Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe

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Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Wenn die alte Welt verlernt wird
Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Wenn die alte Welt verlernt wird
                  Umgang mit Demenz
              als gemeinsame Aufgabe

       Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD
Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Diese Publikation erscheint als Nr. 120
in der Reihe EKD-Texte.

Impressum
Evangelische Kirche in Deutschland        Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband
(EKD)                                     Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V.
Herrenhäuser Str. 12 · 30419 Hannover     Caroline-Michaelis-Straße 1 · 10115 Berlin
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www.ekd.de                                www.diakonie.de

Bestellung: versand@ekd.de
Download:
www.ekd.de/EKD-Texte
www.diakonie.de/demenz

ISBN 978-3-87843-031-5

Februar 2015

               0800 - 50 40 60 2
   SERVICE TELEFON
                Evangelische Kirche
Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Inhalt

Vorwort                                                                          5

1     Einleitung                                                                 8

2 	»Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird                          11
2.1	Wie kann man mit der Angst vor Demenz umgehen?                             11
2.2	Was bedeutet die Diagnose »Demenz« für die Betroffenen?                    15
2.3 	Was bedeutet die Diagnose »Demenz« für die Angehörigen?                   17
2.4 	Was helfen kann in einem Leben mit dementiell ­erkrankten Menschen        21
2.5 	Überlegungen zur geistlichen Dimension der Pflege                         25

3 	Medizinische, pflegerische und g­ esundheitspolitische Aspekte              28
3.1 	Allgemeiner medizinischer Sachstand                                       28
3.2 	Präklinische und prä­dementielle Diagnostik                               31
3.3 	Aspekte fürsorglicher Praxis (Care-Ethik)                                 34

4     Rechtliche Aspekte                                                        36
4.1   Einleitung                                                                36
4.2 	Hilfeleistungen durch die gesetzliche Pflegever­sicherung bei Demenz    36
4.2.1 Grundlagen                                                                36
4.2.2	Begriff der Pflegebedürftigkeit und die Einordnung in die Pflegestufen   37
4.2.3	Leistungen                                                               38
4.2.4	Besonderheiten für demenz­kranke Menschen: »Pflegestufe 0« und
       weitere Reformbemühungen                                                 40
4.3	Die rechtliche Betreuung                                                   41
4.3.1	Grundlagen der rechtlichen Betreuung                                     41
4.3.2	Wichtige Aufgabenkreise                                                  43
4.3.3	Sonstige Rechtsfragen im Bereich des Zivilrechts                         44
Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Wenn die alte Welt verlernt wird

    5 	Ethische Aspekte der Demenz­erkrankung: Menschenwürde,
        Personsein, Individualität und Leiblichkeit              46
    5.1	Demenz und Menschen­würde                               47
    5.2    Demenz und Individualität                             49
    5.3	Die Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz achten    50
    5.4	Die Fragmentarität des menschlichen Lebens              52

    6 	Aufgaben für die Zukunft                                 55
    6.1    Gesellschaftliche Aufgaben                            55
    6.2    Politische Aufgaben                                   57
    6.3	Aufgaben für die evange­lische Kirche                   60
    6.4    Schlusswort                                           62

    Anhang                                                       63
    Good practice Demenzeinrichtungen ambulant                   65
    Good practice Demenzeinrichtungen stationär                  73

    Internetseiten zum Thema Demenz                              84

    Literaturverzeichnis                                         88

4
Wenn die alte Welt verlernt wird - Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe
Vorwort

Wir leben in einer alternden Gesell-        erheblich stärker personenbezogen re-
schaft. Die demografische Entwicklung       agieren können als bislang gewohnt.
stellt unser Sozial- und Gesundheits-
system vor vollkommen neue und drän-        Neben diesen Fragen der Ausstattung
gende Aufgaben. Eine dieser Aufgaben        und der Konzeption gibt es aber einen
besteht darin, die Unterstützungssys­       noch grundlegenderen Bereich, der un-
teme für die künftig stark anwachsende      serer Aufmerksamkeit bedarf. Es geht
Zahl von pflegebedürftigen Menschen         um unser Bild der Demenzerkrankung
wirkungsvoll zu stärken und neue Be-        und des dementiell erkrankten Men-
treuungsformen und pflegerische An-         schen. Der demenzkranke Mensch stellt
gebote zu entwickeln. Unter den Pflege-     unser Bild des starken, leistungsfähigen,
bedürftigen sind dementiell erkrankte       seiner selbst mächtigen Menschen in
Menschen noch einmal eine besondere         Frage, er fordert uns in besonderer Wei-
Gruppe. Auch ihre Zahl wird nach allen      se heraus, die Würde des Menschen als
Prognosen stark ansteigen. Für ihre Be-     Menschen, unabhängig von Leistung,
treuung ist unser Gesundheitssystem         Bewusstheit und Fähigkeiten, zu ach-
allerdings erst unzureichend vorbereitet.   ten. Auch in diesem Sinne ist der »Um-
                                            gang mit Demenz« eine »gemeinsame
Dies betrifft auch die Ausstattung der      Aufgabe« unserer Gesellschaft, wie es
Pflegeangebote mit qualifiziertem Per-      der Untertitel dieser Schrift sagt.
sonal und mit finanziellen Ressourcen.
Mit der Weiterentwicklung der Pfle­         Der hier vorliegende Band nimmt sich
geversicherungsgesetzgebung hat die         genau dieser Aufgabe an. Er wird
­Politik begonnen, auf die absehbare        ­gemeinsam vom Rat der EKD und der
 Entwicklung zu reagieren. Es bleibt noch    Dia­konie Deutschland herausgegeben
 vieles zu tun!                              und vereint einen von der Kammer für
                                             Öffentliche Verantwortung der EKD
Über die Frage der Ressourcen hinaus         erarbeiteten und mit der Diakonie
                                             ­
geht es auch um die konzeptionelle           Deutschland abgestimmten Text mit ei-
Weiterentwicklung von Betreuungsan-          ner Sammlung von guten Beispielen im
geboten: Pflege muss auf die Problem-        Umgang mit Demenz in Einrichtungen
lagen von Familien und begleitenden          der Diakonie. Ebenfalls enthalten sind
Nächsten abgestimmt sein und damit           Informationen über den Zugang zu wei-

                                                                                        5
Wenn die alte Welt verlernt wird

    teren Hilfsangeboten für ratsuchende        demenzerkrankten Menschen in einem
    Menschen. Die gemeinsame Herausge-          Menschenbild, in einer Anthropologie
    berschaft des Rates der EKD und der         des verletzlichen und schutzbedürftigen
    Diakonie Deutschland macht auch             Lebens. Die Würde und die Selbstbe-
    deutlich, dass sich die Kirchen und die     stimmung des verletzlichen Lebens sind,
    Diakonie der demografischen Heraus-         so entwickelt es unser Text, in unbe-
    forderung stellen und in ihren Gemein-      dingter Weise zu achten. Diese Würde
    den, Einrichtungen und Werken daran         des verletzlichen Lebens realisiert sich
    mitwirken, Ideen und Konzepte zu ent-       in den sozialen Beziehungen eines gan-
    wickeln und praktisch umzusetzen.           zen gelebten Lebens, in Ehe und Part-
                                                nerschaft, in Familie und Freundschaft,
    Unser Text nähert sich dem Thema            in Beruf und Engagement. Aber: so tief,
    ­Demenz über die Perspektive der betrof-    wie die Menschenwürde sozial veran-
     fenen Menschen: Was heißt es an De-        kert ist, so weit reicht sie über den Be-
     menz zu erkranken? Was bedeutet es         reich des Sozialen hinaus. Sie ist nach
     für Angehörige miterleben zu müssen,       christlicher Überzeugung gegründet in
     wie der Vater oder die Mutter, die Part-   der unbedingten schöpferischen Liebe
     nerin oder der Partner, Ehemann oder       Gottes, die jeden Menschen umfängt,
     Ehefrau in einem zunächst schleichen-      wie sie sich gezeigt und bewährt hat im
     den Prozess immer mehr an kognitiven       Weg Jesu: In Kreuz und Auferstehung,
     Fähigkeiten einbüßt? Was geschieht,        im Zerbrechen des alten Menschen und
     wenn die gewohnte gemeinsame Welt,         in der Überwindung des Todes.
     wie es im Titel unserer Schrift heißt,
     Schritt für Schritt »verlernt wird«?       In dieser Hinsicht zielt der Respekt vor
                                                der Würde des verletzlichen Lebens zu-
    Der Text gibt Informationen über die        nächst auf die Abwehr des verfügenden
    pflegerischen, medizinischen und recht­     Zugriffs auf das Schwache und Schutz-
    lichen Aspekte der Demenzerkrankung.        bedürftige. Gerade in diesem Respekt
    Er gibt Hinweise zu Leistungen der ge-      liegt eine der entscheidenden Quellen
    setzlichen Pflegeversicherung und zu        für die Anerkennung von Autonomie
    Fragen der Betreuung. Über diese Infor-     und Selbstbestimmung.
    mationen hinaus bietet der Text aber in
    seinem Kern eine christliche, eine evan-    Dies kann aber nicht nur sozusagen ne-
    gelische Perspektive auf die Demenz­        gativ, nur in der Schutzdimension, aus-
    erkrankung. Diese Perspektive ergibt        gedrückt werden, so wichtig und zentral
    sich aus dem inhaltlichen Kern des          dies ist. Die Achtung vor der Würde des
    Evangeliums von Jesus Christus: Der         verletzlichen Lebens ohne Ansehen sei-
    Text verankert die Wahrnehmung des          ner physischen und kognitiven Leis-

