Die Kunst des Hungerns. Anorexie in medizinischen Texten des späten 19. Jahrhunderts
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Die Kunst des Hungerns. Anorexie in medizinischen Texten des späten 19. Jahrhunderts Nina Diezemann Summary The Art of Going Hungry. Anorexia in Medical Texts in the Late 19th Century The essay analyzes representations of anorexia in French, English and German medical literature from 1870 to 1900, paying specific attention to rhetorical patterns. Unlike other nervous diseases, anorexia was considered a somatic illness. Rather than sub- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr jects, patients were regarded simply as skeletal bodies. Most medical case histories enact the transformation of an emaciated body into a nubile woman – slender, perhaps, but ready for marriage. The patients are described as studious girls who 'devour’ literature instead of food. This metaphor is taken from etiology to therapy, when the so-called “Mastkur” in the sanatori- um replaces 'enormous’ amounts of literature with 'enormous’ amounts of food to be ea- ten. Medizinhistorische Quellen als Texte In einem Lehrbuch der Neurasthenie aus dem Jahr 1896 findet sich folgen- de Fallgeschichte: Frl. B., 18 Jahre alt; [...] Bei der Aufnahme in die Klinik betrug das K ö r p e r g e w i c h t 4 5 P f d . Das ziemlich kleine (154 cm) Mädchen war skelettartig abgemagert; die Au- gen tiefliegend, Blick fast erloschen, Gesichtsausdruck starr, leblos; die Nahtlinien des Schädels unter der dünnen Haut genau abzutasten, Gesichtsknochen totenkopfartig hervorspringend. Sprache klanglos, fast unhörbar leise. […] Pat. klagt über absoluten Appetitmangel, ja Ekel gegen Nahrungsaufnahme. Schmerzhafte Empfindungen bei jeder Nahrungsaufnahme im ganzen Leibe. – Jede Nahrungsaufnahme musste anfäng- lich erzwungen werden. Ich mußte selbst (unter fortwährendem Weinen und Sträuben der Kranken) ihr die Speisen einflößen. [...] In den häuslichen Verhältnissen besserte sich bei geeignetem Stundenplan das ganze Befinden stetig, so daß die Pat. nach 2 Jah- ren 108 Pfd. wog und sich verheiraten konnte.1 Der Publikationsort überrascht: Der Jenaer Professor für Psychiatrie Otto Binswanger veröffentlichte diesen Fall der Selbstaushungerung zwar unter dem Stichwort »nervöse Anorexie«2, jedoch in einem Buch über Neurasthe- nie. Tatsächlich wird die Anorexie im späten 19. Jahrhundert – im Unter- schied zur Magersucht heute – in den seltensten Fällen als eigenständige Krankheit begriffen, sondern vor allem im Kontext der Nervenleiden, zu denen neben der Neurasthenie vor allem auch die Hysterie zählt, rezipiert. Außerdem fällt auf, wie detailliert der Autor die Folgen der Abmagerung schildert. Er greift nicht nur auf formalisierte Meßergebnisse zurück, son- dern versucht, den Körperzustand möglichst genau wiederzugeben. Auf die 1 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 331f. 2 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 237. MedGG 19 2000, S. 153-178 Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart Franz Steiner Verlag
154 Nina Diezemann möglichen Ursachen der Abmagerung geht er allerdings nicht ein. Zudem schildert er einen Nahrungsekel, der so extrem ist, daß er selbst die Patien- tin füttern muß. Schließlich befremdet das Ende der Fallgeschichte: Er- staunlich für einen heutigen Leser ist vermutlich nicht nur der kausale Zu- sammenhang zwischen Gewicht und Heiratsfähigkeit, sondern daß über- haupt ein solches groschenromanhaftes Happy–End in einem medizini- schen Fachtext auftaucht. Im Folgenden möchte ich zeigen, daß diese Ele- mente keineswegs die Ausnahme sind, sondern typisch für die Darstellung der Anorexie vor 1900. Eine solche Untersuchungsperspektive unterscheidet sich von der eher sozi- algeschichtlich orientierten Darstellung der Medizingeschichte der Anorexie Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr Joan Jacobs Brumbergs3 oder der »retrospektiven Fallidentifizierung» Til- man Habermas‘4 – auch wenn diese auf einem ähnlichen Quellenkorpus basieren. Im Unterschied zu Brumberg geht es nicht darum, Medizin und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als Handlungssystem zu rekonstruieren. Dieser Handlungskontext wird sogar bis zu einem gewissen Grad ausge- blendet, so daß die medizinischen Quellen selbst als Texte in den Blick kommen. Diese Vorgehensweise hat ihr methodisches Vorbild nicht nur in der Literaturwissenschaft5, auch die Medizingeschichtsschreibung wendet sich den Darstellungstechniken, derer sich die Medizin bedient, um ihr Wissen überhaupt zu generieren, verstärkt zu.6 Medizinische Texte werden in dieser Untersuchung wie literarische Texte gelesen und – wie für die Fall- geschichte Binswangers angedeutet – im Hinblick auf ihre Narrativität und Rhetorizität untersucht. Das Quellenkorpus dieser Arbeit7 umfasst englisch-, französisch- und deutschsprachige Texte aus verschiedenen medizinischen Arbeitsgebieten und ›Schulen‹. Auch die Bezeichnung für die Nahrungsabstinenz ist unter- schiedlich: So kursieren neben dem Begriff »Anorexia nervosa« und seinem deutschsprachigen Pendant »nervöse Anorexie« auch noch die Begriffe »Anorexie hystérique« und »Anorexie mentale« sowie deren Übersetzungen. Deshalb verwende ich im Folgenden den unspezifischeren Begriff »Anore- xie«. Leichter als mit dem spezifischen Begriff der »Anorexia nervosa«, noch heute der lateinische Name der Magersucht, läßt sich so den diversen Erscheinungsformen freiwilliger Nahrungsabstinenz und ihrer Behandlung in den medizinischen Texten dieser Zeit Rechnung tragen. 3 Brumberg (1994). 4 Habermas (1990), Habermas (1994). 5 Einen guten Überblick zur Forschung zum Verhältnis von Literatur und Medizin vor 1900 gibt Walter Erhart. Erhart (1998). 6 Vgl. den Sammelband Bödecker/Reill/Schlumbohm (1999) sowie u. a. Steinlechner (1995), Hunter (1991), Epstein (1995), Gradmann (1994). 7 Siehe Literatur- und Quellenverzeichnis. