DER PRIMÄRE IMMUNDEFEKT - EIN PRAKTISCHER LEITFADEN FÜR DEN KINDERARZT
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Fortbildung DER PRIMÄRE IMMUNDEFEKT – EIN PRAKTISCHER LEITFADEN FÜR DEN KINDERARZT Tiphaine Arlabosse, Katerina Theodoropoulou, Fabio Candotti Übersetzer: Rudolf Schlaepfer Einleitung Bei welchem Kind Es ist nicht einfach, im Verlaufe des ersten Lebens- muss ein Immundefekt jahres, normale Infektionen von ungewöhnlichen zu vermutet werden unterscheiden. Das Immunsystem befindet sich in vol- ler Entwicklung und Kinder sind einer grossen Anzahl Es gibt wenig Daten zur normalen Anzahl Infektionen Keime ausgesetzt, insbesondere bei kollektiver Be- bei einem gesunden Kind während den ersten Lebens- treuung. Ziel dieses Artikels ist es, die Elemente her- jahren. Die Zahlen variieren je nach Studie, mit einer Tiphaine Arlabosse auszuarbeiten, die an einen primären Immundefekt Inzidenz von 3.7 bis 8 Atemwegsinfektionen jährlich denken lassen, entsprechende Laborabklärungen vor- bei Kindern im Vorschulalter3,4). Um das frühzeitige Er- zuschlagen und zu begründen, sowie einige Punkte kennen von primären Immundefekten zu erleichtern, https://doi.org/10.35190/ hinsichtlich der Betreuung von Patienten mit einem hat die Jeffrey Model Foundation5)1990 Warnzeichen Paediatrica.d.2022.2.5 Immundefekt darzulegen, da der Kinderarzt in der ausgearbeitet. Diese Kriterien entsprechen denen der Erstversorgung eine zentrale Rolle einnimmt. Auf se- European Society for Immunodeficiencies (ESID)6) (Ta- kundäre Immundefekte, medikamentösen oder infek- belle 1). Sie wurden als Instrument erarbeitet, um auf tiösen Ursprungs, wird hier nicht eingegangen. das Vorliegen eines Immundefekts bei Kindern auf- merksam zu machen und nicht als diagnostische Kri- Es gibt zahlreiche, verschieden primäre Immun- terien. In unserer Praxis ergänzen wir die Kriterien der defekte. Sie können das angeborene sowie adaptative Jeffrey Model Foundation durch zwei weitere: Das Auf- Immunsystem betreffen. Sie können transient (wie die treten von Infektionen mit üblicherweise harmlosen Transitorische Hypogammaglobulinämie im Kindesal- Keimen (z.B. Lymphadenitis durch atypische Mycobak- ter) oder permanent vorhanden sein. Die Art der In- terien) und Komplikationen durch abgeschwächte Le- fektion, die Geschwindigkeit, mit der sie sich ausbrei- bendimpfstoffe7). Am meisten prädiktiv erweisen sich tet, sowie weitere assoziierte allgemeine Symptome dabei das Vorkommen eines Immundefektes in der Fa- sind Schlüsselelemente bei der Identifizierung eines milie, die Verabreichung intravenöser Antibiotika bei Immundefektes. Immundefekte werden heutzutage einer Sepsis und die Wachstumsstörung8). Einige Au- im Rahmen eines immunologischen Kontinuums klas- toren haben seither weitere Kriterien vorgeschlagen, sifiziert, das nicht nur die erhöhte Infektanfälligkeit die mit einer grösseren Sensitivität einhergehen sol- berücksichtigt, sondern auch das erhöhte Risiko ei- len9). Weiter können auch eine Autoimmunkrankheit ner Lymphoproliferation und Autoimmunität1,2). Das oder eine Krebserkrankung erste Zeichen eines Im- anfängliche klinische Erscheinungsbild ist sehr varia- mundefektes