DIE CORONA-TRANSFORMATION - MEGATRENDBRIEF - BERTELSMANN STIFTUNG

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DIE CORONA-TRANSFORMATION - MEGATRENDBRIEF - BERTELSMANN STIFTUNG
MegatrendBrief

                   Die Corona-Transformation
  Wie die Pandemie die Globalisierung bremst und
           die Digitalisierung beschleunigt
                                Thieß Petersen und Christian Bluth

       Der Megatrend-Report „Die Corona-Transformation“ untersucht zentrale
     Veränderungen der Megatrends Globalisierung und Digitalisierung in Folge der
       Corona-Pandemie. Er beleuchtet auch Wechselwirkungen zwischen diesen
    besonders von der Krise betroffenen Megatrends mit dem demografischen Wandel
     und Auswirkungen für unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Schließlich
                 stellt er fünf Thesen zur Zukunft der Megatrends auf.

I. Megatrends – Worum geht es?                       – nicht minder wichtige – Megathemen wie etwa
                                                     den Klimawandel. Trends dieser Art verändern
Ein Megatrend beschreibt einen lang anhaltenden      das Leben aller Menschen weltweit, haben für
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politi-     verschiedene Regionen und Personengruppen
schen Veränderungsprozess, der zahlreiche            aber unterschiedliche Auswirkungen.
Lebensbereiche wie Arbeitswelt, Konsum- und
Freizeitverhalten, Gesundheit, Bildung, kulturelle   Globalisierung wird als die weltweit zunehmende
Identität und politische Teilhabe erheblich beein-   wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle
flusst.                                              Verflechtung der Länder und Menschen
                                                     verstanden. Die ökonomische Globalisierung
Im Zentrum dieses Reports stehen Globalisierung      betrifft die internationale Arbeitsteilung und den
und Digitalisierung als von der Corona-Krise         grenzüberschreitenden Handel mit Sachgütern,
besonders     stark   betroffene  Megatrends.        Dienstleistungen, Kapital, Arbeitskräften, Techno-
Gleichzeitig beleuchten wir aber auch wichtige       logien und Wissen.
Wechselwirkungen mit dem demografischen
Wandel. Einzeln und im Zusammenspiel nehmen          Die Digitalisierung betrifft die weltweite Aus-
diese Megatrends aber auch Einfluss auf andere       breitung der Informations- und Kommunikations-
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technologien. Damit verbunden sind Ver-             erwartenden BIP-Einbrüche werden weltweit
netzungs- und Beschleunigungstendenzen, die         höher ausfallen als bei einer Wirtschaftskrise, die
erhebliche Veränderungen in den politischen,        nur einen Nachfragerückgang nach sich zieht –
sozialen,   kulturellen  und     wirtschaftlichen   also auch höher als im Zuge der weltweiten
Strukturen von Gesellschaften hervorrufen.          Rezession nach der Lehman-Pleite im Herbst
                                                    2008. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das
Der demografische Wandel beschreibt die             weltwirtschaftliche Umfeld bereits vor Ausbruch
Veränderung der Bevölkerung in Umfang und           der    Pandemie      eingetrübt    hatte   (Brexit,
Struktur. Dieser Wandel hat drei Ursachen: die      Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und
Geburtenrate, die Lebenserwartung und die           China, drohende amerikanische Strafzölle auf
weltweiten Wanderungsbewegungen.                    Produkte der EU etc.).

II. Pandenomics – Auswirkungen der                  Das Ausmaß der zu befürchtenden wirtschaft-
    Corona-Pandemie auf die Weltwirt-               lichen Einbußen zeigt der Vergleich der BIP-
    schaft                                          Entwicklungen des Jahres 2009 mit den
                                                    erwarteten Veränderungsraten für 2020 (siehe
Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste            Abb. 1). Während der Lehman-Pleite sank das
globale Wirtschaftskrise ist nach der geplatzten    weltweite BIP um lediglich 0,1 Prozent. Für 2020
Dotcom-Blase Anfang der 2000er-Jahre und der        geht der Internationale Währungsfonds (IMF) in
Lehman-Pleite 2008/09 schon die dritte große        seiner im Juni 2020 veröffentlichten Prognose
Wirtschaftskrise dieses Jahrhunderts. Die beiden    dagegen von einem weltweiten BIP-Rückgang in
ersten Krisen waren das Ergebnis einer              Höhe von fast fünf Prozent aus. Auch für
geplatzten Spekulationsblase, wodurch es zu         Deutschland wird für 2020 ein stärkerer Wachs-
einem abrupten Nachfragerückgang nach Gütern        tumseinbruch als 2009 erwartet (7,8 Prozent statt
und Dienstleistungen kam. Eine Pandemie ist         5,7 Prozent).
