Die deutsch-russische Roadmap: Potenziale - Herausforderungen - Kooperationserfahrungen - KIWi IMPULS - DAAD
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KIWi KI Wi I M P U LS Die deutsch-russische Roadmap: Potenziale – Herausforderungen – Kooperationserfahrungen daad.de/ kompetenzzentrum
Inhalt Die Kernpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Executive Summary.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Roadmap umsetzen: Intensive Zusammenarbeit – komplexer Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Den Rahmen kennen: Aktuelle Entwicklungen der russischen Hochschul- und Forschungslandschaft.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Potenziale erkennen: Wissenschaftspolitische Leitlinien und fachliche Schwerpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3 Fördermöglichkeiten erkunden: Den wissenschaftlichen Nachwuchs in deutsch-russische Kooperationen bringen.. . . . . . . . . . . . . . . . 14 Förderungen des DAAD.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Förderungen weiterer Wissenschaftsorganisationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Zwischen Internationalisierungsbestreben und Kontrolldiskurs: Herausfordernde Rahmenbedingungen für Wissenschaftskooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Erlass des russischen Wissenschaftsministeriums zum Umgang mit ausländischen Gästen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Gesetzgebung im IT-Bereich: Implikationen für den Wissenschaftsaustausch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Freiheit des akademischen Austausches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Kooperationserfahrungen nutzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Ausblick��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 25 Anhang 1: DAAD-Leuchtturmprojekte in der Russischen Föderation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Anhang 2: Potenziale in der digitalen Lehre.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Daraus lassen sich folgende Empfehlungen ableiten:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Zur DAAD-Förderung digitaler Teilhabe:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Weiterführende Informationen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Quellenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Impressum����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 33 DIE KERNPUNKTE ∙ eit gut zehn Jahren modernisiert sich das russische Wissenschaftssystem, Internationa- S lisierung wird immer stärker integrativer Bestandteil. Das Kooperationsinteresse der rus- sischen Seite, sowohl des Staates wie auch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, steigt spürbar. ∙ ie Ende 2018 von den zuständigen Ministern unterzeichnete „Deutsch-russische Road- D map für die Zusammenarbeit in Bildung, Wissenschaft, Forschung und Innovation“ – kurz: Roadmap – schafft Verbindlichkeit in den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen, in einem zunehmend konfrontativen außenpolitischen Umfeld, mit Konflikten zwischen Russland und der Europäischen Union oder der NATO. ∙ ie deutsch-russische Wissenschaftszusammenarbeit ist vielfältig, oftmals langjährig und D vertrauensvoll. Russland steht bei deutschen Hochschulen – nach den USA und China – auf dem dritten Platz der Zielländer von Kooperationen. Viele Expertinnen und Exper- ten berichten vom großen Engagement und der Verlässlichkeit ihrer russischen Partner. In Russland erlernen zudem 360.000 Studierende die deutsche Sprache, die bei weitem höchste Zahl weltweit. 4 ∙ s bedarf jedoch eines differenzierten Blickes auf die Dynamik des russischen Wissenschafts- E systems, des politischen und gesellschaftlichen Umfelds, um durchaus relevante Fragen nach Reglementierungen und Kontrolle einerseits und wissenschaftlicher Qualität und Ge- staltungsfreiräumen andererseits adäquat zu beantworten. Wie groß sich der Spielraum zwischen Innovation und Risikoaversion konkret ausgestaltet, hängt nicht selten von der je- weiligen Institution sowie dem persönlichen Einfluss und Verhandlungsgeschick ihrer Leitung und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Der Freiraum für die Behandlung kritischer Themen kann zudem durch internationale Kooperationen potenziell erweitert werden. ∙ ei der Anbahnung und Umsetzung russisch-deutscher Kooperationen sollte daher ausrei- B chend Zeit für den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zu den russischen Partnern sowie zum Kennenlernen ihres Umfeldes eingeplant werden. Bezüge zur auf offizieller Ebene verabschiedeten deutsch-russischen Roadmap können entscheidend dabei helfen, Unsi- cherheit der Bürokratie beim Umgang mit internationalen Kooperationen abzubauen. ∙ I m Bereich der angewandten Wissenschaften ist nicht selten die Unterstützung von Regio- nalpolitikern und Verwaltungen auch außerhalb des Wissenschaftsbereichs erforderlich. Gerade hier kann der Bezug auf die Roadmap besonders hilfreich sein. ∙ ie verstärkt wettbewerbsorientierten Rahmenbedingungen des russischen Wissen- D schaftssystems schaffen Anreize für eine hohe Zahl internationaler Co-Publikationen und für Prestigegewinn durch internationale Kooperationen. Hier liegt eine Chance, aber auch das Risiko, dass fallweise Quantität höher als Qualität bewertet werden kann. ∙ roße Chancen liegen auf beiden Seiten in der Förderung des wissenschaftlichen Nach- G wuchses. Hierfür bieten sowohl der DAAD als auch weitere deutsche und russische Akteure eine Vielzahl von Fördermöglichkeiten an.
EXECUTIVE SUMMARY ∙ he Russian academic system has been increasingly modernised for a good ten years T now, with internationalisation becoming more and more of an integral element. Growing interest in cooperation is being shown on the Russian side, both by the state and by academics. ∙ igned by the ministers responsible at the end of 2018, the “German-Russian Roadmap S for Cooperation in Education, Science, Research and Innovation” – or Roadmap for short – makes for more binding German-Russian academic relations in an increasingly confrontational foreign policy environment characterised by conflicts between Russia and the European Union or NATO. ∙ erman-Russian academic cooperation is wide-ranging, has in many cases been G underway for many years, and is based on trust. For German universities, Russia is the third most desirable country for cooperation, after the USA and China. Many experts talk about the considerable commitment and dependability of their Russian partners. Furthermore, 360,000 university students in Russia are learning German, the highest number by far worldwide. 5 ∙ owever, a nuanced look needs to be taken at the dynamics of the Russian academic H system, and of the political and societal environment, in order to be able to answer relevant questions about regulations and control on the one hand and about academic quality and freedoms on the other. It is often the case that the room for manoeuvre between innovation and risk aversion will depend on the institution itself, and on the personal influence and negotiating skills of its director and staff. Moreover, the scope for addressing critical topics can potentially be expanded by international cooperation. ∙ hen initiating and realising Russian-German cooperative ventures, sufficient time W should therefore be earmarked for establishing trust-based relationships with the Russian partners and for getting to know their environment. References to the German-Russian Roadmap that has been adopted at the official level can play a crucial part in reducing bureaucratic uncertainty when approaching international cooperative ventures. ∙ I n the field of applied sciences, the support of regional politicians and governments, even outside the academic world, is frequently needed. Above all in such cases it can be especially helpful to refer to the Roadmap. ∙ he increasingly competition-oriented framework conditions of the Russian academic T system create incentives for a large number of international co-publications and for gaining prestige through international cooperation. This offers an opportunity, though it also entails a risk that quantity may in some cases be valued more highly than quality. ∙ upporting the next generation of young academics presents great opportunities on both S sides. In this context, both the DAAD and other German and Russian actors offer a whole host of funding possibilities.