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 155 Die ›Entdeckung‹ der Anorexia nervosa bzw. der Anorexie hystérique Strenggenommen wird die »Anorexia nervosa« bzw. die »Anorexie hystérique« nicht entdeckt. Joan Jacobs Brumberg zufolge stiften der engli- sche Arzt Sir Willliam Gull und der französische Mediziner Charles Lasègue jeweils nur eine mehr oder minder scharf abgegrenzte Diagnose für all jene Fälle freiwilliger Selbstaushungerung junger Mädchen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Privatpraxen und seltener in den Krankenhäusern Englands und Frankreichs auftauchen.8 Auch in den Jah- ren zuvor gab es Beiträge über Eßstörungen im Kontext der Hysterie, die jedoch kaum beachtet wurden.9 Gull selbst veröffentlichte bereits 1868 ei- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr nen Aufsatz über »hysterische Apepsie«, die in der Symptomatik seiner spä- teren Beschreibung der »Anorexia nervosa« gleicht.10 Sowohl Gull als auch Lasègue haben 1873 eine Position, die es ihnen ermöglicht, eine neue Krankheit zu definieren: Der Neurologe Gull ist nicht nur Vorsitzender der »Clinical Society« in London, er ist auch außerordentlicher Leibarzt der Queen Victoria.11 Lasègue ist Chefarzt für klinische Medizin am Pariser Krankenhaus »La Pitié« und gibt die Zeitschrift »Archives générales de médecine« heraus, in der auch seine Studie zur »Anorexie hystérique« er- scheint. Mit diesen Texten etablieren sie nicht nur die Krankheitsbezeich- nung, sondern auch eine Wahrnehmungsweise der Krankheit sowie narrati- ve Muster, Bilder und Metaphern, die in der Rezeption der Anorexie wieder auftauchen. Als Gull 1873 bei einem Vortrag auf der Jahresversammlung der »Clinical Society« in London drei Fallgeschichten vorstellt, beschreibt er den abge- magerten Körper, weiß jedoch keine Ursachen für die mysteriöse Appetitlo- sigkeit zu benennen: The patient complained of no pain, but was restless and active. This was in fact a striking expression of the nervous state, for it seemed hardly possible that a body so wasted could undergo the exercise which seemed agreeable. There was some peevish- ness of temper, and a feeling of jealousy. No account could be given of the exciting cause.12 Die Nahrungsabstinenz erscheint dem Arzt um so erstaunlicher, weil sich bei keiner seiner Patientinnen Organläsionen nachweisen lassen: “The ex- tremely emaciated look […], much greater indeed than occurs for the most part in tubercular cases where patients are still going about, impressed me 8 Vgl. Brumberg (1994), S. 120 sowie Shorter (1999), S. 271. 9 Vandereycken/van Deth/Meermann (1992), S. 160ff. 10 Gull (1868). 11 Vgl. Brumberg (1994), S. 110ff. 12 Gull (1874), S. 23. Franz Steiner Verlag
156 Nina Diezemann at once with the probability that I should not find no visceral disease.”13 Zudem werden die Mädchen, die von der Krankheit betroffen sind, als »nice, plump, good–natured«14 beschrieben. Nach Gull ist die Appetitlosig- keit auf einen »morbid mental state« zurückzuführen.15 Gull sieht sie also als eine Art vorübergehender Geisteskrankheit. In Folge von Gulls Vortrag werden in der englischen Medizinzeitschrift »Lancet« eine ganze Reihe von Fällen veröffentlicht, die seinem Modell folgen.16 Gull selbst berichtet 1888 noch einmal von einem Fall plötzlicher rätsel- hafter Nahrungsabstinenz: The patient, who was a plump, healthy girl until the beginning of last year (1887), be- gan, early in February, without apparent cause, to evince a repugnance to food; and Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr soon afterwards declined to take any whatever, except half a cup of tea or coffee.17 Gulls Darstellung in seinem ersten Vortrag von 1873, ebenso wie in der Fallgeschichte von 1888, bleibt jedoch knapp und folgt dem medizinischen Schema der Messung vitaler Funktionen (Körpertemperatur, Puls etc.). Der Kern der Krankheit liegt offenbar in diesen Befunden, das Verhalten seiner Patientinnen hat für ihn keine Aussagekraft. Anders als in der englischen Debatte beschränkt sich die Beobachtung der Patientinnen in dem zeitgleich veröffentlichten französischen Text nicht nur auf das Messen von Herzschlag und Pulsfrequenz. Auch Charles Lasègue spart zwar mögliche psychische Auslöser weitgehend aus, beobachtet das Verhalten der Kranken jedoch sehr genau und beschreibt sie mit Hilfe von Kriegs- bzw. Kampfmetaphorik. Im Unterschied zu Gulls kurzen Fallge- schichten ist Lasègues Studie sehr viel komplexer. Er gliedert sie in drei Ab- schnitte entsprechend den drei Phasen der Anorexie, die er für diese Krank- heit annimmt. Er selbst schreibt sich als behandelnder Arzt die Erzähler- funktion in dieser Fallgeschichte zu. Indem er die Kranke zu seiner Gegen- spielerin macht, sichert er ihr als Figur in seinem Text eine Handlungsauto- nomie zu, die sie von den Patientinnen in Gulls Texten unterscheidet. Lasègue sieht die Krankheit als Kriegserklärung: »Die Krankheit wurde er- klärt«.18 Die Kranke liege »auf der Lauer [à l'affût]«19, die »Kampfhand- 13 Gull (1874), S. 23. In den meisten Fällen wird zunächst Schwindsucht als Ursache der Abmagerung angenommen. 14 Gull (1874), S. 27. 15 Gull (1874), S. 25. 16 Vgl. Collins (1894), Carr (1911), DeBerdt Hovell (1888), Dowse (1881), Edge (1888), Stephens (1895), MacKenzie (1881), Marshall (1895). William Smoult Playfair al- lerdings hielt Gulls Anorexia nervosa für eine Variante der Neurasthenie, vgl. Playfair (1888). 17 Gull (1888), S. 517. Kursive Hervorhebungen sind in diesem wie allen folgenden Zita- ten von mir, N. D. 18 Lasègue (1873), S. 386. Französische Übersetzungen sind, sofern nicht anders ange- ben, von mir, N. D. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 157 lungen haben begonnen [on a commencé les hostilités]«20 und die Kranke nehme sich das Recht heraus, sie mit einer »erbarmungslosen Ausdauer [ténacité implacable]«21 fortzuführen. Der Erzähler durchschaut die Taktik der Kranken trotz Dissimulationstechniken: »Die Kranke, weit davon ent- fernt schwächer oder bekümmerter zu werden, stellt eine Art der Lebhaf- tigkeit zur Schau [déployer], die man sonst von ihr nicht gewohnt ist; man könnte sogar sagen, daß sie für die letzten Phasen Vorsichtsmaßnahmen trifft [prend ses précautions] und sie bereitet Argumente vor, derer sie sich sicher bedienen wird.«22 Sowohl »déployer« als auch »prendre ses précauti- ons« sind Vokabeln aus dem Bereich des Militärs. An anderer Stelle heißt es, die Kranke entziehe sich ihrem Kranksein, indem sie einen »unein- nehmbaren Optimismus [optimisme inexpugnable]«23 demonstriere. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr Die Familienmitglieder – die bei keiner anderen Fallgeschichte so stark be- rücksichtigt sind – werden mit ihrer Beschwichtigungspolitik unfreiwillig zu Komplizen: Die Familie hat nur zwei Methoden zur Verfügung, derer sie sich stets erschöpfend be- dient: Bitten und Drohen, und die der einen [Kranken; N. D.] wie den anderen [Fami- lienmitgliedern; N. D.] als Prüfstein dienen. In der Hoffnung Appetit zu wecken ver- vielfacht man bei Tisch die Delikatessen […]. Man fleht, man verlangt es als einen Ge- fallen, als einen Liebesbeweis, daß die Kranke sich fügt und einen Bissen mehr zu sich nimmt von der Mahlzeit, die sie bereits für beendet erklärt hat.24 Lasègue greift jedoch nicht nur auf militärische Bilder zurück. Mit der Figur eines »gemeinsamen Werks« evoziert er eine weitere Bildebene: Die Anorexie wird nach und nach der einzige Gegenstand aller Sorgen und Gesprä- che. Sie bildet allmählich eine Art von Atmosphäre um die Kranke, die sie einhüllt und der sie an keiner Stunde des Tages entkommt. Die Freunde gesellen sich zu den Eltern, jeder trägt zum gemeinsamen Werk bei […].25 19 Lasègue (1873), S. 386. 20 Lasègue (1873), S. 386. 21 Lasègue (1873), S. 386. 22 Lasègue (1873), S. 391. «La malade loin de s'affaiblir, de s'attrister déploie une façon d'alacrité qui ne lui était pas ordinaire, on pourrait presque dire qu'elle prend ses pré- cautions pour les périodes ultérieures et qu'elle prépare des arguments dont elle ne manquera pas de se servir.» 23 Lasègue (1873), S. 395. 24 Lasègue (1873), S. 393 «La famille n'a à son service que deux méthodes qu'elle épuise toujours: prier ou menacer, et qui servent l'une et l'autre comme de pierre de touche. On multiplie les délicatesses de la table dans l'espérance d'éveiller l'appétit […]. On supplie, on réclame comme une faveur, comme une preuve souveraine d'affection que la malade se résigne à ajouter une seule bouchée supplémentaire au repas qu'elle dé- clare terminé.» 25 Lasègue (1873), S. 393 «L'anorexie devient peu à peu l'objectif unique des préoccupa- tions et des conversations. Il se forme ainsi une façon d'atmosphère autour de la ma- Franz Steiner Verlag
158 Nina Diezemann Die Krankheit als »geistige Perversion [perversion intellectuelle]«26 wird als ein »Werk« aufgefaßt, eine Zeichenordnung, die mit der des Arztes konkur- riert und die er als Interpret zerstören und ersetzen muß.27 Wenn so die Krankheit als Text gesehen wird, kann ein Satz der Kranken zum Symptom werden: »Ich leide doch nicht, mir geht es gut […]. Diesen Satz habe ich so oft von den Kranken wiederholt bekommen, daß er für mich inzwischen ein Symptom ist, fast ein Zeichen.«28 Da in Lasègues Untersuchung diese Textmetaphorik mit der Militärmetaphorik konkurriert, bleibt es unent- scheidbar, ob der Satz der Kranken »Ich leide doch nicht, mir geht es gut«29 ein von ihr gewähltes Mittel kriegerischer Verstellung – des »uneinnehmba- ren Optimismus«30 – ist oder ob die Kranke (wie andere Nervenleidende ihrer Zeit) ihren »falschen Assoziationen«31 erliegt. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr Lasègues Beobachtung der Kranken und ihrer Familie und die komplexe, fast literarische Darstellung des Krankheitsverlaufs bleibt eine Ausnahme. Sein Text ist einer der wenigen, der die Anorektikerin zu einer handelnden Figur macht; in den anderen medizinischen Quellen ist der Arzt Hauptak- teur. Auch wenn sie sich auf ihn berufen, übernehmen vor allem deutsch- sprachige Autoren nur seine nosologische Klassifikation der Krankheit.32 In ihrer Darstellung folgen sie eher dem Modell Sir William Gulls. Ätiologien Wie Sir William Gull und Charles Lasègue gehen auch die Mediziner nach 1873 davon aus, daß die Patientinnen tatsächlich keinen Hunger verspüren, sondern Ekel gegen die Nahrungsaufnahme. Mit Ausnahme der Darstellung in einer Fallgeschichte des Charcot–Schülers Pierre Janets vom Anfang des 20. Jahrhunderts33 werden die Kranken als Personen geschildert, die tat- sächlich Nahrungsekel verspüren, also nicht nicht essen wollen, sondern nicht essen können. Auch in der eingangs zitierten Fallgeschichte leidet Fräulein B. unter Nahrungsekel; sie klagt sogar über Schmerzen bei der lade qui l'enveloppe et à laquelle elle n'échappe à aucune heure de la journée. Les amis se joignent aux parents, chacun contribue à l'œvre commune […].» 26 Lasègue (1873), S. 395. 27 Vgl. Steinlechner (1995), S. 62, sowie Epstein (1995) und Hunter (1991). 28 Lasègue (1873), S. 395. «Je ne souffre pas donc, je suis bien portante […]. Cette phrase je l'ai entendue répéter tant de fois par les malades que maintenant elle représente pour moi un symptôme, presque un signe.» 29 Lasègue (1873), S. 395. 30 Lasègue (1873), S. 395. 31 Steinlechner (1995), S. 62. 32 U. a. Rosenthal (1886), S.13. Vgl. Habermas/Vandereycken/van Deth/Meermann (1990), S. 468. 33 Janet (1919), S. 34. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 159 Nahrungsaufnahme.34 Sieht man sich jedoch die gesamte Fallgeschichte an, so haben die Schmerzen in diesem Fall eine wichtige dramaturgische Funk- tion: Binswangers Rolle als Arzt, der seine Patientin füttert, wäre eine an- dere, wenn diese die Nahrungsaufnahme verweigerte, auch wenn sie gar keine Schmerzen hätte. Ekel und Schmerzen bei der Nahrungsaufnahme sind ein wichtiges Element dessen, daß die Anorexie im späten 19. Jahr- hundert als Krankheit wahrgenommen wird und in die nosologischen Schemata der Nervenleiden paßt. Der Wiener Medizinprofessor Moritz Rosenthal dokumentiert in seiner Ab- handlung »Magenneurosen und Magencatarrh sowie deren Behandlung« (1886) folgende Fälle: Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr Eine 24jährige zarte Blondine, seit 6 Jahren verheiratet, dysmenorrhoisch und steril (Antifelxio unteri), litt bereits als Mädchen an hochgradiger Nervosität und Migräne, doch nicht an manifesten hysterischen Beschwerden. Nach einer Reihe von Gemüths- erschütterungen büsste sie rasch ihren Schlaf und Appetit ein; jeglicher Speisegenuss rief schmerzhaftes Spannen und Drücken im Magen hervor. Am wohlsten fühlte sich die Patientin, wenn sie selten und nur ganz wenig zu sich nahm.35 Ein 20 Jahre altes, zartes, chlorotisches, schlecht menstruirtes Mädchen litt seit Jahren an Verdauungsschwäche. Im letzten Jahre bewirkten Aufregungen und Nachtwachen eine hochgradige Verschlimmerung; Patientin verlor jede Eßlust […] und wurde sehr mager und schwach.36 Rosenthal beruft sich auf Lasègue und sagt: »Starke Gemüthsbewegungen sind […] häufig als ursächliches Moment zu beschuldigen.