hingegen ein exogener Schock, der nicht nur
einen Nachfrageeinbruch, sondern auch noch          Nicht nur durch ihr Ausmaß wird es schwieriger
einen Produktionsrückgang hervorruft.               die aktuelle Weltwirtschaftskrise zu überwinden
                                                    als die beiden vorhergehenden Krisen. Die zur
Der Umstand, dass es in nahezu allen                Verfügung stehenden geld- und fiskalpolitischen
Volkswirtschaften der Welt sowohl zu einer          Maßnahmen sind nun weniger wirksam als bei
Nachfragekrise als auch zu einer Angebotskrise      einer reinen Nachfragekrise. Wegen des bereits
kommt, hat eine bedenkliche Auswirkung: Die zu      erreichten niedrigen Zinsniveaus und der
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Schwere der wirtschaftlichen Schäden werden die        Dadurch lässt sich – wenn auch nicht in allen, so
erforderlichen    staatlichen   Konjunkturpakete       doch in sehr vielen Bereichen – die Krisen-
weltweit wesentlich größer ausfallen als nach der      anfälligkeit im Fall einer erneuten Epidemie oder
Lehman-Pleite. Die Staatsschulden werden folg-         Pandemie verringern (vgl. Petersen 2020). Den
lich wegen der erforderlichen Stützungsmaß-            pandemiebedingten Nachfragerückgängen kann
nahmen weiter ansteigen. Dennoch sind sie              – zumindest in einigen Bereichen – durch das
unvermeidlich, da ohne sie ein dauerhafter             Ausweichen auf den Online-Handel entgegen-
wirtschaftlicher Absturz mit erheblichen sozialen      gewirkt werden. Digitale Lösungen können zudem
Spannungen droht.                                      ein Instrument sein, um auf die gesund-
                                                       heitsbedingten Ausfälle von Arbeitskräften zu
Offen ist, ob sich aus der Kombination von             reagieren und somit der Angebotskrise entgegen-
massiven Wirtschaftseinbrüchen und stark               zuwirken. Eine in diesem Kontext intensiv ge-
steigenden Schulden – nicht nur bei den                nutzte Maßnahme ist das Arbeiten im Homeoffice.
Regierungen, sondern auch bei den Unter-
nehmen – eine Finanzmarktkrise ergibt.                 Eine weitere, eher mittelfristige Reaktion auf die
Stabilisierend wirkt die Ankündigung der meisten       Erfahrungen mit der Corona-Pandemie besteht
Zentralbanken, Staats- und Unternehmens-               darin, dass Unternehmen in der Produktion
anleihen auf den Wertpapiermärkten zu kaufen           verstärkt Maschinen, Roboter und andere digitale
und damit die Finanzmärkte zu stärken. Die             Technologien einsetzen. Eine solche Automati-
Geldpolitik flankiert so gesehen die expansive         sierung ersetzt menschliche Arbeitskräfte und
Fiskalpolitik. Dieses Zusammenspiel von Geld-          reduziert damit die Abhängigkeit von ihnen.
