Die l abour-partei und der Brexit - von Mary Kaldor - spw

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spw 1 | 2019                                                                                                                            Meinung             

Die Labour-Partei und der Brexit
von Mary Kaldor

                                                                           vertreten, den Ton angaben. Corbyn hat zwei-
                                                                           fellos einige leidenschaftliche Reden gehalten.
                                                                           In einer dieser Reden sagte er: „Es gibt starke
                                  û Mary Kaldor ist emeritierte Pro-
                                                                           sozialistische Argumente für einen Verbleib in
                                  fessorin für Global Governance und       der Europäischen Union, genau wie es schlag-
                                  Leiterin der Abteilung für Konflikt-     kräftige sozialistische Argumente für eine Re-
                                  forschung und Zivilgesellschaft am
                                  Institut für Internationale Entwick-     form und einen progressiven Wandel in Euro-
                                  lung der London School of Econo-         pa gibt. Indem wir über den Kontinent hinweg
                                  mics and Political Science
                                                                           zusammenarbeiten, können wir die wirtschaft-
                                  Foto: Universität von Sussex
                                                                           liche Entwicklung fördern, soziale Rechte und
                                                                           Menschenrechte schützen, den Klimawandel
                                                                           bekämpfen und rigoros gegen Steuerhinterzie-
   Die Labour-Partei ist die ‚Remain‘-Partei.                              hung vorgehen.“
Eine am Vorabend des Parteitags 2018 durch-
geführte YouGov-Umfrage hat gezeigt, dass                                     In der Zeit nach dem Referendum vertrat
90 Prozent der Labour-Mitglieder für einen                                 Corbyn die Ansicht, dass das Ergebnis der
Verbleib in der Europäischen Union stimmen                                 Abstimmung respektiert werden müsse und
würden, sollte es zu einem zweiten Referendum                              dass Labour versuchen sollte, die Spaltung in
kommen, und dass 86 Prozent ein solches Re-                                Brexit-BefürworterInnen und -GegnerInnen
ferendum befürworten. Labour-WählerInnen                                  zu überwinden – diese Ansicht war damals
sind ebenfalls überwiegend für einen Verbleib                              ziemlich weit verbreitet. Er setzte sich für ei-
und von denjenigen, die beim ersten Referen-                               nen ‚weichen‘ Brexit ein, der einen dauerhaften
dum für den Austritt gestimmt haben, hält eine                             Verbleib in der Zollunion und den Erhalt von
Mehrheit andere Themen für wichtiger. Auch                                 Umweltschutzstandards und Arbeitnehmer-
Momentum, die Bewegung, die 2015 von Cor-                                  rechten beinhalten sollte. Infolgedessen wurde
byn-AnhängerInnen ins Leben gerufen wurde,                                 das Thema Brexit während des Wahlkampfs im
hat seine Mitglieder vor Kurzem befragt und                                Jahr 2017 kaum diskutiert. Die Labour-Partei
dabei festgestellt, dass diese mit großem Ab-                              erzielte bei der Wahl einen beachtlichen Erfolg.
stand einen Verbleib in der EU befürworten.                                Der enorme, 25 Prozentpunkte betragende
                                                                           Vorsprung, den die Konservative Partei laut
   Das Problem ist, dass die Parteiführung,                                Umfragen zu Beginn des Wahlkampfs hatte,
insbesondere das Büro von Jeremy Corbyn,                                   konnte am Wahltag auf zwei Prozentpunkte
ganz bewusst einen Kurs der mehrdeutigen                                   verringert werden. Am Ende hatte keine der im
Botschaften verfolgt. Während des Referen-                                 Parlament vertretenen Parteien eine absolute
dumswahlkampfs hat sich Corbyn zwar für                                    Mehrheit und die Konservativen waren von
einen Verbleib in der EU eingesetzt, aber seine                            den Stimmen der nordirischen Democratic
KritikerInnen unterstellen ihm, er habe dies                               Unionist Party (DUP) abhängig, einer extre-
nur halbherzig getan. Es ist schwer zu sagen,                              mistischen, nationalistischen Partei. Labours
ob das tatsächlich der Fall war oder ob er nicht                           Wahlerfolg konnte nicht allein auf Corbyns
vielmehr von der offiziellen Kampagne des                                  Charisma und die Popularität des Anti-Aus-
‚Remain‘-Lagers an den Rand gedrängt wurde,                                teritäts-Programms der Partei zurückgeführt
in der Konservative, Liberale und Abgeord-                                 werden. Entscheidend waren auch die großen
nete der Labour-Partei, die einen Mittekurs                                Graswurzel-Kampagnen, die vor allem von

	 The Guardian vom 22.09.2018: Corbyn faces clash with Labour members
   over second EU referendum, https://www.theguardian.com/politics/2018/   	 Cooper, Luke et al. (o.J.): Another Europa Is Possible, https://www.anothe-
   sep/22/corbyn-under-pressure-from-labour-members-over-brexit, abgeru-      reurope.org/wp-content/uploads/2018/03/aeip-reform-final-web.pdf, abge-
   fen am 17.02.2019                                                          rufen am 17.02.2019.