«37 Während bei Lasègue einige der »Gemüthsbewegungen« stichwortartig genannt wer- den – »ein wirkliches oder eingebildetes Hochzeitsprojekt, eine Unannehm- lichkeit wegen irgendeiner Vorliebe oder sogar ein mehr oder weniger be- wußtes Verlangen«38 – ist bei Rosenthal davon nicht die Rede. Er berichtet zwar in der ersten Fallgeschichte von »Gemüthserschütterungen« und in der zweiten von »Aufregungen« und »Nachtwachen«, jedoch nicht davon, was sie ausgelöst hat. In diesem Text zeigt sich deutlich, daß die Anorexie nach einem ähnlichen Schema wie die anderen Nervenleiden rezipiert und daher zumeist auch nicht als eigenständige Krankheit begriffen wird. In diesem immer noch somatisch begründeten Modell schlagen sich die »Gemüthser- schütterungen« wegen der Verarmung der Nervenkraft direkt nieder, das Nervensystem wird buchstäblich erschüttert. Mangelhafte Ernährung wird zur Ursache von Nervenleiden wie Neurasthenie und Hysterie. So schreibt 34 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 337. 35 Rosenthal (1886), S. 15. 36 Rosenthal (1886), S. 15. 37 Rosenthal (1886), S. 13. 38 Lasègue (1873), S. 386. «[…] un projet réel ou imaginaire de mariage, [...] une contra- riété afférente à quelque sympathie ou même à quelque aspiration plus ou moins consciente […]». Franz Steiner Verlag
160 Nina Diezemann der amerikanische Neurologe George M. Beard: »Nach meiner Ansicht […] liegt der Krankheit [Neurasthenie; N. D.] eine Verarmung der Nervenkraft (nerve–force) zu Grunde. Sie entsteht in Folge mangelhafter Ernährung der Nervengewebe, von deren Metamorphose die Entwicklung der Nervenkraft abhängig ist.«39 Und sein Kollege S. Weir Mitchell betont: Man beachtet in der Regel zu wenig, dass mit dem Schwinden der Gewebe auch das Blut dünner wird, ebenso wie es sich verbessert, wenn jene zunehmen. [...] Der Fett- schwund […] geht fast immer Hand in Hand mit den Erscheinungen der Verschlech- terungen des Blutes. Andererseits ist die Fettzunahme bis zu einem gewissen Grade von einer allgemeinen Verbesserung der Gesundheit begleitet, die sich in der besseren Gesichts- farbe und der reichlicheren Menge der rothen Blutkörperchen kund thut.40 Die Erschütterung eines – oft durch mangelnde Nahrungszufuhr bereits an- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr fälligen – Nervensystems wird auch als Folge von traumatischen Erlebnis- sen beschrieben.41 In den »Poliklinischen Vorträgen« (1887/88) des Leiters der Pariser »Salpêtrière«, Jean–Martin Charcot, findet sich folgender Auf- tritt eines »jungen Mädchens in Begleitung seiner Mutter«42: Charcot: Seit wann ist sie krank? Die Mutter: Sie war zufällig dabei, wie ein Kind von einem Eisenbahnwagen zer- quetscht worden ist. Charcot: Das Kind ist gestorben? Die Mutter: Augenblicklich. […] Charcot: Was hat sie damals geäussert? Die Mutter: Sie hat geschrien: ›Ich fürchte mich, schrecklich!‹ Und am nächsten Tag hat sie geäussert, dass ihr von dem Anblick Arme und Beine wie abgeschlagen waren. […] Charcot: (Zu dem Mädchen:) Mein Kind, sehen Sie noch manchmal im Traum die Scene, wie das Kind zerquetscht wird? Die Kranke: Ich habe wiederholt davon geträumt, aber nicht jede Nacht. Charcot: An was leiden Sie also jetzt hauptsächlich? Die Kranke: Ich kann nicht essen.43 Durch Charcots Deutung – »Das ist gerade so, als ob die hysterogene Zone ihren Sitz im Magen aufgeschlagen hätte.«44 – wird zwar eine Verbindung zwischen der traumatischen Szene und Anorexie hergestellt. Es ist ein 39 Beard (1881), S. 107f. 40 Mitchell (1887), S. 5f. 41 Zum Übergang von der somatischen zur psychosomatischen Deutung des Traumas vgl. Fischer-Homberger (1975). 42 Charcot (1887/88), S. 261, Übersetzung von Sigmund Freud. 43 Charcot (1887/88), S. 261, Übersetzung von Sigmund Freud. 44 Charcot (1887/88), S. 261, Übersetzung von Sigmund Freud. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 161 Schockerlebnis, das die Anorexie auslöst. Diese Verbindung erhält jedoch nicht den Status einer psycho–logischen Erklärung. Zum Teil treten die »Gemüthsbewegungen« in Folge körperlicher Verände- rungen auf. Ein weiterer Fall Charcots – das »Mädchen aus Angoulême« – war »seit fünf oder sechs Monaten stark gewachsen […] und [verweigerte] seither hartnäckig […], Nahrung zu sich zu nehmen, obwohl bei ihr weder eine Schlingstörung noch ein Magenleiden bestand.«45 Über Julie R., die zehn Jahre später von E. Brissaud und A. Souques in der Salpêtrière behan- delt wird, heißt es: »Sie war kräftig zu jener Zeit und wohlauf. Weil man sie Dickerchen nannte, sagte sie zu sich, ›gut, ich werde mich zwingen abzu- nehmen.‹«46 Durch das Stilmittel der ›erlebten Rede‹, das die Autoren hier Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr verwenden, wird im Text deutlich – selbst wenn es nicht eine explizite Fol- gerung der Autoren ist –, der Anorexie der Julie R. geht ein psychischer Vorgang voraus. Otto Binswanger zitiert in seinem 1904 erschienenen Handbuch »Die Hys- terie« nicht nur die europäische Debatte (Gull, Lasègue, Charcot, Huchard, Stiller, Dowse, Fenwick und Sollier), er unterschiedet auch zwischen durch »Perversion der […] Organgefühle« ausgelöster Anorexie und einer durch Vorstellungen ausgelösten Form. Während der ersten Konzeption weiterhin das somatische Modell zugrunde liegt, finden mit dem zweiten Ansatz auch psychische Auslöser ihren Niederschlag in seiner Anorexiekonzeption. Die Gewichtsphobie ist dabei die »einfachste Form dieser durch Vorstellungen verursachten Anorexia nervosa«47. Laut Binswanger ist sie »nur eine patho- logische Steigerung jener auch bei gesunden jungen Mädchen und Frauen gar nicht seltenen vorkommenden eitlen Besorgnis, zu dick zu werden und dadurch die Schönheit einzubüssen.«48 Mit den Worten »eingezwängt« und »unterdrückt« evoziert Binswanger Assoziationen an das Korsett, dem zeit- genössischen Apparat für Frauen, nicht zu dick zu erscheinen: »[D]ie Nah- rungsaufnahme wird, indem das natürliche Hungergefühl ›eingezwängt‹ und ›unterdrückt‹ wird, allmählich verringert, bis schliesslich der Appetit thatsächlich verloren geht und die sehnlichst herbeigewünschte Abmage- rung in überreichem Maasse stattfindet.«49 Janet berichtet in einem auf eng- 45 Charcot (1886), S. 194, Übersetzung von Sigmund Freud. 46 Brissaud/Souques (1894), S. 239. «[E]lle était à cette époque forte et bien portante. […] Lorsqu'on l'appelait boulotte, ‹c'est bien, disait-elle intérieurement, je vais m'efforcer de maigrir.›» 47 Binswanger (1904), S. 611. 48 Binswanger (1904), S. 611f. 49 Binswanger (1904), S. 611f. Gewichtsphobie ist im heutigen Bild der Anorexia nervosa zentral. Allerdings wird Gewichtsphobie heute - wie Tilman Habermas erklärt - nicht unbedingt als Ausdruck eines pervertierten Schönheitsideals (»Koketterie«) gedeutet, sondern als der Versuch, die Grenze zwischen »Ich und Nicht-Ich« durch »zusam- mengezogene Körpergrenzen» zu verstärken, vgl. Habermas (1994), S. 35. Zur Ge- Franz Steiner Verlag
