vollkommen normal sein, den Menschen. So kann z. B. das tiefe wenn aber weitere Auffälligkeiten hin- Gefühl der Heimatlosigkeit und der in- zukommen, z. B. bislang nicht gekannte 8 Geiger, A.: Der alte König in seinem Exil, München 2011. 9 Körtner, U.H.J.: Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft und die Irritation der Demenz, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 59 (2012) S. 3 – 33, S. 15. 15
Wenn die alte Welt verlernt wird Stimmungsschwankungen, ein zuneh- sich meist in den ersten Monaten nach mendes Misstrauen gegenüber anderen Feststellung der Diagnose. Dazu muss Menschen oder Überforderungssituati- man wissen, dass gerade »zu Beginn der onen bei der Bewältigung des Alltags, Erkrankung das Risiko der depressiven dann sollte eine ärztliche Abklärung Störung hoch signifikant erhöht ist«10. Klarheit darüber verschaffen, ob eine de- Die depressive Symptomatik kann me- mentielle Erkrankung vorliegt. Es kommt dikamentös behandelt werden und spä- immer wieder vor, dass der Verdacht an ter wieder abklingen. Auch der Versuch, einer Demenz erkrankt zu sein, sich in die Krankheit zu verdrängen und zu ver- der ärztlichen Diagnostik nicht bestätigt, leugnen, indem man Defizite auf eine sondern eine andere Erkrankung vorliegt, vermeintlich feindliche Umwelt proji- die behandelt werden kann. ziert oder nach anderen Krankheitsur- sachen für die aufgetretenen Schwie- Auf die Diagnose »Demenz« reagieren rigkeiten sucht, ist meist ein vorüberge- die Betroffenen ganz unterschiedlich. hendes Phänomen. Mit solchen Ab- Am Anfang steht meist eine Art Schock- wehrmechanismen versuchen sich die reaktion. Wenn diese abgeklungen ist, Betroffenen wahrscheinlich vor der zu- finden Betroffene häufig einen produk- nächst als unerträglich empfundenen tiven Umgang mit ihrer Krankheit, in- Bedrohung zu schützen.11 dem sie die Veränderungen an sich selbst aufmerksam beobachten, ihre ko- Insbesondere in der kritischen Phase, gnitiven Mängel mit pragmatischen wenn sich die Diagnose Demenz bestä- Hilfsmitteln ausgleichen, anderen über tigt, treten für die Betroffen und ihre ihre Erkrankung berichten oder sogar in Angehörigen viele Unsicherheiten und die Öffentlichkeit gehen, um Verständ- Fragen auf. Viele Betroffene fühlen oft nis für die Krankheit »Demenz« zu we- mit ihren Fragen allein gelassen und cken. Solche Menschen bereiten sich finden keinen Zugang zu einer unter- meist auch bewusst auf die späteren stützenden Beratung, die eine mög- Phasen der Demenz vor, indem sie re- lichst sachliche Auseinandersetzung geln, was sich noch regeln lässt. Andere mit der neuen Situation begleitet. Dabei Menschen, die mit der Diagnose »De- sind insbesondere psychologische, me- menz« konfrontiert werden, reagieren dizinische und sozialarbeiterische Fra- mit Selbsthass, verfallen in eine Art gestellungen berührt. Apathie oder eine Depression oder be- lasten ihr Umfeld mit unberechtigten Der Gerontologe Andreas Kruse versteht Vorwürfen, Gereiztheit und Aggressivi- die Konfrontation mit der Diagnose tät. Selbsttötungen von Demenzkranken »Demenz« als eine Grenzsituation im können vorkommen, und sie ereignen Sinne von Karl Jaspers. Diese sei da- 16