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN Die Roadmap umsetzen: Intensive Zusammenarbeit – komplexer Kontext 6 Im September 2020 wurde das Deutsch-Russische Durch die Roadmap werden in den k ommenden Jahr der Hochschulkooperation und Wissen- zehn Jahren vier Schwerpunkte, sogenannte schaft 2019/2020 (kurz „Themenjahr“) mit der „Säulen“, in der bilateralen Wissenschafts Auszeichnung 25 deutsch-russischer Koopera- zusammenarbeit gesetzt: So soll die gemeinsa- tionsprojekte erfolgreich beendet. Zusammen me Spitzenforschung im Bereich der „Großen arbeit und Vernetzung zwischen Hochschulen Forschungsinfrastrukturen“ zur physikalischen und Wissenschaftsakteuren sowie die Stärkung Grundlagenforschung (Säule I) wie auch in ge- des grenzüberschreitenden Austausches von meinsam festgelegten weiteren thematischen Studierenden, Forschenden und Lehrenden Prioritäten2 (Säule II) gefördert werden. Die standen im Fokus. Zeitlich fiel das Themen- dritte Säule ist der Förderung des wissenschaft- jahr mit dem Auftakt der langfristig angelegten lichen Nachwuchses gewidmet. Eine erste Maß- „Deutsch-russischen Roadmap für die Zusammen- nahme in diesem Schwerpunktbereich stellt das arbeit in Bildung, Wissenschaft, Forschung und „Young Talents Programme“ dar. Mit ihm sollen Innovation“ zusammen. Ende 2018 haben Bun- der wissenschaftliche Nachwuchs gefördert und desforschungsministerin Anja Karliczek und dessen Mobilität gesteigert werden. Zudem wol- ihr damaliger russischer Amtskollege Mikhail len beide Länder in Säule IV die Wissenschafts- Kotjukov die Roadmap unterzeichnet und damit kommunikation und den Transfer von For- eine Arbeitsgrundlage für die wissenschaftli- schungsergebnissen erhöhen. che Zusammenarbeit der nächsten zehn Jahre geschaffen.1 Diese Vereinbarung bietet eine Seit gut zehn Jahren befindet sich das russische Orientierung zu den gemeinsamen Schwer- Wissenschaftssystem in einem tiefgreifenden punkten und beruht auf einem umfangreichen Modernisierungs- und Reformprozess. Inter- Bottom-up-Prozess, an dem Hochschulen sowie nationalisierung von Forschung, Studium und Forschungs- und Mittlerorganisationen beider Lehre bilden hierin einen integralen Bestand- Länder aktiv mitgewirkt haben. teil. Die sich daraus ergebenden Chancen haben 1 Vgl. Pressemitteilung des BMBF 2 Meeres- und Polarforschung, Bioökonomie, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, Gesundheitsforschung, Erneuerbare Energien und Energieeffizienz, Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit sowie Innovative Produktionstechniken und Lasertechnologien
Die Roadmap umsetzen gerade die deutschen Wissenschaftspartner, die Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der in oftmals auf eine jahrzehntelange fruchtbare der Roadmap hervorgehobenen Säule der Nach- Zusammenarbeit zurückblicken können, beson- wuchsförderung. ders intensiv genutzt. Die Roadmap ist Ausdruck dieser Kooperationen. Ergänzt wird das Impulspapier durch zwei An- hänge, die tiefere Einblicke in die Arbeit des Die Internationalisierung des russischen DAAD mit der Russischen Föderation geben. Wissenschaftssystems vollzieht sich in einem In der ersten Anlage werden russisch-deutsche außenpolitischen Umfeld, das auch von Mei- Leuchtturmprojekte vorgestellt, vier bilaterale nungsverschiedenheiten mit den Staaten der Zentren mit besonderen fachlichen Schwer- Europäischen Union und der NATO geprägt ist. punkten. Mit Blick auf digitale Lehre hat der Seit der Ukraine-Krise im Jahr 2014 beeinträch- DAAD 2020 vor dem Hintergrund der Pandemie- tigen zudem mehrfach verschärfte Sanktionen Situation die in Hochschulprojekten geförder- und Gegensanktionen das außenpolitische Ver- ten Partner nach ihren Erfahrungen in inter- hältnis auch zu Deutschland.3 Gleichzeitig zei- nationalen Kooperationen befragt. Der zweite gen die deutsch-russischen Wissenschaftskoope- Anhang stellt ausgewählte regionale Ergebnisse rationen, dass gerade Wissenschaftlerinnen und im Vergleich mit den weltweiten Resultaten dar. Wissenschaftler, Forschungseinrichtungen und Hochschulen auch in einem komplexer wer- Die Informationen dieses Papiers speisen sich, denden Kontext erfolgreich zusammenarbeiten neben öffentlich zugänglichen Quellen, aus können. Kooperationserfahrungen deutscher Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler, deren aus 7 Mit dem vorliegenden Papier richtet der DAAD Interviews gewonnene Einblicke in diesen Text den Blick auf die Rahmenbedingungen, in Eingang fanden. Zudem beriet sich der DAAD denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissen- im Dezember 2020 mit Wissenschaftlerinnen schaftler sowie Wissenschaftsmanagerinnen und Wissenschaftlern deutscher Hochschu- und -manager in deutsch-russischen Koope- len zur akademischen Zusammenarbeit mit rationen bewegen. Es greift die Impulse des der Russischen Föderation (vgl. Impressum). Themenjahres, insbesondere eine intensivierte Gegenstand der Diskussion in einem virtuellen Zusammenarbeit, von Geschichte über Physik Expertengespräch war auch dieses Papier; die bis zur Klimaforschung, sowie Nachwuchsförde- Ergebnisse sind in eine Überarbeitung des Texts rung, auf und setzt sie in den Kontext der Chan- eingeflossen. cen, die die Roadmap für den weiteren Ausbau der deutsch-russischen Wissenschaftskoopera- Die Verantwortung für die hier dargestellten tionen bietet. Welche fachlichen Schwerpunkte Inhalte liegt ausschließlich beim DAAD. Das bieten Potenziale für Kooperationen? Welche Papier ist als Impuls gedacht, als Auftakt zu einer Fördermöglichkeiten gibt es? Worauf gilt es bei Diskussion über Bedingungen, Chancen und der Anbahnung und Umsetzung deutsch-rus- Herausforderungen deutsch-russischer Wissen- sischer Wissenschaftskooperationen zu ach- schaftskooperationen. In diesem Sinne freuen ten? Inwiefern beeinflussen die politischen, wir uns über kritische Anmerkungen und Ergän- zwischenstaatlichen Beziehungen die Zusam- zungen (Kontaktdaten siehe Impressum). menarbeit auf akademischer Ebene? Das sind Fragen, die Hochschulen, Forschungseinrich- tungen und Mittlerorganisationen gleicherma- ßen beschäftigen und die mit diesem Papier in den Fokus gerückt werden. Dies wird verbunden mit qualitätsgesicherten Informationsquellen und Empfehlungen aus der Kooperationspraxis. 3 DAAD 2020, S. 5