   Meinung                                                                                  spw 1 | 2019

    jungen Menschen angeführt wurden, die es be-      welches seinerseits scheiterte. Die Parteifüh-
    reuten, beim Referendum 2016 nicht mit abge-      rung bleibt jedoch bei ihrer Linie, sie befür-
    stimmt zu haben, und das von ‚Best for Britain‘   worte einen ‚besseren‘ oder ‚vernünftigeren
    und anderen Anti-Brexit-Bewegungen beför-         Deal‘. Um AnhängerInnen eines Verbleibs in
    derte strategische Abstimmungsverhalten. Der      der EU zu beschwichtigen, fügt sie hinzu, dass
    Wahlerfolg in Kensington und Chelsea, einer       im Falle eines Scheiterns dieses Vorhabens ein
    wohlhabenden, von den konservativen Tories        erneuter Volksentscheid in Erwägung gezogen
    dominierten Gegend, lässt sich beispielswei-      würde. Die Idee eines ‚besseren Deals‘ ist eine
    se nicht mit einer Corbyn-Euphorie erklären;      Schimäre – eine ‚Einhörner‘-Fantasie, wie viele
    vielmehr war die Wahrnehmung ausschlagge-         sagen. Die Idee eines ‚besseren Deals‘ besteht
    bend, dass sich Labour eher dem Brexit entge-     im Wesentlichen aus kleinen Justierungen an
    genstellen würde als die Tories.                  Mays Deal, und zwar indem die Zollunion
                                                      dauerhaft eingerichtet und Umweltschutzstan-
       Seit den Wahlen im Jahr 2017 hat das Drän-     dards sowie Arbeitnehmerrechte ergänzt wer-
    gen auf ein zweites Referendum insbesondere       den. Selbst wenn die EU bereit wäre, eine neue
    an der Basis der Labour-Partei zugenommen.        Verhandlungsrunde zu eröffnen, stünde dieser
    Lokale Organisationseinheiten der Labour-         ‚bessere Deal‘ am Ende vor genau denselben
    Partei brachten für den Parteitag im Jahr 2018    Hindernissen wie Mays Verhandlungsergeb-
    um die 150 Anträge ein, von denen die meisten     nis. Brexit-BefürworterInnen würden diesen
    ein zweites Referendum beziehungsweise einen      ‚besseren Deal‘ hassen, weil er das Land wei-
    neuen Volksentscheid (‚People’s Vote‘) über       testgehend an das europäische Regelwerk bin-
    den von Theresa May ausgehandelten Deal           den würde, und das bei einem gleichzeitigen
    forderten – noch nie zuvor in der Geschichte      massiven Repräsentationsverlust in den euro-
    der Partei wurden für ein einzelnes Anliegen      päischen Institutionen, was auf einen enormen
    so viele Anträge eingebracht. Nach langen Ver-    Souveränitätsverlust hinauslaufen und das
    handlungen mit der Parteiführung (der Brexit      Land zu dem machen würde, was Brexit-Be-
    hatte beim Parteitag 2017 noch nicht einmal       fürworterInnen als Vasallenstaat bezeichnen.