6
Vorwort

tungsfähigkeit bedarf auch der posi­­ti­   schiedlichen Bereichen des Gesund-
ven Aufnahme in guten und konstrukti­      heits- und Sozialwesens. Der Text möch-
ven Ideen für menschenwürdige Pflege       te Impulse dafür geben, weitere Ange-
und Betreuung, für ein Miteinander der     bote und Arbeitsformen für die Beglei-
Generationen und die Gemeinschaft          tung demenzkranker Menschen und
von demenzerkrankten und »gesunden«        ihrer Angehörigen zu entwickeln und
Menschen. In diesem Sinne haben die        die rechtlichen, organisatorischen und
demenzerkrankten Menschen und hat          finanziellen Rahmenbedingungen dafür
die Aufgabe des Umgangs mit pflege-        bereit zu stellen.
bedürftigen Menschen ihren Platz in der
Mitte unserer Gesellschaft, unseres Ge-    Der Rat der EKD und die Diakonie
meinwesens und auch in der Mitte un-       Deutschland danken der Kammer für
serer Kirchen und Werke. Der Rat der       Öffentliche Verantwortung, besonders
EKD und die Diakonie Deutschland wol-      dem Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Dres.
len sich gemeinsam dieser Aufgabe          h.c. Hans-Jürgen Papier, und der stell-
stellen: In der Gestalt ihrer Gemeinden    vertretenden Vorsitzenden, Frau Regio-
und diakonischen Einrichtungen, im Zu-     nalbischöfin Susanne Breit-Keßler, für
sammenwirken mit gesellschaftlichen        den hier vorgelegten Text. Wir hoffen
Partnern, in der gemeinsamen Verant-       und wünschen, dass dieser Text einen
wortung auch im politischen Raum un-       Beitrag zu einer langsam in Gang kom-
seres Gemeinwesens.                        menden und höchst wichtigen gesell-
                                           schaftlichen Debatte sein möge, der
Die Broschüre »Wenn die alte Welt ver-     Debatte darüber, wie wir in einer altern-
lernt wird« richtet sich an ratsuchende    den Gesellschaft leben wollen. Der
Betroffene als eine Ermutigung, sich       kirchliche Beitrag soll aus der Botschaft
vertieft mit dem Thema Demenz ausei-       des Evangeliums geschöpft sein und
nanderzusetzen. Sie richtet sich aber      gleichwohl auch von denen gehört und
ebenso an Verantwortliche und Mit­         in seinen Argumenten gewürdigt wer-
arbeitende in der Kirche und an diejeni-   den können, die den Glauben und die
gen, die Verantwortung tragen in Politik   Hoffnung der Christinnen und Christen
und Verwaltung und in den unter-           nicht teilen.

Landesbischof                              Pfarrer Ulrich Lilie
Dr. Heinrich Bedford-Strohm                Präsident Diakonie Deutschland
Vorsitzender des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland

                                                                                       7
Wenn die alte Welt verlernt wird

    1 Einleitung

    Das Thema Demenz ist in den letzten                           ge. Dadurch hat die Evangelische Kirche
    Jahren immer mehr ins Bewusstsein der                         in Deutschland einerseits primär die
    Öffentlichkeit gerückt. Es beschäftigt                        Nöte der dementiell erkrankten Men-
    nicht nur Politik, Medizin und Ethik,                         schen, ihrer Angehörigen und der pro-
    sondern auch Literatur und Filmkunst.                         fessionellen Pflegekräfte im Blick und
    Selbst Kinderbücher zur Demenz sind in                        nimmt sie sehr ernst. Sie möchte mit
    der Zwischenzeit erschienen. Dabei hat                        diesem Text aber andererseits auch die
    sich die Debatte verändert. Das Ver-                          positive gesellschaftliche Entwicklung
    ständnis für die Komplexität des The-                         hin zu einer vieldimensionalen Beschäf-
    mas hat sich vertieft, und der Ton der                        tigung mit dem Thema Demenz stärken.
    Debatte hat sich ausdifferenziert: neben
    problematisierende, ja alarmierende                           Im Rahmen einer Tagung, die die EKD
    Prognosen sind Erfahrungen und Er-                            bereits im Jahr 2008 zum »Leben mit
    kenntnisse getreten, die den Blick auf                        Demenz« durchführte, hielt der da­
    das richten, was Menschen mit Demenz                          malige Präsident des Kirchenamtes
    noch (erleben) können. Auch die krea­                         Hermann Barth eine Bibelarbeit zu
                                                                  ­
    tiven und humorvollen Seiten der                              Psalm 31.1 Insbesondere der Vers 13 b
    Krankheit traten ins Bewusstsein. Diese                       (»Ich bin geworden wie ein zerbroche-
    grundsätzlich zu begrüßende Entwick-                          nes Gefäß.«) sprach ihn zu nächst an:
    lung birgt aber die Gefahr, dass das Lei-
    den der Betroffenen und ihrer Angehö-                         »Ich habe in den vergangenen zwei
    rigen verharmlost wird.                                       Jahrzehnten in meiner Familie viermal
                                                                  erlebt, wie mir sehr nahestehende Men-
    Menschen mit Demenz sind im Bereich                           schen dement geworden sind. Ich finde
    der Kirchen an vielen Orten präsent: in                       das Bild vom ›zerbrochenen‹ oder vom
    den kirchlichen Einrichtungen der sta-                        ›zerbrechenden Gefäß‹ trifft sehr gut,
    tionären Altenhilfe, bei den ambulanten                       was ich dabei erlebt habe, vielleicht so-
    Pflegediensten, im Gemeindeleben, in                          gar, was die erkrankten Menschen selbst
    den Gottesdiensten und in der Seelsor-                        empfunden haben. Und nachdem ich an

    1	Die ganze Bibelarbeit findet sich in: Evangelische Kirche in Deutschland: Leben mit Demenz. Beiträge aus
       ­medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht, Hannover 2008, S. 13 – 30, EKD-Texte 98,
        www.ekd.de/download/ekd_texte_98.pdf.