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN Den Rahmen kennen: Aktuelle Entwicklungen der russischen Hochschul- und Forschungslandschaft 8 Das russische Wissenschaftssystem erlebt seit Studierenden in der Russischen Föderation Beginn der 2010er-Jahre tiefgreifende Refor- bis 2024 verdoppelt werden. Herausragenden men. Mit veränderten wirtschaftlichen Entwick- russischen und ausländischen Forschenden lungen und einem modernisierten Arbeitsmarkt sowie den eigenen Nachwuchswissenschaft wurde Ende der 2000er-Jahre deutlich, dass lerinnen und -wissenschaftlern sollen qualita- Fachkräfte benötigt wurden, die das Bildungs- tiv hochwertige Strukturen und Bedingungen system mit seinen Anfängen im 18. Jahrhundert geboten werden, um sie so für den Verbleib und der Prägung sowjetischer Zeit nicht mehr an russischen Wissenschaftseinrichtungen zu bereitstellen konnte. Die in den 1990er-Jahren gewinnen5. Die Reformen nehmen beispiels- starke Abwanderung einer ganzen Genera- weise den deutschen Ansatz der Einheit von tion von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Lehre und Forschung auf und nutzen aktuelle -wissenschaftlern aus Forschung und Lehre wissenschaftspolitische Entwicklungen wie die in die sich dynamisch entwickelnde russische Exzellenzinitiative als Modell. Wirtschaft, aber auch an ausländische wissen- schaftliche Einrichtungen, die zunehmende Das russische Wissenschaftssystem sieht tradi- Überalterung des in der Russischen Födera- tionell eine Trennung von Lehre und Forschung tion verbliebenen Wissenschaftspersonals und vor. Forschung fand – und dies ist bis heute ein sinkendes Budget hinterließen tiefe Spu- in großem Umfang der Fall – überwiegend in ren. Dies änderte sich, als die Politik ab 2008 den Einrichtungen der Russischen Akademie wieder einen Schwerpunkt auf Forschung und der Wissenschaften statt, die bereits 1724 ge- Entwicklung setzte und verstärkt ab 2012 eine gründet wurde. Aktuell unterhält die Akademie Reihe grundlegender Reformen umsetzte, die ca. 700 Forschungseinrichtungen. Universitä- bis heute andauern4. Angestrebt wird damit, die ten dagegen waren und sind bis heute über- Wettbewerbsfähigkeit des russischen Wissen- wiegend höhere Lehranstalten. Mit den jüngs- schaftssystems im globalen Vergleich zu erhö- ten Reformen soll sich dies jedoch zumindest hen. So soll u. a. die Zahl der internationalen zum Teil ändern. Ziel ist es, eine Gruppe von 4 Köpplin 2015, S. 4 5 Kooperation international 2020
Den Rahmen kennen forschungsstarken, international konkurrenz- etwa I T-Sicherheit, Luft- und Raumfahrt oder fähigen Universitäten als Exzellenzhochschulen Materialwissenschaften, sowie die Lebens zu etablieren, damit diese die starke Fokussie- wissenschaften, etwa Chemie oder Biotechno- rung auf die Lehre zugunsten eines stärkeren logie, besondere wissenschaftspolitische Auf- Engagements auch in den Bereichen Forschung merksamkeit. und Innovation aufgeben. Dies geschieht wett- bewerbsbasiert und unter hohem wissenschafts- Nach aktuellen Zahlen des Goethe-Instituts politischem Druck. lernen etwa 360.000 Studierende in der Russischen Föderation Deutsch – so viele wie Die knapp 50 führenden russischen Universi- in keinem anderen Land (auf Platz 2 folgt Polen täten („Vedushchie vuzy“, „Ведущие вузы“)6, mit ca. 56.000 und auf Platz 3 die VR China mit die vom Staat in verschiedenen Kategorien als ca. 39.000 Lernenden an Hochschulen)7. Bei Forschungsuniversitäten gefördert werden, der Mobilität russischer Studierender ins Aus- müssen beispielsweise für ihre Wissenschaftle- land steht Deutschland auf dem ersten Platz, rinnen und Wissenschaftler regelmäßige Pub- vor der Tschechischen Republik, erst danach likationen in internationalen Fachzeitschriften folgen die englischsprachigen Destinationen nachweisen, ebenso die Einwerbung von Dritt- USA und das Vereinigte Königreich. 10.439 mitteln oder die Qualifikation des wissenschaft- Studierende aus der Russischen Föderation lichen Personals z. B. durch Fremdsprachen- waren im WS 2018/2019 an deutschen Hoch- kenntnisse. Diese Einrichtungen, die sich in schulen eingeschrieben. In Deutschland gehört der „Assoziation der Führenden Universitäten“ die Russische Föderation zu den wichtigsten zusammengeschlossen haben, haben ein hohes Herkunftsländern für internationales Wissen- 9 Interesse an internationalen Kooperationen schaftspersonal. 2018 waren 2.221 russische und können im Bereich der Forschung für deut- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in sche Wissenschaftseinrichtungen besonders Deutschland tätig.8 interessant sein. Ein weiterer Trend im akademischen Reform Universitäten in der Russischen Föderation prozess der Russischen Föderation, der ins- spielen auch als regionale Entwicklungsmoto- besondere für Technische Universitäten und ren jenseits der Metropolen eine bedeutende Hochschulen für Angewandte Wissenschaften Rolle. Etwa 60 regionale Universitäten außer- interessant ist, besteht in der zunehmenden halb Moskaus und St. Petersburgs erhalten Stärkung der anwendungsorientierten Ausbil- eigens ausgewiesene Fördermittel, um diesen dung, vor allem an den russischen Technischen Auftrag zu erfüllen. Universitäten. Hier sind inzwischen Industrie- praktika für die Studierenden und der Einbezug Insgesamt gibt es derzeit 724 Hochschulen von Lehrenden auch aus der Wirtschaft vorge- (ohne Filialcampus) in der Russischen Föde- sehen. Deutsche Technische Universitäten und ration, davon sind gut 70 Prozent in staatli- Hochschulen für Angewandte Wissenschaften cher Trägerschaft, die übrigen haben private können vom hohen Spezialisierungsgrad vieler Eigentümer. Im Jahr 2017 waren nach Anga- russischer Hochschulen profitieren, beispiels- ben der UNESCO 5,9 Millionen Studierende weise gibt es Technische Universitäten für Logis- an Hochschulen in der Russischen Föderation tik, Bauwesen oder Agrarwissenschaften. Daher eingeschrieben. Diese sind oftmals gerade in sind gerade deutsche Technische Universitäten den MINT-Fächern sehr gut ausgebildet. Zu- und Hochschulen für Angewandte Wissenschaf- dem erfahren wirtschaftsrelevante Fächer ten mit ihren Industriekontakten, Praxisorien- wie die Ingenieurwissenschaften, darunter tierung und den Kompetenzen in angewandter 6 Vgl. Köpplin 2015 7 Auswärtiges Amt 2020 8 DAAD u. DZHW 2020, S. 78
