DIE CORONA-TRANSFORMATION - MEGATRENDBRIEF - BERTELSMANN STIFTUNG
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MegatrendBrief Die Corona-Transformation Wie die Pandemie die Globalisierung bremst und die Digitalisierung beschleunigt Thieß Petersen und Christian Bluth Der Megatrend-Report „Die Corona-Transformation“ untersucht zentrale Veränderungen der Megatrends Globalisierung und Digitalisierung in Folge der Corona-Pandemie. Er beleuchtet auch Wechselwirkungen zwischen diesen besonders von der Krise betroffenen Megatrends mit dem demografischen Wandel und Auswirkungen für unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Schließlich stellt er fünf Thesen zur Zukunft der Megatrends auf. I. Megatrends – Worum geht es? – nicht minder wichtige – Megathemen wie etwa den Klimawandel. Trends dieser Art verändern Ein Megatrend beschreibt einen lang anhaltenden das Leben aller Menschen weltweit, haben für gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politi- verschiedene Regionen und Personengruppen schen Veränderungsprozess, der zahlreiche aber unterschiedliche Auswirkungen. Lebensbereiche wie Arbeitswelt, Konsum- und Freizeitverhalten, Gesundheit, Bildung, kulturelle Globalisierung wird als die weltweit zunehmende Identität und politische Teilhabe erheblich beein- wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle flusst. Verflechtung der Länder und Menschen verstanden. Die ökonomische Globalisierung Im Zentrum dieses Reports stehen Globalisierung betrifft die internationale Arbeitsteilung und den und Digitalisierung als von der Corona-Krise grenzüberschreitenden Handel mit Sachgütern, besonders stark betroffene Megatrends. Dienstleistungen, Kapital, Arbeitskräften, Techno- Gleichzeitig beleuchten wir aber auch wichtige logien und Wissen. Wechselwirkungen mit dem demografischen Wandel. Einzeln und im Zusammenspiel nehmen Die Digitalisierung betrifft die weltweite Aus- diese Megatrends aber auch Einfluss auf andere breitung der Informations- und Kommunikations-
MegatrendBrief | Seite 2 technologien. Damit verbunden sind Ver- erwartenden BIP-Einbrüche werden weltweit netzungs- und Beschleunigungstendenzen, die höher ausfallen als bei einer Wirtschaftskrise, die erhebliche Veränderungen in den politischen, nur einen Nachfragerückgang nach sich zieht – sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen also auch höher als im Zuge der weltweiten Strukturen von Gesellschaften hervorrufen. Rezession nach der Lehman-Pleite im Herbst 2008. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das Der demografische Wandel beschreibt die weltwirtschaftliche Umfeld bereits vor Ausbruch Veränderung der Bevölkerung in Umfang und der Pandemie eingetrübt hatte (Brexit, Struktur. Dieser Wandel hat drei Ursachen: die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und Geburtenrate, die Lebenserwartung und die China, drohende amerikanische Strafzölle auf weltweiten Wanderungsbewegungen. Produkte der EU etc.). II. Pandenomics – Auswirkungen der Das Ausmaß der zu befürchtenden wirtschaft- Corona-Pandemie auf die Weltwirt- lichen Einbußen zeigt der Vergleich der BIP- schaft Entwicklungen des Jahres 2009 mit den erwarteten Veränderungsraten für 2020 (siehe Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Abb. 1). Während der Lehman-Pleite sank das globale Wirtschaftskrise ist nach der geplatzten weltweite BIP um lediglich 0,1 Prozent. Für 2020 Dotcom-Blase Anfang der 2000er-Jahre und der geht der Internationale Währungsfonds (IMF) in Lehman-Pleite 2008/09 schon die dritte große seiner im Juni 2020 veröffentlichten Prognose Wirtschaftskrise dieses Jahrhunderts. Die beiden dagegen von einem weltweiten BIP-Rückgang in ersten Krisen waren das Ergebnis einer Höhe von fast fünf Prozent aus. Auch für geplatzten Spekulationsblase, wodurch es zu Deutschland wird für 2020 ein stärkerer Wachs- einem abrupten Nachfragerückgang nach Gütern tumseinbruch als 2009 erwartet (7,8 Prozent statt und Dienstleistungen kam. Eine Pandemie ist 5,7 Prozent). hingegen ein exogener Schock, der nicht nur einen Nachfrageeinbruch, sondern auch noch Nicht nur durch ihr Ausmaß wird es schwieriger einen Produktionsrückgang hervorruft. die aktuelle Weltwirtschaftskrise zu überwinden als die beiden vorhergehenden Krisen. Die zur Der Umstand, dass es in nahezu allen Verfügung stehenden geld- und fiskalpolitischen Volkswirtschaften der Welt sowohl zu einer Maßnahmen sind nun weniger wirksam als bei Nachfragekrise als auch zu einer Angebotskrise einer reinen Nachfragekrise. Wegen des bereits kommt, hat eine bedenkliche Auswirkung: Die zu erreichten niedrigen Zinsniveaus und der