    auf der Tagesordnung gestanden, obgleich          Brexit-GegnerInnen, insbesondere die sich
    das Thema bei Veranstaltungen am Rande des        politisch links verortenden, lehnen einen sol-
    Parteitages und bei Momentums parallel statt-     chen Deal ebenfalls ab, weil das Vereinigte Kö-
    findender ‚World Transformed‘-Konferenz           nigreich keinen Einfluss mehr auf die Regeln
    leidenschaftlich diskutiert wurde) wurde ein      der EU hätte und es ihnen nicht mehr möglich
    Kompromiss erzielt und fast einstimmig verab-     wäre, die EU im Zusammenschluss mit ande-
    schiedet, mit dem sich Labour darauf festlegte,   ren linken Parteien und Gruppierungen zu re-
    sich Mays Deal entgegenzustellen und dann         formieren und zu demokratisieren.
    auf Neuwahlen zu drängen. Sollten Neuwahlen
    nicht möglich sein, würden laut dem Beschluss        Warum also hält die Parteiführung an ih-
    alle anderen Optionen erwogen, einschließlich     rer Position fest? Eine weitverbreitete Theo-
    eines erneuten Volksentscheids. Als der Bre-      rie ist, dass Corbyn selbst, trotz der von ihm
    xit-Schattenminister Keir Starmer den Kom-        angenommenen Haltung während des Refe-
    promissbeschluss vorstellte und den Halbsatz      rendumswahlkampfs, europaskeptisch ist. Er
    „mit der Option eines Verbleibs in der Europä-    ist Teil der alten ‚Bennite Left‘, der Anhän-
    ischen Union“ hinzufügte, brach der gesamte       gerschaft des ehemaligen britischen Politikers
    Parteitag in lauten Applaus aus.                  Tony Benn, die 1975 gegen den Eintritt in die
                                                      Europäischen Gemeinschaften stimmte. Die-
       Das ist der aktuelle Stand. Das Verhand-       se Theorie wird vor allem von den an einem
    lungsergebnis, das Theresa May aus Brüssel        Mittekurs orientierten Abgeordneten, den
    mitgebracht hat, wurde abgeschmettert, und        Veteranen der Blair-Jahre, vertreten, die Cor-
    zwar deutlicher als es irgendjemand erwartet      byn als Parteivorsitzenden aus tiefstem Her-
    hatte. Labour brachte unmittelbar darauf ein      zen verabscheuen. Was auch immer Corbyns
    Misstrauensvotum gegen die Regierung ein,         persönliche Ansichten sein mögen: Es stimmt,
spw 1 | 2019                                                                          Meinung       

dass es in der Labour-Partei trotz der von ei-    sammenzuhalten. Von den Labour-Abgeord-
ner überwältigenden Mehrheit vertretenen          neten, in deren Wahlkreisen eine Mehrheit
proeuropäischen Haltung eine kleine Grup-         für den Austritt gestimmt hat, haben zwar in
pe lautstarker ‚Lexiters‘ (linker Brexit-Befür-   der Vergangenheit viele einen Verbleib in der
worterInnen) gibt, die in Corbyns Büro einen      EU unterstützt. Nun aber zeigen sie sich zu-
starken Einfluss haben. Sie argumentieren, die    tiefst besorgt um ihre eigene Position, sollte
Europäische Union sei ein von Grund auf neo-      sich Labour offen für einen Verbleib ausspre-
liberaler Club, der nicht reformierbar sei.-Der   chen. Bei den Wahlen im Jahr 2017 hat es die
Guru dieser Denkweise ist Costas Lapavitsos,      Labour-Partei geschafft, den Großteil ihrer
ein Wirtschaftsprofessor und ehemaliger Ab-       traditionellen, von Brexit-AnhängerInnen do-
geordneter der Partei Syriza. Sie behaupten       minierten Hochburgen zu verteidigen. Eine
zudem, die bestehenden europäischen Rege-         klare Positionierung für den Verbleib in der
lungen zur staatlichen Beihilfe würden die La-    EU würde sich aber nicht zwangsläufig in Ver-
bour-Partei daran hindern, ihr sozialistisches    lusten niederschlagen. Wir sprechen hier von
Wahlprogramm umzusetzen.                          den ehemaligen Kohle- und Industrieregionen
                                                  – Regionen, die von den Folgen des Brexits
    Beide Argumente sind äußerst umstritten.      wohl am härtesten getroffen würden. Viele
Linke Brexit-Gegner, die bei weitem in der        derjenigen, die für den Brexit gestimmt haben,