162 Nina Diezemann lisch publizierten Vortragsband, daß Charcot bei einer Patientin ein rosa- farbenes Band um die Taille geschnürt gefunden habe: “He obtained follo- wing confidence; the ribbon was a measure which the waist was not to exeed.”50 Als weitere »Vorstellungen« werden »hypochondrische Vorstel- lungen, daß vieles Essen ungesund sei« genannt: »Körper und Geist [könn- ten] bei einer möglichst geringen Nahrungsaufnahme nur gewinnen […]«51. »Sehr häufig wird diese hypochondrische Geistesrichtung von den Patien- ten durch bestimmte Liebhabereien, diätische Curen, vor allem durch vege- tarianische Lebensweise eingeleitet, um auf diesem Wege von pathologi- schen Empfindungen (Kopfdruck, Schwindel u.s.w.) befreit zu werden.«52 Einen weiteren »Vorstellungskreis«53 sieht Binswanger im »Widerspruchs- geist«54 und dem damit zusammenhängenden Wunsch, »als ein besonders Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr geartetes Menschenkind zu erscheinen«55. Neben der Fallgeschichte »Nadia« aus Janets »Les obsessions et la psy- chasthénie« (1919)56 beschäftigt sich allein – wie an dieser Stelle jedoch nur kurz skizziert werden kann – der Berner Psychotherapeut Louis Schnyder mit komplexeren psychischen Erklärungen für die Nahrungsabstinenz, die über die von Binswanger beschriebenen »Vorstellungskreise« hinausge- hen.57 Sigmund Freud führt in der Einleitung zu seinen gemeinsam mit Jo- sef Breuer veröffentlichten »Studien über Hysterie« (1895) Anorexie nur als »banalstes Beispiel« für eine Konversionshysterie an.58 Der Ekel in diesen Fallgeschichten richtet sich jedoch nicht auf das Essen an sich, sondern wird vielmehr durch einen »schmerzliche[n] Affekt«59 hervorgerufen, der wichtsphobie in Texten des späten 19. Jahrhunderts siehe auch Habermas (1994), S. 80-83. 50 Janet (1920), S. 234. Janet kritisiert jedoch, daß diese Ideen überbewertet werden: “This is what certainly happened to Charcot, who used to seek everywhere for his rose-coloured ribbon and the idea of obesity”, dies. (1920), S. 234f. Auch Louis Schnyder tut in einem Aufsatz von 1913 die Furcht zu dick zu werden als »Fassaden- grund« ab, vgl. Schnyder (1913), S. 356. 51 Binswanger (1904), S. 611. 52 Binswanger (1904), S. 611. 53 Binswanger (1904), S. 611. 54 Binswanger (1904), S. 611. 55 Binswanger (1904), S. 611. Der Wunsch, Aufmerksamkeit zu erregen, ist laut Brum- berg das im späten 19. Jahrhundert vorherrschende Erklärungsmodell. Auch diese Er- klärung paßt in die Schemata des 19. Jahrhunderts, sie wurde für alle Formen hysteri- schen Verhaltens herangezogen, vgl. Brumberg (1994), S. 137. 56 Janet (1919), S. 34f. 57 Schnyder (1912). 58 Breuer/Freud (1895), S. 28. 59 Breuer/Freud (1895), S. 28. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 163 während des Essens entsteht, jedoch unterdrückt wird. Interessanterweise mißt jedoch Freud gerade dem Eßverhalten besondere Bedeutung zu. Die Anorexie seiner Patientin Emmy v. N. beispielsweise werfe das »hellste Licht auf den Charakter der Kranken und auf die Entstehungsweise ihrer Zustände«60. In einem für Wilhelm Fließ bestimmten Manuskript stellt er eine Verbindung zwischen Anorexie und Sexualität her. Für ihn ist die »be- rühmte Anorexia nervosa bei jungen Mädchen […] eine Melancholie bei unentwickelter Sexualität […] Appetitverlust – im Sexualen Verlust von Libido.«61 Wie auch in seiner Erklärung der Anorexie als Phänomen einer Konversionshysterie hat die Anorexie eine Bedeutung, die über sie selbst hinausweist. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr Schnyder betont in seiner Fallstudie «Le cas de Renata» (1912), die sich auch stilistisch sehr eng an die Fallgeschichten Freuds anlehnt, wie auch in einem ein Jahr später veröffentlichten Aufsatz, daß der Anorexie eine kom- plexere Ursache zu Grunde liege, als die von Freud skizzierte sexuelle Ätio- logie.62 »Die Anorexie hatte, wie ich glaube, eine höhere ethische Begrün- dung. […] Das Kind will Kind bleiben. Mit der ganzen Macht seines Selbster- haltungstriebes erstrebt es dann ein Stillbleiben im Leben, sogar eine Regression seiner Entwicklung, und die Anorexie erscheint ihm in mehr oder weniger klar bewußter Weise das sicherste Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.«63 Dieser Ansatz bleibt jedoch auch für die Zeit nach der Jahrhundertwende eine Ausnahme. Die Perspektive der anderen Mediziner ist durch das Mo- dell der Nervenleiden geprägt. So richten sich die Therapien auch weniger auf die psychischen Ursachen der Anorexie als vielmehr nur auf den abge- magerten Körper der Kranken. Therapien Sowohl Gull als auch Lasègue plädierten für eine Isolierung der Kranken von ihren Angehörigen – eine Maßnahme, deren Wirkung auch bei ande- ren Nervenleiden geschätzt wird. So schreibt S. Weir Mitchell, amerikani- scher Erfinder einer gängigen Therapie: Man trenne die Patientin einmal von ihrer körperlichen und geistigen Umgebung, die ein Theil ihres Lebens und ihrer Krankheit geworden ist, die dadurch bewirkte Veränderung wird sich wohltätig für sie selbst erweisen, und für die nun folgende Behandlung eine mächtige Unterstützung bilden.64 Auch der Leiter der Pariser Salpêtrière, Jean–Martin Charcot, hält Isolie- rung für ein geeignetes Mittel. Als Grund dafür impliziert er jedoch weniger 60 Breuer/Freud (1895), S. 99. 61 Freud (1893), S. 92. 62 Schnyder (1912). 63 Schnyder (1913), S. 357. 64 Mitchell (1887), S. 25. Vgl. auch Brumberg (1994), S. 146. Franz Steiner Verlag