MegatrendBrief | Seite 3 Schwere der wirtschaftlichen Schäden werden die Dadurch lässt sich – wenn auch nicht in allen, so erforderlichen staatlichen Konjunkturpakete doch in sehr vielen Bereichen – die Krisen- weltweit wesentlich größer ausfallen als nach der anfälligkeit im Fall einer erneuten Epidemie oder Lehman-Pleite. Die Staatsschulden werden folg- Pandemie verringern (vgl. Petersen 2020). Den lich wegen der erforderlichen Stützungsmaß- pandemiebedingten Nachfragerückgängen kann nahmen weiter ansteigen. Dennoch sind sie – zumindest in einigen Bereichen – durch das unvermeidlich, da ohne sie ein dauerhafter Ausweichen auf den Online-Handel entgegen- wirtschaftlicher Absturz mit erheblichen sozialen gewirkt werden. Digitale Lösungen können zudem Spannungen droht. ein Instrument sein, um auf die gesund- heitsbedingten Ausfälle von Arbeitskräften zu Offen ist, ob sich aus der Kombination von reagieren und somit der Angebotskrise entgegen- massiven Wirtschaftseinbrüchen und stark zuwirken. Eine in diesem Kontext intensiv ge- steigenden Schulden – nicht nur bei den nutzte Maßnahme ist das Arbeiten im Homeoffice. Regierungen, sondern auch bei den Unter- nehmen – eine Finanzmarktkrise ergibt. Eine weitere, eher mittelfristige Reaktion auf die Stabilisierend wirkt die Ankündigung der meisten Erfahrungen mit der Corona-Pandemie besteht Zentralbanken, Staats- und Unternehmens- darin, dass Unternehmen in der Produktion anleihen auf den Wertpapiermärkten zu kaufen verstärkt Maschinen, Roboter und andere digitale und damit die Finanzmärkte zu stärken. Die Technologien einsetzen. Eine solche Automati- Geldpolitik flankiert so gesehen die expansive sierung ersetzt menschliche Arbeitskräfte und Fiskalpolitik. Dieses Zusammenspiel von Geld- reduziert damit die Abhängigkeit von ihnen. und Fiskalpolitik dürfte ein wesentlicher Grund Dieser Trend ist bereits in vollem Gange, weil dafür sein, dass es bei den meisten Börsen nach digitale Technologien zu erheblichen Pro- einem massiven Kursabsturz rasch wieder duktivitätsfortschritten und damit Kosten- aufwärtsging. Allerdings ist diese Geldpolitik nicht senkungen führen. Das Argument, diese Techno- ganz ungefährlich: Sie pumpt riesige Geld- logien zur Steigerung der Krisenresilienz in der mengen in das Wirtschaftssystem und stellt Produktion einzusetzen, wirkt als zusätzliches dadurch die monetäre Basis für weitere Motiv. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht Spekulationsblasen bereit. alle Branchen und Unternehmen die gleichen Möglichkeiten haben, digitale Technologien zur Die Corona-Pandemie ist längst noch nicht Reduzierung der Krisenanfälligkeit einzusetzen. beendet und es wird voraussichtlich Jahre dauern, bis alle ökonomischen und sozialen Daraus können sich neue soziale Spannungen Schäden einigermaßen behoben sind. Angesichts ergeben (vgl. auch erste Ausgabe des der Schwere der wirtschaftlichen Krise und der Megatrend-Reports, Bertelsmann Stiftung 2019, gewaltigen Anstrengungen zu deren Bewältigung S. 61 f., 72 f.). Während Hersteller:innen von dürfte klar sein, dass dieses einschneidende physischen Gütern auf den Online-Handel Ereignis langfristige Veränderungen für unser zurückgreifen können, ist dies bei zahlreichen Wirtschaftsleben mit sich bringen wird. Aus Sicht Formen des sogenannten sozialen Konsums – der Megatrends spielen zwei von uns erwartete vor allem beim Tourismus – nicht möglich. Die Entwicklungen eine besondere Rolle: eine durch Anbieter:innen derartiger Konsumaktivitäten (und die Corona-Pandemie zusätzlich beschleunigte die bei ihnen beschäftigten Personen) tragen Digitalisierung der Wirtschaft sowie eine folglich ein größeres Risiko, bei der noch nicht Verkürzung der globalen Wertschöpfungsketten. überwundenen sowie bei einer zukünftigen Pandemie Einkommenseinbußen einstecken zu III. Die Corona-Pandemie als Katalysator müssen. Erschwerend kommt beim sozialen für die Digitalisierung der Wirtschaft Konsum hinzu, dass – wiederum anders als bei physischen Produkten – ein Nachholen des Die Corona-Pandemie kann aufgrund ihrer epidemiebedingten Konsumverzichts nur schwer Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben ein oder gar nicht möglich ist. Das erhöht die zusätzlicher Anreiz für Unternehmen sein, wirtschaftlichen Schäden für die Unternehmen verstärkt digitale Technologien einzusetzen. und Angestellten in diesen Branchen.