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird durch gekennzeichnet, dass sich die len des Wohlbefindens und der unmit- Situation selbst nicht verändern lasse, telbaren Lebensfreude. Daher schätzen so dass wir nicht sinnvoll durch Planen die meisten Befragten ihre Erfahrungen und Berechnung reagieren könnten, um erheblich positiver ein, als dies von An- sie zu überwinden. Eine Grenzsituation gehörigen oder professionellen Helfern verlange vielmehr vom Menschen »eine erwartet wird. Unter den Faktoren, die neue Einstellung zu sich selbst und zu sich günstig auf die Lebensqualität aus- seiner Existenz«12. Ob diese Herausfor- wirken, werden die ausreichende Ver- derung gelingt, hänge von vielen Fakto- fügbarkeit ärztlicher Informationen, die ren ab, z. B. vom sozialen Umfeld, vom Aufrechterhaltung von Aktivität, der bisherigen Selbstverständnis, vom Ver- sinnvolle Gebrauch der Zeit, die Entfal- lauf der Krankheit und von der Qualität tung kreativer Fähigkeiten und die der medizinischen Versorgung. Wichtig Möglichkeit zu freien Entscheidungen, sei es auch, den eigenen Blick nicht nur vor allem aber die Bindung an Familie auf die bevorstehenden Verluste zu und Freunde, das Bewusstsein der sozi- richten, sondern auch auf das, was noch alen Zugehörigkeit und das Gefühl des lange Zeit erhalten bleibe: die kogniti- Gebrauchtwerdens genannt.«13 Ein gu- ven Erinnerungen an früher, die eigene tes Leben mit Demenz ist also noch lan- Gefühlswelt und emotionale Ansprech- ge Zeit möglich, wenn es Menschen barkeit, die Möglichkeit, Wünsche und gibt, die sich auf die Erkrankten einstel- Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, len und sie unterstützen. Humor und Schlagfertigkeit, die Emp- fänglichkeit für Atmosphären sowie alle Erinnerungen des »Leibgedächtnisses«. 2.3 W as bedeutet die Diagnose »Demenz« Studien zur Lebensqualität demenz- für die Angehörigen? kranker Menschen, die sich auf Patien- teninterviews stützen, kommen zu fol- Demenz ist eine Krankheit, die nicht nur gendem Ergebnis: »Der Alltag der Er- das Leben des Kranken, sondern auch krankten enthält noch zahlreiche Quel- das der Angehörigen radikal verändert. 10 Kruse, A.: Menschenbild und Menschenwürde als grundlegende Kategorien der Lebensqualität demenzkranker Menschen, in: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S.3 – 25, S. 11. 11 Vgl. Lauter, H.: Demenzkrankheiten und menschliche Würde. In: in: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 27 – 42, S. 28. 12 Ebd. 13 A. a. O., S. 29. 17
Wenn die alte Welt verlernt wird Insbesondere sind die Ehepartnerinnen tig werden, ist sie noch länger. Häufig und Ehepartner, die Lebenspartner bzw. rutschen die Angehörigen dementer Lebenspartnerinnen und die Kinder von Menschen in einer Art sozialer Isolation, dementiell erkrankten Menschen be- weil sie den pflegebedürftigen Men- troffen. Fest geprägte Rollenerwartun- schen nicht allein lassen können, weil gen und Bilder vom jeweiligen Gegen- sie sich aus Scham zurückziehen oder über geraten ins Wanken. Dadurch ent- die innere Distanz zu den in der Welt stehen Unsicherheit und die Herausfor- der »Normalen« Lebenden immer größer derung, neue Umgangsweisen und wird. Selbsthilfegruppen oder Ge- Rollen erfinden und einüben zu müssen. sprächskreise für Angehörige demenz- Plötzlich braucht und beansprucht ei- kranker Menschen können hier hilfreich nen der oder die andere in noch nie da sein. Man erhält dort zum einen prakti- gewesener intensiver Weise. Die jeder sche Hinweise (z. B. zu erfahrenen Fach- Beziehung eigentümliche Balance von ärzten und Fachärztinnen, zu Leistun- Nähe und Distanz gerät aus den Fugen gen der Pflegekassen oder zu den Vor- und muss neu gefunden werden. Dabei teilen eines Schwerbehindertenauswei- werden manchmal auch ungelöste Kon- ses) und kann sich zum anderen über flikte, verdrängte Ängste, unerfüllte persönliche Erfahrungen austauschen Sehnsüchte und schon lange zurücklie- und einander unterstützen. gende Enttäuschungen wieder virulent. Angehörige stehen vor der schwierigen Besondere Herausforderungen für Aufgabe, zugleich Abschied von dem den Partner oder die