164 Nina Diezemann die Herauslösung aus den bisherigen Lebensgewohnheiten, sondern eher eine Einschüchterung der Patientinnen. Den Eltern seiner anorektischen Patientin, »das Mädchen aus Angoulême«, erklärt er, es bestehe nur dann die Möglichkeit zur Heilung, wenn sie ihr Kind verließen. »Die Isolierung war also erreicht, ihre Resultate zeigten sich rasch und in wunderbarer Wei- se.«65 Das Mädchen habe gegessen, bis »Kräfte, Appetit, Körperfülle […] nicht mehr viel zu wünschen übrig [ließen]«66, und sie folgendes »Geständ- nis« macht: So lange Papa und Mama mich nicht verlassen haben, mit anderen Worten, so lange Sie nichts durchgesetzt hatten [...] glaubte ich, dass meine Krankheit nicht gefährlich sei und da ich einen Ekel vor dem Essen hatte, ass ich nicht. Aber als ich sah, dass Sie der Herr geworden sind, bekam ich Furcht; ich habe trotz meiner Abneigung zu essen ver- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr sucht, und dann ist es allmählich gegangen. 67 Auch der französische Arzt Paul Sollier hält die Wirkung des »familiären Milieus [milieu familial]«68 für äußerst schädlich – »weil die Familie, wegen der Schwäche ihres Charakters, ihrem Mangel an Festigkeit gegenüber der Kranken die Bemühungen des Arztes nach und nach zerstört […]«69. Wie Charcot versteht er seine Methode als »Einschüchterungsmethode [methode d'intimidation]«70. Die Kranke befinde sich in der »absoluten Macht [en son pouvoir absolu]« des Arztes und sie dürfe »keinerlei Verkehr [aucune com- munication]« mit ihrer Familie haben, so lange sie nicht äße.71 Hypnose und künstliche Ernährung mit der Sonde lehnt Sollier allerdings ab.72 »Bi- zarre Inszenierungen [mises en scène bizarres]«73 – das Zeigen der Sonde (wie ein Folterwerkzeug) zur Abschreckung – seien »unter der Würde eines Arztes [n’est pas de la dignité d’un médecin]«74. 65 Charcot (1886), S. 196. 66 Charcot (1886), S. 196. 67 Charcot (1886), S. 196. 68 Sollier (1891), S. 643. 69 Charcot (1886), S. 196. «[…] car la famille […], qui par sa faiblesse de caractère, son manque de fermété dans la direction de la malade, détruit au fur et à mesure tous les efforts du médecin.» 70 Charcot (1886), S. 196. 71 Charcot (1886), S. 645. 72 Charcot (1886), S. 647. 73 Charcot (1886), S. 646. 74 Charcot (1886), S. 646. Anton Stichl hingegen befürwortet die Zwangsernährung: »Manchen Kranken ist diese Procedur gar nicht unangenehm, im Gegentheil, sie ma- chen sich nicht im Geringsten etwas daraus, ja sie empfinden es sogar als angenehm, haben sie doch nicht den ihnen so widerlichen Geschmack der Speisen zum empfin- den, sie haben nicht dieses lästige Ekelgefühl, welches sie sonst beim Kauen der Spei- sen empfinden.« Stichl (1892), S. 60. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 165 In der Regel werden Anorektikerinnen mit einer unspezifischen Ernäh- rungstherapie geheilt, die von George M. Beard und S. Weir Mitchell ent- wickelt und die nicht nur bei Hysterie und Neurasthenie, sondern – vor Entdeckung des Tuberkulose–Bazillus – auch bei Schwindsucht angewandt wurde.75 Diese »methodische Mastcur«76 setzt sich aus den Elementen »[a]b- solute Ruhe« und »systematische Überernährung«77 zusammen. Die Speise- pläne der »Ernährungstherapie« à la Mitchell werden von Otto Binswanger an die deutschen Eßgewohnheiten angepaßt und lassen wie die Zwangser- nährung keinen Widerstand der Patientinnen zu: »Die Hauptsache ist, daß die Kranken von Anfang an gewöhnt werden, alle zwei Stunden unweigerlich eine neue Mahlzeit zu sich zu nehmen,«78 betont Binswanger – um 7 Uhr Milch oder Kakao, um 9 Uhr Bouillon, Fleisch, Brot und Butter, um 11 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr Uhr Milch mit einem Eigelb, insgesamt acht Mahlzeiten täglich, wobei die »Speisemengen« allmählich gesteigert werden.79 Zusätzlich gibt es »Opel'- schen Nährzwieback«, »v[on] Mering'sche Kraftchocolade« und andere »Chocoladepräparate« – selbst nahrhafte Nahrung ist noch in ihrer Nahr- haftigkeit steigerungsfähig. Gleichzeitig werden die Patientinnen körperlich und geistig ruhig gestellt. Otto Binswanger, der in seinem Lehrbuch »Die Hysterie« darauf hinge- wiesen hatte, daß Anorexie auch auf bestimmte »Vorstellungen« zurückzu- führen sei,80 betont im selben Lehrbuch, daß die »Mastcur«, um eine »ziel- bewußte Psychotherapie« ergänzt, die »schönsten Erfolge« zeige.81 Hier wird deutlich, daß trotz dieser Ergänzung Binswangers Therapien wenig mit heutigen Vorstellungen von Psychotherapie zu tun haben, sondern daß ihnen vielmehr noch immer die Vorstellung zugrunde liegt, die Nerven be- dürften der Ernährung, um »Gemüthserschütterungen« standhalten zu kön- nen.82 Binswanger geht es weniger darum, die psychischen Ursachen der Nahrungsabstinenz zu beseitigen, als vielmehr die Patientinnen zum Essen zu überreden. So schlägt er in seinem Handbuch folgende therapeutische Rede an die Kranken vor: 75 Zum einen wurde, bevor sich die Lehre von der Infektionskrankheit durchgesetzt hat- te, Schwindsucht als Nervenkrankheit gesehen und was die Ernährung anbetrifft auch ähnlich kuriert, vgl. z. B. Cornet (1903) und Schweizer (1903). 76 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 27. 77 Mitchell (1887), S. 1. 78 Binswanger (1904), S. 917. Der gesamte Satz ist von Binswanger durch Kursivierung hervorgehoben. 79 Binswanger (1904), S. 917. 80 Binswanger (1904), S. 610. 81 Binswanger (1904), S. 614. 82 Binswanger (1904), S. 869. Franz Steiner Verlag
166 Nina Diezemann all diese rein seelischen Krankheitserscheinungen werden immer schlimmer werden, je länger Sie hungern, denn gerade die Nervensubstanz bedarf der Zuführung reichlichen und kräftigen Nahrungsmaterials. Von den Leistungen Ihres Nervensystems hängt die Art Ihres Empfindens und Ihrer Gefühle und, was das Wichtigste ist, Ihre Willenskraft ab.83 Wenn Binswanger von »Psychotherapie« spricht, verwendet er ein ähn- liches Vokabular wie bei seiner Beschreibung der Vorzüge der Hypnose, die für ihn ohnehin die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg einer »Psy- chotherapie« bei der Anorexie wie bei allen anderen Nervenleiden darstellt. Die Kranken seien in ein »hypochondrisches Denksystem verstrickt«,84 schreibt er in seinem Lehrbuch der Neurasthenie. Nur wenn sie mit »einem Schlage in völlig veränderte Daseinsbewegungen versetzt«85 würden, habe Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr der Arzt die Möglichkeit, »seinen Willen dem Patienten in vollem Umfange zu induzieren«.86 Mit »induzieren« evoziert Binswanger eine Inkorporation des Willens: Die Patientin muß also den Text des Arztes aufnehmen wie Nahrung oder Medizin. Patientinnen und Ärzte Wie bei der – im Unterschied zur ›männlichen‹ Neurasthenie, zumeist als ›weiblich‹ konnotierten Hysterie87 – handelt es sich auch bei der Anorexie von Anfang an um eine Frauenkrankheit. So schränkt bereits Gull – auch wenn er männliche Kranke grundsätzlich nicht ausschließt und sogar Fälle beobachtet haben will – die Gruppe der Betroffenen auf junge Mädchen zwischen 16 und 23 Jahren ein.88 In ihrer leichten Variante geht die Anore- xie mit den Weiblichkeitsklischees der Epoche ohnehin konform. Wie die leichte Hysterie ist auch die leichte Anorexie nicht krankhaft, sondern ge- hört zu den zeittypischen Vorstellungen von Weiblichkeit.89 Die »exhaltir- ten hysterischen und chlorotischen jungen Mädchen«, für deren Anschau- 83 Binswanger (1904), S. 869. 