8
1 Einleitung

 der einen Stelle fündig geworden war,     dass die Kontakte mit dem dementen
 las ich auch den Kontext mit neuen        Menschen reduziert oder ganz unterlas-
­Augen:                                    sen werden: in Vergessenheit geraten,
                                           als wäre er tot – weg aus dem Herzen.
Mein Leben ist hingeschwunden
in Kummer                                  Psalm 31 macht das Leben mit Demenz
und meine Jahre in Seufzen.                durchsichtig auf seine dunklen Seiten
Meine Kraft ist verfallen …                – aber dabei hat es nicht sein Bewen-
Vor all meinen Bedrängern bin ich ein      den. Der Psalm quillt zugleich über von
Spott geworden                             Aussagen des Gottvertrauens und der
und vor meinen Nachbarn noch mehr          Zuversicht, dass Gott auch in der aktu-
und ein Schrecken meinen Bekannten.        ellen Not seinen Beistand nicht versa-
Die mich sehen auf der Gasse,              gen wird: ›Herr, auf dich traue ich … Du
fliehen vor mir.                           bist mein Fels und meine Burg … In dei-
Ich bin vergessen in ihrem Herzen          ne Hände befehle ich meinen Geist … Du
wie ein Toter;                             stellst meine Füße auf weiten Raum …
ich bin geworden wie ein                   Ich freue mich und bin fröhlich über
zerbrochenes Gefäß.                        deine Güte, dass du mein Elend ansiehst
                                           … meine Zeit steht in deinen Händen …
Diese Verse sprechen nicht speziell von    Wie groß ist deine Güte, HERR, die du …
dementen Menschen. Aber ihnen lässt        erweisest vor den Leuten, denen, die auf
sich, ohne dass sie dabei gegen den        dich trauen.‹ (Verse 2 – 20). Die Entschei-
Strich gebürstet würden, entnehmen,        dung, diesen Psalm zum Gegenstand
wie Demente sich – vermutlich – befin-     der Bibelarbeit zu machen, ist nicht zu-
den, und auch, was in denen ausgelöst      letzt darin begründet, dass seine Aussa-
wird, die mit ihnen zusammenleben und      gen des Gottvertrauens wie eine Verhei-
sie erleben: das Leben ›hingeschwun-       ßung, wie ein großes Licht über den
den‹, die Kraft ›verfallen‹, zum ›Spott‹   Dunkelheiten des Lebens mit Demenz
geworden, vergessen, von manchen ge-       stehen – und wieder: über den Dunkel-
radezu gemieden. Mitzuerleben, was die     heiten des Lebens derer, die erkrankt
Demenz aus einem Menschen zu ma-           sind, ebenso wie derer, die um sie sind.
chen imstande ist, kann bei denen dar-     Wenn wir in diesen Tagen über ein Le-
um herum ein regelrechtes Erschrecken      ben mit Demenz nachdenken und reden,
auslösen: Möge mir nur das erspart         dann würde es – so wenig wir hier ir-
bleiben! Und weil es keine angenehmen      gendetwas beschönigen dürfen – zu
Gefühle sind, damit konfrontiert zu        kurz greifen, uns die schmerzlichen Er-
sein, was auch meine Zukunft werden        fahrungen in der Konfrontation mit
könnte, kommt es nicht selten dazu,        Demenz ein weiteres Mal vor Augen zu

                                                                                         9
Wenn die alte Welt verlernt wird

     führen. Wir müssen, wir wollen auch             sensible Gesellschaft zu machen, die
     lernen, wie das wahr wird bei Dementen          respektvoll mit den an Demenz Er-
     und bei ihren Angehörigen, Freunden             krankten umgeht.
     und Pflegern, dass Gott unsere Füße auf
     weiten Raum stellt.«2                        Der auf diese Einleitung folgende Teil 2
                                                  der Schrift führt die Leserinnen und Le-
     Auf diesem Weg des gemeinsamen Ler-          ser an das Thema »Demenz« heran, in-
     nens und Entdeckens, was für das Leben       dem Fragen aufgegriffen werden, die
     mit Demenz in praktischer und in geist-      sich im alltäglichen Umgang mit dieser
     licher Hinsicht hilfreich sein kann, be-     bedrängenden Krankheit stellen. Vielfäl-
     findet sich die evangelische Kirche auch     tige Erfahrungen aus dem Bereich der
     weiterhin. Und sie lädt mit dieser Schrift   Seelsorge sind in diesen Teil eingeflos-
     dazu ein, diesen Weg mitzugehen.             sen. In der seelsorglichen Praxis wird
                                                  aber auch immer wieder deutlich, wie
     Ziele dieser Schrift sind besonders:         wichtig und hilfreich umfassende me-
                                                  dizinische Aufklärung, sachliche juristi-
     ■■ zur Sensibilisierung für das Thema       sche Informationen und grundlegende
         Demenz beizutragen,                      Reflexionen der christlichen Anthropo-
     ■■ die ethischen Fragen in seelsorgli-      logie und Ethik sein können. Diese ver-
         cher Perspektive aufzugreifen und        tiefenden Hintergrundinformationen
         sie in Beziehung zur biblischen Ethik    aus verschiedenen Fachbereichen fin-
         zu setzen,                               den sich in den anschließenden Teilen 3
     ■■ den Betroffenen und ihren Angehö-        bis 5 der Schrift. Und schließlich führen
         rigen einen kurzen Überblick über        alle Kapitel des Textes hin auf die ge-
         die medizinischen und rechtlichen        meinsamen Aufgaben, die sich auf-
         Aspekte der Erkrankung an die Hand       grund der bereits großen und noch
         zu geben,                                steigenden Zahl dementiell erkrankter
     ■■ die anthropologischen Fragen, die        Menschen stellen. Im abschließenden
         diese Erkrankung aufwirft, im Lichte     Teil 6 werden die aus Sicht der evange-
         des evangelischen Verständnisses         lischen Kirche anstehenden Aufgaben
         vom Menschsein zu beleuchten,            für unsere Gesellschaft, die Politik und
     ■■ die ethischen Fragen in seelsorgli-      die Kirche selbst entfaltet.
         cher Perspektive aufzugreifen und
         sie in Beziehung zur biblischen Ethik
         zu setzen,
     ■■ Herausforderungen für Politik und
         Kirche zu ermitteln, um sich gemein-
         sam auf den Weg in eine demenz-

10
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein
  Mensch dement wird

2.1 Wie kann man mit der Angst                            che dieser Verhaltensweisen auch be-
    vor Demenz umgehen?                                    währen, wenn man im Alter unselbstän-
                                                           diger wird, ohne an Demenz zu erkranken.
»An einer Demenz zu erkranken und in
deren Folge unselbständig und unzu-                        Beziehungen pflegen
rechnungsfähig zu werden, ist das wahr­
scheinlich am meisten gefürchtete Ri­                      Von großer Bedeutung für ein Leben im
siko des Alters. Die bei fortgeschrittener                 Alter, insbesondere mit Demenz, sind in
Demenz auftretenden kognitiven Ein-                        jedem Fall gute Beziehungen zur Fami-
bußen werden von den meisten Men-                          lie, Freunden und weiteren Vertrauens-
schen als Bedrohung der Person in ihrer                    personen wie z. B. dem Hausarzt. Wer
Ganzheit betrachtet. Vor diesem Hinter-                    beizeiten Konflikte klärt, Kontakte
grund erscheint verständlich, dass die                     pflegt, sich anvertraut, die Gemein-
Konfrontation mit Demenzkranken nicht                      schaft sucht und (Nächsten-)Liebe übt,
nur Unsicherheit, sondern auch massive                     der hat gute Chancen, in Zeiten zuneh-
Ängste auslösen kann.«3                                    mender Unselbständigkeit Menschen an
                                                           seiner Seite zu haben, die ihn begleiten.
Ängste sowie Gefühle von Hilflosigkeit                     Sicher werden auch gute Beziehungen
und Ohnmacht sind vermutlich die am                        durch die Symptome, die eine Demen-
weitesten verbreiteten Reaktionen auf                      zerkrankung mit sich bringt, stark belas-
den Gedanken, möglicherweise selbst                        tet, aber viele Beziehungen bewähren
einmal von Demenz betroffen zu sein. Um                    sich auch in der Lebensphase der De-
den eigenen Ängsten nicht wehrlos aus-                     menz. Mit vertrauten Menschen kann
geliefert zu sein, ist es gut, sich die Frage              man schon in gesunden Zeiten die eige-
zu stellen, wie man sich bei Zeiten auf die                nen Ängste besprechen, Wünsche for-
Möglichkeit einer dementiellen Erkran-                     mulieren, mitteilen, wie man behandelt
kung vorbereiten kann. Dies ist in mehr-                   werden möchte und was einem im Le-
facher Weise möglich, wobei sich man-                      bensalltag wichtig ist.