Partnerin bisherigen Bild eines Menschen zu neh- men und den Respekt vor dem kranken Für Eheleute oder Lebenspartner ist das Menschen, seiner Lebensleistung und Auftreten einer Demenz bei dem lang- seiner Geschichte zu bewahren. Das Er- jährigen Weggefährten oder der Weg- leben von Trauer und Überforderung gefährtin besonders schwierig zu ver- sind in diesem Prozess unvermeidlich kraften. Wenn ein Ehe- oder Lebenspart- und kein Grund für Schuldgefühle. ner von einer dementiellen Erkrankung betroffen ist, dann geht auch ein Teil Hinzu kommt oft die Notwendigkeit, des gesunden Partners diesen Weg. den Alltag völlig neu zu organisieren Ähnlich wie beim Verlust durch einen und zu strukturieren, und zwar für eine Todesfall fehlt plötzlich ein wesentlicher unabsehbare Zeit. Die durchschnittliche Teil des zurückbleibenden Partners, Unterstützungsdauer bei pflegebedürf- nämlich alles, was dieser in den liebvol- tigen Menschen liegt bei mehreren Jah- len Blicken des Gegenübers von sich ren, und bei Menschen, die aufgrund selbst erkannte. Aber anders als bei der einer Demenz schon früher hilfsbedürf- Trennung durch Tod bleibt das Gegen- 18
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird über in einer Trennung durch Demenz Momente von Erfüllung nicht aus dem leiblich anwesend, und der gesunde Teil Blick zu verlieren. des Paares steht vor der komplizierten Aufgabe, zugleich Abschied nehmen Als besonders schwierig wird oft die und ganz für den anderen da sein zu erste Phase der dementiellen Erkran- müssen. Viele Partner und Partnerinnen kung erlebt: In dieser Phase gilt es, nicht von dementiell erkrankten Menschen nur die eigene Verzweiflung, sondern beschreiben diese Erfahrung als eine auch die Verzweiflung des geliebten tiefe Einsamkeit in Zweisamkeit, als eine Partners auszuhalten. Um hier immer Art Witwenstatus, ohne verwitwet zu wieder Distanz gewinnen zu können, ist sein. Eine Angehörige formuliert ihr Er- eine gute Kenntnis der Krankheitssym- schrecken darüber, dass der Partner we- ptome und des Krankheitsverlaufs un- sentliche Aspekte der eigenen Identität erlässlich. Dennoch bleibt es in hohem vergessen hat, folgendermaßen: »Das Maße belastend, wenn sich in eine ver- war für mich ein Schock. Damit habe ich trauensvolle Beziehung plötzlich Miss- nicht nur ihn verloren, sondern ich habe trauen und Aggressivität einschleichen mit dieser Äußerung ein Stück von mir oder wenn sich die erkrankte Person verloren. Weil damit verloren ging, wie sogar von denen, die ihr am nächsten ich gesehen werden will … Und er wuss- stehen, elementar bedroht fühlt. Wie te es nicht mehr. Da habe ich gedacht: soll man damit umgehen, wenn man ›Oh, jetzt gehen Stücke von uns beiden sich selbst liebevoll und fürsorglich ver- weg!‹ und man muss sich dann schon hält und das Gegenüber verängstigt, sehr, sehr lieben, um solche Dinge abschätzig oder aggressiv reagiert? Da durchzuhalten.«14� Die zunehmende Un- tauchen oft Fragen auf wie: Wo kommt erreichbarkeit eines Menschen, mit dem denn all das her, was dieser Mensch da man sich irgendwann einmal »fast blind« äußert? War es schon immer da und nur verstanden hat, ist ein überaus schmerz- gut versteckt? Waren unser gegenseiti- licher Prozess. Demgegenüber stehen ges Vertrauen und unsere Liebe zuein- aber auch Berichte von oft sehr unver- ander vielleicht sogar eine Illusion? Es muteten und unmittelbaren Glücks ist von großer Bedeutung, dass Ange- erfahrungen, Momente voller Nähe hörige verstehen, dass solche Fragen und tiefer, ermutigender Berührung. Es von einer dauerhaften Identität der Per- ist wichtig, über der Erfahrung von sönlichkeit ausgehen, die die Krankheit Schmerz und Leid diese unverfügbaren Demenz gerade zerstört. Manchmal ist 14 Zitiert wird hier eine Aussage von Prof. Dr. Dorothea Ader, nachzulesen in: Evangelische Kirche in Deutschland: Leben mit Demenz. Beiträge aus medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht, Hannover 2008, S. 13 – 30, EKD-Texte Nr. 98, S. 35, www.ekd.de/download/ekd_texte_98.pdf. 19