und Fiskalpolitik dürfte ein wesentlicher Grund        Dieser Trend ist bereits in vollem Gange, weil
dafür sein, dass es bei den meisten Börsen nach        digitale Technologien zu erheblichen Pro-
einem massiven Kursabsturz rasch wieder                duktivitätsfortschritten   und    damit     Kosten-
aufwärtsging. Allerdings ist diese Geldpolitik nicht   senkungen führen. Das Argument, diese Techno-
ganz ungefährlich: Sie pumpt riesige Geld-             logien zur Steigerung der Krisenresilienz in der
mengen in das Wirtschaftssystem und stellt             Produktion einzusetzen, wirkt als zusätzliches
dadurch die monetäre Basis für weitere                 Motiv. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht
Spekulationsblasen bereit.                             alle Branchen und Unternehmen die gleichen
                                                       Möglichkeiten haben, digitale Technologien zur
Die Corona-Pandemie ist längst noch nicht              Reduzierung der Krisenanfälligkeit einzusetzen.
beendet und es wird voraussichtlich Jahre
dauern, bis alle ökonomischen und sozialen             Daraus können sich neue soziale Spannungen
Schäden einigermaßen behoben sind. Angesichts          ergeben (vgl. auch erste Ausgabe des
der Schwere der wirtschaftlichen Krise und der         Megatrend-Reports, Bertelsmann Stiftung 2019,
gewaltigen Anstrengungen zu deren Bewältigung          S. 61 f., 72 f.). Während Hersteller:innen von
dürfte klar sein, dass dieses einschneidende           physischen Gütern auf den Online-Handel
Ereignis langfristige Veränderungen für unser          zurückgreifen können, ist dies bei zahlreichen
Wirtschaftsleben mit sich bringen wird. Aus Sicht      Formen des sogenannten sozialen Konsums –
der Megatrends spielen zwei von uns erwartete          vor allem beim Tourismus – nicht möglich. Die
Entwicklungen eine besondere Rolle: eine durch         Anbieter:innen derartiger Konsumaktivitäten (und
die Corona-Pandemie zusätzlich beschleunigte           die bei ihnen beschäftigten Personen) tragen
Digitalisierung der Wirtschaft sowie eine              folglich ein größeres Risiko, bei der noch nicht
Verkürzung der globalen Wertschöpfungsketten.          überwundenen sowie bei einer zukünftigen
                                                       Pandemie Einkommenseinbußen einstecken zu
III. Die Corona-Pandemie als Katalysator               müssen. Erschwerend kommt beim sozialen
     für die Digitalisierung der Wirtschaft            Konsum hinzu, dass – wiederum anders als bei
                                                       physischen Produkten – ein Nachholen des
Die Corona-Pandemie kann aufgrund ihrer                epidemiebedingten Konsumverzichts nur schwer
Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben ein              oder gar nicht möglich ist. Das erhöht die
zusätzlicher Anreiz für Unternehmen sein,              wirtschaftlichen Schäden für die Unternehmen
verstärkt digitale Technologien einzusetzen.           und Angestellten in diesen Branchen.
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Auch die Möglichkeiten, berufliche Tätigkeiten in      Die voranschreitende Digitalisierung stärkt nicht
der eigenen Wohnung auszuüben, sind in der             nur die Krisenresilienz, sie verringert auch die
Gesellschaft ungleich verteilt. Vor allem im           Kosten des grenzüberschreitenden Handels.
Bereich der personennahen Dienstleistungen –           International wettbewerbsfähige Unternehmen
etwa der Friseurarbeit sowie großen Teilen des         können so ihre Exporte und Beschäftigung
Gesundheits- und Pflegebereichs – ist diese Form       steigern. Gleichzeitig nimmt der Wettbewerbs-
der Arbeit nicht möglich. Für die Wirtschaftspolitik   druck durch ausländische Anbieter:innen zu. Das
bedeutet dies: Diejenigen, die im Rahmen einer         beschleunigt den strukturellen Wandel der
angemessenen Krisenprävention keine digitalen          gesamten Volkswirtschaft – und kann für be-
Technologien einsetzen können (oder nur                stimmte Regionen oder Personen Einkommens-
eingeschränkt), müssen im Fall einer erneuten          verluste bedeuten (Abb. 2).