MegatrendBrief | Seite 4 Auch die Möglichkeiten, berufliche Tätigkeiten in Die voranschreitende Digitalisierung stärkt nicht der eigenen Wohnung auszuüben, sind in der nur die Krisenresilienz, sie verringert auch die Gesellschaft ungleich verteilt. Vor allem im Kosten des grenzüberschreitenden Handels. Bereich der personennahen Dienstleistungen – International wettbewerbsfähige Unternehmen etwa der Friseurarbeit sowie großen Teilen des können so ihre Exporte und Beschäftigung Gesundheits- und Pflegebereichs – ist diese Form steigern. Gleichzeitig nimmt der Wettbewerbs- der Arbeit nicht möglich. Für die Wirtschaftspolitik druck durch ausländische Anbieter:innen zu. Das bedeutet dies: Diejenigen, die im Rahmen einer beschleunigt den strukturellen Wandel der angemessenen Krisenprävention keine digitalen gesamten Volkswirtschaft – und kann für be- Technologien einsetzen können (oder nur stimmte Regionen oder Personen Einkommens- eingeschränkt), müssen im Fall einer erneuten verluste bedeuten (Abb. 2). Krise mit ausreichenden finanziellen Mitteln bei IV. Die Corona-Pandemie und die Zukunft der Einkommenssicherung unterstützt werden. von „Made in the World“ Neben diesen produkt- bzw. tätigkeitsbedingten Die Corona-Pandemie hat in Handels- und Unterschieden sind auch die divergierenden Produktionsnetzwerken ein großes Durch- finanziellen Möglichkeiten der Unternehmen zur einander angerichtet und die Lockdown- Durchführung von Investitionen zu berück- Maßnahmen in vielen Ländern weltweit haben sichtigen: Wer bereits digitale Technologien kurzfristig zu Produktions- und Nachfrage- einsetzt und deshalb einigermaßen gut durch die schwierigkeiten geführt. Nun denken Unter- Wirtschaftskrise kommt, kann diesen Vorteil nehmen darüber nach, wie Produktionsketten durch weitere Investitionen in Roboter, weniger krisenanfällig gestaltet werden können. Maschinen und Software ausbauen. Unter- Damit soll die Resilienz, also die Fähigkeit, eine nehmen, die wegen eines nur geringeren Krise zunächst gut zu überstehen und sich Digitalisierungsgrads geschwächt aus der danach schnell davon zu erholen, gefördert Corona-Krise herauskommen, haben diese werden. Wahrscheinlich wird sich herausstellen, Möglichkeiten nicht. Die digitale Spaltung der dass sich die Pandemie wie ein Katalysator auf Unternehmen, die immer auch die dort eine Reorganisation von globalen Produktions- beschäftigten Menschen betrifft, wird also größer. netzwerken auswirkt. Das Corona-Virus verstärkt deutlich die Notwendigkeit, auf alte und neue Megatrends zu reagieren.