Überzahl sind, argumentieren, dass die Idee       sind bereits vor dem Referendum zur UK In-
von einem auf ein einzelnes Land beschränkten     dependence Party (UKIP) abgewandert und
Sozialismus in dieser globalisierten Welt eine    haben sich danach, als UKIPs Umfragewerte
Fantasievorstellung ist. Wenn wir die Auswir-     in den Keller gingen, eher den Konservativen
kungen der Globalisierung – insbesondere auf      als Labour angeschlossen (auch wenn es hier
die deindustrialisierten Gegenden Großbritan-     je nach Region Unterschiede gab). Selbst in
niens, die beim Referendum für den Austritt       Gegenden, in denen die Austrittsbefürworte-
gestimmt haben – ernsthaft angehen wollen,        rInnen gewonnen haben, ist die Mehrheit der
dann ist es unabdingbar, Teil einer größeren      Labour-WählerInnen für einen Verbleib und
Gruppierung von Staaten zu sein und unsere        selbst von den Labour-WählerInnen, die für
Kräfte mit denen der Linken in ganz Europa        den Austritt gestimmt haben, halten Umfragen
zu bündeln. Hinzu kommt, dass sowohl Fran-        zufolge nur neun Prozent den Brexit für das
kreich als auch Deutschland ein weit höheres      wichtigste Thema. Bei einem Besuch in zwei
Niveau an staatlichen Beihilfen aufweisen als     dieser Gegenden habe ich kürzlich festgestellt,
das Vereinigte Königreich und dass nichts von     dass die allgemeine Stimmung eine der Desil-
dem, was im Wahlprogramm der Labour-Par-          lusion ist – die Menschen haben die Nase voll
tei steht, nach den gegenwärtigen Regeln nicht    vom Brexit, sie sind entsetzt über das Chaos
umgesetzt werden könnte. Zudem weisen Lin-        in Westminster und sie sind sich einig, selbst
ke Brexit-Gegner darauf hin, dass es das Verei-   wenn sie für den Brexit gestimmt haben, dass
nigte Königreich war, das in der EU eine neoli-   der Austritt aus der EU negative wirtschaft-
berale Politik vorangetrieben hat und dass wir    liche Folgen hätte. Mein Gefühl ist, dass es in
es unseren sozialistischen Partnern in Europa     diesen Gegenden vor allem auf ein politisches
schuldig sind, einen Beitrag zur Durchsetzung     Programm ankommt, das sich auf lokale The-
eines alternativen Politikmodells zu leisten.     men konzentriert und auf die Frage, wie Inves-
Das wahrscheinlich wichtigste Argument ist        titionen und Arbeitsplätze geschaffen werden
aber ein politisches: Der Brexit kann nur durch   und wirtschaftliche Erneuerung gelingen kann.
eine Allianz mit der Rechten zu Stande kom-       Entscheidend ist: Wenn Labour beim Thema
men – und eine solche Allianz würde jedwedes      Brexit weiterhin mehrdeutige Botschaften aus-
sozialistisches Projekt zunichtemachen.           sendet, wird die Partei im Rest des Landes, in
                                                  den Gegenden, die für einen Verbleib gestimmt
   Eine zweite, vielleicht überzeugendere The-    haben, sehr viel mehr Stimmen verlieren als sie
orie besagt, dass es der Parteiführung darum      dadurch in ihren traditionellen Hochburgen je
geht, die Labour-Fraktion im Parlament zu-        hinzugewinnen könnte.
   Meinung                                                                                                             spw 1 | 2019

       Eine dritte Theorie hat etwas mit Taktik zu     schweren, verfassungsrelevanten Entscheidung
    tun. Manch einer argumentiert, dass die Par-       äußerst schlecht konstruiert: Das betrifft die
    teiführung eine raffinierte Strategie verfolgt,    einfache Mehrheit, die für einen Sieg reichte;
    die darauf abzielt, die Tories scheitern zu las-   die Tatsache, dass die Regionen nicht für sich
    sen. Der von Labour vorgeschlagene ‚bessere        selbst entscheiden konnten; oder die Tatsache,
    Deal‘ mag die Unterstützung vieler moderater       dass in Großbritannien lebende Staatsangehö-
    Tories erhalten, aber er würde die Konservati-     rige der Commonwealth-Länder mit abstim-
    ve Partei spalten. Wenn das die Strategie sein     men durften, EU-BürgerInnen jedoch nicht.