2	A. a. O., S. 18 f.
3	Evangelische Kirche in Deutschland: Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum,
   Gesellschaft und Kirche Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Gütersloh 2010,
   www.ekd.de/download/im_alter_neu_werden_koennen.pdf.

                                                                                                               11
Wenn die alte Welt verlernt wird

     Schriftliche Verfügungen verfassen                            kann auch gehören, besonders intime
     und Wünsche äußern                                            und persönliche Dinge zu beseitigen.
                                                                   Wesentlich ist hier, die eigene Entschei-
     Eine sehr sinnvolle, fast unverzichtbare                      dung des oder der Betroffenen. Ange-
     Vorbereitung besteht in der Auswahl                           hörige erfahren bei der Regelung der
     einer Person, der man für den Fall der                        Angelegenheiten der ihnen anvertrau-
     eigenen Unselbständigkeit eine Vorsor-                        ten Personen manchmal unfreiwillig
     gevollmacht erteilen möchte. Ebenso                           Dinge, die sie lieber nicht gewusst hät-
     sinnvoll ist es, aufzuschreiben, was man                      ten. Deshalb kann es ein Akt der Fürsor-
     gerne isst, hört, fühlt, wie man sich klei-                   ge sein, Gegenstände zu vernichten, die
     det, welche Lieblingslieder man hat,                          im Leben anderer noch Verwirrung stif-
     welche Umgangsformen einem wichtig                            ten können.
     sind, ob man lieber kalt oder warm
     schläft, was man besonders genießt –                          Das Gedächtnis des Leibes pflegen5
     also schriftlich festzuhalten, welche
     persönlichen Neigungen und Gewohn-                            Erfahrungen aus der Pflege und der
     heiten man gerne beibehalten würde.                           Seelsorge mit von Demenz betroffenen
     Gerade neuere biographieorientierte                           Menschen machen auch deutlich, wie
     Ansätze in der Pflege sind auf Wissen                         positiv sich von Jugend an Eingeübtes
     über die Persönlichkeit der Patienten                         auf ein Leben mit Demenz auswirken
     oder Patientin angewiesen: »Informati-                        kann. Auswendig gelernte Texte, gerne
     onen über die Biographien der Perso-                          gesungene Lieder, vertraute Musik,
     nen, über ihre Erfahrungen, Vorlieben                         handwerkliche Techniken, Rituale, Feste,
     und Werte spielen eine wesentliche Rol-                       Tischsitten, Spiele, Familiensprüche
     le, um individuelle emotional bedeutsa-                       oder Gebete – all das stellt einen Schatz
     me Kontexte in der Pflege und Betreu-                         im Leben eines Menschen dar, der auch
     ung zu ermöglichen, die gezielt das                           in der Demenz noch lange bereichernd
     Personsein fördern.«4                                         wirkt. Es gibt Gedächtniszentren, die
                                                                   »tiefer« liegen als kognitive Erinnerun-
     Zur Vorbereitung auf ein Leben mit                            gen und die viel mit eingespielten Be-
     möglicherweise eingeschränkter Fähig-                         wegungsabläufen und vertrauten Situ-
     keit zum selbstbestimmten Handeln                             ationen zu tun haben. Diese durch Mu-

     4	Berendonk, C./Stanek, S.: Positive Emotionen von Menschen mit Demenz fördern.
        In: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang
        mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 158.
     5	Vgl. Fuchs, T.: Das Leibgedächtnis in der Demenz: In: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaft-
        lichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S. 231– 242.

12
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird

sik, Kunst, leibliche Genüsse, Gottes-                      Individualität. Die Diagnose »Demenz«
dienstbesuche und Handarbeit im um-                         verliert schon einiges von ihrer Bedroh-
fassenden Sinne bewusst zu pflegen, ist                     lichkeit, wenn diese beiden Seiten der
eine durchaus sinnvolle Vorbereitung                        Krankheit in den Blick kommen. Nie-
auf eine Lebenszeit mit möglicherweise                      mand kann wissen, welche Seite der
abnehmenden kognitiven Fähigkeiten.                         Krankheit für das eigene Leben mit De-
                                                            menz bestimmend sein wird, und des-
Sich umfassend informieren                                  halb sollte man keine Patientenver­
                                                            fügungen verfassen, die ausschließlich
Eine offene Auseinandersetzung mit                          mit dem Verlust von Lebensmöglich­
dem Alter kann zu dem Eingeständnis                         keiten rechnet. Patientenverfügungen
führen, dass eine dementielle Erkran-                       werfen manchmal Interpretationspro-
kung jeden Menschen und damit auch                          bleme auf, die für die konkrete Beglei-
einen selbst treffen kann. Hat man hier                     tung dementiell erkrankter Menschen
Befürchtungen, dann kann es hilfreich                       wenig hilfreich sind. Hat man aber zu-
sein, sich ein umfassendes Bild von den                     sätzlich zu einer Patientenverfügung
Erkrankungen, die unter dem Begriff                         einer vertrauten Person eine Vorsorge-
»Demenz« zusammengefasst werden, zu                         vollmacht ausgestellt, kann diese die
verschaffen, und das bedeutet, sich so-                     zuvor mitgeteilten Wünsche situations-
wohl die Symptome, Verläufe, Verluste                       bezogen im Sinne des erkrankten Men-
und Belastungen vor Augen zu führen,                        schen berücksichtigen und eine vorlie-
als auch die Möglichkeiten, das Leben                       gende Patientenverfügung interpre­
mit dieser Krankheit noch wertschätzen                      tieren. Das schließt schwierige Abwä-
zu können.6 Zur Demenz kann auch die                        gungsprozesse nicht aus.7
Erfahrung von neuen Freiheiten, andau-
ernder Lebensfreude und neuer Nähe in                        Das eigene Selbstbild überprüfen
Beziehungen gehören. Wenn man den
Konformitätszwängen unserer Gesell-                         Die Auseinandersetzung mit der Mög-
schaft nicht mehr Folge leistet, entste-                    lichkeit einer Demenz im Alter kann
hen für manche Menschen mit Demenz                          unmittelbar in die Auseinandersetzung
sogar neue Freiräume für Spontaneität                       mit dem eigenen Menschenbild und mit
und Ausdrucksformen von persönlicher                        dem Verständnis von Menschenwürde

6	Umfassende, aktuelle und differenzierte Informationen kann man beispielsweise über die Internetseiten
    und Veröffentlichungen des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (www.kda.de), der Deutschen Alzheimer
   ­Gesellschaft e. V. (www.deutsche-alzheimer.de) oder auch des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
   Frauen und Jugend (www.wegweiser-demenz.de) erhalten.
7	Dabrock, P.: Formen der Selbstbestimmung. Theologisch-ethische Perspektiven zu Patientenverfügungen
    bei Demenzerkrankungen, Zeitschrift für medizinische Ethik 53 (2007), S. 127 – 144.

