Behandlung ohne Heilung. Zur sozialen Konstruktion des Behandlungserfolgs bei Tuberkulose im frühen 20. Jahr-hundert1
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Behandlung ohne Heilung. Zur sozialen Konstruktion des Behandlungserfolgs bei Tuberkulose im frühen 20. Jahr- hundert1 Flurin Condrau Summary Concepts of Success in the Treatment of Tuberculosis in the Early 20th Century This paper deals with the social construction of medical success in various therapies used to treat tuberculosis during the first half of the 20th Century. The three main therapies dis- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr cussed - Tuberculin treatment, sanatorium therapy and chest surgery - show distinctly different success patterns. For example, the success of sanatorium treatment was evaluated differently during and after treatment: during treatment, quantifiable data such as weight and body temperature were seen as indicators of health. After discharge, however, success was defined as long-term survival. On the other hand, when chest surgery was used, suc- cess meant simply that patient was able to survive the surgery itself - long-term effects and patient’s survival after discharge were not addressed. Such comparisons illustrate that the definition of medical success rested as much on the dismissal of negative data as on posi- tive empirical results. Einleitung Galt die Tuberkulose bis vor 10 Jahren als relativ leicht heilbar, sind die Überlebenschancen der Patienten in letzter Zeit in Folge der sich rasch aus- breitenden Antibiotika-Resistenz der Erreger dramatisch gesunken. Zu- nächst waren es vor allem die Ausmaße der neuen Tuberkulose-Pandemie in den Ländern der Dritten Welt und in einigen Großstädten Nordamerikas und Europas, die für Aufsehen sorgten.2 In jüngster Vergangenheit stellen allerdings die hoch virulenten und mit üblichen Antibiotika nicht mehr kontrollierbaren Erregerstämme den medizinischen Erfolg bei der Behand- lung der Tuberkulose grundsätzlich in Frage und unterstreichen die Bedeu- tung der Epidemiologie dieser Krankheit zur Erklärung ihrer Ausbreitung.3 Nicht nur die Kosten der Behandlung nehmen exorbitant zu, immer öfter können auch alle Anstrengungen der behandelnden Ärzte den Tod des Pa- tienten nicht verhindern, was auf einen fundamentalen Wandel in der me- dizinischen Einschätzung der Tuberkulose hinweist. Die Suche nach thera- peutischen Alternativen bringt die Medizin sogar zur vergessen geglaubten Lungenchirurgie zurück, und selbst der Rückgriff auf die Ideen der An- staltsbehandlung der Tuberkulose, denen seit den Erfolgen der Antibiotika 1 Ich danke Hans Rieder, Barbara Schmucki, Reinhard Spree, Michael Worboys sowie den Teilnehmern der Sektion am 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt/Main für wertvolle Hinweise. 2 Sudre/Dam/Köchli (1992); Bloom/Murray (1992). 3 Rieder (1999). MedGG 19 2000, S. 71-94 Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart Franz Steiner Verlag
72 Flurin Condrau nur noch anekdotischer Wert zugeschrieben wurde, ist angesichts der jünge- ren Entwicklungen nicht mehr fern.4 Die Geschichte der Tuberkulosetherapie des 20. Jahrhunderts stand bisher ganz im Zeichen der klassischen Erfolgsdarstellung der nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführten Antibiotika.5 Seit dem Nachweis der rasch mögli- chen Behandlungserfolge durch diese neuen Therapeutika wurde die Hoch- phase der pharmakologischen Krankheitsbehandlung eingeläutet, und die Tuberkulose geriet – zumindest in den westlichen Industrienationen – rasch in Vergessenheit. Die Erinnerungen wichtiger Protagonisten der bakteriolo- gischen Forschung stellten den Einsatz der modernen medikamentösen Be- handlung als einzigartigen Erfolg der modernen Medizin dar und sprachen Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr sogar vom »Sieg über die Tuberkulose«.6 Der aus gegenwärtiger Sicht kurz- fristige Erfolg der Tuberkulosebekämpfung führte zwar zwischen 1960 und 1985 zum nahezu vollständigen Verschwinden der Tuberkulose aus den westlichen Industrienationen, wurde aber um den Preis der aktuellen Prob- leme erkauft. Damit stellt der Zusammenhang von Antibiotika-Therapie und der nichtintendierten Entstehung resistenter Erregerstämme ein perfek- tes Beispiel für reflexive Modernisierung im Bereich der Medizin dar, denn die Definition des Behandlungserfolgs dachte die langfristigen Folgen der Behandlung nicht mit.7 Die Frage nach dem Behandlungserfolg medizinischer Maßnahmen ist schwierig zu beantworten, weil nicht leicht zu bestimmen ist, wer diesen Erfolg zu beurteilen hat. Bekanntlich führt die asymmetrische Information zwischen Arzt und Patient dazu, daß der Arzt seinen Erfolg letztlich selbst beurteilt.8 Schwieriger wird es darüber hinaus bei der Frage, wie lange die Heilung anhält, weil es für den einzelnen Arzt unmöglich ist, den Erfolg über einen längeren Zeitraum zu überprüfen. Tatsächlich lehrt gerade die Geschichte, daß ärztliches Handeln einen experimentellen Charakter auf- weist, zumal zwischen dem oft formulierten Heilanspruch und dem tatsäch- lich realisierten Heilvermögen der Ärzte in Vergangenheit und Gegenwart oft ein erheblicher Widerspruch besteht. Die Grundthese des vorliegenden 4 Zur Lungenchirurgie vgl. Belkin (1999); die Anstaltsbehandlung der Tuberkulose wird vor allem aufgrund der fehlenden »Medikamentendisziplin« wieder diskutiert, denn vorzeitig abgebrochene Antibiotika-Kuren gelten als Haupterklärung für die Entste- hung und Verbreitung multipel resistenter Erregerstämme. Vgl. dazu Miller (1999); Lerner (1993). 5 Wie marktgängig und gleichzeitig unreflektiert die wissenschaftliche Erforschung der Antibiotika noch bis vor kurzem dargestellt werden konnte, zeigt ein Werk des wis- senschaftlichen Bestsellerautors Ryan (1992). 6 Waksman (1964); Myers (1977). 7 Vgl. zur Definition des Begriffs Beck (1993), S. 36f.; der von der DFG geförderte Son- derforschungsbereich Nr. 536 »Reflexive Modernisierung« enthält leider kein medizi- nisches oder medizinhistorisches Teilprojekt. 8 Arrow (1963); Phelps (1992), S. 281-286. Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 73 Beitrages lautet deshalb, daß die ärztliche Behandlung der Tuberkulose nicht zu einem objektiv vorher bestimmten Erfolg führte, sondern daß me- dizinischer Erfolg erst nach der Formulierung historisch durchaus wandel- barer Kriterien bestimmbar wurde. Der Begriff des ärztlichen Kunstfehlers, der sich seit einiger Zeit verbreitet hat, trägt nicht zur Klärung des Sachverhaltes bei, weil er an der Fiktion des eigentlich möglichen perfekten ärztlichen Handelns festhält.9 Vielmehr ist bei aller Rationalität der Diagnose- und Behandlungsmethoden die Unsi- cherheit über den eintretenden Behandlungserfolg eine strukturelle Kompo- nente der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Begriff der sozialen Konstruktion des Erfolgs bezieht sich damit auf einen zentralen Bestandteil Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr moderner ärztlicher Tätigkeit, die nicht nur erhebliche Unsicherheiten und Informationsprobleme aufweist, sondern darüber hinaus von einem kom- munikativen Prozeß geprägt wird, in dessen Verlauf erst definiert wird, was genau als Erfolg einer jeweiligen Behandlung anzusehen ist.10 Kompliziert wird die Analyse dieses Vorgangs, weil die Erlangung der professionellen Autonomie auch und gerade hinsichtlich des Diagnose- und Behandlungs- erfolgs einen zentralen Bestandteil des ärztlichen Professionalisierungspro- zesses im 19. und frühen 20. Jahrhundert darstellte.11 Die (Sozial-)Ge- schichte der Medizin hat sich bisher allerdings selten mit dem ärztlichen Erfolg in der Tuberkulosebekämpfung auseinandergesetzt. Diejenigen Bei- träge, die das Hauptmotiv des ärztlichen Tuns bis zur Einführung der An- tibiotika primär in der Disziplinierung sehen und die Tuberkulose während des Untersuchungszeitraums für unheilbar halten, übersehen ex negativo die historische Gebundenheit des Erfolgsbegriffs.12 Das gilt ebenso für die Autoren, die an der Vorstellung des linear verlaufenden Fortschritts in der Medizin festhalten.13 Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der relativen Bedeutung des ärztli- chen Erfolgs waren die Arbeiten von Thomas McKeown. Er argumentierte, daß der englische Sterblichkeitsrückgang des 18. und 19. Jahrhunderts nicht auf medizinischen Erfolg zurückzuführen sei, da erfolgreiche medizinische Therapien der wichtigsten Krankheiten historisch kaum nachweisbar sei- en.14 Gegenargumente, wie sie etwa von Simon Szreter formuliert wurden, haben sich immer auf das entstehende öffentliche Gesundheitswesen ge- stützt und die Frage des Erfolgs einzelner ärztlicher Maßnahmen und Be- 9 Krähe (1984). 10 Vgl. dazu Jordanova (1995). 11 Spree: Impact (1980); Huerkamp (1985). 12 Gorsboth/Wagner (1988); Worboys (1992). 13 Koelbing (1985); Wilson (1990). 14 McKeown/Brown (1955); McKeown/Record (1962). Franz Steiner Verlag
74 Flurin Condrau handlungen weitgehend ausgeklammert.15 Die meßbaren Auswirkungen des entstehenden Gesundheitswesens auf die Volksgesundheit wurden von Reinhard Spree jedenfalls als vergleichsweise bescheiden geschätzt.16 Evi- dent ist hingegen, daß die ärztlichen Konzepte des Gesundheitswesens des 19. Jahrhunderts, etwa in der Seuchenbekämpfung und der Stadthygiene, stark zeitgeprägt waren.17 Ähnliche Züge weist auch die Tuberkulosebe- kämpfung des frühen 20. Jahrhunderts auf, die mittlerweile für Deutsch- land, Frankreich, Großbritannien und andere Länder untersucht wurde.18 Zwar liegen auch erste Beiträge zur Entwicklung der Diagnose sowie einzel- ne Fallstudien, etwa zum Debakel um Kochs Tuberkulin, vor. Untersu- chungen über die historische Bedingtheit des ärztlichen Handelns stellen jedoch nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar.19 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr Als wichtigste Todesursache des Erwachsenenalters war die Tuberkulose die »skandalisierte« Krankheit (Alfons Labisch) der Hochindustrialisierungs- phase. Gleichzeitig galt sie aber als praktisch unheilbar, was dazu führte, daß relativ wenig wissenschaftlich begründete, dafür um so mehr praktisch fundierte Therapieversuche unternommen wurden. Die Tuberkulose stellt demnach auch ein Beispiel für den Gegensatz zwischen akademisch- wissenschaftlichen Wissensbeständen und empirisch erreichtem Erfah- rungswissen in der Medizin dar. Die Beschäftigung mit relativ wirkungslo- sen Verfahren verdeutlicht die verschiedenen Stadien der Erfolgskontrolle, mit denen Ärzte und die Gesundheitspolitik immer wieder versuchten, be- stimmte Therapien zu begründen oder zu verwerfen. Denn gerade da, wo die Krankheit nicht geheilt wurde, haben die Ärzte die verschiedensten Ausweichmanöver vorgenommen, um sich und anderen die ärztliche Hilflosigkeit gegenüber der Tuberkulose nicht eingestehen zu müssen. Im folgenden werden deshalb anhand der wichtigsten Formen der Behandlung der Tuberkulose während des frühen 20. Jahrhunderts die zugehörigen Er- folgsbegriffe analysiert, die jeweils in engem Zusammenhang zum gewähl- ten Behandlungsverfahren definiert wurden. Die Ausführungen sollen zei- gen, daß medizinischer Erfolg keine historisch feststehende Größe war, sondern nur im historischen Kontext der Behandlungsverfahren und der beteiligten sozialen Gruppen verstanden werden kann. 15 Szreter (1988). 16 Spree: Zur Bedeutung des Gesundheitswesens (1980). 17 Witzler (1995); Labisch/Vögele (1997). 18 Condrau (2000). 19 Lachmund (1997); Pasveer (1992); Lerner (1992); Elkeles (1990); Opitz/Horn (1984); Gradmann (1999); Burke (1993). Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 75 Heilanspruch und Heilerfolg der Behandlung Die systematische Behandlung breiter Volksschichten durch akademisch ausgebildete Ärzte setzte sich in Deutschland und den übrigen Industrielän- dern im Laufe des 19. Jahrhunderts durch und löste ein komplexes System von Laien- und Erfahrungsmedizin ab. Kennzeichnend für diesen Prozeß war die Tatsache, daß sich die Krankenhausmedizin zunächst den nicht lebensbedrohenden Bagatellkrankheiten zugewandt hat.20 Sieht man von der Entdeckung und Verbreitung der Pockenschutzimpfung sowie den hy- gienischen Verbesserungen der chirurgischen Behandlungsmethoden ein- mal ab, setzte die systematische Behandlung der schwerwiegenderen Krankheiten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein, was auch für die Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr Tuberkulose und ihre Behandlung zutrifft. Die lange Zurückhaltung der Medizin hinsichtlich der Tuberkulose findet im System der medizinischen Versorgung ihre Begründung, das sich im ambulanten Bereich auf Patienten der Mittel- und Oberschichten kon- zentrierte und sich im modernen Krankenhaus vorwiegend mit heilbaren Krankheiten auseinandersetzte.21 Als chronische und primär in den sozialen Unterschichten auftretende Krankheit war die Tuberkulose die Haupttodes- ursache