Wenn die alte Welt verlernt wird es so, dass Kindheitserfahrungen wieder Dankbarkeit kann manchmal in der aufbrechen und sozusagen in der fal- P hase der Krankheit besser zum Aus- schen Generation ausagiert werden, druck gebracht werden als in gesunden aber manchmal verändern dementiell Zeiten. Viele Angehörige, die Erfahrun- erkrankte Menschen auch ihr Wesen gen im Umgang mit dementen Menschen und ihren Charakter auf vollkommen haben, fühlten sich am Ende bereichert. unerklärliche Weise. Die Unverständ- Arno Geiger beschreibt in seinem Roman lichkeit dieser Krankheit kann wütend eindrücklich, wie das Zusammengehö- machen, und es ist nicht immer leicht, rigkeitsgefühl innerhalb der Familie und die Wut auf die Krankheit nicht an dem er selbst durch den Umgang mit seinem erkrankten Menschen auszulassen, der dementen Vater wuchsen: »Es gibt da so überaus viel Geduld und Einfüh- etwas zwischen uns, das mich dazu ge- lungsvermögen verlangt. Falls der Anteil bracht hat, mich der Welt weiter zu öff- von Menschen, die sich im Alter auf eine nen. Das ist sozusagen das Gegenteil Jahrzehnte währende Partnerschaft von dem, was der Alzheimerkrankheit verlassen können, geringer wird, wird normalerweise nachgesagt wird – dass sich dies vermutlich auch auf die Be- sie Verbindungen kappt. Manchmal lastbarkeit von Beziehungen auswirken. werden Verbindungen geknüpft.«15 Viel- Die Konsequenzen sind gegenwärtig leicht ist es für die Kinder von Eltern mit noch schwierig zu prognostizieren. Demenz aber auch leichter, solche be- reichernden Erfahrungen zu machen als Neue Möglichkeiten der Begegnung für Lebenspartner, die ja oft selbst mit Angehörigen schon in höherem Alter oder gebrech- lich sind. Gelingt es jedoch, eine zufriedenstellen- de Betreuungslösung für den dementi- Besondere Herausforderungen ell Erkrankten zu finden, die die Ange- für Kinder hörigen nicht überfordert, können Be- ziehungen auch neue Qualitäten gewin- Für die Kinder demenzkranker Eltern ist nen: viele Angehörige beschreiben inni- es ebenfalls schwer, diejenigen, die ih- ge Momente, die sie mit den dementen nen ihr Leben lang Halt gegeben haben Menschen erleben. Oft bringen sie zum und stark erschienen, nun so schwach Ausdruck, dass ihre Beziehungen rei- und verwirrt zu sehen, aber meist er- cher an Emotionalität und Zärtlichkeit kranken die eigenen Eltern ja erst zu geworden seien, nicht zu vergessen die einem Zeitpunkt, wenn man bereits die komischen Momente, die das Leben mit Erfahrung eigener Unabhängigkeit ma- einem dementiell erkrankten Menschen chen konnte. Allerdings gibt es auch den mit sich bringt. Auch gegenseitige seltenen Fall, dass bereits Eltern noch 20
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird jugendlicher Kinder an Demenz erkran- richtung in dringlicher Weise. Oft sind ken. Dies wird von Jugendlichen als ex- solche Überlegungen mit Schuldgefüh- trem bedrohlich und schamvoll erlebt. len verbunden, nicht genug Zeit zu ha- Sie brauchen in jedem Fall verständnis- ben, den Angehörigen »ruhig gestellt« volle und stabilisierende Begleitung. oder »abgeschoben« zu haben oder den Anforderungen einfach nicht gewachsen Im Normalfall liegt die Herausforderung zu sein. Ebenfalls ist es von Bedeutung, von Kindern dementer Eltern aber in der sich auf die oft nicht