Krise mit ausreichenden finanziellen Mitteln bei       IV. Die Corona-Pandemie und die Zukunft
der Einkommenssicherung unterstützt werden.                von „Made in the World“

Neben diesen produkt- bzw. tätigkeitsbedingten         Die Corona-Pandemie hat in Handels- und
Unterschieden sind auch die divergierenden             Produktionsnetzwerken ein großes Durch-
finanziellen Möglichkeiten der Unternehmen zur         einander angerichtet und die Lockdown-
Durchführung von Investitionen zu berück-              Maßnahmen in vielen Ländern weltweit haben
sichtigen: Wer bereits digitale Technologien           kurzfristig zu Produktions- und Nachfrage-
einsetzt und deshalb einigermaßen gut durch die        schwierigkeiten geführt. Nun denken Unter-
Wirtschaftskrise kommt, kann diesen Vorteil            nehmen darüber nach, wie Produktionsketten
durch weitere Investitionen in Roboter,                weniger krisenanfällig gestaltet werden können.
Maschinen und Software ausbauen. Unter-                Damit soll die Resilienz, also die Fähigkeit, eine
nehmen, die wegen eines nur geringeren                 Krise zunächst gut zu überstehen und sich
Digitalisierungsgrads geschwächt aus der               danach schnell davon zu erholen, gefördert
Corona-Krise herauskommen, haben diese                 werden. Wahrscheinlich wird sich herausstellen,
Möglichkeiten nicht. Die digitale Spaltung der         dass sich die Pandemie wie ein Katalysator auf
Unternehmen, die immer auch die dort                   eine Reorganisation von globalen Produktions-
beschäftigten Menschen betrifft, wird also größer.     netzwerken auswirkt. Das Corona-Virus verstärkt
                                                       deutlich die Notwendigkeit, auf alte und neue
                                                       Megatrends zu reagieren.
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Es ist zur Normalität geworden, dass wir in einer     die die klassische liberale Globalisierung immer
Welt     von      grenzüberschreitenden       Wert-   mehr zurückdrängt. In dieser Form der Glo-
schöpfungsketten leben. Aus ökonomischer Sicht        balisierung verfolgt Handelspolitik nicht mehr
macht eine solch feingliedrige Aufteilung von         primär das Ziel der Wohlstandssteigerung,
Produktionsschritten Sinn, weil sie eine              sondern ist auf eine Ausweitung des politischen
besonders effiziente Produktion ermöglicht. Doch      Einflusses ausgerichtet.
diese Erfolgsstory hat auch ihre Schattenseiten.
In weiten Teilen der Industrieländer war auch         Auch ohne das Erstarken der Geoökonomie und
schon vor der Corona-Krise eine zunehmende            das Eintreten der Corona-Pandemie hätte sich
Anti-Globalisierungsstimmung bemerkbar. Zwar          das Gefüge der internationalen Wertschöpfungs-
ist die Einstellung zu Handel und Globalisierung      ketten sehr wahrscheinlich verändert. Auslöser
generell weiterhin positiv, aber in Details zeigen    hierfür wären insbesondere die Trends hin zu
sich Besorgnisse der Bevölkerung (siehe Abb. 3).      einer verstärkten Automatisierung der Produktion
Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Ein            und zur Individualisierung von Produkten
erheblicher Teil der Bevölkerung fühlt sich von der   gewesen. Für eine Produktion mit einem hohen
jeweiligen nationalen Regierung nur un-               Automatisierungsgrad sind die Arbeitskosten
zureichend gegen mögliche negative Effekte der        logischerweise nicht mehr der bestimmende
Globalisierung abgesichert (vgl. Bluth 2018) –        Faktor dafür, wo sich der Produktionsstandort
eine Tendenz, die sich in Folge der Krise             befindet. Stattdessen geraten andere Faktoren in
verstärken könnte.                                    den Vordergrund. Zu diesen gehören ins-
                                                      besondere „Time to Market“ sowie die Ver-
Diese Abhängigkeiten durch die Spezialisierung        fügbarkeit von guter – vor allem digitaler – Infra-
von Produktionsnetzwerken können außerdem             struktur. Gleichzeitig verändert sich die Art der
auch strategisch eingesetzt werden („Wea-             Produktion. Statt eine große Anzahl von Gütern
ponized     Interdependence“,   frei  übersetzt       für eine erwartete Nachfrage herzustellen, wird
„erpresserische Abhängigkeit“, vgl. Farrell und       zunehmend in kleinen Losgrößen für die
Newman 2019). Die Bedeutung von wirtschaft-           tatsächliche Nachfrage produziert.