des Erwachsenenalters und damit ein entscheidender Faktor für die Sterblichkeitsentwicklung. Allerdings blieb die Tuberkulose für die Medizin des 19. Jahrhunderts ein schwieriges und letztlich unattraktives Feld, denn der oft mehrere Jahre dauernden Behandlungsdauer standen geringe Heiler- folgschancen gegenüber.22 Folgerichtig bezogen sich die wichtigsten Ent- wicklungen der Tuberkulosemedizin zunächst auf die Krankheitserklärung. Leopold Auenbruggers Begründung der klinischen Diagnostik sowie die Erfindung des Stethoskops durch René Théophile Hyacinthe Laennec um 1820 begründeten bis in die 1920er Jahre das einzige, für den Allgemein- praktiker ohne weitere technische Hilfsmittel durchführbare Diagnosever- fahren und blieben bis in die jüngste Vergangenheit von herausragender Bedeutung.23 Ferner leitete Jean-Antoine Villemin mit seinen Experimenten zur Übertragbarkeit der Tuberkulose in den 1860er Jahren die bakteriologi- sche Wende ein, deren Höhepunkt mit der Entdeckung des Mycobacterium Tuberculosis durch Robert Koch im Jahre 1882 erreicht wurde.24 Wie be- deutsam diese Errungenschaften für die Wissenschaftsgeschichte der Tuber- kulose auch sein mögen, sie spitzten die mißliche Lage der praktizierenden Ärzte weiter zu. Denn es öffnete sich dadurch eine Schere zwischen Diagno- se und Therapie, die seither für viele Bereiche der modernen Medizin cha- 20 Labisch/Spree (1997). 21 Spree (1996). 22 Koelbing (1985), S. 147. 23 Auenbrugger [1761] (1922); Laennec (1822). 24 Singer/Underwood (1962), 396f.; Villemin (1868); vgl. auch Waksman (1964); Myers (1977). Franz Steiner Verlag
76 Flurin Condrau rakteristisch geworden ist. Während nun die Tuberkulose immer öfter und auch genauer diagnostiziert werden konnte, war damit kein Durchbruch in der Behandlungsfähigkeit der Krankheit verbunden.25 Das Scheitern der bakteriologischen Wende So paradox der Befund zunächst klingen mag, aber die bakteriologische Wende in der Medizin beschränkte sich seit den Entdeckungen Louis Pas- teurs und Robert Kochs auf Diagnostik und Ätiologie, ohne daß daraus bis zum Zweiten Weltkrieg sichtbar nützliche Folgen für die Therapie der Tu- berkulose erwuchsen. Tatsächlich blieben die aufwendigen Forschungsar- beiten im Kampf gegen die Tuberkulose für den Patienten weitgehend wir- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr kungslos, denn sie dienten vor allem der wissenschaftlichen Begründung der Infektionsprophylaxe, die zum Grundkonzept der Tuberkulosebekämp- fung wurde, was aber dem Kranken erst einmal nichts nützte.26 Auch die BCG-Schutzimpfung gegen Tuberkulose, die von den französischen Ärzten Albert Calmette und Camille Guérin zwischen 1908 und 1915/16 entwi- ckelt wurde, setzte sich außerhalb Frankreichs nicht flächendeckend durch.27 Das wichtigste Moment des Scheiterns der bakteriologischen Wen- de war aber das Heilmittel, das von Koch in einem an Andeutungen und Vermutungen reichen Vortrag »Über bakteriologische Forschung« vorge- stellt wurde, das Tuberkulin. An ihm läßt sich die Wirkungslosigkeit der kausalen Therapieversuche im späten 19. Jahrhundert sowie die ganze Problematik nichtintendierter Handlungsfolgen medizinischer Behandlun- gen zeigen. Pilgerscharen von Tuberkulosekranken strömten damals nach Berlin, um sich von Koch und den wenigen von ihm auserwählten Ärzten mit dem neuen Heilmittel behandeln zu lassen. Reiche Tuberkulosepatienten aus aller Welt boten enorme Summen in der Hoffnung auf Heilung durch Tu- berkulin, und Koch selbst führte harte Auseinandersetzungen in der Ver- marktung des Mittels.28 Kritiker warfen ihm und den behandelnden Ärzten jedoch bald vor, die Patienten zu »Spritznummern« zu degradieren. Nicht wenige sollen an den Folgen des Tuberkulins sogar gestorben sein, da das Mittel den Krankheitsverlauf der Tuberkulose auch beschleunigen konnte. Die enormen Erwartungen und die kurz darauf folgende Enttäuschung, die das Tuberkulin erzeugt hatte, waren aufgrund des großen Prestiges von Koch und der auch nationalistische Züge tragenden Heilserwartung gegen- über der Bakteriologie von neuer Qualität. Nach dem Siegeszug der innova- tiven medizinischen Wissenschaft erwartete die Öffentlichkeit allgemein 25 Zur Entwicklung der Diagnose und ihrer Zuverlässigkeit vgl. Hardy (1994). 26 Göckenjahn (1985), S. 49-59. 27 Bryder (1999); Feldberg (1995), S. 125-137; Guillaume (1986), S. 117-119. 28 Vgl. die in Anmerkung 20 angegebene Literatur sowie: Gradmann (o. J.); Brompton Hospital (1891). Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 77 auch einen Durchbruch in der bakteriologischen Therapie der Tuberkulose und neigte dazu, Kochs Ankündigungen zu überschätzen. Allerdings man- gelte es offensichtlich an der empirischen Überprüfung der Wirkung des Tuberkulins, denn Koch hatte seine Präsentationen auf einige wenige Tier- versuche gestützt. Die erste Welle der praktischen Behandlung fand sodann ohne vorhergehende klinische Prüfung statt. Nach den frühen euphorischen Reaktionen auf das Geheimmittel, dessen Zusammensetzung Koch nicht verraten wollte, wurde die bald einsetzende klinische Überprüfung zum Prototyp für den modernen Umgang mit neuen Heilmitteln. Entscheidend für die umfangreichen empirischen Studien in verschiedenen Kliniken des In- und Auslands war dabei, daß der Krankheitsverlauf in den ohne Tuber- kulin behandelten Kontrollgruppen keinesfalls schlechter war, was nebst Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr den zahlreichen Komplikationen der mit Tuberkulin behandelten Patienten die therapeutische Nutzlosigkeit und auch die Gefahren des vermeintlichen Heilmittels hinreichend nachwies.29 Koch, späterer Nobelpreisträger und damaliger Star der deutschen Bakteriologie, war allerdings zeitlebens nicht von der Wirkungslosigkeit seines Mittels zu überzeugen. Gleichwohl stellte die überwiegende Mehrheit der deutschen Experten – aus Rücksichtnahme üblicherweise rhetorisch verklausuliert – fest, daß in ihren Kliniken und an ihrem »Patientenmaterial« das Tuberkulin nichts brachte.30 Zum Glück für Koch und seinen Ruf konnte alsbald wenigstens verkündet werden, daß mit dem Tuberkulin ein bahnbrechendes bakteriologisches Diagnoseinstrument zur Verfügung stand. Tatsächlich machte der in der Folgezeit eingeführte Tuberkulintest im Gegensatz zur alten klinischen Diagnose durch Perkussi- on und Auskultation schnelle, einfache und kostengünstige Untersuchungen einer Vielzahl von Fällen möglich.31 Übrigens hielt der schließlich nachgewiesene Mißerfolg des Tuberkulins manche Ärzte nicht davon ab, das Mittel dennoch in der Behandlung ein- zusetzen. Bekannt geworden ist hierbei vor allem der in London tätige Arzt Camac Wilkinson, der 1910 eine private Wohlfahrtsorganisation gründete, die spezielle Fürsorgestellen zur ambulanten Vergabe von Tuberkulin auf- baute. Er hielt im Gegensatz zur englischen Schulmedizin die Tuberkulin- therapie für die rationellste Behandlungsmethode für die Arbeiterklasse, weil die Sanatoriumstherapie auch keine besseren Erfolge hätte, aber doch entschieden mehr kosten würde.32 Dieses Detail der Tuberkulin-Geschichte zeigt, wie sehr sich die Ärzteschaft ein Heilmittel gegen diese Krankheit 29 Guttstadt (Hg.) (1891). 