unerheblichen Organisation des Alltags. Das Lebens wirtschaftlichen Aufwendungen einzu- tempo und die Bedürfnisse von Men- stellen, die im Zusammenhang mit einer schen mit Demenzerkrankung lassen Fremdbetreuung oder einem Umzug in sich kaum in einen normalen Berufs- eine Pflegeeinrichtung nötig werden. und Familienalltag integrieren. Die meisten Menschen im mittleren Alter sind auch ohne einen pflegebedürftigen 2.4 Was helfen kann in Menschen schon derart ausgelastet, einem Leben mit dementiell dass einfach kein Raum für einen Men- erkrankten Menschen schen mit Demenz ist. Hinzu kommen mitunter noch erhebliche räumliche Di- Ein Perspektivenwechsel stanzen. Darüber hinaus werden Kinder demenzkranker Eltern oft von der Frage Hilfreich für das Leben mit einem de- bedrängt, ob sie selbst einmal an einer menten Angehörigen ist es, Wissen über Demenz erkranken werden. die Krankheit zu erwerben und sich auf den Verlauf der Krankheit einzustellen.16 Für die Organisation des Alltags beson- In allen einschlägigen Veröffentlichun- ders belastend ist die manchmal kaum gen zum Umgang mit dementiell er- zu stillende Unruhe von Menschen mit krankten Menschen wird betont, wie Demenz. Wenn jemand ständig umher- wichtig es ist, die Perspektive zu wech- läuft, orientierungslos die Wohnung seln und sich immer wieder neu auf die verlässt oder die ganze Nacht rumort Welt des Menschen mit Demenz einzu- und schreit, stellt sich die Frage nach stellen. Normalerweise wird die unhin- einer medikamentösen Therapie oder tergehbare Fremdheit eines anderen nach einem Umzug in eine Pflegeein- Menschen ja durch dessen Selbstmit 15 Geiger, A., a. a. O., S. 179. 16 Eine gute Basis dafür gibt die kostenlose Handreichung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zur Begleitung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen: Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, »Nähme ich Flügel der Morgenröte …«, München 2. A. 2009, www.bayern-evangelisch.de/www/download/ev09_hrdemenz_web.pdf. 21
Wenn die alte Welt verlernt wird teilungen überbrückt. Die eingeschränk- auf ihre Eignung zu prüfen. Neben ver- ten Selbstmitteilungen demenzkranker schiedenen ambulanten Unterstüt- Menschen sind aber auf die Interpreta- zungsangeboten kann auch ein Heim tionskunst der ihnen nahe stehenden platz in solchen Situationen die nötige Menschen angewiesen, die diese auch Entlastung sorgen. Auch hier sollte die erst erlernen müssen. Arno Geiger be- Entscheidung für eine Pflegeeinrich- schreibt die Voraussetzung gelingender tung sorgfältig und gut überlegt getrof- Kommunikation mit seinem demenz- fen werden. Manche demenzkranke kranken Vater folgendermaßen: »Da Menschen fühlen sich in der Gemein- mein Vater nicht mehr über die Brücke schaft anderer Demenzkranker weniger in meine Welt gelangen kann, muss ich einsam. Dort können sie unter Umstän- hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb den noch vorhandene soziale Kompe- der Grenzen seiner geistigen Verfas- tenzen besser einbringen als in der Um- sung, jenseits unserer auf Sachlichkeit gebung von Gesunden. und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesell- schaft, ist er noch immer ein beachtli- Ein menschenfreundliches Ver cher Mensch, und wenn auch nach all- ständnis der christlichen Gebote gemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie bril- Die meisten Angehörigen spüren deut- lant.