lichen Abhängigkeiten wurde insbesondere in den
frühen Wochen der Corona-Pandemie sichtbar.           Die COVID-19-Ausbreitung wird wahrscheinlich
So kam es aufgrund der Lockdown-Maßnahmen             nicht die letzte weltweite Epidemie sein. Es ist
bei Handelspartnern zu Produktions- und Liefer-       sogar damit zu rechnen, dass die sich weiter
schwierigkeiten. Die Exportverbote für medi-          fortsetzende Urbanisierung und Wohlstands-
zinische Güter und teilweise für Nahrungsmittel       vermehrung in Kombination mit der hohen
kamen erschwerend hinzu. Hier kommt eine              internationalen Mobilität zu weiteren Epidemien
geoökonomische Globalisierung zum Ausdruck,           führen wird. Epidemien sind ein neuer Megatrend.
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Die Notwendigkeit, resiliente Systeme zu               Kernherausforderung für die digitale Souveränität
schaffen, steigt damit zusätzlich. Vorratshaltung      Europas ist entsprechend, seine Abhängigkeit
ist eine Möglichkeit, allerdings in der Praxis         von Dritten im Bereich digitaler Technologien und
schwer umzusetzen, da für zukünftige Epidemien         Geschäftsmodelle zu vermindern. Angesichts der
nicht abgesehen werden kann, welche Güter in           coronabedingt zu erwartenden Beschleunigung
welcher Menge gebraucht werden. Ähnlich                der Digitalisierung und des damit einhergehenden
verhält es sich mit dem Vorhalten von                  Strukturwandels ist die Frage der digitalen
Produktionskapazitäten – auch hier ist im Vor-         Souveränität relevanter denn je. Europa sollte die
hinein nicht klar, welche Kapazitäten notwendig        Pandemie als Weckruf begreifen und den
sind. Eine bessere Strategie ist es, das Risiko zu     digitalen Wandel gleicher-maßen aktiv wie
diversifizieren. Sie ist darauf ausgerichtet, nicht    wertebasiert und zielgerichtet vorantreiben, um
von einem bestimmten Zulieferer oder einer             kritische Abhängigkeiten von Dritten zu
bestimmten Region abhängig zu sein, sondern            reduzieren. Aus einer solchen „smarten Resilienz“
über ein möglichst breites Netz an Zuliefer-           kann mittel- bis langfristig eine Steigerung der
kapazitäten zu verfügen.                               europäischen Wettbewerbsfähigkeit und in
                                                       diesem Zuge auch der sozialen Teilhabechancen
„Just in Time“ war lange der Slogan der modernen       aller Europäer:innen erwachsen.