84 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 392. 85 Binswanger (1904), S. 869. 86 Binswanger (1904), S. 869. 87 Link-Heer zeigt in einem Aufsatz den fehlgeschlagenen Versuch, die Hysterie zu einer geschlechtsneutralen Krankheit ›umzuschreiben‹, vgl. dies. (1988). 88 Vgl. Gull (1874), S. 22. Die Altersgrenzen variieren um mehrere Jahre nach oben und unten. Es gibt sowohl jüngere als auch ältere Fälle. 89 Vgl. Pohle (1998). Das Verschwinden durch Nahrungsabstinenz ähnelt nicht in die- sem Punkt der Krankheit mit dem bezeichnenden Namen Schwindsucht: Zu der Pas- sivität der Frau um 1900 gehört oft die Krankheit, eine Phantasie, die im Bild der Schwindsüchtigen kulminiert: »Die an ›Schwindsucht‹ sterbende Frau hat in ihrer zerbrechlichen körperlichen Verfassung wiederum Ähnlichkeit mit dem Kind. Sie ist unschuldig in ihrer ätherischen Körperlichkeit und sich ihrer Schönheit, die von Krankheit definiert wird, nicht bewußt.« Ders. (1998), S. 64. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 167 ung die »Mädchenpensionate […] uns […] eine reiche Ausbeute [liefern]«90, wie der Kinderarzt Otto Soltman schreibt, scheinen schon an und für sich für diese Krankheit disponiert. So beobachtet auch Berthold Stiller: Ich habe in meiner Clientèle eine Anzahl von Frauen, die neuropathisch angelegt, oh- ne charakteristische Zeichen von Hysterie, sich monatelang in jeder Beziehung des besten Wohlseins erfreuen, um mit oder ohne ein deutlich veranlassendes Moment, meist im Frühjahre, anfangen, fast plötzlich nervös zu werden. […] In solchen Zustän- den nun ist Anorexie eines der ersten und auffälligsten Symptome.91 Doch auch in der Dramaturgie der Fallgeschichten werden die Geschlech- terverhältnisse immer wieder in Szene gesetzt, indem der Übergang von einem kranken abgemagerten Mädchen zu einer heiratsfähigen Frau geschil- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr dert wird. Der Arzt ist dabei derjenige, der diesen Übergang – wie in der eingangs zitierten Fallgeschichte Otto Binswangers – überhaupt erst ermög- licht. So wird bei Binswanger aus einem »Mädchen«, dessen Grad der Ab- magerung ausführlich beschrieben wird, durch die tatkräftige Intervention des Arztes eine heiratsfähige Frau mit einem mehr als doppelt so großen Gewicht. Eine andere Patientin Binswangers gebärt nach der Heilung ein »kräftige[s] Kind«92. Auch in einer vom französischen Doktoranden George Nogues zitierten Fallgeschichte heißt es: »Die geheilte Mlle J. hat sich in- zwischen verheiratet.«93 Die Heirat ist nicht nur ein Beleg dafür, daß die Patientin »vollständig geheilt«94 ist – sie figuriert in Texten als Schlußbild einer gelungenen Therapie. Die Mediziner widmen dem abgemagerten Körper besondere Aufmerksam- keit: »[D]ie Kranken sind ohne Uebertreibung nichts als lebende Skelette«, schreibt Jean–Martin Charcot, »die Muskeln des Halses sind gelähmt, das Haupt rollt wie eine todte Masse auf dem Kissen, die Glieder sind kalt und cyanotisch […];«95 Wie auch bei Binswanger (»totenkopfartig«, »skelettar- tig«) ist das zugrunde liegende Bild, das einer ›lebenden Leiche‹ »man fragt sich erstaunt, wie bei einem solchen Verfall noch Leben bestehen kann!«96, schließt Charcot seine Beschreibung ab. Liest man allerdings diese Körper- beschreibungen in ihrem narrativen Zusammenhang, so haben sie eine wei- tere Funktion. Die Beschreibungen ausgehungerter Mädchenkörper bilden den düsteren Hintergrund, vor dem die Therapiererfolge der Ärzte umso heller leuchten. Charcots Heilung ist bemerkenswert: Nach nur zwei Mona- 90 Soltmann (1894), S. 5. 91 Stiller (1915), S. 30. 92 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 330. 93 Nogues (1913), S. 138. «Mlle J. guérie, s’est mariée depuis.» 94 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 330. 95 Charcot (1886), S. 194. 96 Charcot (1886), S. 194. Franz Steiner Verlag
168 Nina Diezemann ten war seine Patientin »fast […] vollkommen geheilt […]; Kräfte, Appetit und Körperfülle liessen nicht mehr zu wünschen übrig.«97 Diese spektakulären Heilungserfolge illustrieren auch die Abbildungen – Fotografien und Gravuren, die den Fallgeschichten beigefügt sind. Gull be- bilderte seine drei 1873 veröffentlichten Fälle jeweils mit einer Gravur im kranken und im geheilten Zustand. Die Kranken werden abgewandt und in sich gekehrt sowie schlicht gekleidet und frisiert porträtiert. Im geheilten Zustand wenden sich die jungen Frauen nicht nur dem Betrachter zu, sie sind auch mit allen Requisiten von Weiblichkeit ausgestattet und demon- strieren so ihren reibungslosen Übergang von einem Krankheitszustand außerhalb von Zeit und Ort in die bürgerliche Gesellschaft des ausgehen- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr den 19. Jahrhunderts.98 Besonders auffällig ist diese Inszenierung in der Fallgeschichte Gulls von 1888 (siehe Abb. 1 und 2, S. 174): “The case was so extreme that, had it not been photographed and accurately engraved, some assurance would have been necessary that the appearances were not exaggerated, or even carica- tured which they were not”, heißt es im Text. Die erste Abbildung zeigt die ›Kranke‹ mit nacktem Oberkörper, ohne entwickelte Brüste und mit abge- wandtem Gesicht. Die ›Geheilte‹ hingegen wird nur drei Monate später in zeittypischer mädchenhafter Kleidung präsentiert, die die ›Weiblichkeit‹ ihres Körpers durch den Faltenwurf des Kleides unterstreicht. Zudem scheint sie den Betrachter direkt anzuschauen (Abb. 2, S. 174). Dies legt nahe, daß es auf den Abbildungen weniger um die Darstellung eines The- rapieprozesses, als vielmehr um die eines Resozialisierungsprozesses geht. Somit wird Therapie auch immer als Resozialisierung verstanden. Gull il- lustriert hier genau jenen Plot, den auch Binswanger in seiner Fallgeschichte schildert: Aus dem »Mädchen« – bei Gull sogar mit einem vorpubertären Körper ausgestattet – wird eine heiratsfähige Frau. 97 Charcot (1886), S. 196. 98 Gull (1874). Vgl. auch Brumberg (1994), S. 117f. George Didi-Hubermann zeigt, daß nach medizinischen Fotos für die Veröffentlichung angefertigte Gravuren diejenigen Elemente hervorheben, die für das Krankheitsbild zentral sind, vgl. ders. (1997), S. 48ff. Franz Steiner Verlag