sein10). bel und umfasst neben wiederholten, atypischen, lang- dauernden oder schweren Infekten, auch: Wachstums- Die Anzahl akuter Otitiden, die eine immunologi- störungen, Zeichen einer Autoimmunität oder malig- sche Abklärung veranlassen sollte, variiert von Land nen Erkrankung. Der Praxispädiater nimmt bei der zu Land: Vier genügen gemäss der Jeffrey Model Foun- initialen Diagnosestellung sowie bei der langfristigen dation und der ESID. Die deutschen Empfehlungen set- Betreuung von Patienten mit einem Immundefekt eine zen die Grenze bei sechs und die schweizerischen bei entscheidende Rolle ein: Dank seiner raschen Verfüg- acht an5-7,9). Wichtig ist nicht nur die exakte Anzahl, barkeit bei Infektionskrankheiten, der Koordination sondern die Kombination von wiederholten Infektio- der verschiedenen beteiligten Fachärzte und der Be- nen und weiteren Auffälligkeiten (Wachstumsstörung, urteilung von psychosozialen Auswirkungen der Krank- chronische Durchfälle, usw.), die den Praxispädiater heit auf das Kind und seine Familie. alarmieren sollten. Kann ein humoraler Immundefekt die Klinik erklä- ren, können die ersten Abklärungen beim Praxispädi- ater durchgeführt werden. In allen anderen Fällen emp- Korrespondenz: fehlen wir, den Patienten direkt an ein spezialisiertes Tiphaine.Arlabosse@chuv.ch Zentrum mit akkreditiertem Labor zu überweisen (ins- 26 Vol. 33 | 2-2022
Fortbildung Gehäufte Infekte Mindestens vier Mittelohrentzündungen im Verlaufe eines Jahresa) Mindestens zwei schwere Sinusitiden im Verlaufe eines Jahres Mindestens zwei Pneumonien im Verlaufe eines Jahres Schwerere/langdauernde/ungewöhnliche Infektionen Einnahme von Antibiotika während mehr als zwei Monaten ohne Besserung der Symptome Tiefe Abszesse der Haut und/oder anderer Organe* Persistierende Pilzinfektion der Mund- oder anderer Schleimhäute* Infektionen bedürfen einer Behandlung mit Antibiotika iv* Mindestens zwei systemische Infektionen, inklusive Spesisb)* Krankheit durch üblicherweise harmlose Keime (z.B. atypische Mycobakterien)* Komplikationen nach Impfung mit Lebendimpfstoffen (Tuberkulose, Masern, Varizellen)* Weitere systemische Krankheitszeichen Gedeihstörung Autoimmunität Onkologische Erkrankung Familienanamnese Kongenitale Immundefekte oder ähnliche Symptome bei anderen Familienmitgliedern a) Dieses Kriterien variiert von einem Land zum anderen von 4 bis 8 Otitiden/Jahr. b) Angesichts des potentiell letalen Charakters, empfehlen wir eine Abklärung schon bei der ersten derartigen Infektion. * Handelt es sich beim Patienten um eine dieser Red Flags , empfehlen wir die Zuweisung an ein immunologisches Zentrum zur fachärztlichen Abklärung. Modified from Jeffrey Modell Foundation. Tabelle 1. Hilfskriterien zur Erkennung eines primären Immundefektes besondere bei Verdacht auf einen Komplementdefekt, sorgfältig untersucht werden (Ekzeme, Livedo, parti- Defekt der Phagozytenfunktion, der T-Lymphozyten eller Albinismus, Teleangiektasien, Nagelveränderun- oder bei lebensbedrohlichen Infektionen). gen, Form der Zähne, brüchige und spärliche Haare). Erste Laborabklärungen umfassen ein vollständi- ges Blutbild zur Erfassung von Zytopenien, insbeson- Vorgehen dere Neutropenie