                                                                                                             13
Wenn die alte Welt verlernt wird

     führen. Dann kann sich die persönliche      auch einer eventuellen dementiellen
     Frage stellen, was das eigene Mensch-       Erkrankung nicht zerbricht.
     sein ausmacht: Was bleibt von mir,
     wenn ich mich nicht mehr ausdrücken         Die Demenz ist eine Anfrage an die ein-
     kann? Was bleibt, wenn ich nichts mehr      seitige Betonung dreier Werte, die das
     zustande bringe, sondern bei vielen Ver-    individuelle wie das gemeinsame Leben
     richtungen des täglichen Lebens auf         wesentlich bestimmen: Leistung, Wis-
     Hilfe angewiesen bin? Wer bin ich noch,     sen sowie Selbstbestimmung. Diese
     wenn meine Erinnerungen dahin               Werte haben die Menschen in unserer
     schwinden und meine Zukunft im »Ne-         Gesellschaft mehr oder weniger verin-
     bel« liegt? Das Phänomen Demenz nö-         nerlicht. Deshalb kann kaum jemand die
     tigt zu einer inneren Auseinanderset-       Abnahme von eigener Leistungsfähig-
     zung mit der Unverfügbarkeit und Ab-        keit, von kognitiven Fähigkeiten und
     hängigkeit des eigenen Lebens. Alles,       von Selbständigkeit anders denn als
     was man in gesundem Zustand als             schmerzlichen Verlust wahrnehmen
     Schattenseiten des Lebens unter Kont-       und bewerten. Und Erfahrungen des
     rolle zu halten versucht, die Unvernunft,   Verlustes sind meistens mit Leiden ver-
     das Unbewusste, das Vergessen, Ver­         knüpft. Demenz bedeutet in der Regel
     luste und Verfall, die Ohnmacht, die        Schmerz und Leid und Trauer. Dieses
     Verletzlichkeit und Unberechenbarkeit       nicht einzugestehen wäre ein Zeichen
     des Lebens, verschafft sich in dieser       mangelnden Respekts vor den Betroffe-
     Krankheit unüberhörbar und unüber-          nen und ihren Angehörigen. Gleich­
     sehbar Ausdruck. Viele Menschen, die        zeitig verweist die Demenz aber auf
     von Demenz persönlich oder als Ange-        Dimensionen des Lebens, die oft über-
     hörige betroffen sind, geraten dadurch      sehen werden. So beschreibt zum Bei-
     in eine Grenzsituation. Die Möglichkeit,    spiel Arno Geiger in seinem Roman »Der
     diese Grenzsituation zu bewältigen,         alte König in seinem Exil«, was er über
     hängt aber entscheidend davon ab, wel-      das Leben der so genannten Gesunden
     che sozialen oder religiösen Praktiken      durch den Umgang mit seinem demen-
     und welche tragfähigen Perspektiven         ten Vater alles erfahren hat: das Ver­
     jemandem zur Verfügung stehen, um           wirrende der Welt, das Fragmentarische
     die Veränderungen durch die Krankheit       des Lebens, die grundsätzliche Heimat-
     in das eigene Leben einzuordnen. Des-       losigkeit des Menschen, die positive
     halb kann es für die innere Vorbereitung    Bedeutung der menschlichen Sterblich-
     auf das Älterwerden wichtig sein, sich      keit.8
     um eine Lebenspraxis und eine Lebens-
     deutung zu bemühen, die an der abneh-
     menden Leistungsfähigkeit im Alter und

14
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird

Abschiedliches Leben einüben                                  neren Unruhe, das einem bei Menschen
                                                              mit Demenz häufig begegnet, in christ-
Je weniger man sich schon in gesunden                         licher Perspektive als Sinnbild der exis-
Zeiten über Wissen, Leistung und                              tentiellen Heimatlosigkeit des Men-
Selbstbestimmung definiert und je we-                         schen auf Erden gedeutet werden. Diese
niger das Verständnis eigener Würde                           Überzeugungen machen den alltägli-
von diesen Werten abhängig gemacht                            chen Umgang mit der Krankheit De-
wird, desto besser lässt sich wahr-                           menz nicht leichter, aber sie sind ein
scheinlich eine dementielle Erkrankung                        Gegengewicht zur der verzweifelten
ertragen. Die beste innere Vorbereitung                       Frage: Was bleibt? Auch wenn ein
auf ein Leben mit Demenz ist vielleicht                       Mensch alles verliert: seine Geschichte,
die Einübung in ein »abschiedliches Le-                       die Kontrolle über sich selbst, seine Aus-
ben, … das auch in gesunden Tagen                             drucksfähigkeit, seine Persönlichkeit,
lernt loszulassen«9. Aus biblischer Sicht                     sein Leben, so geht er selbst doch nicht
gründet das Loslassenkönnen in der                            verloren, sondern wird von Gott aufer-
Dankbarkeit für das eigene Leben mit all                      weckt zum Leben in einem »geistlichen
seinen Höhen und Tiefen. Wer auch die                         Leib« (vgl. 1. Kor 15, 42 ff.).
eigenen Fähigkeiten und Erfolge als
­Geschenk und Gnade Gottes empfinden
 kann, der hat weniger Grund zu hadern,                       2.2 W
                                                                   as bedeutet
 wenn die Zeit kommt, in der man wieder                           die Diagnose »Demenz«
 loslassen muss, was einem gewährt                                für die Betroffenen?
 wurde, ohne dass man irgendeinen An-
 spruch darauf gehabt hätte. Aus christ-                      Anzeichen einer beginnenden Demenz
 licher Sicht geschieht dieses Loslassen                      können sehr unterschiedlich sein, so
 in dem Vertrauen darauf, dass es Gott                        dass nur eine ärztliche Diagnostik Ge-
 ist, der unser Leben am Ende gut macht                       wissheit geben kann. Wenn sich bei äl-
 und vollendet.                                               teren Menschen Anzeichen von Ge-
                                                              dächtnis- oder Wortfindungsstörungen
Durch eine dementielle Erkrankung                             zeigen, sind diese ernst zu nehmen. Ein
kommt manches zutiefst Menschliche                            gewisses Maß an Vergesslichkeit kann
deutlicher zum Vorschein als bei gesun-                       im Alter zwar vollkommen normal sein,
den Menschen. So kann z. B. das tiefe                         wenn aber weitere Auffälligkeiten hin-
Gefühl der Heimatlosigkeit und der in-                        zukommen, z. B. bislang nicht gekannte

8	Geiger, A.: Der alte König in seinem Exil, München 2011.
9	Körtner, U.H.J.: Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft und die Irritation der Demenz, in: Zeitschrift
   für medizinische Ethik 59 (2012) S. 3 – 33, S. 15.

                                                                                                                15
Wenn die alte Welt verlernt wird

     Stimmungsschwankungen, ein zuneh-            sich meist in den ersten Monaten nach
     mendes Misstrauen gegenüber anderen          Feststellung der Diagnose. Dazu muss
     Menschen oder Überforderungssituati-         man wissen, dass gerade »zu Beginn der
     onen bei der Bewältigung des Alltags,        Erkrankung das Risiko der depressiven
     dann sollte eine ärztliche Abklärung         Störung hoch signifikant erhöht ist«10.
     Klarheit darüber verschaffen, ob eine de-    Die depressive Symptomatik kann me-
     mentielle Erkrankung vorliegt. Es kommt      dikamentös behandelt werden und spä-
     immer wieder vor, dass der Verdacht an       ter wieder abklingen. Auch der Versuch,
     einer Demenz erkrankt zu sein, sich in       die Krankheit zu verdrängen und zu ver-
     der ärztlichen Diagnostik nicht bestätigt,   leugnen, indem man Defizite auf eine
     sondern eine andere Erkrankung vorliegt,     vermeintlich feindliche Umwelt proji-
     die behandelt werden kann.                   ziert oder nach anderen Krankheitsur-
                                                  sachen für die aufgetretenen Schwie-
     Auf die Diagnose »Demenz« reagieren          rigkeiten sucht, ist meist ein vorüberge-
     die Betroffenen ganz unterschiedlich.        hendes Phänomen. Mit solchen Ab-
     Am Anfang steht meist eine Art Schock-       wehrmechanismen versuchen sich die
     reaktion. Wenn diese abgeklungen ist,        Betroffenen wahrscheinlich vor der zu-
     finden Betroffene häufig einen produk-       nächst als unerträglich empfundenen
     tiven Umgang mit ihrer Krankheit, in-        Bedrohung zu schützen.11
     dem sie die Veränderungen an sich
     selbst aufmerksam beobachten, ihre ko-       Insbesondere in der kritischen Phase,
     gnitiven Mängel mit pragmatischen            wenn sich die Diagnose Demenz bestä-
     Hilfsmitteln ausgleichen, anderen über       tigt, treten für die Betroffen und ihre
     ihre Erkrankung berichten oder sogar in      Angehörigen viele Unsicherheiten und
     die Öffentlichkeit gehen, um Verständ-       Fragen auf. Viele Betroffene fühlen oft
     nis für die Krankheit »Demenz« zu we-        mit ihren Fragen allein gelassen und
     cken. Solche Menschen bereiten sich          finden keinen Zugang zu einer unter-
     meist auch bewusst auf die späteren          stützenden Beratung, die eine mög-
     Phasen der Demenz vor, indem sie re-         lichst sachliche Auseinandersetzung
     geln, was sich noch regeln lässt. Andere     mit der neuen Situation begleitet. Dabei
     Menschen, die mit der Diagnose »De-          sind insbesondere psychologische, me-
     menz« konfrontiert werden, reagieren         dizinische und sozialarbeiterische Fra-
     mit Selbsthass, verfallen in eine Art        gestellungen berührt.
     Apathie oder eine Depression oder be-
     lasten ihr Umfeld mit unberechtigten         Der Gerontologe Andreas Kruse versteht
     Vorwürfen, Gereiztheit und Aggressivi-       die Konfrontation mit der Diagnose
     tät. Selbsttötungen von Demenzkranken        »Demenz« als eine Grenzsituation im
     können vorkommen, und sie ereignen           Sinne von Karl Jaspers. Diese sei da-