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN Forschung für diese Gruppe von Universitäten interessante Kooperationspartner. Zudem kön- nen sie die in der Russischen Föderation um- fassend aufgestellte Deutsch-Russische Auslands- handelskammer (AHK) für Wirtschaftskontakte nutzen9. Weiterführende Informationen finden sich in der DAAD-Bildungssystemanalyse Russische Föde- ration und auf der Webseite des DWIH Moskau. 10 9 DAAD 2020, S. 23
Potenziale erkennen Potenziale erkennen: Wissenschaftspolitische Leitlinien und fachliche Schwerpunkte Trotz schwerer Einschnitte insbesondere in den I n Wissenschafts-Industrie-Kooperatio- 11 1990er-Jahren hat sich das russische Wissen- nen sollen internationale Wissenschafts- schaftssystem im Kern seine Qualitäten und zentren (u. a. für Mathematik und Profile bewahrt. So ist es für seine Leistungs- Genomforschung) sowie 15 Wissen- stärke insbesondere in den technisch-naturwis- schafts- und Bildungscluster (Science senschaftlichen Fächern bekannt, aber auch von and Education Centers, SEC) aufgebaut einer langen und ausgezeichneten Tradition der werden. Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften berichten deutsche Wissenschaftlerinnen und roße Teile der bestehenden Forschungs G Wissenschaftler mit Kooperationserfahrungen infrastrukturen sollen modernisiert, mit in der Russischen Föderation. Sie betonen ein ingenieurwissenschaftlichen Zentren hohes Arbeitsethos russischer Kooperations- verbunden und zu einem Netzwerk von partner, Verlässlichkeit, Engagement sowie ein Großforschungseinrichtungen ausgebaut hohes Ansehen von russischen Forschenden werden. sowohl in der Gesellschaft als auch in interna- tionalen Kooperationen. achkräfte in Forschung und Lehre sollen F gezielt und systematisch ausgebildet Wissenschaftspolitisch liegt das Augenmerk der werden. russischen Regierung zunehmend auf anwen- dungsorientierter Forschung, hier besonders in Die heutigen deutsch-russischen Wissenschafts- den naturwissenschaftlich-technischen Fächern beziehungen basieren auf einem bereits 1987 und den Lebenswissenschaften (Medizin, Bio mit der Sowjetunion geschlossenen Abkommen logie). Im Dezember 2018 veröffentlichte die über die wissenschaftlich-technische Zusam- russische Regierung zudem die ambitionier- menarbeit, das 2009 in ein russisch-deutsches te Strategie des „Nationalen Projekts Wissen- Abkommen überging. Vor diesem Hintergrund schaft“, die bis 2024 drei wissenschaftspolitische und zur weiteren Vertiefung der Kooperatio- Ziele in den Vordergrund rückt10: nen in Bildung, Wissenschaft, Forschung und 10 Kooperation international 2020
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN Innovation entstand 2018 die Roadmap. The- Gesundheitsforschung, matisch sind die Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und der Russischen Fö- Erneuerbare Energien und deration aufgrund der Vielzahl der beteiligten Energieeffizienz, Akteure facettenreich. Deutsche Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftler betonen, dass Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit sowie gerade die kontinuierliche Zusammenarbeit, gute persönliche Beziehungen und das dadurch I nnovative Produktionstechniken und entstandene Vertrauen hierfür die Grundlage Lasertechnologien. bildeten. Diese thematischen Schwerpunkte ergänzen den Laut Hochschulrektorenkonferenz gibt es ak- wissenschaftspolitischen Fokus des BMBF auf tuell 1.007 Kooperationen von Hochschulen in die Entwicklung und den Bau wissenschaftlicher Deutschland mit Hochschulen und Partnerein- Großgeräte. Hierzu gehört der mit der Russi- richtungen in der Russischen Föderation (Stand schen Föderation und weiteren internationalen November 2020). Die Russische Föderation ist Partnern errichtete und betriebene europäi- damit als Zielland für Kooperationen deutscher sche Röntgen-Freie-Elektronen-Laser ( European Hochschulen auf Platz drei nach den USA und XFEL) bei Hamburg, der zu Erkenntnissen in der VR China. Nicht alle diese Kooperationen den Bereichen Nanotechnologie, Energietech- werden gleichermaßen lebendig und von quali- nik und Medizin beitragen soll. Grundlage der tativem Mehrwert sowohl für die deutschen als gemeinsamen Erforschung der Entwicklungsge- 12 auch die russischen Beteiligten sein. Und doch schichte des Universums soll zudem die neuarti- deutet diese Zahl auf ein hohes gegenseitiges ge Beschleunigeranlage FAIR bilden, die am GSI Kooperationsinteresse. Die Zusammenarbeit Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung reicht dabei von Engagement in akademischer in Darmstadt entsteht11. Mobilität über gemeinsame Studienprogramme und Forschungsprojekte bis hin zu gemeinsam Die in der Roadmap genannte Meeres- und errichteten Forschungsinfrastrukturen. Polarforschung erfährt Förderung durch das BMBF und das russische Forschungsministeri- Die deutsch-russische Roadmap zeigt konkrete um (MinObrNauki), um zu einem besseren Ver- Potenziale für Wissenschaftskooperationen zwi- ständnis des globalen Klimas zu kommen. Auch schen der Russischen Föderation und Deutsch- Biowissenschaften und ihre Nutzung in einer land auf. Als wissenschaftspolitisches Signal nachhaltigen, biobasierten Wirtschaftsweise be- kann sie, dies berichten auch deutsche koopera- nennt das BMBF als wichtige zukunftsweisende tionserfahrene Wissenschaftlerinnen und Wis- Themen in der Kooperation zwischen Deutsch- senschaftler, Anstoß und Impulse besonders für land und der Russischen Föderation. Diese wird den wissenschaftlichen Nachwuchs geben. Als hier als starker Partner in einer international thematische Schwerpunkte benennt die Road- wettbewerbsfähigen Bioökonomie gesehen12. map sogenannte Prioritäten, in denen Spitzen- forschung und die interdisziplinäre Zusammen- Darüber hinaus lassen sich fachliche Koopera- arbeit besonders gefördert werden sollen: tionspotenziale durch einen Blick in die Daten- bank aktuell geförderter DFG-Projekte (vgl. DFG Meeres- und Polarforschung, GEPRIS) ableiten. Diese zeigt in der Grund- lagenforschung derzeit 380 laufende Projekte Bioökonomie, deutscher Hochschulen mit Bezug zur Russi- schen Föderation (Stand November 2020). Der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, überwiegende Teil dieser Projekte wird in den 11 BMBF o.J. 12 BMBF o.J.