Produktion. Die Lagerhaltung wurde vor allem als
überflüssiger Kostenfaktor angesehen und die           2. Die internationale Arbeitsteilung gerät
Produktion auf maximale Effizienz getrimmt. Die            zunehmend unter Druck
Corona-Krise zeigt nun, dass ein solches System        Effizienz und Kostenminimierung waren bisher
verwundbar ist. Eine daraus gezogene Kon-              die maßgeblichen Aspekte für die Gestaltung der
sequenz ist, dass Unternehmen in Zukunft               internationalen Arbeitsteilung. Zukünftig dürfte
voraussichtlich weniger auf maximale Effizienz         auch die Frage der Liefersicherheit eine wichtige
achten werden, sondern eher darauf Resilienz           Rolle spielen. Daher erwarten wir eine Tendenz
sicherzustellen. Damit dies funktionieren kann,        zur weiteren Diversifikation von Wertschöpfungs-
braucht es eine Art von „Stoßdämpfer“. Ein             ketten und zur verstärkten Lagerhaltung. Aller-
solcher ist in Form von Produktionsüber-               dings sind Effizienzeinbußen der Preis für eine
kapazitäten, Lagerhaltung, Diversifizierung, Ver-      Verringerung der Abhängigkeit von den Zu-
kürzung von Lieferketten und Modernisierung            lieferungen aus dem Rest der Welt. Zudem
denkbar. An die Stelle von „Just in Time“ rückt nun    könnte die teilweise Renationalisierung von
„Just in Case“.                                        Produktionsprozessen der Startschuss für einen
                                                       weiteren Protektionismus-Wettlauf sein. Pro-
V. Fünf Thesen über die Zukunft der                    blematisch ist schließlich auch, dass deutsche
   Megatrends                                          Unternehmen bestimmte Vorleistungen aus dem
                                                       Ausland beziehen, weil die entsprechenden
Aus den oben genannten Entwicklungen ergeben           einheimischen Produkte nicht wettbewerbsfähig
sich unserer Ansicht nach fünf zentrale                oder bestimmte Ressourcen hier nicht vorhanden
Tendenzen für die zukünftige Entwicklung der           sind. Das bedeutet: Außerhalb von Krisenzeiten,
Digitalisierung, der Globalisierung und des            in denen kein Import dieser Produkte erfolgt,
demografischen Wandels:                                werden sich die Käufer:innen unter sonst gleichen
                                                       Rahmenbedingungen weiterhin bei den nach wie
1. Die Frage der digitalen Souveränität                vor existierenden preiswerteren Angeboten aus
    gewinnt an Relevanz                                dem Ausland bedienen. Deshalb wird eine sich
Eine Einheit ist digital souverän, wenn ihre           aus Gründen der Risikominimierung ab-
digitalen Abhängigkeiten das Ergebnis eines            zeichnende Relokalisierung der Herstellung von
Auswahl- und Entscheidungsprozesses sind und           bestimmten Gütern ohne irgendeine Form der
somit jederzeit abgeändert werden können. Dies         staatlichen Unterstützung kaum möglich sein.
bringt mit sich, dass die Einheit frei ist, ihre So-   Auch eine Diversifizierung von Wertschöpfungs-
zial-, Wirtschafts- und Regulierungspolitik für den    ketten, bei der nicht mehr nur Vorleistungen von
digitalen Raum so zu gestalten, dass sie ihren         einem Herkunftsland, sondern von mehreren
Werte und Zielvorstellungen entsprechen. Die           bezogen werden, ist mit Kosten verbunden.
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3. Die Bedeutung der vertikalen Industrie-            den können, und zeigt, wie wertvoll eigene
   politik nimmt zu                                   Innovationsfähigkeit im Krisenfall ist. Im Zuge der
China, die USA und andere Nationen unterstützen       zunehmenden Digitalisierung werden vor allem
zukunftsträchtige Schlüsselindustrien wie Elektro-    eigene Kapazitäten in Technologien wie
mobilität, Robotertechnologie oder Biomedizin in      künstlicher Intelligenz, 5G oder Blockchain an
erheblichem Ausmaß durch eine gezielte                Bedeutung gewinnen. Gemessen an besonders
Förderung der ausgewählten Sektoren bzw.              bedeutsamen Patenten, sind die USA in vielen
Technologien (vertikale Industriepolitik). Wenn       Zukunftstechnologien und vor allem in der Digi-
Deutschland und Europa in diesen Bereichen            talisierung Weltspitze. China hat seine Inno-
nicht den Anschluss verlieren und nicht von den       vationskraft mit einem rasanten Wachstum in den
Importen aus dem Ausland abhängig sein wollen,        vergangenen Jahren stark gesteigert. Für Europa
werden auch sie ihre Anstrengungen in der             – und noch viel mehr für Entwicklungsländer –
vertikalen Industriepolitik steigern müssen. Dabei    sind die Aussichten hingegen trüb. Sie drohen,
geht es nicht um die Kopie chinesischer oder          den Anschluss zu verlieren und sich in ein techno-
amerikanischer Ansätze, sondern vielmehr um           logisches Vasallentum zu begeben (Abb. 4).