MegatrendBrief | Seite 5 Es ist zur Normalität geworden, dass wir in einer die die klassische liberale Globalisierung immer Welt von grenzüberschreitenden Wert- mehr zurückdrängt. In dieser Form der Glo- schöpfungsketten leben. Aus ökonomischer Sicht balisierung verfolgt Handelspolitik nicht mehr macht eine solch feingliedrige Aufteilung von primär das Ziel der Wohlstandssteigerung, Produktionsschritten Sinn, weil sie eine sondern ist auf eine Ausweitung des politischen besonders effiziente Produktion ermöglicht. Doch Einflusses ausgerichtet. diese Erfolgsstory hat auch ihre Schattenseiten. In weiten Teilen der Industrieländer war auch Auch ohne das Erstarken der Geoökonomie und schon vor der Corona-Krise eine zunehmende das Eintreten der Corona-Pandemie hätte sich Anti-Globalisierungsstimmung bemerkbar. Zwar das Gefüge der internationalen Wertschöpfungs- ist die Einstellung zu Handel und Globalisierung ketten sehr wahrscheinlich verändert. Auslöser generell weiterhin positiv, aber in Details zeigen hierfür wären insbesondere die Trends hin zu sich Besorgnisse der Bevölkerung (siehe Abb. 3). einer verstärkten Automatisierung der Produktion Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Ein und zur Individualisierung von Produkten erheblicher Teil der Bevölkerung fühlt sich von der gewesen. Für eine Produktion mit einem hohen jeweiligen nationalen Regierung nur un- Automatisierungsgrad sind die Arbeitskosten zureichend gegen mögliche negative Effekte der logischerweise nicht mehr der bestimmende Globalisierung abgesichert (vgl. Bluth 2018) – Faktor dafür, wo sich der Produktionsstandort eine Tendenz, die sich in Folge der Krise befindet. Stattdessen geraten andere Faktoren in verstärken könnte. den Vordergrund. Zu diesen gehören ins- besondere „Time to Market“ sowie die Ver- Diese Abhängigkeiten durch die Spezialisierung fügbarkeit von guter – vor allem digitaler – Infra- von Produktionsnetzwerken können außerdem struktur. Gleichzeitig verändert sich die Art der auch strategisch eingesetzt werden („Wea- Produktion. Statt eine große Anzahl von Gütern ponized Interdependence“, frei übersetzt für eine erwartete Nachfrage herzustellen, wird „erpresserische Abhängigkeit“, vgl. Farrell und zunehmend in kleinen Losgrößen für die Newman 2019). Die Bedeutung von wirtschaft- tatsächliche Nachfrage produziert. lichen Abhängigkeiten wurde insbesondere in den frühen Wochen der Corona-Pandemie sichtbar. Die COVID-19-Ausbreitung wird wahrscheinlich So kam es aufgrund der Lockdown-Maßnahmen nicht die letzte weltweite Epidemie sein. Es ist bei Handelspartnern zu Produktions- und Liefer- sogar damit zu rechnen, dass die sich weiter schwierigkeiten. Die Exportverbote für medi- fortsetzende Urbanisierung und Wohlstands- zinische Güter und teilweise für Nahrungsmittel vermehrung in Kombination mit der hohen kamen erschwerend hinzu. Hier kommt eine internationalen Mobilität zu weiteren Epidemien geoökonomische Globalisierung zum Ausdruck, führen wird. Epidemien sind ein neuer Megatrend.
MegatrendBrief | Seite 6 Die Notwendigkeit, resiliente Systeme zu Kernherausforderung für die digitale Souveränität schaffen, steigt damit zusätzlich. Vorratshaltung Europas ist entsprechend, seine Abhängigkeit ist eine Möglichkeit, allerdings in der Praxis von Dritten im Bereich digitaler Technologien und schwer umzusetzen, da für zukünftige Epidemien Geschäftsmodelle zu vermindern. Angesichts der nicht abgesehen werden kann, welche Güter in coronabedingt zu erwartenden Beschleunigung welcher Menge gebraucht werden. Ähnlich der Digitalisierung und des damit einhergehenden verhält es sich mit dem Vorhalten von Strukturwandels ist die Frage der digitalen Produktionskapazitäten – auch hier ist im Vor- Souveränität relevanter denn je. Europa sollte die hinein nicht klar, welche Kapazitäten notwendig Pandemie als Weckruf begreifen und den sind. Eine bessere Strategie ist es, das Risiko zu digitalen Wandel gleicher-maßen aktiv wie diversifizieren. Sie ist darauf ausgerichtet, nicht wertebasiert und zielgerichtet vorantreiben, um von einem bestimmten Zulieferer oder einer kritische Abhängigkeiten von Dritten zu bestimmten Region abhängig zu sein, sondern reduzieren. Aus einer solchen „smarten Resilienz“ über ein möglichst breites Netz an Zuliefer- kann mittel- bis langfristig eine Steigerung der kapazitäten zu verfügen. europäischen Wettbewerbsfähigkeit und in diesem Zuge auch der sozialen Teilhabechancen „Just in Time“ war lange der Slogan der modernen aller Europäer:innen erwachsen. Produktion. Die Lagerhaltung wurde vor allem als überflüssiger Kostenfaktor angesehen und die 2. Die internationale Arbeitsteilung gerät Produktion auf maximale Effizienz getrimmt. Die zunehmend unter Druck Corona-Krise zeigt nun, dass ein solches System Effizienz und Kostenminimierung waren bisher verwundbar ist. Eine daraus gezogene Kon- die maßgeblichen Aspekte für die Gestaltung der sequenz ist, dass Unternehmen in Zukunft internationalen Arbeitsteilung. Zukünftig dürfte voraussichtlich weniger auf maximale Effizienz auch die Frage der Liefersicherheit eine wichtige achten werden, sondern eher darauf Resilienz Rolle spielen. Daher erwarten wir eine Tendenz sicherzustellen. Damit dies funktionieren kann, zur weiteren Diversifikation von Wertschöpfungs- braucht es eine Art von „Stoßdämpfer“. Ein ketten und zur verstärkten Lagerhaltung. Aller- solcher ist in Form von Produktionsüber- dings sind Effizienzeinbußen der Preis für eine kapazitäten, Lagerhaltung, Diversifizierung, Ver- Verringerung der Abhängigkeit von den Zu- kürzung von Lieferketten und Modernisierung lieferungen aus dem Rest der Welt. Zudem denkbar. An die Stelle von „Just in Time“ rückt nun könnte die teilweise Renationalisierung von „Just in Case“. Produktionsprozessen der Startschuss für einen weiteren Protektionismus-Wettlauf sein. Pro- V. Fünf Thesen über die Zukunft der blematisch ist schließlich auch, dass deutsche Megatrends Unternehmen bestimmte Vorleistungen aus dem Ausland beziehen, weil die entsprechenden Aus den oben genannten Entwicklungen ergeben einheimischen Produkte nicht wettbewerbsfähig sich unserer Ansicht nach fünf zentrale oder bestimmte Ressourcen hier nicht vorhanden Tendenzen für die zukünftige Entwicklung der sind. Das bedeutet: Außerhalb von Krisenzeiten, Digitalisierung, der Globalisierung und des in denen kein Import dieser Produkte erfolgt, demografischen Wandels: werden sich die Käufer:innen unter sonst gleichen Rahmenbedingungen weiterhin bei den nach wie 1. Die Frage der digitalen Souveränität vor existierenden preiswerteren Angeboten aus gewinnt an Relevanz dem Ausland bedienen. Deshalb wird eine sich Eine Einheit ist digital souverän, wenn ihre aus Gründen der Risikominimierung ab- digitalen Abhängigkeiten das Ergebnis eines zeichnende Relokalisierung der Herstellung von Auswahl- und Entscheidungsprozesses sind und bestimmten Gütern ohne irgendeine Form der somit jederzeit abgeändert werden können. Dies staatlichen Unterstützung kaum möglich sein. bringt mit sich, dass die Einheit frei ist, ihre So- Auch eine Diversifizierung von Wertschöpfungs- zial-, Wirtschafts- und Regulierungspolitik für den ketten, bei der nicht mehr nur Vorleistungen von digitalen Raum so zu gestalten, dass sie ihren einem Herkunftsland, sondern von mehreren Werte und Zielvorstellungen entsprechen. Die bezogen werden, ist mit Kosten verbunden.