Potenziale erkennen Naturwissenschaften gefördert (ca. 44 Prozent) und hier insbesondere in der Physik (vor allem Physik der kondensierten Materie, d. h. fester und flüssiger Aggregatzustände) gefolgt von den Geowissenschaften (Geologie, Mineralogie, Geo- chemie). Etwa 32 Prozent der Projekte werden in den Geisteswissenschaften gefördert, hier insbesondere in den Geschichtswissenschaften, gefolgt von den Literatur- sowie Sprachwissen- schaften. Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Germanistik und Ingenieurwissenschaften sind aktuell Schwerpunkte in DAAD-geförder- ten Hochschulkooperationen. Regional stehen hier insbesondere St. Petersburg und Mos- kau im Fokus, aber auch Kasan (Germanistik, Physik, Informatik, Ingenieurwissenschaften), Krasnojarsk (Rechtswissenschaften, Bauwesen), Woronesch (Germanistik, Anglistik, Europäi- sche Integrationsstudien), Perm (Softwaretech- nik, Bauwesen, Europäische Integrationsstu- 13 dien), Tomsk, Wolgograd und Wladiwostok (alle Germanistik) sind jeweils mit mehr als einem Hochschulprojekt vertreten.
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN Fördermöglichkeiten erkunden: Den wissenschaftlichen Nachwuchs in deutsch-russische Kooperationen bringen 14 Förderungen des DAAD Bildung und Wissenschaft der Russischen Föde- ration oder das Nikolaj-Lobachevskij-Programm Als Einstieg in die Forschungskooperation des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft mit der Russischen Föderation bieten sich die der Republik Tatarstan genannt. DAAD-Stipendienprogramme für (Nachwuchs-) Wissenschaftlerinnen und (Nachwuchs-)Wissen- Um der nach wie vor unausgewogenen Aus- schaftler an deutschen Einrichtungen an. Erfah- tauschbilanz zwischen Deutschland und der Rus- rungen deutsch-russischer Wissenschaftskoope- sischen Föderation entgegenzuwirken, fördert ration zeigen, dass Kurzaufenthalte russischer der DAAD im „Go East“-Programm eine breite Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissen- Palette von Aktivitäten deutscher Hochschulen. schaftler zum gegenseitigen Kennenlernen der Dadurch soll der deutsche wissenschaftliche Forschungsqualitäten und -interessen beider Nachwuchs mit der Russischen Föderation – und Seiten zu nachhaltigen Kooperationsbeziehun- anderen Ländern in der Region – in Kontakt gen führen können. Der DAAD bietet zu diesem kommen. Dies beginnt mit Osteuropatagen an den Zweck u. a. die Programme „Studienstipendien – Hochschulen und reicht über Sommerschulen bis Masterstudium für alle wissenschaftlichen Fä- hin zu Semesterstipendien. Aufbauend auf ersten cher“, „Forschungsstipendien – Jahresstipendien Kontakten fördert das DAAD-Programm „Russland für Doktoranden“ sowie „Forschungsaufenthalte in der Praxis“ deutsche Studierende und Gradu- für Hochschullehrer und Wissenschaftler“ an. ierte, die die Dynamik der deutsch-russischen Wissenschafts- und Wirtschaftsbeziehungen vor Das Engagement der russischen Seite für die Ort kennenlernen wollen. Deutsche Unterneh- Internationalisierung des eigenen wissenschaft- men in der Russischen Föderation stellen dafür lichen Nachwuchses zeigt sich zudem in ver- Praktikumsplätze zur Verfügung. schiedenen Regierungsstipendienprogrammen, die gemeinsam mit dem DAAD angeboten wer- Mit dem Leonhard Euler-Stipendienprogramm för- den. Darin werden jährlich mehrere hundert dert der DAAD die Umsetzung gemeinsamer bi- Personen gefördert. Beispielhaft seien hierfür nationaler Forschungsprojekte insbesondere von das Immanuel-Kant-Programm und das Michail- Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissen- Lomonosov-Programm des Ministeriums für schaftlern auch aus der Russischen Föderation
Fördermöglichkeiten erkunden (neben anderen ost- und südosteuropäischen S tipendiendatenbank sowie für Projektförderun- Ländern) und leistet gleichzeitig einen Beitrag gen in der Projektdatenbank. zum Verbleib des Hochschullehrernachwuchses an den Heimathochschulen. Weiterhin fördert und stärkt das Programm „Ostpartnerschaften“ Förderungen weiterer Wissenschafts partnerschaftliche Beziehungen deutscher Hoch- organisationen schulen mit der Russischen Föderation. Unter dem Dach der Roadmap versammeln sich Bei den seit 2019 bzw. 2020 weltweit neu angebo- darüber hinaus eine Vielzahl von Akteuren, die tenen Digitalisierungsprogrammen des DAAD, deutsch-russische Wissenschaftskooperationen wie „Internationale Mobilität und Kooperation fördern. Neben dem BMBF (WTZ-Bekanntma- digital“ (IMKD) oder „International Virtual chungen) gehören dazu die Deutsche Forschungs- Academic Collaboration“ (IVAC), gibt es derzeit gemeinschaft (DFG), die auch gemeinsam mit noch keine geförderten Projekte mit Partnern der russischen Seite Förderbekanntmachungen aus der Russischen Föderation. Hier gäbe es veröffentlicht. Weiterhin sind die deutschen also für deutsche Hochschulen Potenzial für außeruniversitären Forschungseinrichtungen neue Schwerpunktsetzungen13. Neben den ex- Helmholtz-Gemeinschaft (HGF), Max-Planck- pliziten Digitalisierungsprogrammen des DAAD Gesellschaft (MPG), Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) beinhalten auch alle neu ausgeschriebenen För- und Leibniz-Gemeinschaft auf Projekt- und Aus- derprogramme in der Projektförderung inzwi- tauschebene aktiv. Dabei sind DFG und HGF schen zuwendungsfähige Ausgaben für digitale zudem als Hauptunterstützer des Deutschen Komponenten, mit denen Elemente digitaler Wissenschafts- und Innovationshauses (DWIH) 15 Lehre und Forschung im Rahmen bestehender Moskau vertreten, die Leibniz-Gemeinschaft als Projekte integriert werden können. assoziierter Unterstützer. Ergänzt werden diese bestehenden DAAD- Trotz der Sanktionen im Wirtschaftsbereich14 ist Programme um eine neue Initiative, die sich die Russische Föderation weiterhin an akademi- dezidiert aus der Roadmap heraus entwickelt schen EU-Förderprogrammen beteiligt. Das der- hat: Im November 2020 hat der DAAD mit Mit- zeit größte Projekt ist CREMLINplus („Connecting