30 Vgl. die gelegentlich etwas hämische Berichterstattung bei: Dettweiler (1891). 31 Edwards/Edwards (1960). 32 Wilkinson (1911). Natürlich war das unter englischen Ärzten äußerst umstritten. Die National Association for the Prevention of Tuberculosis und mit ihr die führenden Tuberkuloseärzte des Landes lehnten jedenfalls Wilkinson und seine Liga rigoros ab. Franz Steiner Verlag
78 Flurin Condrau wünschte. Dabei war nicht entscheidend, ob sich langfristig ein Erfolg ein- stellte, sondern daß kurzfristig überhaupt etwas getan werden konnte. Anstaltsbehandlung der Tuberkulose Der Mißerfolg des Tuberkulins führte zu einer grundsätzlichen Neuorientie- rung in der Tuberkulosemedizin, weil klar wurde, daß so bald nicht mit einem kausal wirkenden Heilmittel zu rechnen sei. Für die Vertreter der Anstaltstherapie bei Tuberkulose wie Hermann Brehmer oder Peter Dett- weiler stellte der Mißerfolg des Tuberkulins letztlich einen Glücksfall dar. Tatsächlich hatte die Bekanntgabe Kochs sämtliche Bemühungen um Aus- weitung der bereits seit den 1850er Jahren bekannten Lungenheilanstalten Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr sofort auf Eis gelegt. Durch den ebenso überraschenden Mißerfolg war man aber auf der Suche nach einer erfolgversprechenden Behandlung bald wie- der bei der unspezifischen Anstaltsbehandlung angekommen, denn bereits in den 1850er Jahren hatte der wissenschaftliche Außenseiter Brehmer in seiner kaum zur Kenntnis genommenen Dissertation im Anschluß an den Wiener Pathologen Karl von Rokitansky die generelle Heilbarkeit der Tu- berkulose in einem frühen Stadium postuliert.33 Ein Chronist der Heilstät- tenbewegung konnte kurz nach dem Tuberkulin-Skandal bilanzieren: »Gar bald finden wir die alten Vorkämpfer wieder in eifriger Tätigkeit, und hier und dort erwachsen der Heilstättensache neue Anhänger.«34 Dettweiler selbst, der erfolgreichste deutsche Pionier der Frischluftliegekur gegen Tu- berkulose, beteiligte sich in seiner Anstalt an den ausführlichen Tests des Tuberkulins und stellte daraufhin fest: Leider erscheint mir persönlich die Aussicht, daß die bacilläre Lungenschwindsucht, diese complexeste aller Krankheiten, jemals durch ein bestimmtes Mittel geheilt wird, als eine geringe!35 Erst der Mißerfolg der spezifischen Behandlung machte die folgende bei- spiellose Entwicklung möglich, die in Deutschland und anderswo die un- spezifische Behandlung in den Lungenheilanstalten mit der innovativen Bereitstellung von Mitteln aus den Sozialversicherungssystemen zur Be- handlung der Tuberkulose verband.36 Die Behandlung basierte in Deutsch- land auf dem Prinzip der Selbstheilung durch kräftigende Nahrung und möglichst häufigen Aufenthalt in frischer Luft, während beispielsweise die Engländer von »Auto-Inoculation« (Selbstimpfung) sprachen und dabei an eine stufenweise Abhärtung des Körpers durch gezielte Arbeitstherapie dachten.37 Verbindendes Element der Anstaltsbehandlungen nach deut- 33 Koelbing (1985), S. 147. 34 Hamel (1904), S. 6. 35 Dettweiler (1891). 36 Vgl. nebst der bereits genannten Literatur auch Teleky (1926). 37 Vgl. dazu die Schriften des Begründers dieser »bakteriologischen« Version der An- staltsbehandlung Paterson (1911). Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 79 schem oder englischem Muster war die Koexistenz diätetischer Behand- lungsformen und moderner medizinischer Institutionen. Im Unterschied zur Praxis der Behandlungsmethoden in verschiedenen Luftkurorten wie etwa Davos, reklamierten die deutschen und englischen Ärzte die Notwen- digkeit einer Heilanstalt modernen Zuschnitts zur ärztlichen Kontrolle der Patienten. In einem oft zitierten Passus stellte Dettweiler fest: [Der Arzt] muss die ganze Lebensführung desselben beherrschen, muss sich verant- wortlich fühlen für die stricteste Ausführung aller seiner Anordnungen, er muss die Macht und Mittel hierzu unbeschränkt in der Hand haben, mit einem Worte, er muss Herr und Leiter in einer, blos für die speciellen Zwecke wohleingerichteten Anstalt sein.38 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr Die mehrere Monate dauernde Behandlung zielte nicht auf klinische Hei- lung, sondern auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit durch Stär- kung des Körpers im Kampf gegen die Tuberkulose ab. Neben dieses Pri- märziel trat mit der Zeit immer stärker die pädagogische Funktion der Heilanstalten. Bei einer letztlich unklaren Zielvorgabe, worin der Heilerfolg bei unspezifischen Behandlungen genau bestünde, war die Frage der Er- folgskontrolle der Anstaltsbehandlung zunächst nicht von Bedeutung. Brehmer, der in den 1850er Jahren die erste Anstalt in Görbersdorf eröffnet hatte, folgte einer umstrittenen Theorie und sprach von immunen Orten (weil dort die Tuberkulose kaum oder gar nicht verbreitet sei) und einem Problem der Organgröße von Herz und Lunge (weil die Lunge durch ein besonders großes Herz zusammengedrückt werde).39 Brehmer, Dettweiler und die übrigen Pioniere der Anstaltsbehandlung versuchten trotz allem nachzuweisen, daß ihre Methode in der Praxis gute Erfolge aufwies. Typi- scherweise legten die behandelnden Ärzte dazu Veröffentlichungen vor, in denen sie die Anamnese ausgewählter Einzelfälle besprachen und gleichzei- tig behaupteten, daß es sich dabei um exemplarische Krankengeschichten handelte.40 Die fachliche Aufmerksamkeit blieb ihnen allerdings zunächst verwehrt, denn im Zeitalter der bakteriologischen Wende war mit hygie- nisch-diätetischer Behandlung von chronisch Kranken kein Prestige zu ge- winnen. Erst der vollständige Mißerfolg der bakteriologischen Therapieversuche machte zu Beginn der 1890er Jahre klar, daß zwar keine spezifische Heil- wirkung der Frischluftliegekur nachweisbar war, sie aber dennoch im Ver- gleich zum Tuberkulin die wesentlich besseren Heilchancen bot. Die Durchsetzung der Frischluftliegekur auf dem Höhepunkt der Begeisterung für die Bakteriologie veränderte dann auch die Frage des Heilerfolgs, denn die Lungenärzte gaben nun das theoretische Interesse an Brehmers Postulat der immunen Orte zur Begründung der Therapie auf. Ohne diese kausale 38 Dettweiler (1880), S. 18-23. 39 Wolff (1926). 40 Dettweiler (1886). Franz Steiner Verlag