MegatrendBrief | Seite 7 3. Die Bedeutung der vertikalen Industrie- den können, und zeigt, wie wertvoll eigene politik nimmt zu Innovationsfähigkeit im Krisenfall ist. Im Zuge der China, die USA und andere Nationen unterstützen zunehmenden Digitalisierung werden vor allem zukunftsträchtige Schlüsselindustrien wie Elektro- eigene Kapazitäten in Technologien wie mobilität, Robotertechnologie oder Biomedizin in künstlicher Intelligenz, 5G oder Blockchain an erheblichem Ausmaß durch eine gezielte Bedeutung gewinnen. Gemessen an besonders Förderung der ausgewählten Sektoren bzw. bedeutsamen Patenten, sind die USA in vielen Technologien (vertikale Industriepolitik). Wenn Zukunftstechnologien und vor allem in der Digi- Deutschland und Europa in diesen Bereichen talisierung Weltspitze. China hat seine Inno- nicht den Anschluss verlieren und nicht von den vationskraft mit einem rasanten Wachstum in den Importen aus dem Ausland abhängig sein wollen, vergangenen Jahren stark gesteigert. Für Europa werden auch sie ihre Anstrengungen in der – und noch viel mehr für Entwicklungsländer – vertikalen Industriepolitik steigern müssen. Dabei sind die Aussichten hingegen trüb. Sie drohen, geht es nicht um die Kopie chinesischer oder den Anschluss zu verlieren und sich in ein techno- amerikanischer Ansätze, sondern vielmehr um logisches Vasallentum zu begeben (Abb. 4). die Entwicklung eines eigenen industrie- politischen Ansatzes im Rahmen der Werte und 5. Der fortschreitende demografische Wandel gesellschaftlichen Zielsetzungen der Sozialen beinhaltet zusätzliche „Störfaktoren“ Marktwirtschaft. Die demografische Alterung wird in diesem Jahrzehnt in vielen europäischen Ländern in eine 4. Die eigene Innovationsfähigkeit wird zu „heiße Phase“ eintreten. Mit Blick auf die einem zentralen Resilienzfaktor Bewältigung der ökonomischen Folgen der Ganz besonders wird sich die Frage der Corona-Krise und die Errichtung krisenresilienter Industriepolitik im Innovationsbereich stellen. Der Strukturen ergeben sich dadurch zusätzliche sich intensivierende Hegemonialkonflikt zwischen „Störfaktoren“: Bereits im Verlauf der 2020er- China und den USA sorgt für eine Verschärfung Jahre werden die Alterung und Schrumpfung der des Innovationswettbewerbs zwischen diesen Erwerbsbevölkerung das Wirtschaftswachstum in beiden Staaten. Zunehmend bilden sich eigene Deutschland dämpfen (Abb. 5). Erschwerend technologische Einflusssphären heraus, in denen kommt hinzu, dass mit dem demografischen entweder chinesische oder amerikanische Wandel die Staatsausgaben zusätzlich steigen. Standards gelten und die technologischen Ent- Bei der Diskussion um die Relokalisierung der wicklungen aus einem dieser Länder dominieren. Herstellung bestimmter Güter muss berück- Mit der Corona-Krise verstärkt sich dieser Trend sichtigt werden, dass Deutschland auf eine Phase weiter: Sie verdeutlicht, wie schnell Staaten von des akuten Fachkräftemangels zusteuert. ausländischen Innovationen abgeschnitten wer- Werden Produktionsprozesse auf breiter Basis
MegatrendBrief | Seite 8 automatisiert, können sich daraus weitreichende Konsequenzen für die lohnbezogene und Impressum beitragsbasierte Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ergeben und grundlegende © September 2020 Strukturreformen nötig werden. Schließlich sinkt Bertelsmann Stiftung bei den öffentlichen Finanzen der Spielraum, Carl-Bertelsmann-Straße 256 sodass es zukünftig umso mehr darauf ankommt, 33311 Gütersloh diese sozialverträglich auf Zukunftsinvestitionen Telefon +49 5241 81-0 und die Gewährleistung altersbezogener www.bertelsmann-stiftung.de Sicherungsleistungen zu verteilen. Dies wird Verantwortlich politisch eine besonders große Herausforderung, Andreas Esche da die höheren Altersgruppen einen stetig Ralph Müller-Eiselt zunehmenden Teil der Wähler:innen ausmachen. Autoren Diese und weitere Entwicklungen führen zu einem Dr. Thieß Petersen gravierenden Strukturwandel von Wirtschaft und Senior Advisor Gesellschaft – und bringen für die Bürger:innen Programm Megatrends erhebliche Anpassungen mit sich. Die ohnehin Telefon +49 5241 81-81218 schon hohen Anforderungen an eine Flankierung thiess.petersen@bertelsmann-stiftung.de dieser Veränderungen durch sozial- und bildungs- Dr. Christian Bluth politische Maßnahmen werden dadurch noch Project Manager größer. Dennoch ist sie erforderlich, denn sonst Programm Megatrends droht eine Blockadehaltung breiter Bevölkerungs- Telefon +49 5241 81-81329 schichten. christian.bluth@bertelsmann-stiftung.de Literatur Projektunterstützung Sabine Feige Dieser Megatrend-Brief basiert auf der Carina Wegener ausführlichen Version folgender Publikation: Titelbild Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2020). „Die Corona- Getty Images/iStockphoto/imaginima Transformation“. Megatrend-Report #02“. Gütersloh.
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