oder Lymphopenie, eine gewichtsa- daptierte Bestimmung der Immunglobuline (IgA, IgG Der Verdacht auf einen Immundefekt erfordert eine und IgM) und Impfantwort. Als Standard gelten die ausführliche Anamnese. Dabei geht es insbesondere Impfantikörper auf Tetanus, Diphtherie und Pneumo- um die Schwangerschaft (Ultraschall, HIV-Risiko), die kokken. Die beiden ersteren wiederspiegeln die Fähig- Zeit bis zum Abfall der Nabelschnur, Anzahl Infektio- keit, auf Proteinantigene zu reagieren, was die Zusam- nen, Wachstum und Entwicklung, chronischer Diarr- menarbeit der T- und B-Lymphozyten voraussetzt. Die hoe (Malabsorption? Lamblien?), Atopien (Asthma, Bestimmung der Impfantwort auf die 23 Pneumokok- Ekzeme), Autoimmunität, sowie um die Familienanam- kenserotypen erlaubt einerseits die Immunantwort nese (schwere, langdauernde, ungewöhnliche oder auf die in Prevenar13 enthaltenen Serotypen zu be- wiederholte Infektionskrankheiten, frühe oder uner- stimmen, andererseits auch die natürliche Reaktion klärte Todesfälle in der Familie, Konsanguinität). (Ta- auf Polysaccharid-Antigene, sowie eine gezielte Im- belle 2) munantwort auf Polysaccharide nach Verabreichung von Pneumovax23. Die Antwort auf Polysaccharide Ein kompletter Status ist notwendig mit speziel- benötigt ausschliesslich B-Lymphozyten, sie führt lem Augenmerk auf das Vorhandensein der Tonsillen, nicht zur Bildung von B-Gedächtniszellen und ist bis einer Hepatosplenomegalie oder Lymphadenopathie. zum Alter von zwei Jahren physiologisch unzurei- Ebenso sollen das Integument, die Zähne und Haare chend. Wird ein T-Lymphozytendefekt vermutet, wird Vol. 33 | 2-2022 27
Fortbildung Anamnese Schwangerschaft, HIV-Risikofaktoren Zeit bis zum Abfall des Nabelschnurrestes Kalender bezgl. Infektionen (Frequenz, Dauer und Art der Infektion) Wachstum, chronische Durchfälle Asthma, Ekzem Hinweise auf Autoimmunität Infektionen/frühe Todesfälle in der Familie, Blutsverwandtschaft Status Dysmorphie Vorhandene Tonsillen Hepatosplenomegalie, Lymphadenopathien Sorgfältige Untersuchung der Haut (Ekzem, Livedo, Albinismus, Teleangiektasien) Aussehen der Zähne (Form, Qualität des Zahnschmelzes) Aussehen der Haare (brüchig, spärlich?) Hämatologie Vollständiges Blutbild (Lymphopenie? Neutropenie?) Bestimmung von IgG, IgM und IgA Impfantwort auf Diphterie, Tetanus und Pneumokokken Tabelle 2. Vorgehen bei Verdacht auf einen Immundefekt in einem anerkannten Immunologielabor eine Unter- z.B. atypische Mycobakterien, komplizierte Varizel- suchung der Lymphozytensubgruppen durchgeführt, len, eine Pneumocystis jirovecii-Pneumonie hingegen in gewissen Fällen auch der Lymphozytenproliferation an einen zellulären (T-Lymphozyten) Defekt. Rezidi- (die T-Lymphozyten werden mit gewissen, aus Patho- vierende Hautabszesse mit Granulomen weisen auf genen gewonnene Antigenen in Kontakt gebracht und einen Phagozytosedefekt hin und Infektionen mit ein- die darauffolgende Anzahl Zellteilungen gezählt). Wird gekapselten Keimen oder eine Meningokokken-Menin- ein Phagozytosedefekt vermutet, kann die Granulozy- gitis auf einen Komplementdefekt1). tenfunktion durch den Dihydrorhodamin-Oxydations- test geprüft werden. Komplementbestimmungen