16
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird

durch gekennzeichnet, dass sich die                          len des Wohlbefindens und der unmit-
Situation selbst nicht verändern lasse,                      telbaren Lebensfreude. Daher schätzen
so dass wir nicht sinnvoll durch Planen                      die meisten Befragten ihre Erfahrungen
und Berechnung reagieren könnten, um                         erheblich positiver ein, als dies von An-
sie zu überwinden. Eine Grenzsituation                       gehörigen oder professionellen Helfern
verlange vielmehr vom Menschen »eine                         erwartet wird. Unter den Faktoren, die
neue Einstellung zu sich selbst und zu                       sich günstig auf die Lebensqualität aus-
seiner Existenz«12. Ob diese Herausfor-                      wirken, werden die ausreichende Ver-
derung gelingt, hänge von vielen Fakto-                      fügbarkeit ärztlicher Informationen, die
ren ab, z. B. vom sozialen Umfeld, vom                       Aufrechterhaltung von Aktivität, der
bisherigen Selbstverständnis, vom Ver-                       sinnvolle Gebrauch der Zeit, die Entfal-
lauf der Krankheit und von der Qualität                      tung kreativer Fähigkeiten und die
der medizinischen Versorgung. Wichtig                        Möglichkeit zu freien Entscheidungen,
sei es auch, den eigenen Blick nicht nur                     vor allem aber die Bindung an Familie
auf die bevorstehenden Verluste zu                           und Freunde, das Bewusstsein der sozi-
richten, sondern auch auf das, was noch                      alen Zugehörigkeit und das Gefühl des
lange Zeit erhalten bleibe: die kogniti-                     Gebrauchtwerdens genannt.«13 Ein gu-
ven Erinnerungen an früher, die eigene                       tes Leben mit Demenz ist also noch lan-
Gefühlswelt und emotionale Ansprech-                         ge Zeit möglich, wenn es Menschen
barkeit, die Möglichkeit, Wünsche und                        gibt, die sich auf die Erkrankten einstel-
Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen,                         len und sie unterstützen.
Humor und Schlagfertigkeit, die Emp-
fänglichkeit für Atmosphären sowie alle
Erinnerungen des »Leibgedächtnisses«.                        2.3 W
                                                                  as bedeutet
                                                                 die Diagnose »Demenz«
Studien zur Lebensqualität demenz-                               für die Angehörigen?
kranker Menschen, die sich auf Patien-
teninterviews stützen, kommen zu fol-                        Demenz ist eine Krankheit, die nicht nur
gendem Ergebnis: »Der Alltag der Er-                         das Leben des Kranken, sondern auch
krankten enthält noch zahlreiche Quel-                       das der Angehörigen radikal verändert.

10	Kruse, A.: Menschenbild und Menschenwürde als grundlegende Kategorien der Lebensqualität demenzkranker
    Menschen, in: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang
    mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, S.3 – 25, S. 11.
11	Vgl. Lauter, H.: Demenzkrankheiten und menschliche Würde. In: in: Kruse, A. (Hg.), Lebensqualität bei Demenz?
    Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010,
    S. 27 – 42, S. 28.
12	Ebd.
13	A. a. O., S. 29.

                                                                                                                    17
Wenn die alte Welt verlernt wird

     Insbesondere sind die Ehepartnerinnen     tig werden, ist sie noch länger. Häufig
     und Ehepartner, die Lebenspartner bzw.    rutschen die Angehörigen dementer
     Lebenspartnerinnen und die Kinder von     Menschen in einer Art sozialer Isolation,
     dementiell erkrankten Menschen be-        weil sie den pflegebedürftigen Men-
     troffen. Fest geprägte Rollenerwartun-    schen nicht allein lassen können, weil
     gen und Bilder vom jeweiligen Gegen-      sie sich aus Scham zurückziehen oder
     über geraten ins Wanken. Dadurch ent-     die innere Distanz zu den in der Welt
     stehen Unsicherheit und die Herausfor-    der »Normalen« Lebenden immer größer
     derung, neue Umgangsweisen und            wird. Selbsthilfegruppen oder Ge-
     Rollen erfinden und einüben zu müssen.    sprächskreise für Angehörige demenz-
     Plötzlich braucht und beansprucht ei-     kranker Menschen können hier hilfreich
     nen der oder die andere in noch nie da    sein. Man erhält dort zum einen prakti-
     gewesener intensiver Weise. Die jeder     sche Hinweise (z. B. zu erfahrenen Fach-
     Beziehung eigentümliche Balance von       ärzten und Fachärztinnen, zu Leistun-
     Nähe und Distanz gerät aus den Fugen      gen der Pflegekassen oder zu den Vor-
     und muss neu gefunden werden. Dabei       teilen eines Schwerbehindertenauswei-
     werden manchmal auch ungelöste Kon-       ses) und kann sich zum anderen über
     flikte, verdrängte Ängste, unerfüllte     persönliche Erfahrungen austauschen
     Sehnsüchte und schon lange zurücklie-     und einander unterstützen.
     gende Enttäuschungen wieder virulent.
     Angehörige stehen vor der schwierigen     Besondere Herausforderungen für
     Aufgabe, zugleich Abschied von dem        den Partner oder die Partnerin
     bisherigen Bild eines Menschen zu neh-
     men und den Respekt vor dem kranken       Für Eheleute oder Lebenspartner ist das
     Menschen, seiner Lebensleistung und       Auftreten einer Demenz bei dem lang-
     seiner Geschichte zu bewahren. Das Er-    jährigen Weggefährten oder der Weg-
     leben von Trauer und Überforderung        gefährtin besonders schwierig zu ver-
     sind in diesem Prozess unvermeidlich      kraften. Wenn ein Ehe- oder Lebenspart-
     und kein Grund für Schuldgefühle.         ner von einer dementiellen Erkrankung
                                               betroffen ist, dann geht auch ein Teil
     Hinzu kommt oft die Notwendigkeit,        des gesunden Partners diesen Weg.
     den Alltag völlig neu zu organisieren     Ähnlich wie beim Verlust durch einen
     und zu strukturieren, und zwar für eine   Todesfall fehlt plötzlich ein wesentlicher
     unabsehbare Zeit. Die durchschnittliche   Teil des zurückbleibenden Partners,
     Unterstützungsdauer bei pflegebedürf-     nämlich alles, was dieser in den liebvol-
     tigen Menschen liegt bei mehreren Jah-    len Blicken des Gegenübers von sich
     ren, und bei Menschen, die aufgrund       selbst erkannte. Aber anders als bei der
     einer Demenz schon früher hilfsbedürf-    Trennung durch Tod bleibt das Gegen-