Die Kunst des Hungerns 169 Literatur verschlingen: über die Wirkungsmacht eines Topos »Nicht alle Bücher lesen sich auf die gleiche Art», schreibt Walter Benja- min. »Romane zum Beispiel sind dazu da, verschlungen zu werden. Sie zu lesen ist eine Wollust der Einverleibung. […] Mag man beim Essen, wenn es sein muß, die Zeitung lesen. Aber niemals einen Roman. Das sind Ob- liegenheiten, die sich schlagen.«99 Die Vorstellung, daß Lesen wie Essen ein Inkorporationsvorgang sei und beide in einem Konkurrenzverhältnis zuei- nander stehen, ist nicht nur ein zeitgenössischer Topos. ›Verschlingen‹ wird für ›Lesen‹ in den Darstellungen der Anorexie vor 1900 nicht nur metapho- risch verwendet, sondern bekommt für die Ätiologie und Therapie eine konstitutive Funktion. Die hungernden Patientinnen werden (und in diesem Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr Zusammenhang tauchen auch die wenigen Patienten auf100) als besonders fleißige Personen geschildert, die lieber lesen als essen: Frl. O., 22 Jahre alt; […] Nahrungsaufnahme schon in den Schuljahren mangelhaft wegen Appetitlosigkeit, infolgedessen immer schlecht genährt. Im 16. Jahr Eintritt der Periode […], zur gleichen Zeit starke geistige Ueberanstrengung (Vorbereitung zur Ab- gangsprüfung auf die höhere Töchterschule); Abkürzung des Nachtschlafs (Pat. stand schon um 5 Uhr morgens auf, um zu lernen); völlige Appetitlosigkeit, Gefühl von Völle und Druck im Magen bei Aufnahme von geringen Nahrungsmengen; rasche Abmagerung, Unterbrechung des Schulunterrichts, Landaufenthalt.101 Fräulein F., die 16jährige Patientin im österreichischen Sanatorium Maria- grün bei Graz, habe, so der Arzt Anton Stichl, schon mit vier Jahren die Zeitung gelesen. »[L]ernte Alles spielend, riesiges Gedächtniss; mit acht Jah- ren begann der regelmässige Unterricht. Grosses Sprachtalent«,102 notiert er. Über George Nogues Mlle J. heißt es: »Mlle J. ist ein intelligentes Mädchen, das immer sehr gelehrig [studieuse] war. […] Den größten Teil der Nacht liest sie.«103 Die »Vorstellungen«, die laut Binswanger die Anorexie auslösen können, werden ebenfalls aus Büchern ›gespeist‹. Mlle J. glaubt an die Ehe als die »Vereinigung zweier Seelen» und wünscht sich ein »höheres Wesen« als Ehemann.104 »Was mit der Natur oder dem Körper zusammenhängt, 99 Benjamin (1974), S. 136. 100 Vgl. z. B. folgenden Fall: «Mr M., 26 ans. […] Absorbé complètement par la prépara- tion de son concours, il passait ses jounées à courir de conférence en bibliothèques et retournait, toujours pressé, à son travail.» Nogues (1913), S. 163. 101 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 238. Hilde Bruchs Der goldene Käfig, das Buch, das die Magersucht in den 1970er Jahren popularisierte, nimmt das Klischee der be- sonders intelligenten Anorektikerin wieder auf, vgl. dies. (1978). 102 Stichl (1892), S. 66. 103 Nogues (1913), S. 138. «Mlle J. est une jeune fille intelligente qui fut toujours très stu- dieuse. […] Elle passe la plus grande partie de ses nuits à lire.» 104 Nogues (1913), S. 138. Franz Steiner Verlag
170 Nina Diezemann läßt sie zutiefst unbeteiligt.«105 Über eine Patientin des Sanatoriums Maria- grün heißt es, sie »studirte Bücher, wie man mager werden könnte«106. Vor diesem Hintergrund der übermäßigen oder falschen Lektüre besteht die Therapie folglich darin, das Lesen entweder ganz zu verbieten oder rigoros zu kontrollieren. Während die Ernährung auf ein Maximum erhöht wird, zur »systematische[n] Ueberernährung«107, ist die »Lectüre auf ein Mini- mum zu reduziren«.108 Die Restriktion betrifft Bücher und Briefe der Ange- hörigen gleichermaßen, wie Anton Stichl hervorhebt: In der Correspondenz dürfen nicht Dinge erwähnt werden, welche die Kranken aufre- gen könnten; die Briefe sollen sich einfach mit wenigen Worten auf Thatsachen be- schränken, denn nervöse Kranken [sic] lesen allerlei zwischen den Zeilen heraus, wenn eine Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 18:01 Uhr gewisse Knappheit mangelt. Die Lectüre ist auf ein Minimum zu reduciren, ja bei Fällen wo cerebrasthenische Beschwerden vorhanden, gar zu untersagen.109 Der nächste Satz dieses Textes macht deutlich, was Stichl für eine angemes- sene Lektüre hält bzw. was an Stelle der Lektüre treten soll: »Die Abfassung eines Speisebogens ist unbedingt nöthig«110. Hier gilt es »nöthigenfalls mit aller Strenge darauf [zu] dringen, daß die verordnete Menge von Speisen genossen wird«111. Während also die kranke Mlle. J. anstatt zu essen unmä- ßig viel liest oder Stichls Patientin die Anregungen zum Abmagern aus Bü- chern bezieht, wird nun die Lektüre reduziert und durch Ernährung ersetzt. Wie Stichl beschränkt auch Binswanger die Kontrolle der zugeführten In- formationen nicht nur auf das Lesen von Büchern, sie betrifft auch die Kor- respondenz. Die Isolation der Nervenkranken, zu denen auch die Anorek- tikerinnen gezählt werden, im Sanatorium ermöglicht es dem Arzt, deren Kommunikation mit den jeweiligen Angehörigen zu kontrollieren. Der Arzt liest den Patientinnen und Patienten Briefe der Angehörigen vor und »ver- mittelt«112 deren Antwort. »Diese Art des Briefwechsels ist ein vorzügliches Mittel, um das Vertrauen der Kranken zu gewinnen und sich einen Einblick in ihre seelischen Zustände zu verschaffen«,113 erklärt Binswanger. Als ein anderes Mittel seien Postkarten »statthaft«114: »Auf diese Weise bekommen 105 Nogues (1913), S. 138. «Ce qui est de la nature, du corps la laisse profondément indif- férente.» 106 Nogues (1913), S. 138. 107 Mitchell (1887), S. 1. 108 Stichl (1892), S. 58. 109 Stichl (1892), S. 58. 110 Stichl (1892), S. 58. 111 Stichl (1892), S. 58. 112 Stichl (1892), S. 58. 113 Binswanger: Ernährungskuren (1896), S. 53. 114 Binswanger: Neurasthenie (1896), S. 393. Franz Steiner Verlag
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