80 Flurin Condrau Erklärung, warum die gute Ernährung und frische Luft im Einzelfall helfen sollten, verlor die Darstellung ausgewählter Krankengeschichten jedoch ihren Sinn. Während die Ärzte anfangs noch an dem unbedingten Erfolg der Anstaltsbehandlung festhielten, oder genauer, diesen nicht in Frage stell- ten, traten unter Führung Hermann Gebhardts, dem Direktor der Landes- versicherungsanstalt der Hansestädte, die Träger der Invalidenversicherung als neue Protagonisten in der Diskussion des medizinischen Erfolgs der Heilstätten auf. Gebhardt erkannte die finanzielle Belastung der Invaliden- versicherung durch Tuberkulose, die als Ursache für knapp 50 % der Ver- rentungen von 20-40jährigen Versicherten verantwortlich war.41 Deshalb kam die Idee auf, finanzielle Ressourcen der Invalidenversicherung für die Behandlung der Tuberkulose einzusetzen, eine Praxis, die ab 1894 vom Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr Reichsversicherungsamt genehmigt wurde. Die gesetzlichen Grundlagen wurden allerdings erst im Invalidenversicherungsgesetz von 1899 geschaf- fen.42 Die erklärte Absicht dieses Vorgehens bestand darin, die unspezifi- sche Therapieleistung der Heilbehandlungen zu nutzen, um bei möglichst vielen lungenkranken Versicherten den Zeitpunkt der Verrentung hinauszu- zögern.43 An Stelle des klinischen Heilbegriffs, der noch für die Überprü- fung des Tuberkulins von Bedeutung war, trat demnach ein neuartiges Konzept der sozio-ökonomischen Heilung, denn das Ziel bestand in der zeitlichen Verzögerung des Krankheitsprozesses und der damit verbunde- nen Verlängerung der Arbeitsfähigkeit der Kranken, nicht jedoch in einer kausalen und auf Dauer erreichten Heilung.44 Die sozialpolitischen Ent- scheidungsträger und die behandelnden Ärzte vollzogen einen für die Tu- berkulosebehandlung wegweisenden Paradigmenwechsel in der Evaluierung des Behandlungserfolgs, indem beide Seiten erkannten, daß bei einer unspe- zifischen Behandlungsweise nicht der einzelne Erfolg oder Mißerfolg inte- ressierte, sondern die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwartende güns- tige Beeinflussung des Krankheitsverlaufs. Damit war für die Ärzte (und natürlich auch für die Patienten) ein interessantes Dilemma verbunden. Denn nach Dettweiler bestand der ganze Sinn der Frischluftliegekur in der individualisierenden Behandlung der Tuberkulose, während gleichzeitig der Erfolg dieser am Einzelfall orientierten Therapie lediglich durch statistische Durchschnittswerte zu erfassen war. Dieses Problem äußerte sich in einer Koexistenz zweier Erfolgsbegriffe. Während nach der Heilbehandlung die Dauer der Arbeitsfähigkeit entscheidend war, galten in den Heilstätten bei- spielsweise die Gewichtszunahme und die Fieberfreiheit als Indikatoren für eine Verbesserung des Gesundheitszustandes.45 Dieser Widerspruch war 41 Gebhardt (1899); Gottstein (1931), S. 95. 42 Vgl. Tennstedt (1976); Condrau (2000), S. 86f.; Teleky (1926), S. 209f. 43 Tennstedt (1976), S. 453. 44 Köhler: Begriff (1908). 45 Martin (1997). Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 81 auch für die betroffenen Patienten deutlich sichtbar. Moritz William Theo- dor Bromme, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in einer Lun- genheilanstalt behandelt wurde, brachte das Problem in seinen Erinnerun- gen auf den Punkt, indem er feststellte: […] seine Statistik hat mir durchaus nicht gefallen. Danach sollen von allen in Lun- genheilstätten behandelten Patienten nach 10 Jahren nur noch 7 Prozent am Leben sein! Es sollte mich freuen, wenn ich mich verhört hätte; denn wenn man sich sagen muß, daß nach 10 Jahren von hundert Anwesenden nur noch 7 am Leben sind, so ist das tief niederschlagend.46 Tatsächlich konnte die Evaluierung des langfristigen Erfolgs der Heilbe- handlungen nur mit statistischen Methoden und auf Basis möglichst großer Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr Fallzahlen geschehen, was teure empirische Projekte notwendig machte. Diese waren in Deutschland möglich, weil die Finanzierung und die Durch- führung der Datenerhebungen weitgehend von einzelnen Landesversiche- rungsanstalten und dem Reichsversicherungsamt übernommen werden konnten. Diese Untersuchungen stellten damals eine Spezialität der deut- schen Versicherungsträger dar und wurden auch im Ausland viel beach- tet.47 In direktem Zusammenhang zu den großangelegten Datensammlun- gen beschäftigte sich ein reiches zeitgenössisches Schrifttum mit den Er- folgsdaten verschiedenster Heilstätten.48 Während damit für Deutschland umfangreiche Datensammlungen über die Erfolgskontrolle der Heilstätten- behandlung vorliegen, ist die Quellenlage für vergleichbare Länder sehr viel schwieriger. Obwohl beispielsweise in England/Wales bis 1914 ähnlich viele Heilanstalten gebaut und Kuren durchgeführt wurden wie in Deutsch- land, liegen Studien zur Erfolgskontrolle nur für einige wenige Sanatorien, nicht jedoch für das gesamte Heilstättensystem, vor. Dabei waren es vor allem die beiden »Vorzeigeinstitutionen«, das King Edward VI. Sanatorium in Midhurst und das Brompton Hospital Sanatorium in Frimley, deren Da- ten vom Medical Research Council bearbeitet und veröffentlicht wurden.49 Ferner liegen einige weitere Spezialuntersuchungen vor, die amerikanische und englische Daten vergleichend untersuchten.50 Eigenheiten der engli- schen Gesetzgebung behinderten die konkrete Erfassung der Leistungen sowie die Überprüfung des Behandlungserfolgs der Tuberkuloseanstalten, 46 Bromme (1905), S. 310. 47 Vgl. Statistik der Heilbehandlungen; vgl. auch das Großprojekt der Leipziger Orts- krankenkasse (1910). 48 Exemplarisch genannt seien: Liebermeister (1925); Köhler: Dauererfolge (1908); Wei- cker (1903); Friedrich (1901). 49 Medical Research Council (1919); Medical Research Council (1924); siehe auch Hor- ton-Smith Hartley et al. (Hg.) (1935). 50 Exemplarisch genannt seien: Elderton/Perry (1910); dies. (1913). Franz Steiner Verlag