teln des BMBF das „Young Talents Programme“ Russian and European Measures for Large-sca- ausgeschrieben. Dieses richtet sich an russische le Research Infrastructures – plus“), unter dem Studierende und Forschende (Masterstudieren- zwischen 2020 und 2024 die Zusammenarbeit de bis Postdocs), die an ausgewählten deutschen von Großforschungseinrichtungen in der Russi- Großforschungsanlagen forschen möchten. Das schen Föderation und der EU koordiniert wird. Programm schließt damit eine Lücke, indem Von russischer Seite werden bilaterale Förder- es außerhalb etablierter Kooperationen neue, bekanntmachungen mit Partnerländern im Be- hoch qualifizierte Zielgruppen anspricht, um reich der angewandten Forschung durch das an deutschen Großforschungseinrichtungen zu Ministerium für Wissenschaft und Hochschul- arbeiten. Das Programm ist mit einer Laufzeit bildung (MSHE) durchgeführt. Hinzu kommen bis Ende 2024 konzipiert und bietet der Groß- weitere Förderbekanntmachungen, etwa im Be- forschung in Deutschland die Möglichkeit, ihre reich der Grundlagenforschung oder für kleine, wissenschaftlichen Beziehungen mit der Russi- innovative Unternehmen. schen Föderation auszubauen. ine ausführliche Darstellung der deutsch- E Weitere Möglichkeiten der DAAD-Förderung russischen Förderprogrammatik findet sich im finden sich für Stipendienprogramme in der Länderbericht Russland von Kooperation interna- tional. 13 Vgl. Anhang 2 zu Potenzialen in der digitalen Lehre 14 Vgl. EU Sanctions Map
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN Zwischen Internationalisierungs bestreben und Kontrolldiskurs: Herausfordernde Rahmenbedingungen für Wissenschaftskooperationen Beide Seiten erachten die Wissenschaftsfreiheit als eine Voraussetzung für exzellente Forschung.15 16 Nachrichten über Einschränkungen des Rech- Wettbewerbsfähigkeit in der internationalen tes auf Meinungsfreiheit, politische Opposition, Wissenschaftsgemeinschaft sei ein Prestige über außenpolitische Spannungen zwischen der projekt der Russischen Föderation. Internationa- Russischen Föderation und der EU werfen die lisierung berge allerdings auch mögliche Risiken Frage auf, welche Auswirkungen dies auf inter- ausländischer Einflüsse, die einen Kontrolldis- nationale Wissenschaftskooperationen hat. Hier kurs prägen. Diese können politischer, ideologi- lohnt sich ein differenzierter Blick auf die aktu- scher oder sicherheitsrelevanter Natur, im Sinne ellen Herausforderungen für die akademische von Spionage, sein. Zusammenarbeit. Andreas Hoeschen, Leiter der DAAD-Außen- Alexander Libman, Professor für Politikwissen- stelle Moskau: „Internationalisierung erzeugt schaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russ- nach wie vor auch politischen Widerspruch land an der FU Berlin, spricht in seinem Artikel in Russland: War es in der Vergangenheit vor „Akademische Freiheit in Russland: Anpassung allem die Furcht vor einem Braindrain, ist es an den autoritären Staat?“16 von einem Spagat jetzt verstärkt die Besorgnis um einen mög- zwischen Status- und Prestigegewinn für das lichen Kontrollverlust, die diese Entwicklung Land durch die Internationalisierung der Wis- begleitet.“17 senschaft, die Anpassung an ein globalisiertes Wissenschaftssystem und den internationa- Diese Dissonanzen haben mittelbar wie unmit- len Erfolg russischer Forschender einerseits. telbar auch Implikationen für Wissenschafts Dem gegenüber stehen Risiken für den Staat kooperationen. Eine Strategie der Risiko- durch kritische Fragestellungen und unab- aversion auf russischer Seite ist es, in diesem hängiges Denken sowie einen daraus resultie- staatlichen Kontrolldiskurs einen möglichst renden Wunsch nach Kontrolle andererseits. hohen Grad der administrativen und bürokra- Internationalisierung, Spitzenforschung und tischen Formalisierung anzustreben. Der Grad 15 Zitat aus der deutsch-russischen Roadmap für die Zusammenarbeit in Bildung, Wissenschaft, Forschung und Innovation, S. 2 16 Libmann 2020, o. S. 17 Hoeschen 2019, S. 2
Zwischen Internationalisierungsbestreben und Kontrolldiskurs der Umsetzung politischer Vorgaben hingegen, sind daran interessiert, eine Zusammenarbeit so die Einschätzung der vom DAAD befragten auf Grundlage der Prinzipien einer offenen Expertenrunde, hänge dabei vom Verhandlungs- Wissenschaft fortzusetzen.“19 spielraum und der Risikoaversion der jeweiligen Institution ab18. Die „Erlass-Affäre“ hatte zwar deutsche Koope- rationspartnerinnen und -partner kurzfristig Dieser Widerspruch zwischen Internationalisie- irritiert, sich letztlich jedoch auch aufgrund rung der Wissenschaft und Forschung einer- der klaren Reaktion der russischen Seite nicht seits und Kontrolle des Austausches anderer- als Zäsur für die wissenschaftliche Zusam- seits zeigt sich u. a. in der Reglementierung menarbeit erwiesen. Etwa zeitgleich mit dem ausländischer Einflüsse sowie an den Schnitt- ungewollten Leak veröffentlichte das Minis- stellen zwischen innen und außen in Bereichen terium für Wissenschaft und Hochschulbil- der Internetsicherheitsstrukturen sowie Gesetz- dung zudem ein „Konzept der internationalen gebungen zu sozialen Medien. Dies zeigen die wissenschaftlich-technischen Zusammenar- folgenden Beispiele. beit“. Hierin wurde explizit auf eine horizonta- le und reziproke Vernetzung gesetzt, mit dem Ziel „die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Erlass des russischen Wissenschafts Landes durch eine möglichst weitreichende ministeriums zum Umgang mit ausländi Einbindung in internationale Kooperations- schen Gästen strukturen zu steigern“20. Im Jahr 2019 hat die Weitergabe eines inter- Die befragten deutschen Wissenschaftlerin- 17 nen Erlasses des Wissenschaftsministeriums nen und Wissenschaftler betonten, dass die an die Medien über den Umgang mit ausländi- gute, langjährige Zusammenarbeit mit russi- schen Gästen in der russischen wie auch in der schen Partnern auf gegenseitigem Vertrauen deutschen Hochschullandschaft