wer- Defekte der adaptativen Immunität den in der pädiatrischen Poliklinik für Immunologie Humoraler Defekt (B-Lymphozyten) bezüglich dem klassischen, dem alternativen sowie Antikörpermangel im Zusammenhang mit einer Dys- dem Lektin-Weg bestimmt, u.U. auch dem terminalen funktion der B-Lymphozyten sind die häufigsten (ca. Endkomplex. Je nach Ergebnis werden ergänzende 50%) primären Immundefekte10). Es sollen hier die Untersuchungen durchgeführt. wichtigsten dieser Defekte beschrieben werden, die sich meist durch bakterielle ORL- und Atemwegsin- fekte auszeichnen. Welche Klinik – welcher 1. Selektiver IgA-Mangel IgA-Mangel wird regelmässig durch Praxispädiater Immundefekt festgestellt, insbesondere beim Zöliakie-Screening. Die Klassifizierung der primären Immundefekte grün- Es handelt sich um den häufigsten Immundefekt beim det auf dem defekten immunologischen Mechanis- Menschen, wobei die Prävalenz von der ethnischen mus und den vorherrschenden klinischen Zeichen. Herkunft abhängig ist: in Saudi-Arabien 1:14211), in Ja- Die Art der Infektion und die damit zusammenhän- pan 1:14’84012). Die Diagnose kann bei Kindern über 4 genden Symptome weisen auf den möglichen Defekt Jahren mit erhöhter Infektanfälligkeit, Autoimmuner- hin (Abbildung 1). Wiederholte bakterielle ORL- und krankung oder positiver Familienanamnese und nicht Lungeninfekte lassen eher an einen humoralen De- messbarem IgA (zweimal gemessen) gestellt werden. fekt (der Immunglobuline produzierenden B-Lympho- Dabei müssen die IgG-, IgM-Werte und die Impfant- zyten) denken; wiederholte virale Infekte hingegen, wort normal sein, sowie Ursachen einer sekundären 28 Vol. 33 | 2-2022
Fortbildung ADAPTATIVE IMMUNITÄT B-Lymphozyten T-Lymphozyten Immunglobuline Atemwegsinfekte Lymphoproliferation Virale Infektionen (Lymphadenopathien, ORL-Infektionen Splenomegalie) Pneumocystis Giardia lamblia Atypische Mycobakterien Pyogene Bakterien Wachstumsstörung Pilzinfektionen (Candida >1 Jahr) Hautabszesse Bakterielle Infektionen Lymphadenitis Neisseria meningitidis Pyogene Bakterien Granulome Komplement Neutrophile ANGEBORENE IMMUNITÄT Abbildung 1. Typische Erscheinungsformen der verschiedenen Immunitätsdefekte. Zur besseren Anschaulichkeit haben wir die NK-Lymphozyten nicht aufgeführt, die Teil der angeborenen Immunität sind und sich durch schwere und/oder wiederholte virale Infekte sowie erhöhtes Risiko für Krebs- und Autoimmunkrankheiten auszeichnen. Hypogammaglobulinämie und ein assoziierter T-Zell- merksamkeit muss Kindern mit häufigen Infekten defekt ausgeschlossen werden13). Aus Beobachtungs- oder Anzeichen einer Autoimmunkrankheit geschenkt studien weiss man, dass bis zu 2/3 der Patienten werden. asymptomatisch sind14). Die symptomatischen Pati- enten leiden an rezidivierenden Sinus- und Lungenin- 2. Transitorische Hypogammaglobulinämie fektionen, autoimmunen (vor allem Zöliakie) und ato- des Kindesalters pischen Erkrankungen, Magendarmerkrankungen und Die Inzidenz der transitorischen Hypogammaglobuli- chronischer Lambliasis. Die IgG- und IgM-Werte soll- nämie des Kindesalters liegt zwischen 0.06 und ten bei allen Patienten bestimmt werden, bei welchen 1.1/1000 Geburten15). Sie