    sollte, so wäre das verwerflich, da damit die
    parteipolitische Taktik vor das Wohlergehen           Aber selbst wenn man all das beiseitelässt:
    des Landes gestellt würde. Wenn bei dieser         Demokratie kann nicht bedeuten, dass Ent-
    Strategie überdies in Kauf genommen werden         scheidungen in Stein gemeißelt sind. Menschen
    sollte, den Brexit am Ende geschehen zu las-       ändern ihre Meinung. WählerInnen versterben
    sen oder, schlimmer noch, einen Brexit ohne        und neue WählerInnen werden volljährig. Alle
    Abkommen geschehen zu lassen, so würde der         Umfragen deuten auf eine signifikante Ver-
    Großteil der Labour-Mitglieder dies der Par-       schiebung zugunsten des ‚Remain‘-Lagers hin,
    teiführung niemals verzeihen.                      selbst in Gegenden, die mehrheitlich für den
                                                       Austritt gestimmt haben. Wahlen werden in
       Und schließlich ist da noch das Demokra-        regelmäßigen Abständen durchgeführt – war-
    tie-Argument. Corbyn ist ein Demokrat und          um also sollte es undemokratisch sein, mehr
    vielleicht ist er einfach zutiefst davon über-     als ein Referendum abzuhalten? Es gibt unter
    zeugt, dass das Ergebnis des Referendums zu        demokratietheoretischen Gesichtspunkten
    respektieren ist. Darüber hinaus besteht ein       natürlich gute Gründe, die gegen Referenden
    erhebliches Unbehagen angesichts der Vor-          im Allgemeinen sprechen; sie sind im Gegen-
    stellung, dass ein zweites Referendum der ex-      satz zu deliberativen Methoden der Entschei-
    tremen Rechten eine Bühne bereiten und die         dungsfindung, vor allem in Parlamenten, ein
    Polarisierung zwischen Brexit-Befürworte-          populistisches Instrument. Aber da im Jahr
    rInnen und -GegnerInnen weiter verschärfen         2016 die Entscheidung für ein Referendum ge-
    könnte. Die Ermordung der Abgeordneten             troffen wurde, ist kaum vorstellbar, wie diese
    Jo Cox im Vorfeld des ersten Referendums           Entscheidung ohne die Durchführung eines
    hat diese Befürchtungen noch verstärkt. Aber       weiteren Referendums zurückgenommen
    auch wenn diese Sorgen verständlich sind, ist      werden könnte. Einige KommentatorInnen,
    das Demokratie-Argument letztendlich nicht         insbesondere der ehemalige Premierminister
    überzeugend. Zunächst einmal war die erste         Gordon Brown, Neal Lawson von der Pro-La-
    Abstimmung nicht sehr demokratisch. Die            bour-Organisation Compass, oder Lisa Nandy,
    ‚Leave‘-Kampagne hat erwiesenermaßen die           eine Abgeordnete aus einem ‚Leave‘-Wahl-
    Ausgabengrenzen überschritten und somit            kreis, schlagen die Durchführung eines oder
    das Gesetz gebrochen: Hätte es sich um eine        mehrerer Bürgerforen (Citizens Assembly) vor,
    Parlamentswahl gehandelt, so hätten die Vor-       im Rahmen derer Brexit-BefürworterInnen
    würfe vor Gericht überprüft werden können,         und -GegnerInnen eine gemeinsame Haltung
    was möglicherweise zu einer Wiederholung           für den besten Weg vorwärts entwickeln. Bei
    der Abstimmung geführt hätte. Dieses Ver-          einem Feldversuch, den das University Col-
    fahren ist jedoch bei einem Referendum nicht       lege London im September 2017 durchgeführt
    vorgesehen, weil Referenden eine beratende         hat, entschieden sich die TeilnehmerInnen am
    (!) Funktion haben. Die erste Abstimmung           Ende für einen weichen Brexit. Solche Bürger-
    war aber noch in weiterer Hinsicht fragwürdig      foren müssten jedoch, wie in Irland geschehen,
    – aufgrund der Lügen und Falschnachrichten,        mit einem Referendum kombiniert werden.
    die verbreitet wurden, und aufgrund der mut-
    maßlichen Einflussnahme Russlands. Darüber
    hinaus war das für das Referendum vorgese-         	 Renwick, Alan et al. (2017): Citizins’ Assembly On Brexit, https://www.ucl.