für Aufregung und Offenheit basiere. Man habe im Zuge der gesorgt. Der Erlass war aus einem Kontext der Öffentlichmachung des Erlasses das Gespräch Spionageabwehr entstanden und sah unter ande- mit den russischen Partnern gesucht, um mög- rem die Anmeldung der Besuche, die Anwesen- liche Implikationen für den wissenschaftlichen heit einer Kontrollinstanz bei gemeinsamen Tref- Austausch sowie den Grad der Umsetzung des fen und die Nutzung von Aufnahmetechnik nur Erlasses gemeinsam zu besprechen. In diesen nach genehmigter Erlaubnis vor. Auch sollten Be- Gesprächen habe sich deutlich gezeigt, so die richte über die Aktivitäten ausländischer Wissen- deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler an den russi- schaftler, dass sich die russischen Universitäten schen Gasteinrichtungen erstellt werden. dezidiert gegen einen solchen Erlass und seine Umsetzung aussprächen. Basierend auch auf Im Verlaufe der Debatten hat das Präsidium der dieser Kritik aus den russischen Universitäten Russischen Akademie der Wissenschaften klar wurde der Erlass letztlich zurückgenommen. Position bezogen und gegenüber dem Wissen- schaftsministerium deutlich gemacht, dass ein solches Vorgehen der Internationalisierungs- Gesetzgebung im IT-Bereich: Implikatio strategie des Ministeriums selbst widerspreche nen für den Wissenschaftsaustausch und freie Vernetzung verhindere. Der Erlass wurde schließlich von dem zu jenem Zeitpunkt Ein weiteres Beispiel des Kontrolldiskurses ist neu eingesetzten Wissenschaftsminister Valery die „Souveränisierung“ der Internetarchitek- Falkov am 10. Februar 2020 aufgehoben: „Wir tur in der Russischen Föderation. Seit dem Jahr 18 Vgl. hierzu auch Kaczmarska 2020, S. 118 f. 19 Falkov 10.02.2020, The Moscow Times; zitiert in Scholars at Risk 2020b, S. 103 20 Hoeschen 2019, S. 2
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN 2000 (Doktrin zur Informationssicherheit der (Gesetz zur Datenspeicherung, seit September Russischen Föderation) erarbeitet der russi- 2015 in Kraft), Vorratsdatenspeicherung sowie sche Staat gesetzliche und technische Struktu- Bereitstellung von Informationen für Sicher- ren, um eine „Souveränisierung“ des Informa- heitsdienste (Anti-Terror-Gesetze / Jarowaja-Ge- tionsbereiches und der Internetarchitektur zu setze 2016) sowie Befugnisse und Zugriffsrechte erreichen21. „Diese zielt insbesondere darauf, des Staates (Souveränes Internet, Gesetzesände- Datenübertragung, Datenaustausch und Daten- rung November 2019)24. speicherung innerhalb der Grenzen Russlands ohne jegliche Einmischung von außen kontrol- Die tatsächliche Implementierung der festge- lieren und steuern zu können.“22 2016 wurde schriebenen sehr umfangreichen Vorgaben be- eine aktualisierte Doktrin zur Informationssi- werten Experten jedoch als schleppend und in cherheit erlassen, in die Erfahrungswerte zum dem angestrebten Umfang für die meisten Be- Internet und sozialen Medien als Mittel zum reiche zu den gesetzten zeitlichen Rahmendaten Austausch und der Vernetzung politischer Kräf- als nicht realistisch25. Es verbleibt somit vorerst te und Oppositionsbewegungen eingeflossen eine Diskrepanz zwischen der Gesetzgebung zu sein scheinen. Dies zeigt sich in der Zielset- zur IT-Infrastruktur, der realistischen Möglich- zung der Doktrin einerseits sowie in den Jahren keit zur Implementierung solcher Maßnahmen 2015 und 2016 verschärften Gesetzgebungen sowie dem weiterhin priorisierten Wunsch nach zur Vorratsdatenspeicherung und breiteren Zu- Wettbewerbsfähigkeit, Wissenschafts- und For- griffsrechten von Sicherheitsdiensten anderer- schungsexzellenz. seits. Die Doktrin von 2016 sieht eine stärkere 18 „Souveränisierung“ des Internets und damit eine stärkere Unabhängigkeit der informations- Freiheit des akademischen Austausches technologischen Infrastruktur der Russischen Föderation vor: „In der Doktrin von 2016 wird Aus der Dissonanz zwischen Internationali- als zentrales strategisches Ziel definiert, die sierungsbestrebungen und Kontrolldiskurs er- Abhängigkeit der russischen Industrie vom gibt sich auch die Frage nach dem derzeitigen ausländischen Markt abzubauen und durch die Stand der Wissenschaftsfreiheit in der Russi- Schaffung, Entwicklung und den breiten Ein- schen Föderation. Seit einem Hoch Mitte der satz inländischer IT zu ersetzen.“23 Zu diesem 1990er-Jahre verzeichnen alle Indikatoren des Zweck ergriffene rechtliche Maßnahmen be- „Academic Freedom Index“26 insbesondere seit ziehen sich auf die Einschränkung von Anony- 2008 einen Abwärtstrend. So lagen die Werte des misierungssoftware und die Registrierung von „Academic Freedom Index“ 1994 bei 0,82 (bei Software und Anbietern von VPNs (Virtuellen einer Skala von minimal 0 bis maximal 1) und Privaten Netzwerken) (2017), die Registrierung 2008 bei 0,69. Dabei stellte der Wert für „Frei- inländischer Software, Vorgaben zur ausschließ- heit des akademischen Austauschs und der lichen Nutzung russischer Soft- und Hardware Wissenschaftskommunikation“ den höchsten für Bereiche der kritischen Informationsinfra- (1,37 auf einer Skala zwischen 0 und 4) der fünf struktur bis 2022, darunter Gesundheitswesen, triangulierten Datensätze für die Bemessung Wissenschaft, Brennstoff-, Metall-, Raumfahrt- des „Academic Freedom Index“ dar. 2019 wur- und Chemieindustrie, Datenspeicherung auf de für die Russische Föderation im „Academic Servern innerhalb der Russischen Föderation Freedom Index“ ein Wert von 0,36 ausgewiesen, 21 Scharikow 2020, S. 18 22 Epifanova 2020, o. S. 23 Epifanova 2020, o. S. 24 Epifanova 2020, o. S. 25 Epifanova 2020, o. S. 26 Der „Academic Freedom Index“ umfasst insgesamt acht Indikatoren, die unter anderem die folgenden fünf Dimensionen von Wissenschaftsfreiheit umfassen: die Freiheit der Forschung und Lehre, die Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, institutionelle Autonomie, Campus-Integrität sowie die Freiheit der akademischen und kulturellen Meinungsäußerung.