die Entwicklung eines eigenen industrie-
politischen Ansatzes im Rahmen der Werte und          5. Der fortschreitende demografische Wandel
gesellschaftlichen Zielsetzungen der Sozialen            beinhaltet zusätzliche „Störfaktoren“
Marktwirtschaft.                                      Die demografische Alterung wird in diesem
                                                      Jahrzehnt in vielen europäischen Ländern in eine
4. Die eigene Innovationsfähigkeit wird zu            „heiße Phase“ eintreten. Mit Blick auf die
   einem zentralen Resilienzfaktor                    Bewältigung der ökonomischen Folgen der
Ganz besonders wird sich die Frage der                Corona-Krise und die Errichtung krisenresilienter
Industriepolitik im Innovationsbereich stellen. Der   Strukturen ergeben sich dadurch zusätzliche
sich intensivierende Hegemonialkonflikt zwischen      „Störfaktoren“: Bereits im Verlauf der 2020er-
China und den USA sorgt für eine Verschärfung         Jahre werden die Alterung und Schrumpfung der
des Innovationswettbewerbs zwischen diesen            Erwerbsbevölkerung das Wirtschaftswachstum in
beiden Staaten. Zunehmend bilden sich eigene          Deutschland dämpfen (Abb. 5). Erschwerend
technologische Einflusssphären heraus, in denen       kommt hinzu, dass mit dem demografischen
entweder chinesische oder amerikanische               Wandel die Staatsausgaben zusätzlich steigen.
Standards gelten und die technologischen Ent-         Bei der Diskussion um die Relokalisierung der
wicklungen aus einem dieser Länder dominieren.        Herstellung bestimmter Güter muss berück-
Mit der Corona-Krise verstärkt sich dieser Trend      sichtigt werden, dass Deutschland auf eine Phase
weiter: Sie verdeutlicht, wie schnell Staaten von     des akuten Fachkräftemangels zusteuert.
ausländischen Innovationen abgeschnitten wer-         Werden Produktionsprozesse auf breiter Basis
MegatrendBrief | Seite 8

automatisiert, können sich daraus weitreichende
Konsequenzen für die lohnbezogene und
                                                      Impressum
beitragsbasierte Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme ergeben und grundlegende            © September 2020
Strukturreformen nötig werden. Schließlich sinkt      Bertelsmann Stiftung
bei den öffentlichen Finanzen der Spielraum,          Carl-Bertelsmann-Straße 256
sodass es zukünftig umso mehr darauf ankommt,         33311 Gütersloh
diese sozialverträglich auf Zukunftsinvestitionen     Telefon +49 5241 81-0
und     die    Gewährleistung   altersbezogener       www.bertelsmann-stiftung.de
Sicherungsleistungen zu verteilen. Dies wird
                                                      Verantwortlich
politisch eine besonders große Herausforderung,
                                                      Andreas Esche
da die höheren Altersgruppen einen stetig             Ralph Müller-Eiselt
zunehmenden Teil der Wähler:innen ausmachen.
                                                      Autoren
Diese und weitere Entwicklungen führen zu einem       Dr. Thieß Petersen
gravierenden Strukturwandel von Wirtschaft und        Senior Advisor
Gesellschaft – und bringen für die Bürger:innen       Programm Megatrends
erhebliche Anpassungen mit sich. Die ohnehin          Telefon +49 5241 81-81218
schon hohen Anforderungen an eine Flankierung         thiess.petersen@bertelsmann-stiftung.de
dieser Veränderungen durch sozial- und bildungs-
                                                      Dr. Christian Bluth
politische Maßnahmen werden dadurch noch
                                                      Project Manager
größer. Dennoch ist sie erforderlich, denn sonst      Programm Megatrends
droht eine Blockadehaltung breiter Bevölkerungs-      Telefon +49 5241 81-81329
schichten.                                            christian.bluth@bertelsmann-stiftung.de

Literatur                                             Projektunterstützung
                                                      Sabine Feige
Dieser Megatrend-Brief basiert auf der                Carina Wegener
ausführlichen Version folgender Publikation:
                                                      Titelbild
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2020). „Die Corona-     Getty Images/iStockphoto/imaginima
Transformation“.     Megatrend-Report       #02“.
Gütersloh.
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