                                                          ac.uk/constitution-unit/research/uk-and-europe/citizens-assembly-brexit-
    hene Regelwerk angesichts einer solch folgen-         0, abgerufen am 17.02.2019.
spw 1 | 2019                                                                                                         Meinung       

   Hinsichtlich des Arguments, dass ein wei-                                     Alltagswissen und Kreativität – die Rolle der
teres Referendum der extremen Rechten eine                                       Parteiführung ist es, dieses Phänomen zu be-
Bühne bereiten und, wie Theresa May sagt,                                        fördern. Wenn Corbyn dieses Phänomen nicht
„den sozialen Zusammenhalt gefährden“ wür-                                       mehr verkörpert und sich mehr wie ein traditi-
de, muss betont werden, dass es noch sehr viel                                   oneller Parteivorsitzender verhält, könnte sich
schlimmere Konsequenzen hätte, den Bre-                                          all das in Luft auflösen. Schon jetzt verlassen
xit einfach durchzuziehen. Der Brexit ist ein                                    viele Menschen die Partei. Die Frustration ist
Projekt der Rechten. Er wird zum Auseinan-                                       groß – darüber, dass Labour diesen Moment,
derbrechen des Vereinigten Königreichs füh-                                      diese einmalige Gelegenheit, nicht nutzt, um
ren. Schottland wird unabhängig werden und                                       Mays Schwäche, das von den Tories angerich-
Irland wird entweder wiedervereint oder es                                       tete Chaos und ihre Lügen zu entlarven, und
wird zum Krieg zurückkehren. Der Brexit ist                                      um einen alternativen, hoffnungsvolleren Weg
ein rassistisches, migrantenfeindliches Projekt.                                 einzuschlagen. Die Zukunft der ‚Neuen Po-
Und statt den Menschen in den abgehängten                                        litik‘, in Großbritannien und in ganz Europa,
Regionen die Kontrolle zurückzugeben, wird                                       ist abhängig davon, wie die Frage des Brexits
der Brexit die Kontrolle den Deregulierern                                       entschieden wird.                            ó
überlassen, die sich Großbritannien als einen
sicheren Hafen für Hedgefonds, Fracking und
so weiter ausmalen.

    All die genannten Theorien gehen davon
aus, dass Corbyn ein Parteivorsitzender im
traditionellen Sinne ist – entweder angetrieben
von den Ideen der alten Labour-Partei oder
darauf bedacht, sich mit einer cleveren Taktik,
die sich nicht auf eine Seite festlegt, alle Mög-
lichkeiten offenzuhalten – und dass er der Par-
tei seine Ansichten von oben herab aufzwingen
kann. Tatsächlich aber muss man Corbyn als
Verkörperung eines neuen Phänomens verste-
hen, das Hilary Wainwright als ‚Neue Politik‘
(‚New Politics‘) bezeichnet. Das Phänomen ist
der Enthusiasmus, der Corbyn an die Macht
verhalf, der die Labour-Partei zur größten
Partei Europas machte und der den Erfolg der
Partei bei den Wahlen im Jahr 2017 erklärt.
Labour ist nicht mehr die alte, männliche, bri-
tische Partei der Arbeiterklasse, als die sie in
vielen der ‚Leave‘-Gegenden imaginiert wird.
Labour ist heute die Partei der Beschäftigten
im öffentlichen Sektor und im High-Tech-Sek-
tor, die Partei der neuen, unterbezahlten und
mit Null-Stunden-Verträgen ausgestatteten
Beschäftigten im Dienstleistungssektor. Un-
ter diesen Beschäftigten sind sowohl Männer
als auch Frauen, Menschen aus ganz Europa
und aus der ganzen Welt. Die ‚Neue Politik‘
ist ‚bottom-up‘ und partizipativ, sie baut auf

	 Wainwright, Hillary (2018): A New Politics from the Left (Radical Futures),
   Cambridge: Polity Press.
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