Zwischen Internationalisierungsbestreben und Kontrolldiskurs Deutschland liegt im Vergleich bei 0,96.27 Jüngst „… gibt es akademische Freiheit und ist das Bil- ist in der von Katrin Kinzelbach, Professorin dungssystem frei von umfassender politischer für Menschenrechte an der Friedrich-Alexan- Indoktrination?“ sowie „… können Einzelperso- der-Universität Erlangen-Nürnberg, herausge- nen ihre persönlichen Ansichten zu politischen gebenen Publikation „Researching Academic oder anderen sensiblen Themen äußern, ohne Freedom. Guidelines and Sample Case Studies“ Angst vor Überwachung oder Vergeltung zu eine Länderanalyse zu „Academic Freedom in haben?“: Beide Indikatoren werden mit einem Russia“ von Katarzyna Kaczmarska erschie- von vier möglichen Punkten bewertet.33 Das nen28. Wissenschaftsfreiheit sei in der Verfas- „Scholars at Risk Academic Freedom Monito- sung der Russischen Föderation gewährleistet, ring Project“ listet ferner für den Verlauf des so Kaczmarska. Dennoch präge ein zunehmend letzten Jahres vier gemeldete Fälle von Ein- restriktiver Gesetzesrahmen die öffentliche De- schränkung akademischer Freiheit auf (Stand batte und habe mittelbar auch Implikationen November 2020)34. für die Wissenschaft. Diese bestünden einerseits in der Beobachtung und gesetzlichen Einfas- Es ist ratsam, diesen generalisierenden Blick sung von Organisationen und Individuen, die durch eine differenzierte Analyse des jeweili- Finanzmittel aus dem Ausland erhalten (über gen konkreten Kontextes zu ergänzen, um der das „Foreign Agent Law“ von 2012), sowie ande- Vielfältigkeit einer differenzierten Hochschul- rerseits über eine starke Kontrolle politischen landschaft, wie der der Russischen Föderation, Engagements des akademischen Sektors29. Die- gerecht zu werden. Die Akademikerinnen und ser Gesetzesrahmen, auch wenn er sich nicht Akademiker wie auch die neue Leitung des direkt auf die Wissenschaft beziehe, beschreibt Wissenschaftsministeriums der Russischen Fö- 19 Kaczmarska, bestimme den Umfang der öffent- deration haben ein verstärktes Interesse, Inter- lichen Debatte und verweise implizit auf Be- nationalisierung weiter auszubauen, auch um reiche, die nicht diskutiert oder infrage gestellt die Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschafts- werden sollten30. Eine Folge sei Selbstzensur systems zu erhalten bzw. weiterzuentwickeln. von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern So schaffen es gerade diejenigen Kräfte, für die in Bezug auf Themen, die als politisch sensibel Autonomie der Hochschulinstitutionen und eingeschätzt würden oder zentrale Narrative der Freiheit der Wissenschaften wichtig sind, oft Regierung infrage stellten. Die politische Unter- sehr geschickt, eine freie Wissenschaft, Kritik drückung habe in den letzten zehn Jahren zu- und einen pluralistischen Diskurs zu gestalten. genommen, was eine Verbreiterung der Palette Es handle sich, so Stimmen deutscher Wissen- möglicher kritischer Themen nach sich ziehe31. schaftlerinnen und Wissenschaftler, zwar um ein staatlich zentralistisches System, dieses Im „Freedom House Index“, der Meinungsfrei- sei aber weder monolithisch noch statisch, heit in den Blick nimmt, wird die Russische sondern vielmehr dynamisch. Nicht immer Föderation als „nicht frei“ eingestuft, mit 5 sind politische Freiheiten oder ihre Einschrän- von 40 möglichen Punkten in den „politischen kungen vollumfänglich auf den Bereich der Rechten“ und 15 von 60 möglichen Punkten in Wissenschaftsfreiheit übertragbar. Eine trenn- den „zivilen Freiheiten“32. Von besonderer Re- scharfe Unterscheidung und Abgrenzung, so levanz für den Bereich Wissenschaftsfreiheit auch die Erfahrungen deutscher Wissenschaft- sind im „Freedom House Index“ die Aspekte lerinnen und Wissenschaftler, müsse zwischen 27 V-Dem 2020 28 Vgl. Kaczmarska 2020 29 Kaczmarska 2020, S. 116 f. 30 Kaczmarska 2020, S. 118 f. 31 Kaczmarska 2020, S. 121 f. 32 Freedom House 2020 33 Ebd. 34 Scholars at Risk Network 2020a
KIWi IMPULS DIE DEUTSCH-RUSSISCHE ROADMAP: POTENZIALE – HERAUSFORDERUNGEN – KOOPERATIONSERFAHRUNGEN Wissenschaft und Forschung sowie internatio- Wissenschaftsfreiheit innerhalb der Projekte nalen Wissenschaftskooperationen einerseits oder eine Einflussnahme auf Themen erlebt. und politischen Meinungsbekundungen sowie Wenn auch ein gesteigertes Bewusstsein für die politischem Aktivismus andererseits gemacht Sensibilität identitätspolitischer Debatten be- werden. stehe, habe man keine Erfahrungen in Bezug auf Eingriffe in Themenwahl oder Konferenz In der deutsch-russischen Kooperationspraxis, programme gemacht (vgl. folgendes Kapitel). so deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler, habe man keine Einschränkung der 20
Kooperationserfahrungen nutzen Kooperationserfahrungen nutzen Das Kooperationsinteresse russischer Wissen- Kooperationserfahrungen zeigen, dass sich in 21 schaftlerinnen und Wissenschaftler ist in den der Anbahnung sowohl Bottom-up- als auch vergangenen Jahren stark gestiegen, wie aus Top-down-Strategien eignen. Für strategische, einer Reihe von Gesprächen mit in der deutsch- institutionalisierte Kooperationen sei der Um- russischen Zusammenarbeit besonders erfahre- gang mit Top-down-Ansätzen notwendig, so die nen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Erfahrungen der Expertinnen und Experten, deutlich wurde. Dies liegt an den mit den Refor- auch wenn Bottom-up-Prozesse, verstanden als men verstärkt eingeleiteten Internationalisie- individueller, fachlich motivierter Austausch, rungsaktivitäten der russischen Regierung und zunächst nachhaltiger seien. Für beide Ansät- der damit verbundenen gestiegenen Wettbe- ze (auch eine Mischung dieser) sollten ausrei- werbsorientierung im russischen Wissenschafts- chend zeitliche Kapazitäten eingeplant werden. system. Es ist aber auch die große Offenheit und Forschende bauen Kooperationen in der Regel das Interesse russischer Wissenschaftlerinnen über ihre thematischen Interessen, Konferen- und Wissenschaftler (bereits seit den 1990er-Jah- zen und Publikationen auf. Wenn der Wunsch ren), sich in einem internationalen Umfeld zu besteht, gemeinsame Projekte in der Forschung bewegen. Deutsche Wissenschaftlerinnen und und/oder der Lehre belastbar zu entwickeln, ist Wissenschaftler begründen ihr Kooperations- es unumgänglich, dafür unterschiedliche Hie- interesse an der Russischen Föderation mit dem rarchieebenen miteinzubeziehen. Bei strate- großen Engagement, der Verlässlichkeit und gischem Kooperationsinteresse auf deutscher einer hohen akademischen Qualität. Insbeson- Seite können Kooperationen zunächst direkt dere in Methodik und Theorie ist die Ausbildung über institutionelle Hierarchien etabliert wer- des russischen Bildungssystems sehr gut. Zu- den. Zugleich ist aber der rechtzeitige Einbezug dem wurde in der jüngeren Vergangenheit deut- von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- lich in russische Forschungsinfrastrukturen in lern beider Seiten unabdingbar, um die thema- den Natur-, Lebens- und Ingenieurwissenschaf- tischen Schnittstellen und Interessen zu identi- ten investiert, weshalb sich mittlerweile zum fizieren. Um die Interessen auf russischer Seite Teil sehr gute Laborbedingungen finden lassen. besser einschätzen zu können, empfiehlt es sich daher, Kooperationen auf mehreren Ebenen gleichzeitig anzubahnen (individuelle Ebene,
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