wird definiert durch einen ein nicht messbarer IgA-Werte zufällig festgestellt zweimal unter der Altersnorm liegenden IgG-Wert im wurde. Besteht einzig ein IgA-Mangel und leidet der Verlauf der ersten drei Lebensjahre, dem Ausschluss Patient weder an rezidivierenden Infektionen (oder anderer Ursachen einer Hypogammaglobulinämie und anderen Red Flags) noch Zeichen einer Autoimmuni- der spontanen Resolution vor dem Alter von vier Jah- tät und ist die Familienanamnese negativ, können die ren13). Die Diagnose wird deshalb immer a posteriori Nachkontrollen durch den behandelnden Arzt durch- gestellt, nach der Normalisierung der IgG-Werte. Bei geführt werden. Es besteht kein Konsens über Emp- den meisten Patienten bestehen wiederholte oder fehlungen zu Nachkontrollen, insbesondere darüber, schwere Infekte der oberen und unteren Luftwege, so- ob wiederholte Immunglobulinmessungen in regel- wie eine Atopie in Form von Nahrungsmittelallergien, mäßigen Abständen sinnvoll sind. Besondere Auf- Asthma oder Ekzem16). Die Phänotypisierung der Lym- Vol. 33 | 2-2022 29
Fortbildung phozyten fällt normal aus und die Impfantworten sind diatrischer Notfall; die frühzeitige Behandlung durch im Allgemeinen adäquat oder normalisieren sich mit Transplantation hämatopoetischer Stammzellen vor dem Beheben der Hypogammaglobulinämie17). Je nach dem Auftreten von möglicherweise letalen Infektio- Häufigkeit und Schwere der Infektionen kann eine An- nen weist eine hohe Erfolgsrate auf23). Aus diesem tibiotikaprophylaxe oder eine Immunglobulinsubstitu- Grund werden die schweren T- und B-Zell-Immunde- tion vorgeschlagen werden18). fekte in der Schweiz seit 2019 durch das Neugebore- nenscreening erfasst24). Bei fehlender Früherkennung 3. Allgemeine variable Immundefizienz (CVID) weisen die Kinder ab dem Alter von 3-4 Monaten Die CVID ist ein häufiger Antikörpermangel, mit einer schwere und häufige Infektionen mit opportunisti- geschätzten europäischen Prävalenz von 1:25’00019). schen Keimen auf, insbesondere mit Pilzen und Viren Sie stellt eine heterogene Gruppe von Defiziten in der (Candida albicans, CMV, Pneumocystis jirovecii), so- Antikörperproduktion dar, die sich durch häufige In- wie chronische Durchfälle, Wachstumsstörung und fektionen (Bronchitiden, Sinusitiden, Otitiden, Pneu- neonatale Hautausschläge1). Die T-Zell oder T-und monien, Magendarminfektionen), entzündliche Lun- B-Zell-Defekte können mit Missbildungssyndromen generkrankungen (mit interstitiellen Folgeschäden), einhergehen, wie das DiGeorge-Syndrom (mit Thymus autoimmune Störungen (autoimmune Zytopenien, Stö- Hypo- oder Aplasie) oder die Ataxia teleangiectatica. rung der Schilddrüsenfunktion), Wachstumsstörung, Wichtig scheint uns, daran zu erinnern, dass bei Dia- Enteropathien und erhöhtem Risiko einer Lymphopro- gnose eines T-Lymphozytendefekts, insbesondere liferation (insbesondere Non-Hodgkin-Lymphom und CD4+, eine HIV-Infektion ausgeschlossen werden Magendarmtumoren) auszeichnet19). Die Diagnose muss. kann bei über 4jährigen Patienten mit vermehrter In- fektanfälligkeit oder autoimmunen Störungen, min- Defekt der angeborenen Immunität destens zweimal gemessenen IgG- und IgA-Werten Defekte der