18
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird

über in einer Trennung durch Demenz                           Momente von Erfüllung nicht aus dem
leiblich anwesend, und der gesunde Teil                       Blick zu verlieren.
des Paares steht vor der komplizierten
Aufgabe, zugleich Abschied nehmen                             Als besonders schwierig wird oft die
und ganz für den anderen da sein zu                           erste Phase der dementiellen Erkran-
müssen. Viele Partner und Partnerinnen                        kung erlebt: In dieser Phase gilt es, nicht
von dementiell erkrankten Menschen                            nur die eigene Verzweiflung, sondern
beschreiben diese Erfahrung als eine                          auch die Verzweiflung des geliebten
tiefe Einsamkeit in Zweisamkeit, als eine                     Partners auszuhalten. Um hier immer
Art Witwenstatus, ohne verwitwet zu                           wieder Distanz gewinnen zu können, ist
sein. Eine Angehörige formuliert ihr Er-                      eine gute Kenntnis der Krankheitssym-
schrecken darüber, dass der Partner we-                       ptome und des Krankheitsverlaufs un-
sentliche Aspekte der eigenen Identität                       erlässlich. Dennoch bleibt es in hohem
vergessen hat, folgendermaßen: »Das                           Maße belastend, wenn sich in eine ver-
war für mich ein Schock. Damit habe ich                       trauensvolle Beziehung plötzlich Miss-
nicht nur ihn verloren, sondern ich habe                      trauen und Aggressivität einschleichen
mit dieser Äußerung ein Stück von mir                         oder wenn sich die erkrankte Person
verloren. Weil damit verloren ging, wie                       sogar von denen, die ihr am nächsten
ich gesehen werden will … Und er wuss-                        stehen, elementar bedroht fühlt. Wie
te es nicht mehr. Da habe ich gedacht:                        soll man damit umgehen, wenn man
›Oh, jetzt gehen Stücke von uns beiden                        sich selbst liebevoll und fürsorglich ver-
weg!‹ und man muss sich dann schon                            hält und das Gegenüber verängstigt,
sehr, sehr lieben, um solche Dinge                            abschätzig oder aggressiv reagiert? Da
durchzuhalten.«14� Die zunehmende Un-                         tauchen oft Fragen auf wie: Wo kommt
erreichbarkeit eines Menschen, mit dem                        denn all das her, was dieser Mensch da
man sich irgendwann einmal »fast blind«                       äußert? War es schon immer da und nur
verstanden hat, ist ein überaus schmerz-                      gut versteckt? Waren unser gegenseiti-
licher Prozess. Demgegenüber stehen                           ges Vertrauen und unsere Liebe zuein-
aber auch Berichte von oft sehr unver-                        ander vielleicht sogar eine Illusion? Es
muteten und unmittelbaren Glücks­                             ist von großer Bedeutung, dass Ange-
erfahrungen, Momente voller Nähe                              hörige verstehen, dass solche Fragen
und tiefer, ermutigender Berührung. Es                        von einer dauerhaften Identität der Per-
ist wichtig, über der Erfahrung von                           sönlichkeit ausgehen, die die Krankheit
Schmerz und Leid diese unverfügbaren                          Demenz gerade zerstört. Manchmal ist

14	Zitiert wird hier eine Aussage von Prof. Dr. Dorothea Ader, nachzulesen in: Evangelische Kirche in Deutschland:
    Leben mit Demenz. Beiträge aus medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht,
    Hannover 2008, S. 13 – 30, EKD-Texte Nr. 98, S. 35, www.ekd.de/download/ekd_texte_98.pdf.

                                                                                                                      19
Wenn die alte Welt verlernt wird

     es so, dass Kindheitserfahrungen wieder      Dankbarkeit kann manchmal in der
     aufbrechen und sozusagen in der fal-        P­ hase der Krankheit besser zum Aus-
     schen Generation ausagiert werden,           druck gebracht werden als in gesunden
     aber manchmal verändern dementiell           Zeiten. Viele Angehörige, die Erfahrun-
     erkrankte Menschen auch ihr Wesen            gen im Umgang mit dementen Menschen
     und ihren Charakter auf vollkommen           haben, fühlten sich am Ende bereichert.
     unerklärliche Weise. Die Unverständ-         Arno Geiger beschreibt in seinem ­Roman
     lichkeit dieser Krankheit kann wütend        eindrücklich, wie das Zusammengehö-
     machen, und es ist nicht immer leicht,       rigkeitsgefühl innerhalb der Familie und
     die Wut auf die Krankheit nicht an dem       er selbst durch den Umgang mit seinem
     erkrankten Menschen auszulassen, der         dementen Vater wuchsen: »Es gibt da
     so überaus viel Geduld und Einfüh-           etwas zwischen uns, das mich dazu ge-
     lungsvermögen verlangt. Falls der Anteil     bracht hat, mich der Welt weiter zu öff-
     von Menschen, die sich im Alter auf eine     nen. Das ist sozusagen das Gegenteil
     Jahrzehnte währende Partnerschaft            von dem, was der Alzheimerkrankheit
     verlassen können, geringer wird, wird        normalerweise nachgesagt wird – dass
     sich dies vermutlich auch auf die Be-        sie Verbindungen kappt. Manchmal
     lastbarkeit von Beziehungen auswirken.       werden Verbindungen geknüpft.«15 Viel-
     Die Konsequenzen sind gegenwärtig            leicht ist es für die Kinder von Eltern mit
     noch schwierig zu prognostizieren.           Demenz aber auch leichter, solche be-
                                                  reichernden Erfahrungen zu machen als
     Neue Möglichkeiten der Begegnung             für Lebenspartner, die ja oft selbst
     mit Angehörigen                              schon in höherem Alter oder gebrech-
                                                  lich sind.
     Gelingt es jedoch, eine zufriedenstellen-
     de Betreuungslösung für den dementi-        Besondere Herausforderungen
     ell Erkrankten zu finden, die die Ange-     für Kinder
     hörigen nicht überfordert, können Be-
     ziehungen auch neue Qualitäten gewin-       Für die Kinder demenzkranker Eltern ist
     nen: viele Angehörige beschreiben inni-     es ebenfalls schwer, diejenigen, die ih-
     ge Momente, die sie mit den dementen        nen ihr Leben lang Halt gegeben haben
     Menschen erleben. Oft bringen sie zum       und stark erschienen, nun so schwach
     Ausdruck, dass ihre Beziehungen rei-        und verwirrt zu sehen, aber meist er-
     cher an Emotionalität und Zärtlichkeit      kranken die eigenen Eltern ja erst zu
     geworden seien, nicht zu vergessen die      einem Zeitpunkt, wenn man bereits die
     komischen Momente, die das Leben mit        Erfahrung eigener Unabhängigkeit ma-
     einem dementiell erkrankten Menschen        chen konnte. Allerdings gibt es auch den
     mit sich bringt. Auch gegenseitige          seltenen Fall, dass bereits Eltern noch

20
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird

jugendlicher Kinder an Demenz erkran-                     richtung in dringlicher Weise. Oft sind
ken. Dies wird von Jugendlichen als ex-                   solche Überlegungen mit Schuldgefüh-
trem bedrohlich und schamvoll erlebt.                     len verbunden, nicht genug Zeit zu ha-
Sie brauchen in jedem Fall verständnis-                   ben, den Angehörigen »ruhig gestellt«
volle und stabilisierende Begleitung.                     oder »abgeschoben« zu haben oder den
                                                          Anforderungen einfach nicht gewachsen
Im Normalfall liegt die Herausforderung                   zu sein. Ebenfalls ist es von Bedeutung,
von Kindern dementer Eltern aber in der                   sich auf die oft nicht unerheblichen
Organisation des Alltags. Das Lebens­                     wirtschaftlichen Aufwendungen einzu-
tempo und die Bedürfnisse von Men-                        stellen, die im Zusammenhang mit einer
schen mit Demenzerkrankung lassen                         Fremdbetreuung oder einem Umzug in
sich kaum in einen normalen Berufs-                       eine Pflegeeinrichtung nötig werden.
und Familienalltag integrieren. Die
meisten Menschen im mittleren Alter
sind auch ohne einen pflegebedürftigen                    2.4 Was helfen kann in
Menschen schon derart ausgelastet,                            einem Leben mit dementiell
dass einfach kein Raum für einen Men-                         ­erkrankten Menschen
schen mit Demenz ist. Hinzu kommen
mitunter noch erhebliche räumliche Di-                    Ein Perspektivenwechsel
stanzen. Darüber hinaus werden Kinder
demenzkranker Eltern oft von der Frage                    Hilfreich für das Leben mit einem de-
bedrängt, ob sie selbst einmal an einer                   menten Angehörigen ist es, Wissen über
Demenz erkranken werden.                                  die Krankheit zu erwerben und sich auf
                                                          den Verlauf der Krankheit einzustellen.16
Für die Organisation des Alltags beson-                   In allen einschlägigen Veröffentlichun-
ders belastend ist die manchmal kaum                      gen zum Umgang mit dementiell er-
zu stillende Unruhe von Menschen mit                      krankten Menschen wird betont, wie
Demenz. Wenn jemand ständig umher-                        wichtig es ist, die Perspektive zu wech-
läuft, orientierungslos die Wohnung                       seln und sich immer wieder neu auf die
verlässt oder die ganze Nacht rumort                      Welt des Menschen mit Demenz einzu-
und schreit, stellt sich die Frage nach                   stellen. Normalerweise wird die unhin-
einer medikamentösen Therapie oder                        tergehbare Fremdheit eines anderen
nach einem Umzug in eine Pflegeein-                       Menschen ja durch dessen Selbstmit­