82 Flurin Condrau denn der 1911 verabschiedete National Insurance Act basierte auf dezentra- ler Verwaltung und sah generell keine zentrale Registratur vor.51 Wichtige Hinweise für die Beurteilung der einzelnen Datensammlungen ergeben sich aus dem sozialpolitischen Kontext, denn während die engli- schen Anstalten den Heilbegriff bei allen zeitlichen Einschränkungen den- noch im Sinne einer echten Heilung verstanden, orientierten sich die deut- schen Versicherungsanstalten an der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit.52 Schon den Zeitgenossen war damit klar, daß ein internationaler Vergleich englischer und deutscher Daten dadurch erheblich erschwert wurde. Her- mann Gebhardt äußerte sich noch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte begeistert über das Potenti- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr al der Heilbehandlungen für Tuberkulose. Ab Ende des Jahres 1896 wur- den die ersten Datensammlungen präsentiert, die die Grundlage für eine Vielzahl von Analysen über den Wert der Behandlungen darstellten. Ein Problem wurde dabei rasch erkannt, denn es machte keinen Sinn, Daten aus verschiedenen Heilstätten zu bearbeiten, die nicht vergleichbare Krank- heitsfälle beherbergten. Tatsächlich war die dezentrale Diagnose das Kern- problem der großen Standardisierungsdebatte der ärztlichen Diagnose, denn zur Erfolgskontrolle sollte sichergestellt werden, daß die Ärzte der verschiedenen Anstalten ihre Ein- und Ausgangsdiagnosen nach den glei- chen Prinzipien vornahmen, was bei der bis zum Ersten Weltkrieg vorherr- schenden klinischen Diagnostik durch Perkussion und Auskultation denk- bar schwierig war. Die Frage der Stadieneinteilung der Tuberkulose wurde ab der Jahrhundertwende heftig diskutiert, denn sie war von zentraler Be- deutung, um mit einfachen Mitteln Eingangs- und Ausgangsdiagnose ange- ben und damit die Veränderung während der Behandlung sichtbar machen zu können. Ein internationaler Standard wurde mit der berühmten Turban- Gerhardtschen Einteilung in drei Stadien erreicht, die Karl Turban und Hermann Gerhardt auf dem Wiener Tuberkulosekongreß von 1907 vor- stellten.53 Allerdings fokussierte die Stadieneinteilung lediglich die Ausbreitung der Krankheit in der Lunge. Nach allgemeiner Auffassung bestand zwar ein Zusammenhang zur Schwere der Erkrankung, weniger klar war jedoch die Beziehung zwischen Krankheitsstadium und der bereits erreichten Krank- heitsdauer. Deshalb wurde parallel zur Stadieneinteilung eine zweite Kate- gorie zur Unterscheidung früher und fortgeschrittener Krankheitsfälle ver- wendet.54 Erste Erfahrungen hatten gezeigt, daß die frühen Fälle die besten Aussichten auf Erfolg boten. Das führte zur allgemeinen Praxis, nicht nur kranke Patienten zur Behandlung in der Lungenheilanstalt aufzunehmen, 51 Worboys (1992), S. 47-71. 52 Walters (1909), S. 303-316; Bardswell (1910). 53 Vgl. dazu Turban (1899). 54 Teleky (1926), S. 214f. Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 83 sondern auch Rekonvaleszente und sogenannte Tuberkulose-Gefährdete.55 Tatsächlich war die Diagnose Lungentuberkulose vor dem Ersten Weltkrieg eine Catch-All Diagnose, indem sich die Ärzte bei manchen unklaren Krankheitsbildern letztlich auf diese Diagnose einigten. Gerade im Sinne der Erfolgskontrolle erwies sich die Präferenz für frühe Fälle als äußerst günstig, denn bei Patienten, die nur eine Gefährdung für Tuberkulose auf- wiesen, stellte sich der Behandlungserfolg mehr oder weniger automatisch ein, wobei dieses Vorgehen aufgrund des in den Anstalten gegebenen Risi- kos der Crossinfektionen nicht ungefährlich war. Zusammen mit der Tendenz, sich auf die Behandlung möglichst früher Fäl- le zu konzentrieren, wurde die hygienische Erziehung als ein weiterer Be- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr standteil des medizinischen Erfolgs in den Heilanstalten immer wichtiger. Der Arzt sollte dabei durch sein großes Wissen und seine modernen, urba- nen Lebens- und Umgangsformen zu einer moralischen Instanz für die Pa- tienten werden: »[…] so kann es nicht fehlen, daß die Mehrzahl seiner stets um ihn geschaarten Clientel zum bildsamen Wachs in seiner Hand wird.«56 Hier konkurrierte die Heilanstalt mit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich eingeführten kommunalen Tuberkulosefürsorgestellen. In den Heilanstalten gelang es den Ärzten jedoch, die tägliche Hygiene und auch die Besonderheiten der wirksamen Infektionsprophylaxe buchstäblich zu inkorporieren: Die Arbeit, die auf diesem Gebiete geleistet wird, ist keine geringe und wird dadurch unterstützt, daß jeder Patient sie in dem ganzen Anstaltsregime am eigenen Körper er- fährt.57 Damit war neben dem schwierig nachzuweisenden Behandlungserfolg im Sinne der Verlängerung der Arbeitsfähigkeit die ebenso problematische hygienische Erziehungsleistung zu einem Markenzeichen der Heilanstalten geworden. Diese Verbindung zweier Zielsetzungen wurde nicht nur für die Behandlung in den Heilanstalten charakteristisch, sondern beeinflußte fort- an auch die Auswahl der darin überhaupt zu versorgenden Patienten. Ein Arzt forderte: daß in erster Linie die Landesversicherungsanstalten die Auslese der Kranken für die Heilstätte nicht allein nach medizinischen, sondern gleichzeitig auch nach morali- schen Gesichtspunkten treffen, sollen die Heilstätten ihr pädagogisches Ziel erreichen, daß ihre Pfleglinge als Apostel einer gesundheitsgemässen Lebensweise in Familie und Beruf zurückkehren.58 Es ist naheliegend, daß die Auswahl der Patienten nach moralischen Krite- rien wiederum für die Erfolgskontrolle der Heilanstalten bedeutsam wurde, 55 Teleky (1926), S. 219. 56 Dettweiler (1880), S. 34. 57 Roepke (1904). 58 Roepke (1904). Franz Steiner Verlag