«17 lich die Verantwortung, die auf ihnen ruht, wenn nahe Angehörige an De- Rücksicht auf eigene Grenzen menz erkranken. Der weitaus größte Teil dementiell erkrankter Menschen wird Ebenso wichtig wie der Perspektiven- von Angehörigen betreut und gepflegt, wechsel ist aber der wachsame Blick auf solange es irgendwie geht. Dies ge- die eigenen physischen, emotionalen schieht vor allem aus Liebe oder Zunei- und psychischen Grenzen bei der Pflege. gung zu den erkrankten Menschen. Es gibt Pflegesituationen, die Angehöri- Angehörige spüren in aller Regel aber ge überfordern, und es ist wichtig sol- auch eine moralische Verpflichtung, ih- che Überforderungssituation zu erken- rem Partner beizustehen in guten wie in nen und geeignete Maßnahmen zu schlechten Tagen bzw. ihren Eltern et- überlegen, diesen zu begegnen. Dafür was von dem zurückzugeben, was ihnen ist es hilfreich sich über die oft recht als Fürsorge und Aufopferung entgegen zahlreichen entlastenden Unterstüt- gebracht wurde, als sie noch Kinder wa- zungsangebote zu informieren und sie ren. In Gesprächen mit Angehörigen 17 Geiger, A., a. a. O., S. 11. 22
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird wird immer wieder deutlich, dass sie in wechselseitigen Verpflichtung. Eltern den christlichen Geboten formuliert fin- haben ihren Kindern gegenüber die den, was für ihr Verhalten bestimmend Aufwendungen, Fürsorge und Liebe, die ist. Von besonderer Bedeutung sind in das Gebot der Ehrung der Eltern be- diesem Zusammenhang das Verspre- gründen, bereits erbracht. Deshalb be- chen von Ehepartnern, einander treu hält das Gebot seine orientierende Kraft zur Seite zu stehen, »bis dass der Tod auch, wenn die Eltern ihre Kinder gar euch scheidet«, sowie das vierte Gebot, nicht mehr erkennen. Wie auch immer »Vater und Mutter zu ehren«. Eltern sich verändern mögen, dies hebt die Pflicht nicht auf, für sie zu sorgen. Diese ethische Orientierung wird im All- Ob diese grundsätzliche ethische Ver- tag immer wieder auf harte Proben ge- pflichtung, sich um die Eltern zu küm- stellt, insbesondere dann, wenn die mern, auch dann besteht, wenn die El- dementen Personen ihre Angehörigen tern ihre Fürsorgepflichten gegenüber gar nicht mehr erkennen oder ihnen das den Kindern zuvor in grober Weise ver- Gefühl geben, sie machten alles falsch letzt haben, lässt sich nicht allgemein und andere (Pflege)Personen seien ih- beantworten. Es ist jedenfalls verständ- nen lieber. Es kommt sogar vor, dass lich, dass das Empfinden einer ethi- demente Menschen in einem Pflege- schen Verpflichtung gegenüber den ei- heim neue Beziehungen eingehen, in genen Eltern bis zu einem gewissen denen für den früheren Partner kein Grad von den Erfahrungen in der Kind- Platz mehr zu sein scheint. Und genau- heit abhängt. Vom geistigen Zustand so kann es sein, dass für pflegende An- der alt gewordenen Eltern ist das Gebot, gehörige neue Beziehungen wichtig die Eltern zu ehren, jedoch unabhängig werden, in denen sie Verständnis und zu sehen. Unterstützung finden. Bei Eheleuten liegen die Dinge kompli- Die Selbstverpflichtung zur ehelichen zierter. Die Krankheit der Demenz kann Treue und das Gebot der Ehrung der El- in einem solchen Maße mit Prozessen tern werden heute in der Regel beide als der Entfremdung verbunden sein, dass ethische Maximen gedeutet, die auf der gesunde Ehepartner das Gefühl be- Wechselseitigkeit hin angelegt sind, kommt: Den Menschen, an den ich mich aber sie unterscheiden sich auch in ei- einst gebunden habe, gibt es nicht nem wesentlichen Punkt: Das Gebot der mehr. Die Erkrankung des geliebten Ehrung der Eltern spricht von einer Ver- Partners oder der geliebten Partnerin pflichtung, die zeitlich versetzt zu er- kann als ein Weggehen in die Krankheit bringen ist, die Pflicht zur ehelichen erlebt werden, so dass sich der Gesunde Treue hingegen von einer dauerhaft als der Verlassene fühlt. In solchen Fäl- 23
Sie können auch lesen