Neutrophilen (+/- IgM) unter der Altersnorm und ungenügender Die Defekte der Neutrophilen können quantitativ, wie Impfantwort gestellt werden, bei denen kein T-Lym- bei der zyklischen Neutropenie, qualitativ, wie bei der phozytendefekt besteht und die Ursachen einer se- chronischen Granulomatose, oder beides sein, wie bei kundären Hypogammaglobulinämie (Medikamente, der schweren kongenitalen Neutropenie. Ob quanti- renaler oder gastrointestinaler Verlust) ausgeschlos- tativ oder qualitativ, das Resultat ist ähnlich und be- sen wurden13). Es handelt sich um eine meist während steht in einer erhöhten Anfälligkeit für schwere Pilz- dem 2.-3. Lebensjahrzehnt, jedoch in 25% der Fälle (z.B Candida albicans, Aspergillus) und bakterielle, v.a. bereits im Kindes- oder Jugendalter gestellte Diag- pyogene (z.B. Staphylococcus aureus, Pseudomonas nose20). Die Frage ob es sich bei der CVID-Diagnose aeruginosa) Infektionen der Haut, der Lymphknoten im Kindes- bzw. Erwachsenenalter um verschiedene und der Atemwege1,25). Das Infektionsrisiko ist bei we- nosologische Entitäten handelt, bleibt umstritten19). niger als 200 Neutrophilen/mm3 erhöht, bei 200-1000 Die Behandlung beruht auf Immunglobulinsubstituti- Neutrophilen/mm3 mässig und bei mehr als 1000 Neu- onen, Antibiotikaprophylaxe und Früherkennung von trophilen/mm3 gering26). Typischerweise besteht keine Komplikationen. erhöhte Anfälligkeit für virale Infekte. Weitere häufig assoziierte Krankheitszeichen sind eine verzögerte 4. Weitere seltenere humorale Defekte Narbenbildung, Ekzeme, Stomatitis und Wachstums- Die Agammaglobulinämie gehört den selteneren und störung. Als Laborbefunde findet man eine Neutrope- schwerer verlaufenden humoralen Defekten an. Sie nie, einen abnormen DHR-Test und häufig persistie- zeichnet sich durch das Fehlen von B-Lymphozyten rende Entzündungsparameter. aus. Die häufigste Form ist die X-chromosomale Agam- maglobulinämie (Bruton-Krankheit), die 1 Knabe auf Komplementdefekte 190’000 trifft. Oft treten Infektionen beim Säugling Komplementdefekte sind selten und stellen weniger schon ab dem 3. Lebensmonat (mit dem Verschwin- als 1% der primären Immundefekte dar1,27). Die De- den der mütterlichen IgG) auf, im Allgemeinen vor dem fekte des klassischen Weges (C1q, C2, C4) prädispo- Alter von 5 Jahren21). Die Krankheit muss bei einem nieren, zusätzlich zum erhöhten Risiko bakterieller In- männlichen Säugling ohne Tonsillen, sehr tiefen IgG-, fektionen, zu Autoimmunkrankheiten, insbesondere IgA- und IgM-Werten und einer stark erniedrigten zu einem Systemischen Lupus Erythematodes28). B-Lymphozytenzahl (
Fortbildung Viren der Herpesfamilie aus (HSV, EBV, CMV, VZV), so- Schlussfolgerung wie einer vermehrten Neigung, Tumoren und eine Au- toimmunität zu entwickeln 30). Die Betreuung von Patienten mit einem Immundefekt ist komplex. In vielen Fällen sind sie nicht nur anfälli- ger für Infektionen, sondern haben auch ein erhöhtes Risiko für Autoimmun-, atopische und/oder Krebs- Die Rolle des Pädiaters bei krankheiten. Die Warnsignale sind eine Hilfe für den Praxispädiater und die Bevölkerung, um Kinder mit ei- der Betreuung von Patienten mit nem Immundefektrisiko zu erkennen, es