84 Flurin Condrau denn die quantitativen Überprüfungen der Behandlungserfolge verloren da- durch erheblich an Bedeutung. Während Kritiker wie Alfred Grotjahn und andere auf die ungünstigen Erfolgschancen der Heilstätten hinwiesen, paß- ten die flexibel denkenden Anstaltsärzte ihren Erfolgsbegriff offenbar ein- fach an die jeweiligen Begebenheiten an.59 Behandlung durch Lungenchirurgie Neben dem Tuberkulin und der Frischluftliegekur stellte die Lungenchirur- gie seit dem Ersten Weltkrieg eine dritte, eigenständige Behandlungsform der Tuberkulose dar.60 Die Chirurgie gehörte bekanntlich zu den »erfolg- reichsten« medizinischen Spezialdisziplinen der zweiten Hälfte des 19. Jahr- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr hunderts, denn mit Hilfe der Anästhesie sowie der Entwicklung von Anti- sepsis/Asepsis hatte sie immer bessere Operationsergebnisse vorzuweisen.61 Es war klar, daß sich diese erfolgreiche Disziplin früher oder später auch der Behandlung der Tuberkulose zuwenden würde. Erstmals wurde der artifizielle Pneumothorax (A.P.), der künstliche Lungenkollaps, zwischen 1888 und 1894 von dem italienischen Chirurgen Carlo Forlanini erfolg- reich durchgeführt.62 Dieser Eingriff strebte die künstlich hervorgerufene Ruhigstellung der erkrankten Lunge an, was im günstigsten Fall die Selbst- heilung des Organs erreichen, aber wenigstens doch den fortschreitenden Zerfall der Lunge verhindern sollte. Die dazu notwendige Operation wurde bald zur Routinemaßnahme und basierte auf der Zerstörung des die Lunge umgebenden Vakuums durch Gas, das durch eine Nadel, die durch den Brustkorb geführt wurde, in den Pleuraspalt gelangte. Um das Wiederent- stehen des Vakuums durch die Resorption des Gases zu verhindern, mußte in relativ kurzen Abständen in wiederholten Eingriffen Gas in den Hohl- raum nachgefüllt werden, um den Unterdruck einigermaßen konstant zu halten.63 Am Beispiel der Lungenchirurgie läßt sich der oft lange dauernde Prozeß der technischen Innovation gut zeigen, denn während Technologie und Operationsmethode seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt waren, erfolgte die breite Anwendung der Lungenchirurgie in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg.64 Neben dem ärztlichen Fachwissen stellte die technische Ausstattung die wichtigste Voraussetzung für die Eingriffe der sogenannten »kleinen Lungenchirurgie« dar. Die Chirurgie formulierte ge- meinsam mit der Sozialen Hygiene und der Bakteriologie die fundamentale Kritik der Frischluftliegekur. Dabei spielte der in Marburg lehrende Chirurg 59 Grotjahn: Krisis (1907); ders.: Lungenheilstättenbewegung (1907). 60 Brunner (1966). 61 Bouchet [1978] (1992). 62 Sakula (1983). 63 Naef (1990). 64 Condrau (2000), S. 131f. Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 85 Ludolph Brauer eine herausragende Rolle, weil er mit der von ihm in Deutschland eingeführten Lungenchirurgie als einziger Kritiker der Heilan- stalten eine therapeutische Alternative anbot.65 Hierin ist sicherlich ein zent- raler Grund dafür zu sehen, daß sich gerade unter den nicht in den Heilan- stalten beschäftigten Ärzten das Interesse für die Möglichkeiten lungenchi- rurgischer Eingriffe rasch verbreitete. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Gustav Baer, damaliger Leiter der Tuberkulosefürsorgestelle Münchens, feststellen: »Der Wert des künstlichen Pneumothorax bei der Behandlung der Lungentuberkulose kann heutzutage als unbestritten gelten.«66 Worin aber bestand dieser Wert? Zunächst war der Erste Weltkrieg für die Chirurgie sicherlich von großer Bedeutung, weil die vielen Schußverletzun- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr gen nicht nur zur praktischen Aus- und Weiterbildung der Ärzte führten, sondern auch die Entwicklung und Verbreitung der dazu notwendigen technischen Geräte wie zum Beispiel der Röntgentechnik förderten.67 Vor dem Krieg sah man lungenchirurgische Eingriffe noch als experimentelle und problematische Eingriffe an, ab 1918 fand diese Behandlungsmethode aber rasche Verbreitung. Die Verbreitung der Lungenchirurgie ist im ein- zelnen schwer nachzuweisen und wird lediglich im Rahmen einer noch zu schreibenden Spezialuntersuchung zu klären sein.68 Sie hing zweifellos von nationalen Faktoren ab; so wies Deutschland einen deutlichen Vorsprung in der Anwendung der Lungenchirurgie etwa gegenüber England auf, wäh- rend sie wiederum in den USA sehr angesehen war.69 Aufgrund der Ver- breitung der technischen Infrastruktur in deutschen Lungenheilanstalten und mit Hilfe von Behandlungszahlen aus der Heilanstalt Charlottenhöhe bei Stuttgart läßt sich der Anteil der lungenchirurgisch behandelten Patien- ten während der 1920er Jahre auf ca. 20-25 % schätzen.70 Tatsächlich galt die Lungenchirurgie in den 1920er Jahren in Deutschland als das kommen- de Verfahren, von dem man sich erstmals Heilerfolge auch bei schwereren Tuberkulosefällen versprach. Dabei wurden die einfacheren Eingriffe wie der künstliche Pneumothorax vermehrt in die herkömmliche Frischluftlie- gekur eingebaut, die mehr und mehr Züge der Rekonvaleszentenpflege auf- wies. Für den Erfolg der chirurgischen Maßnahmen war die gegenüber der herkömmlichen Heilbehandlung noch einmal verschärfte Selektion der überhaupt behandlungsfähigen Fälle von großer Bedeutung. Auffallend ist, daß alle Autoren über immer bessere Resultate verfügen, je mehr Fälle sie operiert haben. Es ist dies nicht nur etwa auf eine fortschreitende Übung zurückzu- 65 Brauer (1904). 66 Baer (1918). 67 Tröhler (1993). 68 Hier wird deutlich, wie wenig bisher die medizinische Praxis auch und gerade im Bereich der Tuberkulose von der Medizingeschichte untersucht worden ist. 69 Bryder (1988), S. 182. 70 Condrau (2000), S. 133f. Franz Steiner Verlag
86 Flurin Condrau führen […] Es ist unverkennbar, daß je früher operiert wird, […] um so mehr eine Besserung dieser Zahlen eintreten wird. Abgesehen von der Rettung des einzelnen In- dividuums, das ohne chirurgischen Eingriff in absehbarer Zeit rettungslos verloren ist, hat sie eine sehr große Bedeutung dadurch, daß sie […] viele offenen Tuberkulosen in geschlossene zu verwandeln mag und so dazu beitragen kann, der weiteren Verbrei- tung der Tuberkulose, namentlich der Infektion in Familien und an Arbeitsstätten, ei- nen Riegel vorzuschieben.71 Interessanterweise listet der Autor dieser Zeilen, Professor Friedrich Jessen, den viele für das Vorbild des Hofrat Behrens im »Zauberberg« halten, wie- der all jene Faktoren auf, die bereits in der Frischluftliegekur von Bedeutung waren.72 Namentlich der günstige Einfluß der praktischen Operationserfah- rung des behandelnden Arztes, die Bevorzugung möglichst früher Operati- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr onen sowie die Leistungen der Chirurgie bei der Infektionsprophylaxe (sic!) würden bemerkenswerte Kontinuitäten medizinischer Leistungskriterien darstellen. Während die behandelnden Ärzte sich grundsätzlich positiv zu den Erfolgschancen der Lungenchirurgie äußerten, blieben Untersuchungen über die langfristigen Behandlungserfolge äußerst selten. Die angesehene englische Fachzeitschrift für Lungenchirurgie, das »Journal of Thoracic Surgery«, veröffentlichte 1941 eine Untersuchung, in der nachgewiesen wurde, daß