15	Geiger, A., a. a. O., S. 179.
16	Eine gute Basis dafür gibt die kostenlose Handreichung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern
    zur Begleitung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen: Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern,
    »Nähme ich Flügel der Morgenröte …«, München 2. A. 2009,
    www.bayern-evangelisch.de/www/download/ev09_hrdemenz_web.pdf.

                                                                                                              21
Wenn die alte Welt verlernt wird

     teilungen überbrückt. Die eingeschränk-    auf ihre Eignung zu prüfen. Neben ver-
     ten Selbstmitteilungen demenzkranker       schiedenen ambulanten Unterstüt-
     Menschen sind aber auf die Interpreta-     zungsangeboten kann auch ein Heim­
     tionskunst der ihnen nahe stehenden        platz in solchen Situationen die nötige
     Menschen angewiesen, die diese auch        Entlastung sorgen. Auch hier sollte die
     erst erlernen müssen. Arno Geiger be-      Entscheidung für eine Pflegeeinrich-
     schreibt die Voraussetzung gelingender     tung sorgfältig und gut überlegt getrof-
     Kommunikation mit seinem demenz-           fen werden. Manche demenzkranke
     kranken Vater folgendermaßen: »Da          Menschen fühlen sich in der Gemein-
     mein Vater nicht mehr über die Brücke      schaft anderer Demenzkranker weniger
     in meine Welt gelangen kann, muss ich      einsam. Dort können sie unter Umstän-
     hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb     den noch vorhandene soziale Kompe-
     der Grenzen seiner geistigen Verfas-       tenzen besser einbringen als in der Um-
     sung, jenseits unserer auf Sachlichkeit    gebung von Gesunden.
     und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesell-
     schaft, ist er noch immer ein beachtli-    Ein menschenfreundliches Ver­
     cher Mensch, und wenn auch nach all-       ständnis der christlichen Gebote
     gemeinen Maßstäben nicht immer ganz
     vernünftig, so doch irgendwie bril-        Die meisten Angehörigen spüren deut-
     lant.«17                                   lich die Verantwortung, die auf ihnen
                                                ruht, wenn nahe Angehörige an De-
     Rücksicht auf eigene Grenzen               menz erkranken. Der weitaus größte Teil
                                                dementiell erkrankter Menschen wird
     Ebenso wichtig wie der Perspektiven-       von Angehörigen betreut und gepflegt,
     wechsel ist aber der wachsame Blick auf    solange es irgendwie geht. Dies ge-
     die eigenen physischen, emotionalen        schieht vor allem aus Liebe oder Zunei-
     und psychischen Grenzen bei der Pflege.    gung zu den erkrankten Menschen.
     Es gibt Pflegesituationen, die Angehöri-   Angehörige spüren in aller Regel aber
     ge überfordern, und es ist wichtig sol-    auch eine moralische Verpflichtung, ih-
     che Überforderungssituation zu erken-      rem Partner beizustehen in guten wie in
     nen und geeignete Maßnahmen zu             schlechten Tagen bzw. ihren Eltern et-
     überlegen, diesen zu begegnen. Dafür       was von dem zurückzugeben, was ihnen
     ist es hilfreich sich über die oft recht   als Fürsorge und Aufopferung entgegen
     zahlreichen entlastenden Unterstüt-        gebracht wurde, als sie noch Kinder wa-
     zungsangebote zu informieren und sie       ren. In Gesprächen mit Angehörigen

     17   Geiger, A., a. a. O., S. 11.

22
2 »Fragen über Fragen« – wenn ein Mensch dement wird

wird immer wieder deutlich, dass sie in     wechselseitigen Verpflichtung. Eltern
den christlichen Geboten formuliert fin-    haben ihren Kindern gegenüber die
den, was für ihr Verhalten bestimmend       Aufwendungen, Fürsorge und Liebe, die
ist. Von besonderer Bedeutung sind in       das Gebot der Ehrung der Eltern be-
diesem Zusammenhang das Verspre-            gründen, bereits erbracht. Deshalb be-
chen von Ehepartnern, einander treu         hält das Gebot seine orientierende Kraft
zur Seite zu stehen, »bis dass der Tod      auch, wenn die Eltern ihre Kinder gar
euch scheidet«, sowie das vierte Gebot,     nicht mehr erkennen. Wie auch immer
»Vater und Mutter zu ehren«.                Eltern sich verändern mögen, dies hebt
                                            die Pflicht nicht auf, für sie zu sorgen.
Diese ethische Orientierung wird im All-    Ob diese grundsätzliche ethische Ver-
tag immer wieder auf harte Proben ge-       pflichtung, sich um die Eltern zu küm-
stellt, insbesondere dann, wenn die         mern, auch dann besteht, wenn die El-
dementen Personen ihre Angehörigen          tern ihre Fürsorgepflichten gegenüber
gar nicht mehr erkennen oder ihnen das      den Kindern zuvor in grober Weise ver-
Gefühl geben, sie machten alles falsch      letzt haben, lässt sich nicht allgemein
und andere (Pflege)Personen seien ih-       beantworten. Es ist jedenfalls verständ-
nen lieber. Es kommt sogar vor, dass        lich, dass das Empfinden einer ethi-
demente Menschen in einem Pflege-           schen Verpflichtung gegenüber den ei-
heim neue Beziehungen eingehen, in          genen Eltern bis zu einem gewissen
denen für den früheren Partner kein         Grad von den Erfahrungen in der Kind-
Platz mehr zu sein scheint. Und genau-      heit abhängt. Vom geistigen Zustand
so kann es sein, dass für pflegende An-     der alt gewordenen Eltern ist das Gebot,
gehörige neue Beziehungen wichtig           die Eltern zu ehren, jedoch unabhängig
werden, in denen sie Verständnis und        zu sehen.
Unterstützung finden.
                                            Bei Eheleuten liegen die Dinge kompli-
Die Selbstverpflichtung zur ehelichen       zierter. Die Krankheit der Demenz kann
Treue und das Gebot der Ehrung der El-      in einem solchen Maße mit Prozessen
tern werden heute in der Regel beide als    der Entfremdung verbunden sein, dass
ethische Maximen gedeutet, die auf          der gesunde Ehepartner das Gefühl be-
Wechselseitigkeit hin angelegt sind,        kommt: Den Menschen, an den ich mich
aber sie unterscheiden sich auch in ei-     einst gebunden habe, gibt es nicht
nem wesentlichen Punkt: Das Gebot der       mehr. Die Erkrankung des geliebten
Ehrung der Eltern spricht von einer Ver-    Partners oder der geliebten Partnerin
pflichtung, die zeitlich versetzt zu er-    kann als ein Weggehen in die Krankheit
bringen ist, die Pflicht zur ehelichen      erlebt werden, so dass sich der Gesunde
Treue hingegen von einer dauerhaft          als der Verlassene fühlt. In solchen Fäl-

                                                                                         23
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