sind hinge- einem primären Immundefekt gen keine strikten diagnostischen Kriterien. Es ist in der Tat nicht die Anzahl der Mittelohrentzündungen, Die Rolle des Pädiaters ist bei der Betreuung von Pa- die den Verdacht des Kinderarztes auf einen Immun- tienten mit einem primären Immundefekt wichtig, um defekt wecken soll, es ist das Aufeinandertreffen ver- die notwendigen Impfungen durchzuführen und bei schiedener Symptome, was ihn dazu bringen soll, Infektionen und Epidemien eingreifen zu können, um Anamnese und klinische Untersuchung zu vertiefen, proaktiv Wachstum und Entwicklung zu überwachen, und erste Laborabklärungen zu veranlassen. und die psychosozialen Auswirkungen zu erfassen. Genauere Angaben zu den wichtigsten Punkten sind Gewisse Patienten mit einem Immundefekt wer- in Tabelle 3 zusammengefasst. den regelmässig von Fachärzten gesehen - die Rolle Impfungen Grippe jährlich COVID-19* RSV (Pavalizumab), insbesondere bei T-Lymphozytendefekt Meningokokken der Gruppe A,C,W,Y und B, insbersondere bei Komplementdefekt Abgeschwächte Lebendimpfstoffe, zugelassen oder nicht ** Zusätzliche Dosis (Schema 3+1 eher als 2+1) Impfung des näheren Umfeldes Infektionen/Epidemie Bei Infektion rasche Beurteilung der Situation Termine mit beschränktem Kontakt im Wartezimmer Wachsamkeit bei Varizellen- oder Masernepidemien Wachstum/Entwicklung Früherkennen von Wachstumstörungen Früherkennen von Schulschwierigkeiten (Absenteismus, kognitive Auswirkungen) Psychosozial Evaluation der Compliance (prophylaktische Medikamente, Immunoglobulinsubstitution) Psychologische Auswirkungen von Krankheit/Anderssein Finanzielle Auswirkungen für Eltern die oft vom Arbeitsplatz fernbleiben müssen Schulnetzwerk - Einbezug des schulärztlichen Dienstes Ressources für die Patienten: SVAI, IPOPI, Jeffrey Modell Foundation, Immune Deficiency Foundation * Die Impfung wird auch bei einem humoralen Immundefekt empfohlen, da eine T-Antwort stattfindet ** Lebendimpfstoffe müssen von Fall zu Fall diskutiert werden. Sie sind insbesondere bei schwerem zellulärem oder humoralem Defekt kontraindiziert. Tabelle 3. Zentrale Rolle des Praxispädiaters Vol. 33 | 2-2022 31
Fortbildung des Pädiaters bleibt zentral, um die Informationen zu- sammenzufassen, um bei einer Infektion oder bei Epi- demien rasch für den Patienten verfügbar zu sein, um sich zu vergewissern, dass die Medikamente korrekt eingenommen werden, um die notwendigen Impfun- gen vorzunehmen und schliesslich, um die Auswirkun- gen der Krankheit auf Wachstum, Entwicklung und psychosoziale Situation zu erfassen. Für das Literaturverzeichnis verweisen wir auf unsere Online Version des Artikels. Autoren Dr med. Tiphaine Arlabosse, Unité d’immunologie, allergologie et rhumatologie pédiatrique, Service de Pédiatrie, Département Femme-Mère-Enfant, CHUV, Lausanne Dr med. Katerina Theodoropoulou, Unité d’immunologie, allergologie et rhumatologie pédiatrique, Service de Pédiatrie, Département Femme-Mère-Enfant, CHUV, Lausanne Prof. Dr med. Fabio Candotti, Service d’immunologie et allergie, CHUV et UNIL, Lausanne Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 32 Vol. 33 | 2-2022
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