sich lediglich rund vier Prozent von über 2.000 ausgewerteten Fachpublikationen mit dem langfristigen Erfolg der Behandlung auseinan- dersetzten.73 Die beteiligten Ärzte waren offenbar von der Technik sehr be- geistert und beschäftigten sich oft und intensiv mit der bestmöglichen Ope- rationstechnik (z. B. »Schnittechnik« versus »Stichtechnik«) sowie der für notwendig erachteten technischen Gerätschaften wie etwa der Röntgentech- nik, die buchstäblich zum »Auge des Arztes« wurde.74 Letztlich reduzierte jedoch die Beschäftigung mit chirurgischen Methoden den Erfolgsbegriff der beteiligten Ärzte auf ein Minimum und bedeutete fortan, daß der Pati- ent nicht an den direkten Folgen der Operationen starb und sich keine massiven Komplikationen einstellten.75 Aus historischer Sicht war die Verbreitung der Röntgentechnologie sowie die Anwendung der Lungenchirurgie von großer Bedeutung für den Wan- del der klassischen Lungenheilstätten zu vollfunktionsfähigen Spezialkran- kenhäusern. Andererseits unterstützte die Lungenchirurgie die Entwicklung der Liegekuren, die sich immer stärker zur sogenannten »Kadaverruhe« entwickelte, denn die erfolgreichen Fälle der chirurgischen Praxis wurden typischerweise in eine Lungenheilanstalt zur Frischluftliegekur überwiesen, wo sich der Patient von den Folgen der Chirurgie erholen konnte.76 Über- 71 Jessen (1923). 72 Virchow (1995); Humphreys (1989). 73 Journal of Thoracic Surgery 10 (1941), S. 310 zit. nach Bryder (1988), S. 177. 74 Bryder (1988), S. 175. 75 Liebe (1921). 76 Carpi (1923). Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung 87 raschend abrupt endete mit den ersten Erfolgen der neuen Antibiotika- Therapie in den späten 1950er Jahren die Beliebtheit der Lungenchirurgie, und plötzlich wurden nur noch kritische Beiträge zur chirurgischen Be- handlung der Tuberkulose veröffentlicht.77 Dieser Meinungsumschwung verdeutlicht, daß die Tuberkulosebehandlung bestimmten Paradigmen un- terlag, denn nach einem Paradigmenwechsel wurde die jeweils vorherge- hende Behandlungsmethode plötzlich hart kritisiert. Gleichzeitig dominierte aber die aktuelle Therapie das gesamte ärztliche Denken. Das erkannte auch der zeitgenössische Kritiker der Lungenheilstätten, Hermann von Hayek, als er 1920 ironisierend schrieb: Der menschliche Körper hat sich im Kampf gegen die Tuberkulose einfach möglichst Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr tot zu stellen, bis die Tuberkelbacillen glauben, daß es sich wirklich nur mehr um ei- nen Kadaver handelt, und dann auch nicht mehr mittun.78 Obwohl neuerdings wieder an operative Maßnahmen bei der Behandlung der Tuberkulose gedacht wird, tauchen immer häufiger auch Warnungen vor den Spätfolgen der chirurgischen Behandlungen der 1930er und 1940er Jahre auf.79 Damit bestätigt sich gerade anhand der technisch-operativ an- spruchsvollsten Behandlung der Tuberkulose die in der Einleitung formu- lierte Feststellung, daß oftmals die Spätfolgen der Medizin für die Patienten und das Gesundheitswesen Gefahren bergen, die von den behandelnden Ärzten nur zu leicht übersehen worden sind.80 Bilanz Das Kochsche Tuberkulin war ein fulminanter Mißerfolg des Heilan- spruchs der Medizin. Indem es schließlich als Diagnoseinstrument verbrei- tet wurde, verschärfte es noch den Konflikt zwischen dem immer ausgereif- teren Diagnosevermögen und dem kaum oder gar nicht einlösbaren Heilan- spruch. Die Bakteriologie, so läßt sich in Anlehnung an McKeown und auf Basis der Geschichte der Tuberkulose bilanzieren, hat zur Heilung der Tu- berkulose bis zum Zweiten Weltkrieg wenig beigetragen. Gerade aus den Mißerfolgen anderer Behandlungsformen ergab sich die überraschende Beliebtheit und auch der relative Erfolg der Frischluftliege- kur. Sie stellte zwar keine Heilung im eigentlichen Sinne in Aussicht, aber sie füllte ein therapeutisches Vakuum durch eine in vielerlei Hinsicht durchaus erfolgreiche Behandlung. Natürlich waren die Mittel, die zum Anstaltsbau und –betrieb ausgegeben wurden, für damalige Zeiten enorm, aber sie dienten nicht zuletzt der Durchsetzung der Überzeugung, daß ärzt- liches Handeln auch und gerade im Fall der Tuberkulose durchaus heilsam 77 Bryder (1988), S. 184. 78 Hayek (1920), S. 43. 79 Kniehl et al. (1998). 80 Teschner (1998); Hollaus (1998). Franz Steiner Verlag
88 Flurin Condrau sein konnte. Die vorhandene Kritik richtete sich denn auch weniger gegen das konkrete Behandlungsverfahren, sondern vor allem gegen das Behand- lungsziel. Bekannte Vertreter von medizinischen Spezialdisziplinen, die nicht in den Tuberkuloseanstalten tätig waren, verfochten statt der Sanato- riumsbehandlung die anderweitige strikte Isolation der Kranken, um die Gesellschaft vor den angeblich so gefährlichen Tuberkulösen zu schützen. Diesen Vorschlag sollte mitbedenken, wer die Behandlungsbemühungen der Heilstättenärzte vorschnell als reine Arbeiterdisziplinierung verstehen will. Die Lungenchirurgie löste sich als modernstes, weil technisches Behand- lungsverfahren im Zeitraum bis zum Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr von der Überprüfung ihres Erfolgs. Es drängt sich hier exemplarisch der Eindruck auf, daß die Erfolgskontrolle in dem Maße vernachlässigt wurde, wie der technische Aufwand der Behandlung vom relativ einfachen künstli- chen Pneumothorax zum schwierigen Eingriff im Rahmen der Thorako- plastik zunahm. Jedenfalls ist die »große« Lungenchirurgie keiner strikten Nachkontrolle mehr unterworfen worden. Dieses Beispiel zeigt, daß Fort- schritte in der medizinischen Erfolgskontrolle in einem Paradigmenwechsel der Therapie wieder verloren gehen können. In der Tat waren die behan- delnden Ärzte sehr viel faszinierter davon, die Nadel richtig zu führen oder eine spektakuläre Thorakoplastik erfolgreich abzuschließen, als die Patien- ten langfristig zu heilen. So verwundert es nicht, daß die langfristigen Fol- gen der Lungenchirurgie für das Individuum und später der Antibiotika- Therapie für die Gesellschaft von den behandelnden Ärzten nicht beachtet wurden. Die spezialisierte und hochtechnisierte Lungenchirurgie schuf oft- mals neue Probleme (für den Kranken ebenso wie für das Gesundheitswe- sen) und zeigt, daß Medizin ohne klare (gesellschaftliche) Erfolgskontrolle leicht zu einem selbstreferenziellen System werden kann, das nur noch der eigenen Methodik und nicht mehr dem Behandlungsziel der Heilung ver- pflichtet ist. Franz Steiner Verlag
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